Rudolf Steiner:
Der
Individualismus in der Philosophie (1899)
ursprünglich
veröffentlicht unter
dem Titel:
Der Egoismus in der Philosophie
Erschienen
in:
Methodische Grundlagen der Anthroposophie
Gesammelte Aufsätze zur Philosophie,
Naturwissenschaft,
Ästhetik und Seelenkunde
1884 – 1901
GA 30
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Aufsatz auf
Englisch
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Wäre der Mensch bloß Geschöpf der Natur und nicht zugleich
Schaffender, so stände er nicht fragend vor den Erscheinungen der Welt
und suchte auch nicht, ihr Wesen und ihre Gesetze zu ergründen. Er
befriedigte seinen Nahrungs- und Fortpflanzungstrieb gemäß den
seinem Organismus eingeborenen Gesetzen und ließe im übrigen die
Ereignisse der Welt laufen, wie sie eben laufen. Er käme gar nicht
darauf, an die Natur eine Frage zu stellen. Zufrieden und glücklich
wandelte er durchs Leben wie die Rose, von der Angelus Silesius sagt:
«Die Ros' ist ohn warumb, sie blühet weil sie blühet, sie acht nicht
ihrer selbst, fragt nicht ob man sie sihet.» So kann die Rose sein.
Was sie ist, ist sie, weil die Natur sie dazu gemacht hat. So kann
aber der Mensch nicht sein. In ihm liegt der Trieb, zu der vorhandenen
Welt noch eine, aus ihm entsprungene hinzuzufügen. Er will mit seinen
Mitmenschen nicht in dem zufälligen Nebeneinander leben, in das ihn
die Natur gestellt hat: er sucht das Zusammenleben mit andern nach
Maßgabe seines vernünftigen Denkens zu regeln. Die Gestalt, in
welche die Natur den Mann und das Weib eingebildet, genügt ihm nicht;
er schafft die idealen Figuren der griechischen Plastik. Dem
natürlichen Gang der Ereignisse im täglichen Leben fügt er den seiner
Phantasie entsprungenen in der Tragödie und Komödie hinzu. In der
Architektur und Musik entspringen aus seinem Geiste Schöpfungen, die
kaum noch an irgend etwas von der Natur Geschaffenes erinnern. In
seinen Wissenschaften entwirft er begriffliche Bilder, durch die das
Chaos der Welterscheinungen, das täglich vor unsern Sinnen
vorüberzieht, als harmonisch geregeltes Ganze, als in sich
gegliederter Organismus erscheint. In der Welt seiner eigenen Taten
schafft er ein besonderes Reich, das des historischen Geschehens, das
wesentlich anderer Art ist als der Tatsachenverlauf der Natur.
Daß alles, was er schafft, nur eine Fortsetzung des Wirkens der
Natur ist, das fühlt der Mensch. Daß er berufen ist, zu dem, was
die Natur aus sich selbst vermag, ein Höheres hinzuzufügen, das
weiß er auch. Er ist sich dessen bewußt, daß er aus
sich eine andere, höhere Natur zu der äußeren hinzugebärt.
So steht der Mensch zwischen zwei Welten: derjenigen, die von
außen auf ihn eindringt, und derjenigen, die er aus sich
hervorbringt. Diese beiden Welten in Einklang zu bringen, ist er
bemüht. Denn sein ganzes Wesen ist auf Harmonie gerichtet. Er möchte
leben wie die Rose, die nicht fragt nach dem Warum und Weil, sondern
die blühet, weil sie blühet. Schiller fordert das von dem Menschen mit
den Worten: «Suchst du das Höchste, das Größte? Die Pflanze kann
es dich lehren. Was sie willenlos ist, sei du es wollend — das
ist's!» Die Pflanze kann es sein. Denn aus ihr entspringt kein neues
Reich, und die bange Sehnsucht kann daher in ihr auch nicht entstehen:
wie bringe ich die beiden Reiche mit einander in Einklang?
Das, was in ihm selbst liegt, mit dem, was die Natur aus sich erzeugt,
in Harmonie zu bringen, das ist das Ziel, dem der Mensch durch alle
Zeiten der Geschichte zustrebt. Die Tatsache, daß er fruchtbar
ist, wird zum Ausgangspunkt einer Auseinandersetzung mit der Natur,
die den Inhalt seines geistigen Strebens ausmacht.
Es gibt zwei Wege für diese Auseinandersetzung. Entweder läßt
der Mensch die äußere Natur über seine innere Herr werden; oder
er unterwirft sich diese äußere Natur. In dem ersteren Fall
sucht er sein eigenes Wollen und Sein dem äußeren Gang der
Ereignisse unterzuordnen. In dem zweiten nimmt er Ziel und Richtung
seines Wollens und Seins aus sich selbst und sucht mit den Ereignissen
der Natur, die doch ihren eigenen Gang gehen, auf irgendeine Weise
fertig zu werden.
Ich möchte zuerst von dem ersten Fall sprechen. Daß der Mensch
über das Reich der Natur hinaus noch ein anderes, in seinem Sinne
höheres erschafft, ist seinem Wesen gemäß. Er kann nicht anders.
Welche Empfindungen und Gefühle er diesem seinen Reiche gegenüber hat,
davon hängt es ab, wie er sich zu der Außenwelt stellt. Er kann
nun seinem eigenen Reiche gegenüber dieselben Empfindungen haben, wie
den Tatsachen der Natur gegenüber. Dann läßt er die Geschöpfe
seines Geistes an sich herankommen, wie er ein Ereignis der
Außenwelt, z. B. Wind und Wetter an sich herankommen läßt.
Er vernimmt keinen Artunterschied zwischen dem, was in der
Außenwelt und dem, was in seiner Seele vorgeht. Er ist deshalb
der Ansicht, daß sie nur ein Reich sind, das von einer Art von
Gesetzen beherrscht wird. Nur fühlt er, daß die Geschöpfe des
Geistes höherer Art sind. Deshalb stellt er sie über die Geschöpfe der
bloßen Natur. Er versetzt also seine eigenen Geschöpfe in die
Außenwelt und läßt von ihnen die Natur beherrscht sein. Er
kennt somit nur Außenwelt. Denn seine eigene innere Welt verlegt
er nach außen. Kein Wunder, daß ihm auch sein eigenes
Selbst zum untergeordneten Gliede dieser Außenwelt wird.
Die eine Art der Auseinandersetzung des Menschen mit der
Außenwelt besteht demnach darin, daß er sein Inneres als
ein Äußeres ansieht und dieses nach außen versetzte Innere
zugleich als den Herrscher und Gesetzgeber über die Natur und sich
selbst setzt.
Ich habe hiermit den Standpunkt des religiösen Menschen
charakterisiert. Eine göttliche Weltordnung ist ein Geschöpf des
menschlichen Geistes. Nur ist sich der Mensch nicht klar darüber,
daß der Inhalt dieser Weltordnung aus seinem eigenen Geiste
entsprungen ist. Er verlegt ihn daher nach außen und ordnet sich
seinem eigenen Erzeugnis unter.
Der handelnde Mensch kann sich nicht dabei beruhigen, sein Handeln
einfach gelten zu lassen. Die Blume blühet, weil sie blühet. Sie fragt
nicht nach dem Warum und Weil. Der Mensch nimmt Stellung zu seinem
Tun. Ein Gefühl knüpft sich an dieses Tun. Er ist entweder befriedigt
oder nicht befriedigt von einer seiner Handlungen. Er unterscheidet
das Tun nach seinem Werte. Das eine Tun betrachtet er als ein solches,
das ihm gefällt, das andere als ein solches, das ihm mißfällt.
In dem Augenblicke, in dem er so empfindet, ist für ihn die Harmonie
der Welt gestört. Er ist der Ansicht, daß das wohlgefällige Tun
andere Folgen nach sich ziehen muß als dasjenige, das sein
Mißfallen hervorruft. Wenn er sich nun nicht klar darüber ist,
daß er aus sich heraus zu den Handlungen das Werturteil
hinzugefügt hat, so glaubt er, diese Wertbestimmung hänge den
Handlungen durch eine äußere Macht an. Er ist der Ansicht,
daß eine solche äußere Macht die Geschehnisse dieser Welt
unterscheide in solche, die gefallen und daher gut sind, und in
solche, die mißfallen, also schlecht, böse sind. Ein Mensch, der
in dieser Weise empfindet, macht keinen Unterschied zwischen den
Tatsachen der Natur und den Handlungen des Menschen. Er beurteilt
beide von demselben Gesichtspunkte aus. Das ganze Weltall ist ihm ein
Reich, und die Gesetze, die dies Reich regieren, entsprechen ganz
denen, die der menschliche Geist aus sich selbst hervorbringt.
In dieser Art der Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt tritt
ein ursprünglicher Zug der menschlichen Natur zu Tage. Der Mensch mag
sich noch so unklar über sein Verhältnis zur Welt sein: er sucht doch
in sich den Maßstab, mit dem er alle Dinge messen kann. Aus
einer Art unbewußten Souveränitätsgefühles heraus entscheidet er
über den absoluten Wert alles Geschehens. Man kann forschen, wie man
will: Menschen, die sich von Göttern regiert glauben, gibt es ohne
Zahl; solche, die nicht selbständig, über den Kopf der Götter hinweg
ein Urteil fällen, was diesen Göttern gefallen kann oder
mißfallen, gibt es nicht. Zum Herren der Welt vermag der
religiöse Mensch sich nicht aufzuwerfen; wohl aber bestimmt er die
Neigungen der Weltherrscher aus eigener Machtvollkommenheit.
Man braucht die religiös empfindenden Naturen nur zu betrachten; und
man wird meine Behauptungen bestätigt finden. Wo hat es je Verkündiger
von Göttern gegeben, die nicht zugleich ganz genau festgestellt
hätten, was diesen Göttern gefällt und was ihnen zuwider ist. Jede
Religion hat ihre Weisheit über das Weltall, und jede behauptet auch,
daß diese Weisheit von einem Gotte oder mehreren Göttern stamme.
Will man den Standpunkt des religiösen Menschen charakterisieren, so
muß man sagen: er versucht die Welt von sich aus zu beurteilen;
aber er hat nicht den Mut, auch sich selbst die Verantwortung für
dieses Urteil zuzuschreiben; deshalb erfindet er sich Wesen in der
Außenwelt, denen er diese Verantwortung aufbürdet.
Durch diese Betrachtungen scheint mir die Frage beantwortet zu sein:
was ist Religion? Der Inhalt der Religion entspringt aus dem
menschlichen Geiste. Aber dieser Geist will sich diesen Ursprung nicht
eingestehen. Der Mensch unterwirft sich seinen eigenen Gesetzen, aber
er betrachtet diese Gesetze als fremde. Er setzt sich zum Herrscher
über sich selbst ein. Jede Religion setzt das menschliche Ich zum
Regenten der Welt ein. Ihr Wesen besteht eben darinnen, daß sie
sich dieser Tatsache nicht bewußt ist. Sie betrachtet als
Offenbarung von außen, was sie sich selber offenbart.
Der Mensch wünscht, daß er in der Welt oben an erster Stelle
stehe. Aber er wagt es nicht, sich als den Gipfel der Schöpfung
hinzustellen. Deshalb erfindet er sich Götter nach seinem Bilde und
läßt von ihnen die Welt regieren. Indem er so denkt, denkt er
religiös.
Das religiöse Denken wird von dem philosophischen Denken abgelöst. In
den Zeiten und bei den Menschen, wo diese Ablösung geschieht, enthüllt
sich uns die Menschennatur auf eine ganz besondere Weise.
Für die Entwicklung des abendländischen Denkens ist besonders
interessant der Übergang des mythologischen Denkens der Griechen zu
dem philosophischen. Drei Denker möchte ich zunächst aus der Zeit
dieses Übergangs hervorheben: Anaximander, Thales und Parmenides. Sie
stellen drei Stufen dar, die von der Religion zur Philosophie führen.
Die erste Stufe auf diesem Wege ist dadurch gekennzeichnet, daß
die göttlichen Wesen nicht mehr anerkannt werden, aus denen der aus
dem menschlichen Ich entnommene Inhalt stammen soll. Trotzdem wird
aber — aus Gewohnheit — noch daran festgehalten, daß
dieser Inhalt aus der Außenwelt stammt. Auf dieser Stufe steht
Anaximander (610-547 v. Chr.). Er redet nicht mehr von Göttern, wie
seine griechischen Vorfahren. Das höchste, die Welt regierende Prinzip
ist ihm nicht ein Wesen, das nach dem Bilde des Menschen vorgestellt
wird. Es ist ein unpersönliches Wesen, das Apeiron, das Unbestimmte.
Es entwickelt alles in der Natur Vorkommende aus sich; aber nicht in
der Art, wie ein Mensch schafft, sondern aus Naturnotwendigkeit. Aber
diese Naturnotwendigkeit denkt sich Anaximander noch immer analog
einem Handeln, das nach menschlichen Vernunftgrundsätzen verläuft. Er
stellt sich, sozusagen, eine moralische Naturgesetzlichkeit vor, ein
höchstes Wesen, das die Welt, wie ein menschlicher Sittenrichter,
behandelt, ohne ein solcher zu sein. Nach Anaximander geschieht alles
in der Welt so notwendig, wie der Magnet das Eisen anzieht, aber es
geschieht nach moralischen, d. h. menschlichen Gesetzen. Nur von
diesem Gesichtspunkte aus konnte er sagen: «Woraus die Dinge
entstehen, in dasselbe müssen sie auch vergehen, wie es der Billigkeit
gemäß ist, denn sie müssen Buße und Vergeltung tun, um der
Ungerechtigkeit Willen, wie es der Ordnung der Zeit entspricht.
Dies ist die Stufe, auf der ein Denker anfängt, philosophisch zu
urteilen. Er läßt die Götter fallen. Er schreibt also das, was
aus dem Menschen kommt, nicht mehr den Göttern zu. Aber er tut nichts
weiter, als daß er die Eigenschaften, die vorher göttlichen,
also persönlichen Wesen beigelegt worden sind, auf ein unpersönliches
überträgt.
In ganz freier Weise tritt Thales (624-545) der Welt gegenüber. Wenn
er auch um ein paar Jahre älter ist, als Anaximander, er ist
philosophisch viel reifer. Seine Denkungsweise ist gar nicht mehr
religiös.
Innerhalb des abendländischen Denkens ist erst Thales ein Mann, der
sich in der zweiten oben genannten Art mit der Welt auseinandersetzt.
Hegel hat es so oft betont, daß das Denken die Eigenschaft ist,
die den Menschen vom Tiere unterscheidet. Thales ist die erste
abendländische Persönlichkeit, die es wägte, dem Denken seine
Souveränitätsstellung anzuweisen. Er kümmerte sich nicht mehr darum,
ob Götter die Welt nach der Ordnung der Gedanken eingerichtet haben;
oder ob ein Apeiron die Welt nach Maßgabe des Denkens lenkt. Er
wußte nur, daß er dachte; und nahm an, daß er
deswegen, weil er dachte, auch ein Recht habe, sich die Welt nach
Maßgabe seines Denkens zurechtzulegen. Man unterschätze diesen
Standpunkt des Thales nicht! Er war eine ungeheure Rücksichtslosigkeit
gegenüber allen religiösen Vorurteilen. Denn er war die Erklärung der
Absolutheit des menschlichen Denkens. Die religiösen Menschen sagen:
die Welt ist so eingerichtet, wie wir sie uns denken; denn Gott ist.
Und da sie sich Gott nach dem Ebenbilde des Menschen denken, ist es
selbstverständlich, daß die Ordnung der Welt der Ordnung des
menschlichen Kopfes entspricht. Thales ist das alles ganz
gleichgültig. Er denkt über die Welt. Und kraft seines Denkens
schreibt er sich ein Urteil über die Welt zu. Er hat bereits ein
Gefühl davon, daß das Denken nur eine menschliche Handlung ist;
und dennoch geht er daran, mit Hilfe dieses bloß menschlichen
Denkens die Welt zu erklären. Das Erkennen selbst tritt mit Thales in
ein ganz neues Stadium seiner Entwicklung. Es hört auf, seine
Rechtfertigung aus dem Umstande zu ziehen, daß es nur
nachzeichnet, was die Götter vorgezeichnet haben. Es entnimmt aus sich
selbst das Recht, über die Gesetzmäßigkeit der Welt zu
entscheiden. Es kommt zunächst gar nicht darauf an, ob Thales das
Wasser oder irgend etwas anderes zum Prinzip der Welt gemacht hat,
sondern darauf, daß er sich gesagt hat: was Prinzip ist, das
will ich durch mein Denken entscheiden. Er hat es als
selbstverständlich angenommen, daß das Denken in solchen Dingen
die Macht hat. Und darin liegt seine Größe.
