Rudolf Steiner:
Reinkarnation
und Karma
Vom Standpunkte
der modernen Naturwissenschaft notwendige Vorstellungen (1903)
Erschienen in:
Aufsätze aus
«Lucifer-Gnosis» 1903 – 1908
GA 32
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Englisch
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Als ein gefährlicher Ketzer galt der tonangebenden
Weisheit des siebzehnten Jahrhunderts der italienische Naturforscher Francesco
Redi, weil er behauptete, daß auch die niedersten Tiere durch Fortpflanzung
entstehen. Nur mit knapper Not entging er dem Märtyrerschicksal Giordano Brunos
oder Galileis. Denn der rechtgläubige Gelehrte der damaligen Zeit meinte, daß
Würmer, Insekten, ja selbst Fische aus leblosem Schlamm entstehen können.
Nichts anderes hat Redi behauptet, als was heute allgemein anerkannt ist, daß
alles Lebendige von einem Lebendigen abstammt. Er hat die Sünde begangen, eine
Wahrheit zu kennen, zwei Jahrhunderte bevor die Wissenschaft «unumstößliche
Beweise» für sie fand. Seit Pasteur seine Untersuchungen angestellt hat, kann
kein Zweifel mehr darüber walten, daß man es lediglich mit einer Täuschung zu
tun hatte in solchen Fällen, in denen man früher geglaubt hat, aus leblosen
Substanzen entständen durch «Urzeugung» lebendige Wesenheiten. Die in derlei
leblose Substanzen eindringenden Lebenskeime entzogen sich der Beobachtung.
Durch sichere Mittel hat Pasteur das Eindringen solcher Keime in Substanzen, in
denen für gewöhnlich kleine Lebewesen entstehen, verhindert - und es bildete
sich nicht eine Spur des Lebendigen. Das Lebendige entsteht also nur aus dem
Lebenskeime. Redi hatte vollkommen recht.
In einer ähnlichen Lage wie der italienische Denker
ist heute der Anthroposoph. Er muß auf Grund seines Wissens das von dem Seelischen
sagen, was Redi von dem Lebendigen gesagt hat. Er muß behaupten: Seelisches
kann nur aus Seelischem entstehen. Und wenn die Naturwissenschaft in derselben
Richtung sich weiterbewegt, die sie seit dem siebzehnten Jahrhundert genommen
hat, dann wird auch die Zeit kommen, in der sie selbst - aus sich heraus -
diese Anschauung vertreten wird. Denn - das muß immer von neuem betont werden - der anthroposophischen
Anschauung von heute liegt genau die gleiche Denkgesinnung zugrunde wie der
naturwissenschaftlichen Behauptung, daß Insekten, Würmer und Fische nicht aus
Schlamm, sondern aus Lebenskeimen entstehen. Und sie behauptet den Satz: «jede
Seele entsteht aus Seelischem » in demselben Sinne und in derselben Bedeutung
wie der Naturforscher den seinigen: «Alles Lebendige entsteht aus Lebendigem [1].»
Die Sitten sind heute andere als im siebzehnten
Jahrhundert. Die den Sitten zugrunde liegenden Gesinnungen haben sich nicht
sonderlich geändert. Im siebzehnten Jahrhundert verfolgte man ketzerische
Anschauungen allerdings mit Mitteln, die heute nicht mehr human erscheinen. Man
wird die Anthroposophen heute nicht gerade mit dem Feuertode bedrohen: man
begnügt sich damit, sie dadurch unschädlich zu machen, daß man sie für
Schwärmer und unklare Köpfe erklärt. Die landläufige Wissenschaft stempelt sie
zu Toren. An die Stelle der früheren Hinrichtung durch die Inquisition ist die
neue Hinrichtungsart, die journalistische, getreten. Nun, die Anthroposophen
stehen aufrecht: sie trösten sich mit dem Bewußtsein, daß die Zeit kommen
werde, in der man von irgendeinem Virchow ungefähr hören wird: «Es gab eine
Zeit - wir sind glücklich, daß die überwunden ist - in der man glaubte, daß die
Seele von selbst entstehe, wenn gewisse komplizierte chemische und
physikalische Vorgänge innerhalb einer Hirnschale sich abspielen. Heute aber
muß für jeden ernsten Forscher solch kindliche Vorstellung dem Satze weichen: Jedes
Seelische entsteht aus Seelischem.» Und der Chorus «aufgeklärter»
Journalisten verschiedener Parteirichtungen wird - falls dann nicht solcher
Journalismus selbst unter die Kindereien gerechnet wird - er wird dann
schreiben: «Der geniale Forscher X hat mannhaft die Fahne aufgeklärter
Seelenwissenschaft entrollt und den Aberglauben einer mechanischen
Naturanschauung zu Paaren getrieben, der noch auf der Naturforscherversammlung
des Jahres 1903 durch den Breslauer Chemiker Ladenburg wahre Triumphe feiern durfte.»