Man vergegenwärtige sich nur einmal, was damit getan ist. Nichts
geringeres ist damit geschehen, als dies, daß dem Menschen die
geistige Macht über die Welterscheinungen gegeben ist. Wer auf sein
Denken vertraut, der sagt sich: mögen die Wogen des Geschehens noch so
stürmisch brausen, möge die Welt ein Chaos scheinen: ich bin ruhig,
denn all dies tolle Getriebe beunruhigt mich nicht, weil ich es
begreife.
Diese göttliche Ruhe des Denkers, der sich selbst versteht, hat
Heraklit nicht begriffen. Er war der Ansicht, daß alle Dinge in
ewigem Flusse seien. Daß das Werden das Wesen der Dinge sei.
Wenn ich in einen Fluß hineinsteige, so ist er nicht mehr
derselbe, wie in dem Momente, in dem ich mir vorgenommen,
hineinzusteigen. Aber Heraklit übersieht nur eins. Was der Fluß
mit sich fortträgt, das bewahrt das Denken; und es findet, daß
im nächsten Momente ein Wesentliches von dem wieder vor die Sinne
tritt, was schon vorher da war.
So wie Thales mit seinem festen Glauben an die Macht des menschlichen
Denkens, so ist auch Heraklit eine typische Erscheinung im Reiche
derjenigen Persönlichkeiten, die sich mit den bedeutsamsten Fragen des
Daseins auseinandersetzen. Er fühlt nicht in sich die Kraft, durch das
Denken den ewigen Fluß des sinnlichen Werdens zu bezwingen.
Heraklit sieht in die Welt, und sie zerfließt ihm in nicht
festzuhaltende Augenblickserscheinungen. Hätte Heraklit Recht, dann
zerflatterte alles in der Welt, und im allgemeinen Chaos müßte
auch die menschliche Persönlichkeit sich auflösen. Ich wäre heute
nicht derselbe, der ich gestern war, und morgen wäre ich ein anderer
als heute. Der Mensch stünde in jedem Augenblicke vor völlig Neuem und
hätte keine Macht. Denn von den Erfahrungen, die er sich bis zu einem
bestimmten Tage gesammelt hat, wäre es fraglich, ob sie ihm eine
Richtschnur an die Hand geben zur Behandlung des völlig Neuen, das ihm
ein junger Tag bringt.
In schroffen Gegensatz zu Heraklit stellt sich deshalb der 515 in Elea
geborene Parmenides. Mit all der Einseitigkeit, die nur einer kühnen
Philosophennatur möglich ist, verwarf er jegliches Zeugnis der
sinnlichen Wahrnehmung. Denn eben diese in jedem Augenblick sich
ändernde Sinnenwelt verführt zu der Ansicht des Heraklit. Dafür sprach
er als den Quell aller Wahrheit einzig und allein die Offenbarungen
an, die aus dem innersten Kern der menschlichen Persönlichkeit
hervordringen, die Offenbarungen des Denkens. Nicht, was vor den
Sinnen vorüberfließt, ist das wirkliche Wesen der Dinge —
nach seiner Ansicht; sondern die Gedanken, die Ideen, welche das
Denken in diesem Strome gewahr wird und festhält!
Wie so vieles, was als Gegenschlag auf eine Einseitigkeit erfolgt, so
wurde auch die Denkweise des Parmenides verhängnisvoll. Sie verdarb
das europäische Denken auf Jahrhunderte hinaus. Sie untergrub das
Vertrauen in die Sinneswahrnehmung. Während nämlich ein unbefangener,
naiver Blick auf die Sinnenwelt aus dieser selbst den Gedankeninhalt
schöpft, der den menschlichen Erkenntnistrieb befriedigt, glaubte die
im Sinne des Parmenides sich fortentwickelnde, philosophische Bewegung
die rechte Wahrheit nur aus dem reinen, abstrakten Denken schöpfen zu
sollen: Die Gedanken, die wir in lebendigem Verkehre mit der
Sinnenwelt gewinnen, haben einen individuellen Charakter, sie haben
die Wärme von etwas Erlebtem in sich. Wir exponieren unsere Person,
indem wir Ideen aus der Welt herauslösen. Wir fühlen uns als
Überwinder der Sinnenwelt, wenn wir sie in die Gedankenwelt einfangen.
Das abstrakte, reine Denken hat etwas unpersönliches, kaltes. Wir
fühlen immer einen Zwang, wenn wir die Ideen aus dem reinen Denken
herausspinnen. Unser Selbstgefühl kann durch ein solches Denken nicht
gehoben werden. Denn wir müssen uns der Gedankennotwendigkeit einfach
unterwerfen.
Parmenides hat nicht berücksichtigt, daß das Denken eine
Tätigkeit der menschlichen Persönlichkeit ist. Er hat es unpersönlich,
als ewigen Seinsinhalt, genommen. Das Gedachte ist das Seiende, hat er
gesagt.
Er hat dadurch an die Stelle der alten Götter einen neuen gesetzt.
Während die ältere, religiöse Vorstellungsweise den ganzen, fühlenden,
wollenden und denkenden Menschen als Gott an die Spitze der Welt
gesetzt hatte, nahm Parmenides eine einzelne menschliche Tätigkeit,
einen Teil aus der Persönlichkeit heraus und machte daraus ein
göttliches Wesen.
Auf dem Gebiete der Anschauungen über das sittliche Leben des Menschen
wird Parmenides durch Sokrates ergänzt. Der Satz: die Tugend ist
lehrbar, den dieser ausgesprochen hat, ist die ethische Konsequenz der
Anschauung des Parmenides, daß das Denken gleich dem Sein ist.
Ist dies letztere eine Wahrheit, so kann das menschliche Handeln nur
dann darauf Anspruch machen, sich zu einem wertvollen Seienden erhoben
zu haben, wenn es aus dem Denken fließt. Aus dem abstrakten,
logischen Denken, dem sich der Mensch einfach zu fügen, d. h. das er
sich als Lernender anzueignen hat.
Es ist klar: ein gemeinsamer Zug ist in der griechischen
Gedankenentwicklung zu verfolgen. Der Mensch hat das Bestreben, das,
was ihm angehört, was aus seinem eigenen Wesen entspringt, in die
Außenwelt zu versetzen und auf diese Weise sich seinem eigenen
Wesen unterzuordnen. Zunächst nimmt er sich in seiner ganzen vollen
Breite und setzt seine Ebenbilder als Götter über sich; dann nimmt er
eine einzelne menschliche Tätigkeit, das Denken, und setzt es als
Notwendigkeit über sich, der er sich zu fügen hat. Das ist das
merkwürdige in der Entwicklung des Menschen, daß er seine Kräfte
entfaltet, daß er für das Dasein und die Entfaltung dieser
Kräfte in der Welt kämpft, daß er diese Kräfte aber lange nicht
als seine eigenen anzuerkennen vermag.
Diese große Täuschung des Menschen über sich selbst hat einer
der größten Philosophen aller Zeiten in ein kühnes, wunderbares
System gebracht. Dieser Philosoph ist Plato. Die ideale Welt, der
Umkreis der Vorstellungen, die im Menschengeiste aufgehen, während der
Blick auf die Vielheit der äußeren Dinge gerichtet ist, wird für
Plato zu einer höheren Welt des Seins, von der jene Vielheit nur ein
Abbild ist. «Die Dinge dieser Welt, welche unsere Sinne wahrnehmen,
haben gar kein wahres Sein: sie werden immer, sind aber nie. Sie haben
nur ein relatives Sein, sind insgesamt nur in und durch ihr Verhältnis
zu einander; man kann daher ihr ganzes Dasein ebensowohl ein Nichtsein
nennen. Sie sind folglich auch nicht Objekte einer eigentlichen
Erkenntnis. Denn nur von dem, was an und für sich und immer auf
gleiche Weise ist, kann es eine solche geben; sie hingegen sind nur
das Objekt eines durch Empfindung veranlaßten Dafürhaltens. So
lange wir auf ihre Wahrnehmung beschränkt sind, gleichen wir Menschen,
die in einer finsteren Höhle so festgebunden säßen, daß
sie auch den Kopf nicht drehen könnten und nichts sähen, als beim
Lichte eines hinter ihnen brennenden Feuers, an der Wand ihnen
gegenüber die Schattenbilder wirklicher Dinge, welche zwischen ihnen
und dem Feuer vorübergeführt würden, und auch sogar von einander und
jeder von sich selbst, eben nur die Schatten an jener Wand. Ihre
Weisheit aber wäre, die aus Erfahrung erlernte Reihenfolge jener
Schatten vorherzusagen.» Der Baum, den ich sehe, betaste und dessen
Blütenduft ich atme, ist also der Schatten der Idee des Baumes. Und
diese Idee ist das wahrhaft Wirkliche. Die Idee aber ist das, was in
meinem Geiste aufleuchtet, wenn ich den Baum betrachte. Was ich mit
den Sinnen wahrnehme, wird dadurch zum Abbild dessen gemacht, was mein
Geist durch die Wahrnehmung ausbildet.
Alles, was Plato als Ideenwelt jenseits der Dinge vorhanden glaubt,
ist menschliche Innenwelt. Der Inhalt des menschlichen Geistes aus dem
Menschen herausgerissen und als eine Welt für sich vorgestellt, als
höhere, wahre, jenseitige Welt: das ist platonische Philosophie.
Ich gebe Ralph Waldo Emerson Recht, wenn er (Repräsentanten der
Menschheit) sagt: «Unter allen weltlichen Büchern hat nur Plato ein
Recht auf das fanatische Lob, das Omar dem Koran erteilte, als er den
Ausspruch tat: »Ihr mögt die Bibliotheken verbrennen, denn was sie
Wertvolles enthalten, das steht in diesem Buche.« Seine Sentenzen
enthalten die Bildung der Nationen; sie sind der Eckstein aller
Schulen, der Brunnenkopf aller Literaturen. Sie sind ein Lehrbuch und
Kompendium der Logik, Arithmetik, Ästhetik, der Poesie und
Sprachwissenschaft, der Rhetorik, Ontologie, der Ethik oder
praktischen Weisheit. Niemals hat sich das Denken und Forschen eines
Mannes über ein so ungeheures Gebiet erstreckt. Aus Plato kommen alle
Dinge, die noch heute geschrieben und unter denkenden Menschen
besprochen werden. » Den letzteren Satz möchte ich etwas genauer in
folgender Form aussprechen. Wie Plato über das Verhältnis des
menschlichen Geistes zur Welt empfunden hat, so empfindet auch heute
die überwiegende Mehrheit der Menschen. Sie empfindet, daß der
Inhalt des menschlichen Geistes, das menschliche Fühlen, Wollen und
Denken auf der Stufenleiter der Erscheinungen oben zu stehen kommt,
aber sie weiß mit diesem geistigen Inhalt nur etwas anzufangen,
wenn er außerhalb des Menschen, als göttliches oder irgend ein
anderes höheres Wesen: notwendige Naturordnung, moralische Weltordnung
— und wie der Mensch sonst das, was er selbst hervorbringt,
genannt hat — vorhanden gedacht wird.
Es ist erklärlich, daß der Mensch so denkt. Die Eindrücke der
Sinne dringen von außen auf ihn ein. Er sieht die Farben, hört
die Töne. Seine Empfindungen, seine Gedanken entstehen in ihm, während
er die Farben sieht, die Töne hört. Seiner eigenen Natur entstammen
diese. Er fragt sich: wie komme ich dazu, aus Eigenem etwas zu dem
hinzuzufügen, was die Welt mir überliefert. Es erscheint ihm ganz
willkürlich, aus sich heraus etwas zur Ergänzung der Außenwelt
zu holen.
In dem Augenblicke aber, in dem er sich sagt: das, was ich da fühle
und denke, das bringe ich nicht aus Eigenem zur Welt hinzu; das hat
ein anderes, höheres Wesen in sie gelegt, und ich hole es nur aus ihr
heraus: in diesem Augenblicke ist er beruhigt. Man braucht dem
Menschen nur zu sagen: du hast deine Meinungen und Gedanken nicht aus
dir selbst, sondern ein Gott hat sie dir geoffenbart: dann ist er
versöhnt mit sich selbst. Und streift er den Glauben an Gott ab, dann
setzt er an seine Stelle: die natürliche Ordnung der Dinge, die ewigen
Gesetze. Daß er diesen Gott, diese ewigen Gesetze nirgends in
der Welt draußen finden kann, daß er sie vielmehr erst zu
der Welt hinzuerschaffen muß, wenn sie da sein sollen: das will
er sich zunächst nicht eingestehen. Es wird ihm schwer, sich zu sagen:
die Welt außer mir ist ungöttlich; ich aber nehme mir, kraft
meines Wesens, das Recht, das Göttliche in sie hineinzuschauen.
Was gehen die schwingende Kirchenlampe die Pendelgesetze an, die im
Geiste Galileis erstanden sind, als er sie betrachtete? Aber der
Mensch selbst kann nicht existieren, ohne einen Zusammenhang
herzustellen zwischen der Außenwelt und der Welt seines Innern.
Sein geistiges Leben ist ein fortwährendes Hineinarbeiten des Geistes
in die Sinnenwelt. Durch seine eigene Arbeit vollzieht sich im Laufe
des geschichtlichen Lebens die Durchdringung von Natur und Geist. Die
griechischen Denker wollten nichts anderes, als daß der Mensch
in ein Verhältnis bereits hineingeboren sei, das erst durch ihn selbst
werden kann. Sie wollten nicht, daß der Mensch erst die Ehe
vollziehe zwischen Geist und Natur; sie wollten, daß er diese
Ehe als vollzogen bereits antreffe und sie nur als fertige Tatsache
betrachte.
Aristoteles (geb. 384 v. Chr.) sah das Widerspruchsvolle, das darinnen
liegt, die im Menschengeiste von den Dingen entstehenden Ideen in eine
übersinnliche, jenseitige Welt zu versetzen. Aber auch er erkannte
nicht, daß die Dinge erst ihre ideelle Seite erhalten, wenn der
Mensch sich ihnen entgegenstellt und sie zu ihnen hinzuerschafft. Er
nahm vielmehr an, daß dieses Ideelle als Entelechie in den
Dingen als ihr eigentliches Prinzip selbst wirksam sei. Die natürliche
Folge dieser seiner Grundansicht war, daß Aristoteles das
sittliche Handeln des Menschen aus seiner ursprünglichen ethischen
Naturanlage ableitete. Die physischen Triebe veredeln sich im Laufe
der menschlichen Entwicklung und erscheinen dann als vernünftig
geleitetes Wollen. In diesem vernünftigen Wollen besteht die Tugend.
In dieser Unmittelbarkeit genommen, scheint es, als ob Aristoteles auf
dem Standpunkt stände, daß wenigstens das sittliche Handeln
seinen Quell in der Eigenpersönlichkeit des Menschen habe. Daß
der Mensch selbst sich aus seinem Wesen heraus Richtung und Ziel
seines Tuns gebe, und sich dieselben nicht von außen
vorschreiben lasse. Aber auch Aristoteles wagt es nicht, bei diesem
sich selbst seine Bestimmung vorzeichnenden Menschen stehen zu
bleiben. Was in dem Menschen als einzelnes vernünftiges Tun auftritt,
sei doch nur eine Ausprägung einer außer ihm existierenden,
allgemeinen Weltvernunft. Die letztere verwirkliche sich in dem
Einzelmenschen; aber sie habe über ihn hinaus ihr selbständiges,
höheres Dasein.
Auch Aristoteles drängt aus dem Menschen hinaus, was er nur im
Menschen vorfindet. Dasjenige, was im Inneren des Menschen angetroffen
wird, als selbständiges, für sich bestehendes Wesen zu denken, und von
diesem Wesen die Dinge der Welt abzuleiten, ist die Tendenz des
griechischen Denkens von Thales bis Aristoteles.
Es muß sich an der Erkenntnis des Menschen rächen, wenn dieser
die Vermittlung des Geistes mit der Natur, die er selbst vollziehen
soll, durch äußere Mächte vollzogen denkt. Er sollte sich in
sein Inneres versenken und da den Anknüpfungspunkt der Sinnenwelt an
die ideelle suchen. Blickt er statt dessen in die Außenwelt, um
diesen Punkt zu finden, so wird er, weil er ihn da nicht finden kann,
einmal notwendig zu dem Zweifel an aller Versöhnung der beiden Mächte
kommen müssen. Dieses Stadium des Zweifels stellt uns die auf
Aristoteles folgende Periode des griechischen Denkens dar. Es kündigt
sich an bei den Stoikern und Epikureern und erreicht seinen Höhepunkt
bei den Skeptikern.
Die Stoiker und Epikureer fühlen instinktiv, daß man das Wesen
der Dinge auf dem von ihren Vorgängern eingeschlagenen Wege nicht
finden kann. Sie verlassen diesen Weg, ohne sich viel um einen neuen
zu kümmern. Den älteren Philosophen war die Welt als Gesamtheit die
Hauptsache. Sie wollten die Gesetze der Welt erforschen, und glaubten,
aus der Welterkenntnis müsse sich die Menschenerkenntnis von selbst
ergeben, denn ihnen war der Mensch ein Glied des Weltganzen wie die
anderen Dinge. Die Stoiker und Epikureer machten den Menschen zur
Hauptsache ihres Nachdenkens. Sie wollten seinem Leben den ihm
entsprechenden Inhalt geben. Sie dachten nach, wie der Mensch leben
solle. Alles übrige war ihnen nur ein Mittel zu diesem Zwecke. Alle
Philosophie gilt den Stoikern nur insofern als etwas Wertvolles, als
durch sie der Mensch erkennen könne, wie er zu leben habe. Als das
richtige Leben des Menschen betrachteten sie dasjenige, welches der
Natur gemäß ist. Um das Naturgemäße in seinem Handeln zu
verwirklichen, muß man dieses Naturgemäße erst erkannt
haben.
In der stoischen Lehre liegt ein wichtiges Zugeständnis an die
menschliche Persönlichkeit. Dasjenige, daß sie sich Zweck und
Ziel sein darf; und daß alles andere, selbst die Erkenntnis, nur
um dieser Persönlichkeit willen da ist.
Noch weiter in dieser Richtung gingen die Epikureer. Ihr Streben
erschöpfte sich darin, das Leben so zu gestalten, daß der Mensch
sich in demselben so zufrieden wie möglich fühle oder daß es ihm
die möglichst große Lust gewähre. So sehr stand ihnen das Leben
im Vordergrunde, daß sie die Erkenntnis nur zu dem Zwecke
trieben, damit der Mensch vor abergläubischer Furcht und vor dem
Unbehagen befreit werde, die ihn befallen, wenn er die Natur nicht
durchschaut.
Durch die Anschauungen der Stoiker und Epikureer zieht ein höheres
menschliches Selbstgefühl als durch diejenigen der älteren
griechischen Denker.
In einer feineren, geistigeren Weise erscheint diese Anschauung bei
den Skeptikern. Sie sagten sich: wenn der Mensch sich über die Dinge
Ideen macht, so kann er sie nur aus sich heraus machen. Und nur aus
sich heraus kann er die Überzeugung schöpfen, daß einem Dinge
eine Idee entspreche. Sie sahen in der Außenwelt nichts, was
einen Grund abgebe zu einer Verknüpfung von Ding und Idee. Und was vor
ihnen von solchen Gründen gesagt worden war, betrachteten sie als
Täuschung und bekämpften es.
Der Grundzug der skeptischen Ansicht ist Bescheidenheit. Ihre Anhänger
wagten nicht zu leugnen, daß es in der Außenwelt eine
Verknüpfung von Idee und Ding gebe; sie leugneten bloß,
daß der Mensch eine solche erkennen könne. Deshalb machten sie
zwar den Menschen zum Quell seines Erkennens; aber sie sahen dieses
Erkennen nicht als den Ausdruck der wahren Weisheit an.
Im Grunde stellt der Skeptizismus die Bankerotterklärung des
menschlichen Erkennens dar. Der Mensch unterliegt dem
selbstgeschaffenen Vorurteil, daß die Wahrheit außen
fertig vorhanden sei, durch die gewonnene Überzeugung, daß seine
Wahrheit nur eine innere, also überhaupt nicht die rechte sein könne.
Mit rückhaltlosem Vertrauen in die Kraft des menschlichen Geistes hat
Thales begonnen, über die Welt nachzudenken. Ein Zweifel daran,
daß dasjenige, was das Nachsinnen als Grund der Welt ansehen
muß, nicht in Wirklichkeit dieser Grund sein könne, lag seinem
naiven Glauben an die Erkenntnisfähigkeit des Menschen ganz ferne. Bei
den Skeptikern ist an die Stelle dieses Glaubens ein vollständiges
Verzichtleisten auf wirkliche Wahrheit getreten.
Zwischen den beiden Extremen, der naiven Vertrauensseligkeit in die
menschliche Erkenntnisfähigkeit und der absoluten Vertrauenslosigkeit,
liegt der Entwicklungsgang des griechischen Denkens. Man kann diesen
Entwicklungsgang begreifen, wenn man beachtet, wie sich die
Vorstellungen über die Ursachen der Welt gewandelt haben. Was sich die
ältesten griechischen Philosophen als solche Ursachen dachten, hatte
sinnliche Eigenschaften. Dadurch hatte man ein Recht, diese Ursachen
in die Außenwelt zu versetzen. Das Ur-Wasser des Thales gehört,
wie jeder andere Gegenstand der Sinnenwelt der äußeren
Wirklichkeit an. Ganz anders wurde die Sache, als Parmenides im Denken
das wahre Sein zu erkennen glaubte. Denn dieses Denken ist seinem
wahren Dasein nach nur im menschlichen Innern wahrzunehmen. Durch
Parmenides erst entstand die große Frage, wie verhält sich das
gedankliche, geistige Sein zu dem äußeren, das die Sinne
wahrnehmen. Man hatte sich nun gewöhnt, das Verhältnis des höchsten
Seins zu demjenigen, das uns täglich umgibt, so vorzustellen, wie sich
Thales das seines sinnlichen Urdings zu den uns umgebenden Dingen
gedacht hat. Es ist durchaus möglich, sich das Hervorgehen aller Dinge
aus dem Wasser, das Thales als Urquell alles Seins hinstellt, analog
gewissen, sinnenfälligen Prozessen vorzustellen, die sich täglich vor
unseren Augen abspielen. Und der Trieb, sich das Verhältnis der uns
umgebenden Welt im Sinne einer solchen Analogie vorzustellen, blieb
auch noch vorhanden, als durch Parmenides und seine Nachfolger das
reine Denken und sein Inhalt, die Ideenwelt, zum Urquell alles Seins
gemacht worden sind. Die Menschen waren wohl reif, einzusehen,
daß die geistige Welt höher steht als die sinnliche, daß
sich der tiefste Weltgehalt im Innern des Menschen offenbart; aber sie
waren nicht sogleich auch reif, sich das Verhältnis zwischen
sinnlicher und ideeller Welt auch ideell vorzustellen. Sie stellten es
sich sinnlich, als ein tatsächliches Hervorgehen vor. Hätten sie es
sich geistig gedacht, so hätten sie ruhig zugestehen können, daß
der Inhalt der Ideenwelt nur im Innern des Menschen vorhanden ist.
Denn dann brauchte das Höhere dem Abgeleiteten nicht zeitlich
voranzugehen. Ein Sinnending kann einen geistigen Inhalt offenbaren;
aber dieser Inhalt kann im Momente der Offenbarung erst aus dem
Sinnendinge heraus geboren werden. Er ist ein späteres
Entwicklungsprodukt als die Sinnenwelt. Stellt man sich das Verhältnis
aber als ein Hervorgehen vor, so muß dasjenige, woraus das
andere hervorgeht, diesem letzteren auch in der Zeit vorangehen. Auf
diese Weise wurde das Kind, die geistige Welt der Sinnenwelt, zur
Mutter der letzteren gemacht. Dies ist der psychologische Grund, warum
der Mensch seine Welt hinausversetzt in die äußere Wirklichkeit,
und von dem, was sein Eigentum und Produkt ist, behauptet: es habe ein
für sich bestehendes, objektives Dasein und er habe sich ihm
unterzuordnen, beziehungsweise er könne sich nur in dessen Besitz
setzen durch Offenbarung oder auf eine andere Weise, durch die die
einmal fertige Wahrheit ihren Einzug in sein Inneres halte.
Diese Deutung, die der Mensch seinem Streben nach Wahrheit, seinem
Erkennen gibt, entspricht einem tiefen Hange seiner Natur. Goethe hat
diesen Hang in seinen Sprüchen in Prosa mit folgenden Worten
gekennzeichnet: «Der Mensch begreift niemals, wie anthropomorphisch er
ist.» Und: Fall und Stoß. Dadurch die Bewegung der Weltkörper
erklären zu wollen, ist eigentlich ein versteckter Anthropomorphismus,
es ist des Wanderers Gang über Feld. Der aufgehobene Fuß sinkt
nieder, der zurückgebliebene strebt vorwärts und fällt; und immer so
fort, vom Ausgehen bis zum Ankommen.» (Vergl. Kürschners
Nationallitteratur, Goethe-Ausgabe Bd. 36, 2 S. 353). Alle Erklärung
der Natur besteht eben darinnen, daß Erfahrungen, die der Mensch
an sich selbst macht, in den Gegenstand hineingedeutet werden. Selbst
die einfachsten Erscheinungen werden auf diese Weise erklärt. Wenn wir
den Stoß zweier Körper erklären, so geschieht das dadurch,
daß wir uns vorstellen, der eine Körper übe auf den anderen eine
ähnliche Wirkung aus, wie wir selbst, wenn wir einen Körper
stoßen. So wie wir es hier mit etwas Untergeordnetem machen, so
macht es der religiöse Mensch mit seiner Gottesvorstellung. Er deutet
menschliche Denk- und Handlungsweise in die Natur hinein; und auch die
angeführten Philosophen von Parmenides bis Aristoteles deuteten
menschliche Denkvorgänge in die Natur hinein.
Das hiermit angedeutete Bedürfnis des Menschen hat Max Stirner im
Sinne, wenn er sagt: «Was in dem Weltall spukt und sein mysteriöses,
unbegreifliches Wesen treibt, das ist eben der geheimnisvolle Spuk,
den wir höchstes Wesen nennen. Und diesem Spuk auf den Grund zu
kommen, ihn zu begreifen, in ihm Wirklichkeit zu entdecken (das
«Dasein Gottes» zu beweisen), diese Aufgabe setzten sich Jahrtausende
die Menschen; mit der gräßlichen Unmöglichkeit, der endlosen
Danaidenarbeit, den Spuk in einen Nicht-Spuk, das Unwirkliche in ein
Wirkliches, den Geist in eine ganze und leibliche Person zu
verwandeln, — damit quälten sie sich ab. Hinter der daseienden
Welt suchen sie das <Ding an sich>, das Wesen, sie suchen hinter
dem Ding das Unding».
Innere liefert die tiefste menschliche Weisheit. Aber zu dieser
Versenkung muß sich der Mensch erst erziehen. Er muß sich
gewöhnen, eine Wirklichkeit zu schauen, die frei von alle dem ist, was
uns die Sinne überliefern. Menschen, die ihre Erkenntniskräfte bis zu
dieser Höhe gebracht haben, sprechen von einem inneren Licht, das
ihnen aufgegangen ist. Jacob Böhme, der christliche Mystiker des
siebzehnten Jahrhunderts, betrachtete sich als einen solch innerlich
Erleuchteten. Er sieht in sich das Reich, das er als das höchste dem
Menschen erkennbare bezeichnen muß. Er sagt: «Im menschlichen
Gemüte liegt die Signatur ganz künstlich zugerichtet, nach dem Wesen
aller Wesen.»
Das Anschauen der menschlichen Innenwelt setzt der Neuplatonismus an
die Stelle der Spekulation über eine jenseitige Außenwelt. Dabei
tritt die höchst charakteristische Erscheinung auf, daß der
Neuplatoniker sein eigenes Innere für ein Fremdes ansieht. Bis zur
Erkenntnis des Ortes, an dem das letzte Glied der Welt zu suchen ist,
hat man es gebracht; was an diesem Orte sich vorfindet, hat man falsch
gedeutet. Der Neuplatoniker beschreibt deshalb die inneren Erlebnisse
seiner Ekstase, wie Plato die Wesen seiner übersinnlichen Welt
beschreibt.
Bezeichnend ist, daß der Neuplatonismus gerade dasjenige aus dem
Wesen der Innenwelt ausschließt, was den eigentlichen Kern
derselben ausmacht. Der Zustand der Ekstase soll nur dann eintreten,
wenn das Selbstbewußtsein schweigt. Es war deshalb nur
natürlich, daß der Geist im Neuplatonismus sich selbst, seine
eigene Wesenheit nicht in ihrem wahren Lichte schauen konnte. In
dieser Anschauung haben die Ideengänge, die den Inhalt der
griechischen Philosophie ausmachen, ihren Abschluß gefunden. Sie
stellen sich dar als Sehnsucht des Menschen, sein eigenes Wesen als
Fremdes zu erkennen, zu schauen, anzubeten.
Nach der naturgemäßen Entwicklung hätte innerhalb der
abendländischen Geistesentwicklung auf den Neuplatonismus die
Entdeckung des Egoismus folgen müssen. Das heißt, der Mensch
hätte das als fremd angesehene Wesen als sein Eigenes erkennen müssen.
Er hätte sich sagen müssen: das höchste, was es in der dem Menschen
gegebenen Welt gibt, ist das individuelle Ich, dessen Wesen in dem
Inneren der Persönlichkeit zur Erscheinung kommt.
Dieser natürliche Gang der abendländischen Geistesentwicklung wurde
aufgehalten durch die Ausbreitung der christlichen Lehre. Das
Christentum bietet dasjenige, was die griechische Philosophie in der
Sprache des Weltweisen zum Ausdruck bringt, in volkstümlichen,
sozusagen, mit Händen zu greifenden Vorstellungen dar. Wenn man sich
vergegenwärtigt, wie tief eingewurzelt in der Menschennatur der Drang
ist, sich der eigenen Wesenheit zu entäußern, so erscheint es
begreiflich, daß diese Lehre eine so unvergleichliche Macht über
die Gemüter gewonnen hat. Um diesen Drang auf philosophischem Wege zu
befriedigen: dazu gehört eine hohe Entwicklungsstufe des Geistes. Ihn
in der Form des christlichen Glaubens zu befriedigen, reicht das
naivste Gemüt aus. Nicht einen feingeistigen Inhalt wie Platos
Ideenwelt, nicht ein dem erst zu entfachenden inneren Lichte
entströmendes Erleben stellt das Christentum als höchste Weltwesenheit
dar, sondern Vorgänge mit den Attributen sinnlich-greifbarer
Wirklichkeit. Ja es geht so weit, das höchste Wesen in einem einzelnen
historischen Menschen zu verehren. Mit solchen greifbaren
Vorstellungen konnte der philosophische Geist Griechenlands nicht
dienen. Solche Vorstellungen lagen hinter ihm in der Mythologie des
Volkes. Hamann, Herders Vorläufer auf dem Gebiete der
Religionswissenschaft, bemerkt einmal: Ein Philosoph für Kinder sei
Plato nie gewesen. Die Kindesgeister aber sind es, für die «der
heilige Geist den Ehrgeiz gehabt hat, ein Schriftsteller zu werden».
Und diese kindliche Form der menschlichen Selbstentfremdung ist für
Jahrhunderte von dem denkbar größten Einflusse gewesen für die
philosophische Gedankenentwicklung. Wie ein Nebel lagert sich die
christliche Lehre vor das Licht, von dem die Erkenntnis des eigenen
Wesens hätte ausgehen sollen. Die Kirchenväter der ersten christlichen
Jahrhunderte suchen durch allerlei philosophische Begriffe den
volkstümlichen Vorstellungen eine Form zu geben, in der sie auch einem
gebildeteren Bewußtsein annehmbar scheinen konnten. Und die
späteren Kirchenlehrer, deren bedeutendster Vertreter der heilige
Augustin ist (gestorben 430) setzten diese Bestrebungen in demselben
Geiste fort. Der Inhalt des christlichen Glaubens wirkte so
faszinierend, daß von einem Zweifel an seiner Wahrheit nicht die
Rede sein konnte, sondern nur von einem Heraufheben derselben in ein
mehr geistiges, ideelleres Gebiet. Die Philosophie der Kirchenlehrer
ist Umsetzung des christlichen Glaubensinhaltes in ein Ideengebäude.
Der allgemeine Charakter dieses Ideengebäudes konnte aus diesem Grunde
kein anderer sein als der des Christentums: Hinausversetzung der
menschlichen Wesenheit in die Welt, Selbstentäußerung. So ist es
gekommen, daß Augustin wieder an den richtigen Ort kommt, wo das
Weltwesen zu finden ist; und daß er an diesem Orte wieder ein
Fremdes findet. In dem eigenen Sein des Menschen sucht er den Quell
aller Wahrheit; die inneren Erlebnisse der Seele erklärt er für das
Fundament der Erkenntnis. Aber die christliche Glaubenslehre hat an
den Ort, an dem er suchte, den außermenschlichen Inhalt gelegt.