Nun soll man sich aber ja nicht dem Wahn hingeben,
die Geisteswissenschaft wolle aus der Naturwissenschaft heraus ihre Wahrheiten beweisen.
Was betont werden muß, ist vielmehr, daß die Geisteswissenschaft die
gleiche Gesinnung hat wie die wahre Naturwissenschaft. Der
Anthroposoph vollbringt nur für die Gebiete des seelischen Lebens dasselbe, was
der Naturforscher für das zu erreichen strebt, was er mit Augen sehen und mit
Ohren hören kann. Zwischen echter Naturforschung und Geisteswissenschaft kann kein
Widerspruch bestehen. Der Anthroposoph legt dar, daß die Gesetze, die er
für das Seelenleben aufstellt, in entsprechender Weise auch für die äußeren
Naturerscheinungen gelten. Er tut es deshalb, weil er weiß, daß das menschliche
Erkenntnisgefühl sich nur dann befriedigt erklären kann, wenn es einsieht, daß
Einklang und nicht Widerspruch ist zwischen den verschiedenen
Erscheinungsgebieten des Daseins. Heute sind ja die meisten Menschen, die sich
überhaupt um Erkenntnis und Wahrheit bemühen, mit gewissen
naturwissenschaftlichen Einsichten bekannt. Solche Wahrheiten fliegen dem
Menschen, sozusagen, auf der Straße an. Die Unterhaltungsbeilagen der Zeitungen
enthüllen dem Gebildeten und auch dem Ungebildeten die Gesetze, wie sich die
vollkommenen Tiere aus den unvollkommenen entwickeln, welch tiefgehende
Verwandtschaft zwischen dem Menschen und dem höchststehenden Affen bestehe, und
flinke Wochenblattschreiber werden nicht müde, ihren Lesern einzuschärfen, wie
sie über den « Geist» zu denken haben im Zeitalter des «großen Darwin». Sie
fügen höchst selten hinzu, daß sich in Darwins Hauptwerk auch der Satz findet:
«Ich halte dafür, daß alle organischen Wesen, die je auf dieser Erde gelebt haben,
von einer Urform abstammen, welcher das Leben vom Schöpfer eingehaucht
wurde.» - In einem solchen Zeitalter ist es höchst notwendig, immer wieder
und wieder zu zeigen, daß es sich die Anthroposophie mit dem « Einhauchen des
Lebens» und auch der Seele nicht so leicht macht wie Darwin und manche Darwinianer,
daß aber ihre Wahrheiten mit den Ergebnissen wahrer Naturforschung nicht in
Widerspruch stehen. Nicht auf der Krücke der Naturwissenschaft der Gegenwart
will die Anthroposophie zu den Geheimnissen des Geisteslebens vordringen,
sondern nur sagen will sie: « Erkennet die Gesetze des geistigen Lebens, und
ihr werdet diese hohen Gesetze auch in entsprechender Form bewahrheitet finden,
wenn ihr auf das Gebiet heruntersteigt, wo ihr mit Augen sehen und mit Ohren
hören könnt. Die Naturwissenschaft der Gegenwart widerspricht nicht der
Geisteswissenschaft, sondern sie ist selbst elementare Geisteswissenschaft.
Haeckel hat es im Gebiete des tierischen Lebens nur deshalb zu so schönen
Ergebnissen gebracht, weil er die Gesetze, welche die Seelenforscher seit
langem auf die Seele anwenden, nun auch auf die Entwickelung des tierischen
Lebens anwandte. Wenn er selbst nicht diese Überzeugung hat, so tut das nichts;
er kennt eben die Seelengesetze nicht und weiß auch nichts von den Forschungen,
die man auf dem Felde der Seele anstellen kann. Die Bedeutung seiner Ergebnisse
auf seinem Gebiete wird dadurch nicht geringer. Große Männer haben die
Fehler ihrer Tugenden. Unsere Aufgabe ist, zu zeigen, daß Haeckel da, wo er zu Hause
ist, nichts anderes ist als Anthroposoph.» - Und noch ein anderes
Hilfsmittel bietet sich dem Geisteswissenschafter durch die Anknüpfung an die
naturwissenschaftlichen Erkenntnisse der Gegenwart. Die Dinge der äußeren Natur
sind gewissermaßen mit den Händen zu greifen. Deshalb ist es leicht, ihre
Gesetze klarzulegen. Sich zu vergegenwärtigen, daß Pflanzen sich verändern,
wenn sie aus einer Gegend in eine andere versetzt werden, macht keine
Schwierigkeiten. Daß gewisse Tierarten die Sehkraft ihrer Augen verlieren, wenn
sie eine Zeitlang in finsteren Höhlen leben, ruft unschwer anschauliche Vorstellungen
hervor. Wenn man nun zeigt, welche Gesetze in solchen Vorgängen wirken, so kann
man von da aus leicht zu den minder anschaulichen, weniger faßbaren Gesetzen
hinüberleiten, die uns auf dem Gebiete des seelischen Lebens entgegentreten. -
Veranschaulichen und nichts anderes will der Anthroposoph, wenn er die
Naturwissenschaft zu Hilfe ruft. Er hat zu zeigen, daß sich auf ihrem Gebiete
die anthroposophischen Wahrheiten in entsprechender Form wiederfinden, daß die
Naturwissenschaft nichts anderes sein kann als elementare Geisteswissenschaft;
und er hat sich der naturwissenschaftlichen Vorstellungen zu bedienen, um zu
seinen höher gearteten hinüberzuleiten.
Nun könnte ja hier auch eingewendet werden, daß
jegliche Hinneigung zu den gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Vorstellungen
die Geisteswissenschaft schon deshalb in eine schiefe Lage bringen könne, weil
diese Vorstellungen selbst auf einem ganz unsicheren Boden ruhen. Es ist
richtig: da gibt es Naturforscher, die gewisse Grundlinien des Darwinismus für
unumstößliche Wahrheiten halten, und andere, die bereits von einer «Krisis des
Darwinismus» sprechen. Die einen finden in der «Allmacht der Naturzüchtung», im
«Kampf ums Dasein » umfassende Erklärungsgründe für die Entwickelung der
Lebewesen; die ändern verweisen diesen « Kampf ums Dasein» zu den
Kinderkrankheiten der neueren Naturlehre und reden von der « Ohnmacht der
Naturzüchtung ». - Wenn es auf diese besonderen strittigen Punkte ankäme, dann
könnte man als Anthroposoph wahrlich nichts Besseres tun, als sich um sie
vorläufig nicht bekümmern, und für den Einklang mit der Naturwissenschaft einen
Zeitpunkt abwarten, der besser als der gegenwärtige ist. Aber eben daraufkommt
es gar nicht an. Es handelt sich vielmehr um eine gewisse Gesinnung, um eine
Denkungsart innerhalb des naturwissenschaftlichen Forschens in unserer Zeit, um
bestimmte große Richtungslinien, die überall eingehalten werden, wenn auch die
Gedanken über besondere Fragen bei einzelnen Forschern und Denkern weit
auseinandergehen. Wahr ist: Ernst Haeckels und Virchows Anschauungen über die