Deshalb fand er an dem rechten Orte die unrechten Wesenheiten.
Es folgt nun eine Jahrhunderte lange Anstrengung des menschlichen
Denkens, die keinen anderen Zweck hatte, als mit Aufwendung aller
Kraft des menschlichen Geistes den Beweis zu erbringen, daß der
Inhalt dieses Geistes nicht in diesem Geiste, sondern an dem Orte zu
suchen sei, wohin ihn der christliche Glaube versetzt hat. Die
Gedankenbewegung, die aus dieser Anstrengung hervorwuchs, wird als
Scholastik bezeichnet. — In diesem Zusammenhange können all die
Spitzfindigkeiten der Scholastiker nicht interessieren. Denn eine
Entwicklung nach der Richtung hin, in der die Erkenntnis des
persönlichen Ichs liegt, bedeutet diese Ideenbewegung nicht im
geringsten.
Wie dicht die Nebelwolke war, welche das Christentum vor die
menschliche Selbsterkenntnis geschoben hat, wird am offenbarsten durch
die Tatsache, daß der abendländische Geist nun überhaupt unfähig
wurde, rein aus sich heraus auch nur einen Schritt auf dem Wege zu
dieser Selbsterkenntnis zu machen. Er bedurfte eines zwingenden
Anstoßes von außen. Er konnte auf dem Grunde der Seele
nicht finden, was er so lange in der Außenwelt gesucht hatte. Es
wurde ihm aber der Beweis erbracht: diese Außenwelt kann gar
nicht so geartet sein, daß er das Wesen, das er suchte, in ihr
finden konnte. Dies geschah durch das Aufblühen der
Naturwissenschaften im sechzehnten Jahrhundert. So lange der Mensch
von der Beschaffenheit der natürlichen Vorgänge nur unvollkommene
Vorstellungen hatte, war in der Außenwelt Raum für göttliche
Wesenheiten und für das Wirken eines persönlichen, göttlichen Willens.
Als aber Kopernikus (1473-1543) und Kepler (1571-1630) ein natürliches
Bild der Welt entwarfen, war für ein christliches kein Platz mehr
vorhanden. Und als Galilei (1564-1642) die Fundamente zu einer
Erklärung der natürlichen Vorgänge durch Naturgesetze legte,
mußte der Glaube an die göttlichen Gesetze ins Wanken kommen.
Nun mußte man das Wesen, das der Mensch als das höchste
anerkennt, und das ihm aus der Außenwelt herausgedrängt wurde,
auf einem neuen Wege suchen.
Die philosophischen Folgerungen der durch Kopernikus, Kepler und
Galilei gegebenen Voraussetzungen zog Baco von Verulam (1561-1626).
Sein Verdienst um die abendländische Weltanschauung ist im Grunde nur
ein negatives. Er hat in kräftiger Weise dazu aufgefordert, den Blick
frei und unbefangen auf die Wirklichkeit, auf das Leben zu richten. So
banal diese Forderung erscheint: es ist doch nicht zu leugnen,
daß die abendländische Gedankenentwicklung Jahrhunderte lang
schwer gegen sie gesündigt hat. Unter die wirklichen Dinge gehört auch
das eigene Ich des Menschen. Und sieht es nicht fast aus, als wenn es
in der Naturanlage des Menschen läge, dieses Ich nicht unbefangen
betrachten zu können? Nur die Ausbildung eines vollkommen
unbefangenen, unmittelbar auf das Wirkliche gerichteten Sinnes kann
zur Selbsterkenntnis führen. Der Weg der Naturerkenntnis ist auch der
Weg der Icherkenntnis.
Es traten nun in der abendländischen Gedankenentwicklung zwei
Strömungen auf, die auf verschiedenen Wegen den durch die
Naturwissenschaften notwendig gemachten neuen Erkenntniszielen
zustrebten. Die eine geht auf Jacob Böhme (1575-1624), die andere auf
Rene Descartes (1596-1650) zurück.
Jacob Böhme und Descartes standen nicht mehr im Banne der Scholastik.
Jener hat eingesehen, daß es im Weltenraume nirgends einen Platz
für den Himmel gibt; deshalb wird er Mystiker. Er sucht den Himmel im
Innern des Menschen. Dieser hat erkannt, daß das Haften der
Scholastiker an der christlichen Lehre nur eine Sache der durch
Jahrhunderte erzeugten Gewöhnung an diese Vorstellung ist. Deshalb
hielt er es für notwendig, zunächst an diesen gewohnten Vorstellungen
zu zweifeln und eine Erkenntnisart zu suchen, durch die der Mensch zu
einem solchen Wissen kommen kann, dessen Sicherheit er nicht aus
Gewohnheit behauptet, sondern die ihm durch die eigenen Geisteskräfte
in jedem Augenblick verbürgt werden kann.
Es sind also starke Ansätze, welche, sowohl bei Böhme wie bei
Descartes, das menschliche Ich macht, sich selbst zu erkennen. Dennoch
sind beide in ihren weiteren Ausführungen von den alten Vorurteilen
überwältigt worden. Es wurde schon angedeutet, daß Jacob Böhme
eine gewisse geistige Verwandtschaft mit den Neuplatonikern hat. Seine
Erkenntnis ist Einkehr in das eigene Innere. Was ihm aber in diesem
Innern entgegentritt, ist nicht das Ich des Menschen, sondern doch
wieder nur der Christengott. Er wird gewahr, daß im eigenen
Gemüte dasjenige sitzt, wonach der erkenntnisbedürftige Mensch
begehrt. Erfüllung der heißesten, menschlichen Sehnsuchten
strömt ihm von da aus entgegen. Das führt ihn aber nicht zu der
Ansicht, daß das Ich durch Steigerung seiner Erkenntniskräfte
imstande ist, seine Ansprüche aus sich selbst heraus auch zu
befriedigen. Es bringt ihn vielmehr zu der Meinung, auf dem
Erkenntniswege in das Gemüt den Gott wahrhaft gefunden zu haben, den
das Christentum nur auf einem falschen Wege gesucht habe. Statt
Selbsterkenntnis sucht Jacob Böhme Vereinigung mit Gott, statt Leben
mit den Schätzen des eigenen Innern sucht er ein Leben in Gott.
Es ist einleuchtend, daß von der menschlichen Selbsterkenntnis
oder Selbstverkennung auch abhängen wird, wie der Mensch über sein
Handeln, über sein sittliches Leben denkt. Das Gebiet des Sittlichen
baut sich ja, gleichsam als höheres Stockwerk, über den rein
natürlichen Vorgängen auf. Der christliche Glaube, der schon diese
natürlichen Vorgänge als Ausfluß des göttlichen Willens ansieht,
wird in dem Sittlichen um so mehr diesen Willen suchen. In der
christlichen Sittenlehre zeigt sich fast noch klarer als sonst
irgendwo das Schiefe dieser Weltanschauung. Welch ungeheure Sophistik
auch die Theologie auf diesem Gebiete aufgewendet hat: es bleiben hier
Fragen bestehen, die vom Standpunkte des Christentums aus in weithin
deutlichen Zügen das Widerspruchvolle zeigen. Wenn ein solches
Urwesen, wie der Christengott, angenommen wird, so bleibt es
unverständlich, wie das Gebiet des Handelns in zwei Reiche zerfallen
kann: in das des Guten, und das des Bösen. Denn alle Handlungen
müßten aus dem Urwesen fließen und folglich die
gleichartigen Züge ihres Ursprungs tragen. Sie müßten eben
göttlich sein. Ebensowenig ist auf diesem Boden die menschliche
Verantwortlichkeit zu erklären. Der Mensch wird ja von dem göttlichen
Willen gelenkt. Er kann sich diesem also nur überlassen; er kann nur
durch sich geschehen lassen, was Gott vollbringt.
Genau dasselbe, was auf dem Gebiete der Erkenntnislehre eingetreten
ist, hat sich auch innerhalb der Anschauungen über die Sittlichkeit
vollzogen. Der Mensch kam seinem Hange entgegen, das eigene Selbst aus
sich herauszureißen und als ein Fremdes hinzustellen. Und so wie
auf dem Erkenntnisgebiete dem als außermenschlich angesehenen
Urwesen kein anderer Inhalt gegeben werden konnte, als der aus dem
eigenen Innern geschöpfte, so konnten in diesem Wesen auch keine
sittlichen Absichten und Antriebe zum Handeln gefunden werden, als die
eigenen der menschlichen Seele. Wovon der Mensch in seinem tiefsten
Innern überzeugt war, daß es geschehen soll, das betrachtete er
als das vom Welturwesen Gewollte. Auf diese Weise hatte man auf
ethischem Gebiete eine Zweiheit geschaffen. Man stellte dem Selbst,
das man in sich hatte und aus dem heraus man handeln mußte, den
eigenen Inhalt als das sittlich Bestimmende gegenüber. Und dadurch
konnten sittliche Forderungen entstehen. Das Selbst des Menschen
durfte nicht sich, es mußte einem Fremden folgen. Der
Selbstentfremdung auf dem Erkenntnisgebiet entspricht auf dem
moralischen Felde die Selbstlosigkeit der Handlungen. Diejenigen
Handlungen sind gut, bei denen das Ich dem Fremden folgt; diejenigen
dagegen böse, bei denen es sich selbst folgt. In der Selbstsucht sieht
das Christentum den Quell des Bösen. Nie hätte das geschehen können,
wenn man eingesehen hätte, daß das gesamte Sittliche seinen
Inhalt nur aus dem eigenen Selbst schöpfen kann. Man kann die ganze
Summe der christlichen Sittenlehre in dem Satze zusammenfassen:
Gesteht sich der Mensch ein, daß er nur den Geboten seines
eigenen Wesens folgen kann und handelt er darnach, so ist er böse;
verbirgt sich ihm diese Wahrheit und setzt er — oder läßt
setzen — die eigenen Gebote als fremde, über sich, um ihnen
gemäß zu handeln; so ist er gut.
Vielleicht am vollkommensten durchgeführt ist die Morallehre der
Selbstlosigkeit in einem Buche aus dem vierzehnten Jahrhundert: «Die
deutsche Theologie». Der Verfasser des Buches ist uns unbekannt. Er
hat die Selbstentäußerung so weit getrieben, dafür zu sorgen,
daß sein Name nicht auf die Nachwelt komme. In dem Buche
heißt es: «Das ist kein wahres Wesen und hat kein Wesen, anders
denn in dem Vollkommenen, sondern es ist ein Zufall oder ein Glanz und
ein Schein, der kein Wesen ist oder kein Wesen hat, anders als in dem
Feuer, wo der Glanz ausfließt, oder in der Sonne, oder in dem
Lichte. Die Schrift spricht und der Glaube und die Wahrheit: Sünde sei
nichts anderes, denn daß sich die Kreatur abkehrt von dem
unwandelbaren Gute und kehret sich zu dem wandelbaren, das ist:
daß sie sich kehrt von dem Vollkommenen zu dem Geteilten und
Unvollkommenen und allermeist zu sich selber. Nun merke. Wenn sich die
Kreatur etwas Gutes annimmt, als Wesens, Lebens, Wissens, Erkennens,
Vermögens und kürzlich alles dessen, was man gut nennen soll, und
meint, daß sie das sei oder daß es das Ihre sei oder ihr
zugehöre oder daß es von ihr sei: so oft und viel dabei
geschieht, so kehrt sie sich ab. Was tat der Teufel anders oder was
war sein Fall und Abkehren anders, als daß er sich annahm, er
wäre auch etwas und etwas wäre sein und ihm gehörte auch etwas zu?
.Dies Annehmen und sein Ich und sein Mich, sein Mir und sein Mein, das
war sein Abkehren und sein Fall. Also ist es noch. — Denn alles
das, was man für gut hält oder gut nennen soll, das gehört niemand zu,
denn allein dem ewigen, wahren Gut, das Gott allein ist, und wer sich
dessen annimmt, der tut Unrecht und wider Gott.»
Mit der Wendung, die Jacob Böhme dem Verhältnisse des Menschen zu Gott
gegeben hat, hängt auch eine Änderung der Anschauungen über das
Sittliche gegenüber den alten christlichen Vorstellungen zusammen.
Gott wirkt als Veranlasser des Guten zwar noch immer als höheres in
dem menschlichen Selbst, aber er wirkt eben in diesem Selbst, nicht
von außen auf dasselbe. Es entsteht dadurch eine Verinnerlichung
des sittlichen Handelns. Das übrige Christentum hat nur eine
äußere Befolgung des göttlichen Willens verlangt. Bei Jacob
Böhme treten die früher getrennten Wesenheiten, das wirkliche
Persönliche und das zum Gott gemachte in einen lebendigen
Zusammenhang. Dadurch wird nun wohl der Quell des Sittlichen in das
menschliche Innere verlegt; aber das ethische Prinzip der
Selbstlosigkeit erscheint noch stärker betont. Wird Gott als
äußere Macht angesehen, so ist das menschliche Selbst das
eigentlich Handelnde. Es handelt entweder im Sinne Gottes, oder diesem
entgegen: Wird aber Gott in das menschliche Innere verlegt, so handelt
der Mensch nicht mehr selber, sondern Gott in ihm. Gott lebt sich
unmittelbar in dem menschlichen Leben dar. Der Mensch verzichtet
darauf, ein eigenes Leben zu haben; er macht sich zu einem Gliede des
göttlichen Lebens. Er fühlt sich in Gott, Gott in sich, er wächst mit
dem Urwesen zusammen; er wird ein Organ desselben.
In dieser deutschen Mystik hat der Mensch also seine Teilnahme am
göttlichen Leben mit der vollständigsten Auslöschung seiner
Persönlichkeit, seines Ich erkauft. Den Verlust des Persönlichen
fühlten Jacob Böhme und die Mystiker, die seiner Anschauung waren,
nicht. Im Gegenteil: sie empfanden etwas besonders Erhebendes bei dem
Gedanken, daß sie des göttlichen Lebens unmittelbar teilhaftig
seien, daß sie Glieder am göttlichen Organismus seien. Der
Organismus kann ja nicht bestehen, ohne seine Glieder. Der Mystiker
fühlte sich deshalb als ein Notwendiges innerhalb des Weltganzen, als
ein Wesen, das Gott unentbehrlich ist. — Angelus Silesius
(1624-1677), der in demselben Geiste, wie Jacob Böhme, empfindende
Mystiker, spricht das in einem schönen Satze (seines «Cherubinischen
Wandersmannes») aus:
«Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben,
Werd' ich zu nicht, er muß von Not den Geist aufgeben.»
Und noch charakteristischer in einem andern:
«Gott mag nicht ohne mich ein einzigs Würmlein machen,
Erhalt' ich's nicht mit ihm, so muß es stracks
zerkrachen.»
Das menschliche Ich macht hier in kräftigster Weise sein Recht geltend
gegenüber seinem in die Außenwelt versetzten Bilde. Dem
vermeintlichen Urwesen wird zwar auch hier nicht gesagt, daß es
die von dem Menschen sich gegenüber gestellte eigene menschliche
Wesenheit ist; aber die letztere wird zum Erhalter des göttlichen
Urgrundes gemacht.
Eine starke Empfindung davon, daß der Mensch sich durch seine
Gedankenentwicklung in ein schiefes Verhältnis zur Welt gebracht hat,
hatte Descartes. Deshalb setzte er zunächst allem, was aus dieser
Gedankenentwicklung hervorgegangen war, den Zweifel entgegen. Nur wenn
man an allem zweifelt, was die Jahrhunderte als Wahrheiten entwickelt
haben, kann man — nach seiner Meinung — die notwendige
Unbefangenheit gewinnen für einen neuen Ausgangspunkt. Es lag in der
Natur der Sache, daß Descartes durch diesen seinen Zweifel auf
das menschliche Ich geführt wurde. Denn je mehr der Mensch alles
übrige als ein noch zu Suchendes hinstellt, ein desto intensiveres
Gefühl muß er von seiner eigenen suchenden Persönlichkeit
erhalten. Er kann sich sagen: vielleicht irre ich auf den Wegen des
Daseins; um so deutlicher nur wird er auf sich selbst, den Irrenden,
gewiesen. Das Cogito, ergo sum (ich denke, also bin ich) des Descartes
ist ein solcher Hinweis. Descartes dringt auch noch weiter. Er hat ein
Bewußtsein davon, daß die Art, wie der Mensch über sich
selbst zur Erkenntnis kommt, vorbildlich für alle anderen Erkenntnisse
sein soll, die er zu erwerben trachtet. Als hervorstechendste
Eigenschaften der Selbsterkenntnis erscheinen Descartes die Klarheit
und die Deutlichkeit. Diese beiden Eigenschaften fordert er deshalb
auch von allen übrigen Erkenntnissen. Was der Mensch ebenso klar und
deutlich einsieht, wie sein eigenes Sein: das kann allein als
gewiß gelten.
Damit ist, wenigstens nach einer Richtung hin, die absolut zentrale
Stellung des Ich im Weltganzen anerkannt, nach der Richtung der
Methode des Erkennens. Der Mensch richtet das Wie seiner
Welterkenntnis nach dem Wie seiner Selbsterkenntnis ein und fragt
nicht mehr nach einem äußeren Wesen, um dieses Wie zu
rechtfertigen. Nicht wie ein Gott das Erkennen vorschreibt, will der
Mensch denken, sondern wie er es sich selbst einrichtet. Hinsichtlich
des Wie zieht der Mensch die Kraft seiner Weisheit nunmehr aus sich
selbst.
In Bezug auf das Was tat Descartes nicht den gleichen Schritt. Er ging
daran, Vorstellungen über die Welt zu gewinnen und durchsuchte —
dem eben angeführten Erkenntnisprinzip gemäß — das eigene
Innere nach solchen Vorstellungen. Da fand er die Gottesvorstellung.
Sie war natürlich nichts weiter als die Vorstellung des menschlichen
Ich. Das erkannte Descartes nicht. Er wurde dadurch getäuscht,
daß die Idee von Gott als des allervollkommensten Wesens sein
Denken in eine ganz falsche Bahn brachte. Die eine Eigenschaft, die
der allergrößten Vollkommenheit, überstrahlte für ihn alle
übrigen des zentralen Wesens. Er sagte sich: die Vorstellung eines
allervollkommensten Wesens kann der Mensch, der selbst unvollkommen
ist, nicht aus sich selbst schöpfen, also kann sie ihn nur von
außen, von dem allervollkommensten Wesen selbst kommen. Somit
existiert dieses allervollkommenste Wesen. Hätte Descartes den wahren
Inhalt der Gottesvorstellung untersucht, so hätte er gefunden,
daß dieser vollkommen gleich der Ichvorstellung, und die
Vollkommenheit nur eine im Gedanken vollzogene Steigerung dieses
Inhalts ist. Der wesentliche Inhalt einer Elfenbeinkugel wird dadurch
nicht geändert, daß ich sie mir unendlich groß denke.
Ebensowenig wird aus der Ichvorstellung durch eine solche Steigerung
etwas anderes.
Der von Descartes geführte Beweis des Daseins Gottes ist also wieder
nichts als eine Umschreibung des menschlichen Bedürfnisses, das eigene
Ich als außer menschliches Wesen zum Weltengrunde zu machen.
Hier zeigt es sich aber gerade mit voller Deutlichkeit, daß der
Mensch für dies außermenschliche Urwesen keinen eigenen Inhalt
gewinnen, sondern ihm nur denjenigen seiner Ichvorstellung in
unwesentlich geänderter Form leihen kann.
Mit Spinoza (1632-1677) ist auf dem Wege, der zur Eroberung der
Ichvorstellung führen muß, kein Schritt vorwärts, sondern einer
zurück getan worden. Denn Spinoza hat kein Gefühl von der
einzigartigen Stellung des menschlichen Ich. Für ihn erschöpft sich
der Strom der Weltvorgänge in einem System von natürlichen
Notwendigkeiten, wie er sich für die christlichen Philosophen in einem
System von göttlichen Willensakten erschöpft. Hier wie dort ist das
menschliche Ich nur ein Glied in diesem System. Für den Christen ist
der Mensch in der Hand Gottes; für Spinoza in derjenigen des
natürlichen Weltgeschehens. Der Christengott hat bei Spinoza einen
anderen Charakter erhalten. Der in der seit des Aufblühens
naturwissenschaftlicher Einsichten herangewachsene Philosoph kann
keinen Gott anerkennen, der nach Willkür die Welt lenkt, sondern nur
ein Urwesen, das existiert, weil seine Existenz durch es selbst eine
Notwendigkeit ist und das den Weltenlauf nach den unabänderlichen
Gesetzen leitet, die aus seiner eigenen absolut notwendigen Wesenheit
fließen. Daß der Mensch das Bild, unter dem er sich diese
Notwendigkeit vorstellt, seinem eigenen Inhalte entnimmt, davon hat
Spinoza kein Bewußtsein. Aus diesem Grunde wird auch das
sittliche Ideal Spinozas ein unpersönliches, unindividuelles. Nach
seinen Voraussetzungen kann er ja nicht in der Vervollkommnung des
Ich, in der Steigerung der eigenen Kräfte des Menschen ein Ideal
erblicken, sondern in der Durchdringung des Ich mit dem göttlichen
Weltinhalte, mit der höchsten Erkenntnis des objektiven Gottes. Sich
an diesen Gott zu verlieren, soll Ziel des menschlichen Strebens sein.
Der Weg, den Descartes eingeschlagen hatte: vom Ich aus zur
Welterkenntnis vorzudringen, wird nunmehr von den Philosophen der
Neuzeit fortgesetzt. Die christlich-theologische Methode, die kein
Vertrauen in die Kraft des menschlichen Ichs als Erkenntnisorgan
hatte, war wenigstens überwunden. Das eine wurde anerkannt, daß
das Ich selbst das höchste Wesen finden müsse. Von da bis zu dem
anderen Punkte, bis zu der Einsicht, daß der im Ich liegende
Inhalt auch das höchste Wesen ist, ist freilich ein weiter Weg.
Weniger tiefsinnig als Descartes gingen die englischen Philosophen
Locke (1632-1704) und Hume (1711-1776) an die Untersuchung der Wege,
die das menschliche Ich einschlägt; um zu einer Aufklärung über sich
und die Welt zu kommen. Beiden ging vor allen Dingen eines ab: der
gesunde, freie Blick in das menschliche Innere. Sie konnten daher auch
keine Vorstellung von dem großen Unterschied bekommen, der
besteht zwischen der Erkenntnis äußerer Dinge und derjenigen des
menschlichen Ich. Alles, was sie sagen, bezieht sich nur auf die
Erwerbung äußerer Erkenntnisse. Locke übersieht vollständig,
daß der Mensch, indem er sich über die äußeren Dinge
aufklärt, über diese ein Licht verbreitet, das seinem eigenen Innern
entströmt. Er glaubt daher, daß alle Erkenntnisse aus der
Erfahrung stammen. Aber was ist Erfahrung? Galilei sieht eine
schwingende Kirchenlampe. Sie führt ihn dazu, die Gesetze zu finden,
nach denen ein Körper schwingt. Er hat zweierlei erfahren: erstens
durch seine Sinne äußere Vorgänge. Zweitens aus sich heraus die
Vorstellung eines Gesetzes, das über diese Vorgänge aufklärt, sie
begreiflich macht. Man kann nun natürlich das eine wie das andere
Erfahrung nennen. Aber dann verkennt man eben den Unterschied, der
zwischen den beiden Teilen des Erkenntnisvorganges besteht. Ein Wesen,
das nicht aus dem Inhalt seines Wesens heraus schöpfen könnte, würde
ewig vor der schwingenden Kirchenlampe stehen: die sinnliche
Wahrnehmung würde sich nie durch ein begriffliches Gesetz ergänzen.
Locke und alle, die so denken wie er, lassen sich durch etwas täuschen
nämlich durch die Art, wie die Erkenntnisinhalte an uns herankommen.
Sie steigen eben einfach auf dem Horizonte unseres Bewußtseins
auf. Dieses Aufsteigen bildet die Erfahrung. Aber anerkannt werden
muß, daß der Inhalt der Erfahrungsgesetze von dem Ich an
den Erfahrungen entwickelt wird. Bei Hume zeigt sich zweierlei.
Einmal, daß dieser Mann, wie schon erwähnt, die Natur des Ich
nicht erkennt und deshalb gerade so, wie Locke, den Inhalt der Gesetze
aus der Erfahrung ableitet. Und dann, daß dieser Inhalt durch
Loslösung von dem Ich völlig sich ins Ungewisse verliert, frei in der
Luft ohne Halt und Grundlage hängt. Hume erkennt, daß die
äußere Erfahrung nur unzusammenhängende Vorgänge überliefert;
sie bietet mit diesen Vorgängen zusammen nicht zugleich die Gesetze,
nach denen sie verknüpft sind. Da von dem Wesen des Ich Hume nichts
weiß, kann er aus ihm auch nicht die Berechtigung zu solcher
Verknüpfung ableiten. Er leitet sie daher aus dem vagsten Ursprung
her, der sich denken läßt, aus der Gewöhnung. Der Mensch sieht,
daß auf einen gewissen Vorgang immer ein anderer folgt; auf den
Fall des Steines folgt die Aushöhlung des Bodens, auf den er fällt.
Folglich gewöhnt sich der Mensch daran, solche Vorgänge in einer
Verknüpfung zu denken. Alle Erkenntnis verliert ihre Bedeutung, wenn
man von solchen Voraussetzungen ausgeht. Die Verbindung der Vorgänge
und ihrer Gesetze gewinnt etwas rein Zufälliges.
Einen Mann, dem das schöpferische Wesen des Ich voll zum
Bewußtsein gekommen ist, sehen wir in George Berkeley
(1684-1753). Er hatte eine deutliche Vorstellung von der eigenen
Tätigkeit des Ich beim Zustandekommen aller Erkenntnis. Wenn ich einen
Gegenstand sehe, sagte er sich, so bin ich tätig. Ich schaffe mir
meine Wahrnehmung. Der Gegenstand einer Wahrnehmung bliebe immer
jenseits meines Bewußtseins, er wäre für mich nicht da, wenn ich
sein totes Dasein nicht fort- während durch meine Tätigkeit belebte.
Nur diese meine belebende Tätigkeit nehme ich wahr, nicht das, was ihr
objektiv als toter Gegenstand vorangeht. Wohin ich in meiner
Bewußtseinssphäre blicke: überall sehe ich mich selbst als
Tätiges, als Schaffendes. In Berkeleys Denken gewinnt das Ich ein
universelles Leben. Was weiß ich von einem Sein der Dinge, wenn
ich dieses Sein nicht vorstelle?
Aus schaffenden Geistern, die aus sich heraus eine Welt bilden,
besteht für Berkeley die Welt. Aber auf dieser Stufe der Erkenntnis
trat auch bei ihm das alte Vorurteil wieder auf. Er läßt das Ich
sich zwar seine Welt schaffen, aber er gibt ihm nicht zugleich die
Kraft, aus sich selbst zu schaffen. Es muß doch wieder eine
Gottesvorstellung herhalten. Das schaffende Prinzip im Ich ist Gott
auch bei ihm.
Dieser Philosoph aber zeigt uns eines. Wer sich wirklich in das Wesen
des schaffenden Ichs versenkt, der kommt aus demselben nicht wieder
heraus zu einem äußeren Wesen, es sei denn auf gewaltsame Weise.
Und gewaltsam geht Berkeley vor. Er führt, ohne zwingende
Notwendigkeit, das Schaffen des Ich auf Gott zurück. Frühere
Philosophen entleerten das Ich seines Inhaltes, und dadurch hatten sie
für ihren Gott einen solchen. Berkeley tut das nicht. Deshalb vermag
er nichts anderes, als neben die schöpferischen Geister noch einen
besonderen zu setzen, der im Grunde mit ihnen völlig gleichartig, d.
h. also doch wohl unnötig ist.
Noch auffälliger wird das bei dem deutschen Philosophen Leibniz (
1646-1716). Auch er hatte Einblick in die schöpferische Tätigkeit des
Ich. Er überblickte den Umfang dieser Tätigkeit ganz deutlich und sah
ihre innere Geschlossenheit, ihr Beruhen auf sich selbst. Eine Welt
für sich, eine Monade wurde ihm deshalb das Ich. Und alles, was Dasein
hat, kann es nur dadurch haben, daß es sich selbst einen
geschlossenen Inhalt gibt. Nur Monaden, d. h. aus sich und in sich
schaffende Wesen existieren. Abgetrennte Welten für sich, die auf
nichts außer ihnen, angewiesen sind. Welten bestehen, keine
Welt. Jeder Mensch ist eine Welt, eine Monade für sich. Wenn nun diese
Welten doch mit einander übereinstimmen, wenn sie von einander wissen
und die Inhalte ihres Wissens sich denken, so kann das nur davon
herrühren, daß eine vorherbestimmte Übereinstimmung
(prästabilierte Harmonie) besteht. Die Welt ist eben so eingerichtet,
daß die eine Monade aus sich schafft, was der Tätigkeit in der
andern entspricht. Zur Herbeiführung dieser Übereinstimmung braucht
Leibniz natürlich wieder den alten Gott. Er hat erkannt, daß das
Ich in seinem Innern tätig, schöpferisch ist, daß es sich selbst
seinen Inhalt gibt; daß es selbst auch diesen Inhalt zu dem
anderen Weltinhalt in Beziehung setzt, ist ihm verborgen geblieben.
Dadurch ist er von der Gottesvorstellung nicht los gekommen. Von den
zwei Forderungen, die in dem Goethe'schen Satze liegen: «Erkenne ich
mein Verhältnis zu mir selbst und zur Welt, so nenne ich's Wahrheit»,
hat er nur die eine eingesehen.
Ein ganz bestimmtes Gepräge zeigt diese europäische
Gedankenentwicklung. Das beste, was der Mensch erkennen kann,
muß er aus sich schöpfen. Er übt in der Tat Selbsterkenntnis.
Aber er schreckt immer wieder vor dem Gedanken zurück, das
Selbstgeschaffene auch als solches anzuerkennen. Er fühlt sich zu
schwach, um die Welt zu tragen. Deshalb lädt er diese Bürde einem
andern auf. Und die Ziele, die er sich selbst steckt, würden für ihn
von ihrem Gewichte verlieren, wenn er sich ihren Ursprung eingestünde;
deshalb belastet er sie mit Kräften, die er von außerhalb zu
nehmen glaubt. Der Mensch verherrlicht sein Kind, ohne doch die
Vaterschaft zugestehen zu wollen.
Trotz der entgegengesetzten Strömungen ist die menschliche
Selbsterkenntnis stetig fortgeschritten. Auf dem Punkte, wo sie
anfing, für allen Jenseitsglauben recht bedenklich zu werden, traf sie
Kant (1724 bis 1804). Die Einsicht in die Natur des menschlichen
Erkennens hat die Überzeugungskraft aller Beweise erschüttert, die
ersonnen worden sind, um einen solchen Glauben zu stützen. Man hat
allmählich eine Vorstellung von wirklichen Erkenntnissen bekommen und
durchschaute deshalb das Gekünstelte, Gequälte der Scheinideen, welche
über die außerweltlichen Mächte Aufklärung geben sollten. Ein
frommer, gläubiger Mann wie Kant konnte befürchten, daß die
Fortentwicklung auf dieser Bahn zur Auflösung alles Glaubens führen
werde. Seinem tiefen religiösen Sinn mußte das als ein
bevorstehendes großes Unglück für die Menschheit erscheinen. Aus
der Angst vor der Zerstörung der religiösen Vorstellungen heraus
entstand für ihn das Bedürfnis, einmal gründlich zu untersuchen: wie
es mit dem Verhältnisse des menschlichen Erkennens zu den Gegenständen
des Glaubens stehe. Wie ist Erkennen möglich, und auf was kann es sich
erstrecken? Das ist die Frage, die Kant sich stellte, wohl vom Anfang
an in der Hoffnung, aus seiner Antwort eine der festesten Stützen für
den Glauben gewinnen zu können.
Zweierlei nahm Kant von seinen Vorgängern auf. Erstens, daß es
unbezweifelbare Erkenntnisse gebe. Die Wahrheiten der reinen
Mathematik und die allgemeinen Lehren der Logik und Physik erschienen
ihm als solche. Zweitens stützte er sich auf Hume mit der Behauptung,
daß aus der Erfahrung keine unbedingt sicheren Wahrheiten kommen
können. Die Erfahrung lehrt nur, daß wir gewisse Zusammenhänge
so und so oft beobachtet haben; ob diese Zusammenhänge auch notwendige
seien, darüber kann durch Erfahrung nichts ausgemacht werden. Wenn es,
wie unzweifelhaft, notwendige Wahrheiten gibt, und sie nicht aus der
Erfahrung stammen können: woher stammen sie denn? Sie müssen in der
menschlichen Seele vor der Erfahrung vorhanden sein. Nun kommt es
darauf an, zu unterscheiden, was von den Erkenntnissen aus der
Erfahrung stammt, und was dieser Erkenntnisquelle nicht entnommen
werden kann. Die Erfahrung geschieht dadurch, daß ich Eindrücke
erhalte. Diese Eindrücke sind durch die Empfindungen gegeben. Der
Inhalt dieser Empfindungen kann uns auf keine andere Weise als durch
Erfahrung gegeben werden. Aber diese Empfindungen, wie Licht, Farbe,
Klang, Wärme, Härte u.s.w. böten ein chaotisches Durcheinander, wenn
sie nicht in gewisse Zusammenhänge gebracht würden. In diesen
Zusammenhängen bilden die Empfindungsinhalte erst die Gegenstände der
Erfahrung. Ein Gegenstand setzt sich aus einer bestimmt geordneten
Gruppe von Empfindungsinhalten zusammen. Die Empfindungsinhalte in
Gruppen zu ordnen, das vollzieht, nach Kants Meinung, die menschliche
Seele. In ihr sind gewisse Prinzipien vorhanden, durch welche die
Mannigfaltigkeit der Empfindungen in gegenständliche Einheiten
gebracht werden. Solche Prinzipien sind der Raum, die Zeit und
Verknüpfungsweisen, wie z. B. die nach Ursache und Wirkung. Die
Empfindungsinhalte sind mir gegeben, nicht aber ihre räumliche
Aneinanderreihung oder zeitliche Folge. Diese beiden bringt erst der
Mensch hinzu. Ebenso ist ein Empfindungsinhalt gegeben und ein
anderer; nicht aber das, daß der eine die Ursache des andern
ist. Dazu macht sie erst der Verstand. So liegen in der menschlichen
Seele die Verknüpfungsweisen der Empfindungsinhalte ein für allemal
bereit. Können wir also nur durch Erfahrung uns in den Besitz von
Empfindungsinhalten setzen, so können wir doch vor aller Erfahrung
Gesetze darüber aufstellen, wie diese Empfindungsinhalte verknüpft
sein werden. Denn diese Gesetze sind die in unserer eigenen Seele
gegebenen. Wir haben also notwendige Erkenntnisse. Aber diese beziehen
sich nicht auf einen Inhalt, sondern nur auf die Verknüpfungsweise von
Inhalten. Nimmermehr werden wir daher — nach Kants Meinung
— aus den eigenen Gesetzen der menschlichen Seele inhaltvolle
Erkenntnisse herausschöpfen. Der Inhalt muß durch die Erfahrung
kommen. Nun können die Gegenstände des Jenseitsglaubens aber nie
Gegenstand einer Erfahrung werden. Sie können daher auch nicht durch
unsere notwendigen Erkenntnisse erreicht werden. Wir haben ein
Erfahrungswissen und ein anderes notwendiges erfahrungsfreies Wissen
darüber, wie die Inhalte der Erfahrung verknüpft sein können. Aber wir
haben kein Wissen, das über die Erfahrung hinausgeht. Die uns
umgebende Welt der Gegenstände ist, wie sie nach den in unserer Seele
bereitliegenden Verknüpfungsgesetzen sein muß. Wie sie,
abgesehen von diesen Gesetzen «an sich» ist, wissen wir nicht. Die
Welt, auf die sich unser Wissen bezieht, ist kein solches «Ansich»,
sondern eine Erscheinung für uns.
Natürliche Einwände gegen diese Kant'schen Ausführungen drängen sich
dem Unbefangenen auf. Der prinzipielle Unterschied zwischen den
Einzelheiten (Empfindungsinhalten) und der Verknüpfungsweise der
Einzelheiten besteht in Bezug auf die Erkenntnis nicht in der Weise,
wie Kant es annimmt, wenn auch das eine von außen sich uns
darbietet, das andere aus unserem Innern herauskommt, so bilden beide
Elemente der Erkenntnis doch eine ungetrennte Einheit. Nur der
abstrahierende Verstand kann Licht, Wärme, Härte u.s.w. von räumlicher
Anordnung, ursächlichem Zusammenhang u.s.w. abtrennen. In Wirklichkeit
dokumentieren sie an jedem einzelnen Gegenstande ihre notwendige
Zusammengehörigkeit. Auch die Bezeichnung des einen Elementes als
Inhalt gegenüber dem andern als bloß verknüpfenden Prinzips ist
schief. In Wahrheit ist die Erkenntnis, daß etwas eine Ursache
von einem andern ist, eine ebenso inhaltliche wie die, daß es
gelb ist. Wenn sich der Gegenstand aus zwei Elementen zusammensetzt,
von denen das eine von außen, das andere von innen gegeben ist,
so folgt daraus, daß für das Erkennen auf zwei Wegen vermittelt
wird, was der Sache nach zusammengehört. Nicht aber, daß man es
mit zwei von einander verschiedenen, künstlich zusammengekoppelten
Sachen zu tun hat. — Nur durch eine gewaltsame Trennung von
Zusammengehörigem kann also Kant seine Ansicht stützen. Am
auffälligsten ist die Zusammengehörigkeit der beiden Elemente bei der
Erkenntnis des menschlichen Ich. Hier kommt nicht das eine von
außen, das andere von innen; sondern beide gehen aus dem Innern
hervor. Und beide sind hier nicht nur ein Inhalt, sondern auch ein
völlig gleichgearteter Inhalt.
Worauf es Kant ankam, was als Herzenswunsch seine Gedanken mehr lenkte
als ein unbefangenes Beobachten der wirklichen Wesenheiten, war die
Rettung der auf das Jenseits bezüglichen Lehren. Was das Wissen im
Laufe einer langen Zeit als Stütze dieser Lehren zustande gebracht
hatte, war morsch geworden. Kant glaubte nun, gezeigt zu haben,
daß ein solcher Beweis der Erkenntnis überhaupt nicht zukomme,
weil sie auf die Erfahrung angewiesen ist, und die Dinge des
Jenseitsglaubens nicht Gegenstand einer Erfahrung werden können. Kant
meinte damit ein freies Feld geschaffen zu haben, auf dem ihm die
Erkenntnis nicht störend in die Wege tritt, wenn er auf demselben den
Jenseitsglauben aufbaut. Und er verlangt, daß als Stütze des
sittlichen Lebens an die Dinge des Jenseits geglaubt werde. Aus dem
Reiche, aus dem uns kein Wissen kommt, tönt zu uns die Despotenstimme
des kategorischen Imperativs, der von uns verlangt, daß wir das
Gute tun sollen. Und zur Aufrichtung des moralischen Reiches brauchten
wir eben alles das, worüber das Wissen nichts sagen kann. Kant glaubte
erreicht zu haben, was er wollte: «Ich mußte also das Wissen
aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.»
Der große Philosoph der abendländischen Gedankenentwicklung, der
in unmittelbarer Weise auf eine Erkenntnis des menschlichen
Selbstbewußtseins ausging, ist Johann Gottlieb Fichte
(1762-1814). Für ihn ist es bezeichnend, daß er, ohne alle
Voraussetzung, mit völliger Unbefangenheit an diese Erkenntnis
herangeht. Er hat das klare, scharfe Bewußtsein davon, daß
nirgends in der Welt ein Wesen zu entdecken ist, von dem das Ich
abgeleitet werden könnte. Es kann deshalb nur aus sich selbst
abgeleitet werden. Nirgends ist eine Kraft zu entdecken, aus der das
Sein des Ich fließt. Alles, was das Ich braucht, kann es nur aus
sich selbst gewinnen. Nicht bloß gewinnt es durch
Selbstbeobachtung Aufschluß über sein eigenes Wesen; es setzt
erst durch eine unbedingte, voraussetzungslose Handlung dieses Wesen
in sich hinein. «Das Ich setzt sich selbst, und es ist, vermöge dieses
bloßen Setzens durch sich selbst; und umgekehrt: das Ich ist,
und setzt sein Sein, vermöge seines bloßen Seins. Es ist
zugleich das Handelnde und das Produkt seiner Handlung; das Tätige,
und das, was durch die Tätigkeit hervorgebracht wird; Handlung und Tat
sind eins und dasselbe; und daher ist das: Ich bin, Ausdruck einer
Tathandlung.» Völlig unbeirrt durch den Umstand, daß frühere
Philosophen das Wesen, das er da beschreibt, außer den Menschen
versetzt haben, naiv betrachtet Fichte das Ich. Deshalb wird das Ich
ihm naturgemäß zum höchsten Wesen. «Dasjenige, dessen Sein
(Wesen) bloß darin besteht, daß es sich selbst als seiend
setzt, ist das Ich, als absolutes Subjekt. So wie es sich setzt, ist
es, und so wie es ist, setzt es sich: und das Ich ist demnach für das
Ich schlechthin und notwendig. Was für sich selbst nicht ist, ist kein
Ich ... Man hört wohl die Frage aufwerfen: was war ich wohl, ehe ich
zum Selbstbewußtsein kam? Die natürliche Antwort darauf ist: ich
war gar nicht; denn ich war nicht Ich ... Sich selbst setzen und Sein
sind, vom Ich gebraucht, völlig gleich.» Die vollständige, lichte
Klarheit über das eigene Ich, die rücksichtslose Aufhellung des
persönlichen, menschlichen Wesens tritt damit an den Anfang des
menschlichen Denkens. Die Folge davon muß sein, daß von
hier aus der Mensch an die Eroberung der Welt geht. Die zweite der
oben genannten Goethe'schen Forderungen: Erkenntnis meines
Verhältnisses zur Welt, schließt sich an die erste: Erkenntnis
des Verhältnisses, das das Ich zu sich selbst hat. Von diesen beiden
Verhältnissen wird diese auf Selbsterkenntnis gebaute Philosophie
sprechen. Nicht von der Herleitung der Welt aus einem Urwesen. Man
kann nun fragen: soll denn der Mensch sein eigenes Wesen an die Stelle
des Urwesens setzen, in das er den Weltursprung verlegt? Kann sich
denn gar der Mensch selbst zum Ausgangspunkte der Welt machen? Dem
gegenüber muß betont werden, daß diese Frage nach dem
Weltursprung aus einer niederen Sphäre stammt. Im Verlauf der
Vorgänge, die uns von der Wirklichkeit gegeben sind, suchen wir zu den
Ereignissen die Ursachen; zu den Ursachen wieder andere Ursache u.s.w.
Wir dehnen nun den Begriff der Verursachung aus. Wir suchen nach einer
letzten Ursache der ganzen Welt. Und auf diese Weise verschmilzt für
uns der Begriff des ersten, absoluten, durch sich selbst notwendigen
Urwesens mit der Idee der Weltursache. Doch ist das eine bloße
Begriffskonstruktion. Wenn der Mensch solche Begriffskonstruktionen
aufstellt, brauchen sie nicht auch eine Berechtigung zu haben. Der
Begriff des fliegenden Drachen hat auch keine. Fichte geht von dem Ich
als Urwesen aus und er gelangt zu Ideen, die das Verhältnis dieses
Urwesens zur übrigen Welt unbefangen, aber nicht unter dem Bilde von
Ursache und Wirkung darstellen. Von dem Ich aus sucht nun Fichte die
Ideen zum Begreifen der übrigen Welt zu gewinnen. Wer sich über die
Natur dessen, was man Wissen oder Erkenntnis nennen kann, nicht
täuschen will, kann nicht anders verfahren. «Alles, was der Mensch
über das Wesen der Dinge sagen kann, ist den Erlebnissen seines Innern
entlehnt. Der Mensch begreift niemals, wie anthropomorphisch er ist»
(Goethe). In der Erklärung einfachster Erscheinungen, z. B. in
derjenigen des Stoßes zweier Körper liegt ein
Anthropomorphismus. Das Urteil: der eine Körper stößt den
andern, ist bereits anthropomorphistisch. Denn man muß, wenn man
über das hinauskommen will, was die Sinne über den Vorgang aussagen,
das Erlebnis auf ihn übertragen, das unser Körper hat, wenn er einen
Körper der Außenwelt in Bewegung setzt. Wir übertragen unser
Erlebnis des Stoßens auf den Vorgang der Außenwelt, und
sprechen auch da von Stoß, wo wir eine Kugel heranrollen und in
der Folge eine zweite weiterrollen sehen. Denn nur die Bewegungen der
beiden Kugeln können wir beobachten, den Stoß denken wir im
Sinne der eigenen Erlebnisse hinzu. Alle physikalischen Erklärungen
sind Anthropomorphismen, Vermenschlichungen der Natur. Daraus folgt
natürlich aber nicht, was so oft daraus gefolgert wird, daß
diese Erklärungen keine objektive Bedeutung für die Dinge haben. Ein
Teil des objektiven, in den Dingen liegenden Gehalts kommt eben erst
zum Vorschein, wenn wir über sie das Licht verbreiten, das wir in
unserm eigenen Innern wahrnehmen.
Wer im Sinne Fichtes das Wesen des Ich ganz auf sich selbst stellt,
kann auch die Quellen des sittlichen Handelns nur in dem Ich allein
finden. Nicht mit einem andern Wesen kann das Ich die Übereinstimmung
suchen, sondern nur mit sich selbst. Es läßt sich seine
Bestimmung nicht vorschreiben, sondern gibt sich selbst eine solche.
Handle nach dem Grundsatze, daß du dein Handeln als das
möglichst wertvolle ansehen kannst. So etwa müßte man den
obersten Satz der Fichteschen Sittenlehre aussprechen. «Der
wesentliche Charakter des Ich, wodurch es sich von allem, was
außer ihm ist, unterscheidet, besteht in einer Tendenz zur
Selbsttätigkeit um der Selbsttätigkeit willen; und diese Tendenz ist
es, was gedacht wird, wenn das Ich an und für sich, ohne alle
Beziehung auf etwas außer ihm gedacht wird. Eine Handlung steht
also auf einer um so höheren Stufe der sittlichen Wertschätzung, je
reiner sie aus der Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung des Ich
fließt.
Fichte hat in seinem späteren Leben sein auf sich gestelltes,
absolutes Ich wieder in den äußeren Gott zurückverwandelt und
dadurch der aus der menschlichen Schwäche stammenden
Selbstentäußerung die wahre Selbsterkenntnis, zu der er so
wichtige Schritte getan, zum Opfer gebracht. Für den Fortschritt
dieser Selbsterkenntnis sind daher die letzten Schriften Fichtes ohne
Bedeutung.
Wichtig aber für diesen Fortschritt sind die philosophischen Schriften
Schillers. Hat Fichte die auf sich gebaute Selbständigkeit des Ich als
allgemeine philosophische Wahrheit ausgesprochen; so war es Schiller
mehr um die Beantwortung der Frage zu tun: wie das besondere Ich der
einzelnen menschlichen Individualität diese Selbsttätigkeit im besten
Sinne in sich ausleben könne. — Kant hatte ausdrücklich die
Unterdrückung der Lust als Voraussetzung des sittlichen Handelns
gefordert. Nicht, was dem Menschen Befriedigung gewährt, soll er
vollbringen, sondern dasjenige, was der kategorische Imperativ von ihm
fordert. Eine Handlung ist, nach seiner Ansicht, um so moralischer, je
mehr sie mit Niederschlagung aller Lustgefühle aus bloßer
Achtung vor dem strengen Sittengesetz vollzogen ist. In dieser
Forderung scheint für Schiller etwas zu liegen, was die menschliche
Würde herabsetzt. Ist denn der Mensch in seinem Lustverlangen wirklich
ein so niedriges Wesen, daß er diese seine niedere Natur erst
ausschalten muß, wenn er tugendhaft sein will. Schiller tadelt
eine solche Herabwürdigung des Menschen in der Xenie:
«Gern dien' ich den Freunden,
doch tu ich es leider mit Neigung,
Und so wurmt es mich oft,
daß ich nicht tugendhaft bin.»
Nein, sagt Schiller: die menschlichen Instinkte sind einer solchen
Veredlung fähig, daß es Lust macht, das Gute zu tun. Das strenge
Sollen verwandelt sich bei dem veredelten Menschen in ein freies
Wollen. Und höher steht der Mensch auf der moralischen Weltleiter, der
aus Lust das Sittliche vollbringt als derjenige, der seinem Wesen erst
Gewalt antun muß, um dem kategorischen Imperativ zu gehorchen.
Schiller hat diese seine Ansicht in seinen «Briefen über die
ästhetische Erziehung des Menschengeschlechtes» ausgeführt. Ihm
schwebt die Vorstellung einer reinen Individualität vor, die sich
ihren egoistischen Trieben ruhig überlassen darf, weil diese Triebe
dasjenige aus sich selbst wollen, was von der unfreien, unedlen
Persönlichkeit nur vollbracht werden kann, wenn sie ihre eigenen
Bedürfnisse unterdrückt. Der Mensch, so führt Schiller aus, kann in
zweifacher Hinsicht unfrei sein: erstens, wenn er nur seinen blinden,
untergeordneten Instinkten zu folgen fähig ist. Dann handelt er aus
Notdurft. Die Triebe zwingen ihn; er ist nicht frei. Zweitens aber
handelt auch der Mensch unfrei, der nur seiner Vernunft folgt. Denn
die Vernunft stellt die Prinzipien des Handelns nach logischen Regeln
auf. Ein bloß der Vernunft folgender Mensch handelt unfrei, weil
er sich der logischen Notwendigkeit unterwirft. Frei aus sich selbst
heraus handelt nur derjenige, bei dem das Vernünftige so mit seiner
Individualität verwachsen ist, ihm so in Fleisch und Blut übergegangen
ist, daß er mit größter Lust vollbringt, was der minder
sittlich Hochstehende nur durch die äußerste
Selbstentäußerung und durch den stärksten Zwang vollziehen kann.
Den Weg, den Fichte genommen hat, wollte Friedrich Joseph Schelling
(1775-1854) weiter fortsetzen. Von der unbefangenen Erkenntnis des
Ich, die sein Vorgänger erlangt, ging dieser Denker aus. Das Ich war
als Wesen erkannt, das sein Sein aus sich selbst schöpft. Die nächste
Aufgabe war, zu diesem auf sich selbst gebauten Ich die Natur in ein
Verhältnis zu bringen. Es ist klar: Sollte das Ich nicht wieder das
eigentliche höhere Wesen der Dinge in die Außenwelt verlegen, so
mußte gezeigt werden, daß es aus sich selbst auch
dasjenige schafft, was wir die Gesetze der Natur nennen. Der Bau der
Natur mußte also draußen im Raume das materielle System
dessen sein, was das Ich in seinem Innern auf geistige Weise
erschafft. «Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die
unsichtbare Natur sein. Hier, in der absoluten Identität des Geistes
in uns und der Natur außer uns, muß sich das Problem, wie
eine Natur außer uns möglich sei, auflösen.» — «Die
äußere Natur liegt vor uns aufgeschlagen, um in ihr die
Geschichte unseres Geistes wieder zu finden.»
Schelling beleuchtet also scharf den Vorgang, den die Philosophen so
lange falsch gedeutet haben. Er zeigt, daß aus einem Wesen
heraus das erklärende Licht auf alle Weltvorgänge fallen muß,
daß das Ich ein Wesen in allem Geschehen erkennen kann; aber er
stellt dieses Wesen nicht mehr als ein außer dem Ich liegendes
hin; er sieht es in dem Ich selbst. Das Ich fühlt sich endlich stark
genug, den Inhalt der Welterscheinungen aus sich heraus zu beleben. In
welcher Weise Schelling die Natur als eine materielle Ausgestaltung
des Ich im einzelnen dargestellt hat, braucht hier nicht ausgeführt zu
werden. Darauf kommt es in dieser Darstellung an, zu zeigen, in
welcher Weise sich das Ich den Machtbereich wieder zurückerobert, den
es im Verlauf der abendländischen Gedankenentwicklung an ein
selbstgezeugtes Geschöpf abgetreten hat. Deswegen können in diesem
Zusammenhange auch die übrigen Schöpfungen Schellings nicht
berücksichtigt werden. Sie bringen höchstens noch Einzelheiten zu der
berührten Frage bei. — Gleichwie Fichte kommt auch Schelling von
der klaren Selbsterkenntnis wieder ab und sucht die aus dem Selbst
fließenden Dinge dann aus anderen Wesenheiten abzuleiten. Die
späteren Lehren der beiden Denker sind Rückfälle in Anschauungen, die
sie in einem früheren Lebensalter vollkommen überwunden hatten.
Ein weiterer kühner Versuch, die ganze Welt auf Grund des im Ich
liegenden Inhalts zu erklären, ist die Philosophie Georg Wilhelm
Friedrich Hegels (1770-1831). Was Fichte mit allerdings
unvergleichlichen Worten charakterisiert hat, das Wesen des
menschlichen Ich: Hegel suchte seinen ganzen Inhalt allseitig zu
durchforschen und darzustellen. Denn auch er sieht dieses Wesen als
das eigentliche Urding, als das «Ansich der Dinge» an. Nur macht Hegel
ein Eigentümliches. Er entkleidet das Ich alles Individuellen,
Persönlichen. Trotzdem es ein echtes, wahres Ich ist, was Hegel den
Welterscheinungen zu Grunde legt, wirkt es unpersönlich,
unindividuell, fern dem intimen, vertrauten Ich, fast wie ein Gott. In
solch unnahbarer, streng abstrakter , Form legt Hegel das Ansich der
Welt, seinem Inhalte nach, in seiner Logik auseinander. Das
persönlichste Denken wird hier auf die unpersönlichste Art
dargestellt. Die Natur ist nun, nach Hegel, nichts anderes als der in
Raum und Zeit auseinandergelegte Inhalt des Ich. Dieser ideelle Inhalt
in seinem Anderssein. «Die Natur ist der sich entfremdete Geist.» Im
individuellen Menschengeiste wird, Hegels Aufstellung nach, das
unpersönliche Ich persönlich. Im Selbstbewußtsein ist das
Ichwesen nicht nur an sich, es ist auch für sich; der Geist entdeckt,
daß der höchste Weltinhalt sein eigener Inhalt ist. — Weil
Hegel das Wesen des Ich zunächst unpersönlich zu fassen sucht,
bezeichnet er es auch nicht als Ich, sondern als Idee. Hegels Idee ist
aber nichts anderes als der von allem persönlichen Charakter frei
gemachte Inhalt des menschlichen Ich. Dieses Abstrahieren von allem
Persönlichen zeigt sich am kräftigsten in Hegels Ansichten über das
geistige, das sittliche Leben. Nicht das einzelne persönliche,
individuelle Ich des Menschen darf sich seine Bestimmung vorsetzen,
sondern das von diesem abstrahierte große, objektive,
unpersönliche Welt-Ich, die allgemeine Welt-Vernunft, die
Welt-Idee.
Dieser aus seinem eigenen Wesen geholten Abstraktion hat sich das
individuelle Ich zu fügen. In den rechtlichen, staatlichen, sittlichen
Institutionen, in dem geschichtlichen Prozesse hat die Weltidee den
objektiven Geist niedergelegt. Diesem objektiven Geiste gegenüber ist
der Einzelne minderwertig, zufällig. Hegel wird nicht müde, immer
wieder und wieder zu betonen, daß das zufällige Einzel-Ich sich
den allgemeinen Ordnungen, dem geschichtlichen Verlauf der geistigen
Entwicklung eingliedern müsse. Es ist die Despotie des Geistes über
die Träger dieses Geistes, was Hegel verlangt. Es ist ein merkwürdiger
letzter Rest des alten Gottes- und Jenseitsglaubens, der hier bei
Hegel noch auftritt. Alle die Attribute, womit das zum äußeren
Weltenherrscher gewordene menschliche Ich einst aus gestattet worden
ist, sind fallen gelassen, und lediglich das der logischen
Allgemeinheit ist geblieben. Die Hegel'sche Weltidee ist das
menschliche Ich, Hegels Lehre erkennt das ausdrücklich an, denn auf
der Spitze der Kultur gelangt der Mensch, nach dieser Lehre, dazu,
seine volle Identität mit diesem Welt-Ich zu fühlen. In Kunst,
Religion und Philosophie sucht der Mensch das Allgemeinste seinem
besonderen Sein einzuverleiben, der Einzelgeist durchdringt sich mit
der allgemeinen Weltvernunft. Den Verlauf der Weltgeschichte schildert
Hegel folgendermaßen: «Werfen wir einen Blick auf das Schicksal
der welthistorischen Individuen, so haben sie das Glück gehabt, die
Geschäftsführer eines Zweckes zu sein, der eine Stufe in dem
Fortschreiten des allgemeinen Geistes war. Indem sich die Vernunft
dieser Werkzeuge bedient, können wir es eine List derselben nennen,
denn sie läßt sie mit aller Wut der Leidenschaft ihre eigenen
Zwecke vollführen und erhält sich nicht nur unbeschädigt, sondern
bringt sich selbst hervor. Das Partikulare ist meistens zu gering
gegen das Allgemeine: die Individuen werden geopfert und preisgegeben.
Die Weltgeschichte stellt sich soweit als der Kampf der Individuen
dar, und in dem Felde dieser Besonderheit geht es ganz natürlich zu.
Wie in der tierischen Natur die Erhaltung des Lebens Zweck und
Instinkt des Einzelnen ist, wie aber doch hier die Vernunft, das
Allgemeine, vorherrscht und die Einzelnen fallen, so geht es auch in
der geistigen Welt zu. Die Leidenschaften zerstören sich gegenseitig;
die Vernunft allein wacht, verfolgt ihren Zweck, und macht sich
geltend.» Die höchste Entwicklungsstufe der Menschenbildung stellt
sich aber auch für Hegel nicht dar in dieser Opferung des partikularen
Individuums zu Gunsten der allgemeinen Weltvernunft, sondern in der
vollständigen Durchdringung beider. In der Kunst, Religion und
Philosophie wirkt das Individuum so, daß sein Wirken zugleich
Inhalt der allgemeinen Weltvernunft ist. — Bei Hegel ist durch
das Moment der Allgemeinheit, das er in das Welt-Ich legte, auch die
Unterordnung des menschlichen Sonder-Ichs unter dieses Welt-Ich noch
geblieben.
Dieser Unterordnung suchte Ludwig Feuerbach (1804-1872) dadurch ein
Ende zu machen, daß er mit kräftigen Worten aussprach, wie der
Mensch das Wesen seines Ich in die Außenwelt versetzt, um sich
ihm dann als einem Gotte erkennend, gehorchend, verehrend
gegenüberzustellen. «Gott ist das offenbare Innere, das ausgesprochene
Selbst des Menschen, die Religion ist die feierliche Enthüllung der
verborgenen Schätze des Menschen, das Eingeständnis seiner innersten
Gedanken, das öffentliche Bekenntnis seiner Liebesbekenntnisse.» Aber
auch Feuerbach hat die Idee dieses Ich von dem Momente der
Allgemeinheit noch nicht gereinigt. Ihm ist das allgemeine
Menschen-Ich ein höheres als das individuelle Einzel-Ich. Und obwohl
er als Denker dieses allgemeine Ich nicht gleich Hegel zu einem an
sich seienden Weltwesen vergegenständlicht, so stellt er doch in
sittlicher Beziehung dem menschlichen Einzelwesen den allgemeinen
Begriff des gattungsmäßigen Menschen gegenüber und fordert,
daß der Einzelne sich über die Schranken seiner Individualität
erheben soll.
Erst Max Stirner (1806-1856) hat in seinem 1844 erschienenen «Der
Einzige und sein Eigentum» in radikaler Weise von dem Ich gefordert,
es sollte endlich einsehen, daß es alle Wesen, die es im Laufe
der Zeit über sich gesetzt hat, aus seinem eigenen Leibe geschnitten
und als Götzen in die Außenwelt versetzt hat. Jeder Gott, jede
allgemeine Weltvernunft ist ein Ebenbild des Ich und hat keine anderen
Eigenschaften als das menschliche Ich. Und auch der Begriff des
allgemeinen Ich ist aus dem ganz individuellen Ich jedes Einzelnen
herausgeschält.
Stirner fordert den Menschen auf, alles allgemeine von sich
abzuwerfen, und sich zu gestehen, daß er ein Einzelner ist. «Du
bist zwar mehr als Jude, mehr als Christ u.s.w., aber du bist auch
mehr als Mensch. Das sind alles Ideen, du aber bist leibhaftig. Meinst
du denn jemals <Mensch als solcher> werden zu können? —
Ich bin Mensch, ich brauche den Menschen nicht erst in mir
herzustellen, denn er gehört mir schon, wie alle meine Eigenschaften.»
— «Nur Ich bin nicht Abstraktion allein, ich bin alles in allem;
... ich bin kein bloßer Gedanke, aber ich bin zugleich voller
Gedanken, eine Gedankenwelt. Hegel verurteilt das Eigene, das Meinige
... Das <absolute Denken> ist dasjenige Denken, welches
vergißt, daß es mein Denken ist, daß Ich denke, und
daß es nur durch Mich ist. Als Ich aber verschlinge ich das
Meinige wieder, bin Herr desselben, es ist nur meine Meinung, die ich
in jedem Augenblicke ändern, d. h. vernichten, in mich zurücknehmen
und aufzehren kann ... » — «Mein eigen ist der Gedanke erst
dann, wenn ich zwar ihn, er aber niemals mich unterjochen kann, nie
mich fanatisiert, zum Werkzeug seiner Realisation macht.» Alle über
das Ich gestellten Wesen zerschellen zuletzt an der Erkenntnis,
daß sie nur durch das Ich in die Welt gebracht worden sind. «Für
mein Denken ist nämlich der Anfang nicht ein Gedanke, sondern Ich, und
darum bin ich sein Ziel, wie denn sein ganzer Verlauf nur ein Verlauf
meines Selbstgenusses ist.»
Das einzelne Ich im Sinne Stirners soll man nicht durch einen
Gedanken, eine Idee definieren wollen. Denn Ideen sind etwas
allgemeines; und durch eine solche Definition würde somit der Einzelne
— wenigstens logisch — sofort wieder einem Allgemeinen
untergeordnet. Alle übrigen Dinge der Welt kann man durch Ideen
definieren, das eigene Ich aber müssen wir als Einzelnes in uns
erleben. Alles, was über den Einzelnen in Gedanken ausgesprochen wird,
kann seinen Inhalt nicht in sich aufnehmen; es kann nur auf denselben
hindeuten. Man sagt: sehe hin in dich; da ist etwas, für das jeder
Begriff, jede Idee zu arm ist, um es in seinem leibhaftigen Reichtum
zu umspannen. Das aus sich heraus die Ideen hervorbringt, selbst aber
einen unerschöpflichen Brunnen in sich hat, dessen Inhalt unendlich
umfangreicher ist, als alles, was es hervorbringt. In einer von
Stirner verfaßten Entgegnung (Vergl. J. H. Mackay: Stirners
kleine Schriften) sagt dieser: «Der Einzige ist ein Wort, und bei
einem Worte müßte man sich doch etwas denken können, ein Wort
müßte doch einen Gedankeninhalt haben. Aber der Einzige ist ein
gedankenloses Wort, es hat keinen Gedankeninhalt.
Was aber ist dann sein Inhalt, wenn der Gedanke es nicht ist? Einer,
der nicht zum zweiten Male dasein folglich auch nicht ausgedrückt
werden kann; denn könnte er ausgedrückt, wirklich und ganz ausgedrückt
werden, so wäre er zum zweiten Male da, wäre im <Ausdruck> da
... Erst dann, wenn nichts von dir ausgesagt und du nur genannt wirst,
wirst du anerkannt als Du. So lange etwas von dir ausgesagt wird,
wirst du nur als dieses Etwas (Mensch, Geist, Christ u.s.f.)
anerkannt.» — Das einzelne Ich ist also dasjenige, das alles,
was es ist, nur durch sich selber ist, das den Inhalt seines Daseins
aus sich selbst holt und ihn fortwährend aus sich heraus erweitert.
— Dieses einzelne Ich kann keine ethische Verbindlichkeit
anerkennen, die es sich nicht selbst auferlegt. «Ob, was ich denke und
tue, christlich sei, was kümmert's mich? Ob es menschlich, liberal,
human, ob unmenschlich, illiberal, inhuman, was frag ich darnach? Wenn
es nur bezweckt, was ich will, wenn ich nur mich darin befriedige,
dann belegt es mit Prädikaten wie ihr wollt: es gilt mir gleich...»
Auch ich wehre mich vielleicht schon im nächsten Augenblicke gegen
meine vorigen Gedanken, auch ich ändere wohl plötzlich meine
Handlungsweise; aber nicht darum, weil sie der Christlichkeit nicht
entspricht, nicht darum, weil sie gegen die ewigen Menschenrechte
läuft, nicht darum, weil sie der Idee der Menschheit, Menschlichkeit
und Humanität ins Gesicht schlägt, sondern — weil Ich nicht mehr
ganz dabei bin, weil sie mir keinen vollen Genuß mehr bereitet,
weil ich an dem früheren Gedanken zweifle oder in der eben geübten
Handlungsweise mir nicht mehr gefalle. Charakteristisch ist, wie sich
Stirner, von diesem seinem Gesichtspunkte über die Liebe ausspricht.
«Ich liebe die Menschen auch, nicht bloß einzelne, sondern
jeden. Aber ich liebe sie mit dem Bewußtsein des Egoismus; ich
liebe sie, weil die Liebe mich glücklich macht; ich liebe, weil mir
das Lieben natürlich ist, weil mir's gefällt. Ich kenne kein <Gebot
der Liebe> ...» Diesem souveränen Individuum gegenüber sind alle
staatlichen, gesellschaftlichen, kirchlichen Organisationen eine
Fessel. Denn alle Organisationen setzen voraus, daß das
Individuum so oder so sein müsse, damit es sich in die Gemeinschaft
eingliedern lasse. Aber das Individuum will sich nicht von der
Gemeinschaft bestimmen lassen, wie es sein soll; es will sich selbst
so oder so machen. Worauf es Stirner ankommt, hat J. H. Mackay in
seinem Buche «Max Stirner, sein Leben und sein Werk» ausgesprochen (S.
155), auf die «Vernichtung jener fremden Mächte, die das Ich in den
verschiedensten Formen zu unterdrücken und zu vernichten suchen, in
erster Linie»; und auf die «Darlegungen der Beziehungen unseres
Verkehrs untereinander, wie sie sich aus dem Widerstreit und der
Harmonie unserer Interessen ergeben, in zweiter». Sich selbst genügen
kann der Einzelne nicht in einer organisierten Gemeinschaft; sondern
nur in dem freien Verkehr oder Verein. Dieser kennt keine als Macht
über den Einzelnen gesetzte gesellschaftliche Struktur. In ihm
geschieht alles durch den Einzelnen. Es ist in ihm nichts festgelegt.
Was geschieht, ist immer auf den Willen des Einzelnen zurückzuführen.
Einen Gesamtwillen repräsentiert niemand und nichts. Stirner will
nicht, daß die Gesellschaft für den Einzelnen sorgt, seine
Rechte schützt, sein Wohl fördert u.s.w. Wenn von den Menschen die
Organisation genommen ist, dann regelt sich ihr Verkehr von selbst.
«Ich will lieber auf den Eigennutz der Menschen angewiesen sein, als
auf ihre Liebesdienste, ihr Erbarmen u.s.w. Jener fordert
Gegenseitigkeit (wie du mir, so ich dir) tut nichts <umsonst>,
und läßt sich gewinnen und — erkaufen. Lasset dem Verkehr
seine völlige Freiheit, und er schafft unbeschränkt jene
Gegenseitigkeit, die ihr durch eine Gemeinschaft doch nur beschränkt
herstellen könnt. «Den Verein hält weder ein natürliches noch ein
geistiges Band zusammen, und er ist kein natürlicher, kein geistiger
Bund. Nicht ein Blut, nicht ein Glaube (d. h. Geist) bringt ihn
zustande. In einem natürlichen Bunde, — wie einer Familie, einem
Stamme, einer Nation, ja der Menschheit — haben die einzelnen
nur den Wert von Exemplaren derselben Art oder Gattung; in einem
geistigen Bunde — wie einer Gemeinde, einer Kirche bedeutet der
Einzelnen nur ein Glied desselbigen Geistes, was du in beiden Fällen
als Einziger bist, das muß — unterdrückt werden. Als
Einziger kannst du dich, bloß im Vereine behaupten, weil der
Verein nicht dich besitzt, sondern du ihn besitzest oder dir zu nutze
machest.» Der Weg, auf dem Stirner zu seiner Anschauung des Einzelnen
gelangt ist, kann als universale Kritik aller das Ich unterdrückenden
allgemeinen Mächte bezeichnet werden. Die Kirchen, die politischen
Systeme (der politische Liberalismus, der soziale Liberalismus, der
humane Liberalismus), die Philosophien: sie alle haben solche
allgemeine Mächte über den Einzelnen gesetzt. Der politische
Liberalismus fixiert den «guten Bürger», der soziale Liberalismus den
an Gemeinbesitz mit allen Gliedern gleichen Arbeiter, der humane
Liberalismus den «Menschen als Menschen». Indem er alle diese Mächte
zerstört, richtet Stirner auf den Trümmern die Souveränität des
Einzelnen auf. «Was soll nicht alles meine Sache sein! Vor allem die
gute Sache, dann die Sache Gottes, die Sache der Menschheit, der
Wahrheit, der Freiheit, der Humanität, der Gerechtigkeit; ferner die
Sache meines Volkes, meines Fürsten, meines Vaterlandes; endlich gar
die Sache des Geistes und tausend andere Sachen. Nur meine Sache soll
niemals meine Sache sein. — Sehen wir denn zu, wie diejenigen es
mit ihrer Sache machen, für deren Sache wir arbeiten, uns hingeben und
begeistern sollen. Ihr wißt von Gott viel Gründliches zu
verkünden und habt Jahrtausende lang <die Tiefen der Gottheit
erforscht> und ihr ins Herz geschaut, so daß ihr uns wohl
sagen könnt, wie Gott die <Sache Gottes>, der wir zu dienen
berufen sind, selber betreibt. Und ihr verhehlt es auch nicht, das
Treiben des Herrn. Was ist nun seine Sache? Hat er, wie es uns
zugemutet wird, eine fremde Sache, hat er die Sache der Wahrheit, der
Liebe zur seinigen gemacht? Euch empört dies Mißverständnis und
ihr belehrt uns, daß Gottes Sache allerdings die Sache der
Wahrheit und Liebe sei, daß aber diese Sache keine ihm fremde
genannt werden könne, weil Gott ja selbst die Wahrheit und Liebe sei;
euch empört die Annahme, daß Gott uns armen Würmern gleichen
könnte, indem er eine fremde Sache als eigene beförderte. <Gott
sollte der Sache der Wahrheit sich annehmen, wenn er nicht selbst die
Wahrheit wäre?> Er sorgt nur für seine Sache, aber weil er alles in
allem ist, darum ist auch alles seine Sache, wir aber, wir sind nicht
alles in allem, und unsere Sache ist gar klein und verächtlich; darum
müssen wir einer <höheren Sache dienen>. — Nun ist es
klar, Gott kümmert sich nur ums seine, beschäftigt sich nur mit sich,
denkt nur an sich und hat sich im Auge; wehe allem, was ihm nicht
wohlgefällig ist. Er dient keinem Höhern und befriedigt nur sich.
Seine Sache ist eine — rein egoistische Sache... » — « Wie
steht es mit der Menschheit, deren Sache wir zu unsrigen machen
sollen? Ist ihre Sache etwa die eines andern und dient die Menschheit
einer höhern Sache? Nein, die Menschheit sieht nur auf sich, die
Menschheit will nur die Menschheit fördern, die Menschheit ist sich
selber ihre Sache. Damit sie sich entwickele, läßt sie Völker
und Individuen in ihrem Dienste sich abquälen, und wenn diese
geleistet haben, was die Menschheit braucht, dann werden sie von ihr
aus Dankbarkeit auf den Mist der Geschichte geworfen. Ist die Sache
der Menschheit nicht eine — rein <egoistische Sache>?» Aus
einer solchen Kritik alles dessen, was der Mensch zu seiner Sache
machen soll, ergibt sich für Stirner: «Gott und die Menschheit haben
ihre Sache auf nichts gestellt als auf sich. Stelle ich denn meine
Sache gleichfalls auf mich, der ich so gut wie Gott das Nichts von
allem andern, der ich mein Alles, der ich der Einzige bin.»
Dies ist Stirners Weg. Man kann auch einen andern gehen, um zur Natur
des Ich zu gelangen. Man kann es bei seiner Erkenntnistätigkeit
beobachten. Man richte seinen Blick auf einen Erkenntnisvorgang. Durch
denkende Betrachtung der Vorgänge sucht das Ich gewahr zu werden, was
eigentlich diesen Vorgängen zum Grunde liegt. Was will man durch diese
denkende Betrachtung erreichen? Zur Beantwortung dieser Frage
muß man beobachten: was würden wir ohne diese Betrachtung von
den Vorgängen besitzen, und was erlangen wir durch dieselbe? (Ich
muß mich hier auf eine dürftige Skizze dieser grundlegenden
Weltanschauungsfragen beschränken und kann nur auf die weiteren
Ausführungen in meinen Schriften «Wahrheit und Wissenschaft» [Weimar
1892] und «Philosophie der Freiheit» [Weimar 1894] verweisen.)
Man betrachte einen beliebigen Vorgang. Ich werfe einen Stein in
horizontaler Richtung von mir: Er bewegt sich in einer krummen Linie
und fällt nach einiger Zeit zu Boden. Ich sehe den Stein in
aufeinanderfolgenden Zeitpunkten an verschiedenen Orten, nachdem es
mich erst eine gewisse Anstrengung gekostet hat, ihn wegzuwerfen.
Durch meine denkende Betrachtung gewinne ich folgendes: Der Stein
steht während seiner Bewegung unter mehreren Einflüssen. Wenn er nur
unter der Folge des Stoßes, den ich ihm beim Wegwerfen erteilt
habe, stände, würde er ewig fortfliegen und zwar in gerader Richtung,
ohne die Geschwindigkeit zu ändern. Nun aber übt die Erde einen
Einfluß auf ihn aus, den man als Anziehungskraft bezeichnet.
Hätte ich ihn, ohne ihn wegzustoßen, einfach losgelassen, wäre
er senkrecht zur Erde gefallen, und dabei hätte seine Geschwindigkeit
fortwährend zugenommen. Aus der Wechselwirkung dieser beiden Einflüsse
entsteht das, was wirklich geschieht. Das alles sind
Gedankenerwägungen, die ich zu dem hinzubringe, was sich mir ohne
denkende Betrachtung bieten würde.
Auf diese Weise haben wir in jedem Erkenntnisprozeß ein Element,
das sich uns auch ohne denkende Betrachtung darstellen würde, und ein
anderes, das wir nur durch diese gewinnen können. — Wenn wir
dann beide gewonnen haben, ist es uns klar, daß sie
zusammengehören. Ein Vorgang verläuft im Sinne der Gesetze, die ich
durch mein Denken über ihn gewinne. Daß für mich beide Elemente
getrennt sind und durch meinen Erkenntnisvorgang in einander gefügt
werden, ist meine Sache. Der Vorgang kümmert sich um diese Trennung
und Zusammenfügung nicht. Daraus folgt aber, daß das Erkennen
überhaupt meine Sache ist. Etwas, das ich lediglich um meiner selbst
willen vollbringe.
Nun kommt aber noch etwas anderes hinzu. Die Dinge und Vorgänge würden
mir aus sich selbst nie das geben, was ich durch meine denkende
Betrachtung über sie gewinne. Aus sich selbst geben sie mir eben das,
was ich ohne diese Betrachtung besitze. Es ist innerhalb dieser
Ausführungen schon gesagt worden, daß ich dasjenige aus mir
selbst nehme, was ich in den Dingen als deren tiefstes Wesen sehe. Die
Gedanken, die ich mir über die Dinge mache, produziere ich aus meinem
Innern heraus. Sie gehören, wie gezeigt worden ist, trotzdem zu den
Dingen. Das Wesen der Dinge kommt mir also nicht aus ihnen, sondern
aus mir zu. Mein Inhalt ist ihr Wesen. Ich käme gar nicht dazu, zu
fragen, was das Wesen der Dinge ist, wenn ich nicht in mir etwas
vorfände, was ich als dieses Wesen der Dinge bezeichne, als dasjenige,
was zu ihnen gehört, was sie mir aber nicht aus sich geben, sondern
was ich nur aus mir nehmen kann. — Im Erkenntnisprozeß
entnehme ich aus mir das Wesen der Dinge. Ich habe also das Wesen der
Welt in mir. Folglich habe ich auch mein eignes Wesen in mir. Bei den
andern Dingen erscheint mir zweierlei: ein Vorgang ohne das Wesen und
das Wesen durch mich. Bei mir selbst sind Vorgang und Wesen identisch.
Das Wesen der ganzen übrigen Welt schöpfte ich aus mir, und mein
eignes Wesen schöpfe ich auch aus mir.
Mein Handeln ist nun ein Teil des allgemeinen Weltgeschehens. Es hat
somit ebenso sein Wesen in mir wie alles andere Geschehen. Für das
menschliche Handeln die Gesetze suchen, heißt somit, sie aus dem
Inhalte des Ich schöpfen. Wie der Gottgläubige die Gesetze seines
Handelns aus dem Willen seines Gottes ableitet, so kann derjenige, der
eingesehen hat, daß im Ich das Wesen aller Dinge liegt, die
Gesetze des Handels auch nur im Ich finden. Hat das Ich sein Handeln
dem Wesen nach wirklich durchdrungen, dann fühlt es sich als den
Beherrscher desselben. So lange wir an ein uns fremdes Weltwesen
glauben, stehen uns auch die Gesetze unseres Handelns fremd gegenüber.
Sie beherrschen uns; was wir vollbringen, steht unter dem Zwange, den
sie auf uns ausüben. Sind sie aus solcher fremden Wesenheit in das
ureigene Tun unseres Ich verwandelt, dann hört dieser Zwang auf. Das
Zwingende ist unser eigenes Wesen geworden. Die Gesetzmäßigkeit
herrscht nicht mehr über uns, sondern in uns über das von unserem Ich
ausgehende Geschehen. Die Verwirklichung eines Vorganges vermöge
einer außer dem Verwirklicher stehenden Gesetzmäßigkeit
ist ein Akt der Unfreiheit, jene durch den Verwirklicher selbst ein
Akt der Freiheit. Die Gesetze seines Handelns sich aus sich geben,
heißt als freier Einzelner handeln. Die Betrachtung des
Erkenntnisprozesses zeigt dem Menschen, daß er die Gesetze
seines Handelns nur in sich finden kann.
Das Ich denkend begreifen, heißt die Grundlage schaffen, um
alles, was aus dem Ich kommt, allein auch auf das Ich zu begründen.
Das Ich, das sich selbst versteht, kann sich von nichts als von sich
selbst abhängig machen. Und es kann niemandem verantwortlich sein als
sich. Es erscheint nach diesen Ausführungen fast überflüssig zu sagen,
daß mit dem Ich nur das leibhaftige, reale Ich des Einzelnen
und nicht ein allgemeines, von diesem abgezogenes gemeint sein kann.
Denn ein solches kann ja nur aus dem realen durch Abstraktion gewonnen
sein. Es ist somit abhängig von dem wirklich Einzelnen. (Dieselbe
Ideenrichtung und Lebensanschauung, aus der meine oben genannten
Schriften entsprungen sind, vertreten auch Benj. R. Tucker und J. H.
Mackay. Vergl. des ersteren «Instead of a Book» und des letzteren
Kulturgemälde «Die Anarchisten».)
Im vorigen und dem größten Teile unseres Jahrhunderts war das
Denken bemüht, dem Ich seine Stellung im Weltganzen zu erobern.
Geister, welche dieser Tendenz bereits fremd gegenüberstehen, sind
Arthur Schopenhauer (1788-1860) und Eduard von Hartmann, der noch
rüstig unter uns Wirkende. Beide haben nicht mehr das volle Wesen
unseres Ich, das wir in unserem Bewußtsein vorfinden, als
Urweltwesen in die Außenwelt verlegt. Schopenhauer hat einen
Teil dieses Ich, den Willen, als Weltwesen angesehen, und Hartmann
sieht das Unbewußte als solches an. Beiden gemeinsam ist dies
Streben, das Ich dem von ihnen angenommenen allgemeinen Weltwesen
unterzuordnen. Dagegen ist, als letzter der strengen Individualisten,
noch Friedrich Nietzsche, von Schopenhauer ausgehend, zu Anschauungen
gelangt, welche durchaus auf dem Wege der absoluten Würdigung des
einzelnen Ich führen. Seiner Meinung nach besteht die echte Kultur
darinnen, den Einzelnen zu pflegen, damit er die Kraft habe, aus sich
heraus alles das zu entwickeln, was in ihm gelegen ist. Bisher war es
nur ein Zufall, wenn ein Einzelner sich voll aus sich heraus hat
entwickeln können. «Dieser höherwertigere Typus ist oft genug schon
dagewesen: aber als ein Glücksfall, als eine Ausnahme, niemals als
gewollt. Vielmehr ist er gerade am besten gefürchtet worden, er war
bisher das Furchtbare; — und aus der Furcht heraus wurde der
umgekehrte Typus gewollt, erreicht: das Herdentier, das Haustier, das
kranke Tier Mensch, — der Christ ...» (Werke VIII, 218f.).
Seinen Typus Mensch als Ideal hat Nietzsche, poetisch verklärt in
seinem «Zarathustra». Er nennt ihn den Übermenschen. Dieser ist der
von allen Normen befreite Mensch, der nicht mehr Ebenbild Gottes, Gott
wohlgefälliges Wesen, guter Bürger u.s.w., sondern er selber und
nichts weiter sein will — der reine und absolute Egoist.
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