«Abstammung des Menschen » gehen weit auseinander. Aber der anthroposophisch
Gesinnte könnte froh sein, wenn die maßgebenden Persönlichkeiten über gewisse
große Gesichtspunkte in bezug auf das Seelenleben so weit in klarer Weise
dächten, wie diese Gegner über dasjenige, was ihnen bei allem Streit
doch als absolut sicher gilt. Weder Haeckels noch Virchows Anhänger suchen
heute den Ursprung der Würmer im leblosen Schlamm, weder die ersten, noch die
letzteren zweifeln an dem Satze: «alles Lebendige stammt aus Lebendigem» in dem
oben bezeichneten Sinne. - In der Seelenkunde haben wir es so weit noch nicht
gebracht. Da fehlt jede Klarheit über einen Gesichtspunkt, der sich mit solchen
naturwissenschaftlichen Grundüberzeugungen vergleichen ließe. Wer die Gestalt
und Lebensweise eines Wurmes erklären will, weiß, daß er zum Wurm-Ei und zu den
Vorfahren des Wurmes hinaufsteigen muß; er weiß, in welcher Richtung er
forschen muß, wenn auch über alles Weitere verschiedene Ansichten herrschen,
oder auch behauptet wird, die Zeit sei noch nicht reif, über diesen oder jenen
Punkt bestimmte Gedanken zu erzeugen. - Wo wäre in der Seelenkunde eine
ähnliche Klarheit? Daß die Seele [2] geistige Eigenschaften habe,
wie der Wurm physische, veranlaßt nicht, wie es doch sollte, an die eine
Tatsache mit derselben Forschergesinnung heranzutreten wie an die andere.
Allerdings steht unsere Zeit unter dem Einfluß von Denkgewohnheiten, die
bewirken, daß Unzählige aus den Reihen derer, die sich mit diesen Dingen
beschäftigen, gar nicht einmal auf eine solche Forderung in entsprechender Art
eingehen wollen. - Gewiß: es wird zur Not zugegeben, daß auch die seelischen
Eigenschaften eines Menschen geradeso irgendwoher stammen müssen wie die
physischen. Es werden Erwägungen darüber angestellt, wie es dehn komme, daß die
Seelen einer Schar von Kindern so verschieden sind, die alle unter gleichen
Umständen aufgewachsen und erzogen sind, daß sogar Zwillinge in wesentlichen
Eigenarten von einander abweichen, die stets an demselben Orte, unter der Obhut
einer Amme gewesen sind. Man führt wohl auch gelegentlich an, daß es von «den
siamesischen Zwillingen heißt, ihre letzten Lebensjahre wären infolge ihrer
entgegengesetzten Sympathien im nordamerikanischen Bürgerkriege recht
unbehaglich gewesen.» Übrigens soll gar nicht behauptet werden, daß nicht
sorgfältiges Nachdenken und Beobachten auf solche Erscheinungen gewendet
worden, und nicht beachtenswerte Arbeiten darüber vorlägen. Aber es ist das
Gewöhnliche, daß sich solche Arbeiten zum Seelischen so verhalten, wie sich
eben der Naturforscher zum Lebendigen verhalten würde, wenn er einfach seine
Herkunft aus dem leblosen Schlamme behaupten wollte. Es ist zweifellos
berechtigt, wenn man zur Erklärung der niederen seelischen Eigenschaften zu den
physischen Vorfahren hinaufsteigt, und ebenso von Vererbung spricht, wie man es
für die körperlichen Merkmale tut. Aber man will die Augen vor dem
Wesentlichsten verschließen, wenn man dieselbe Richtung für die höheren
Seeleneigenschaften, für das eigentlich Geistige im Menschen nimmt. Man hat
sich eben daran gewöhnt, diese höheren seelischen Eigenschaften nur als eine
Steigerung, als einen höheren Grad der niederen zu betrachten. Und man meint
deshalb, man könne sich mit einer Erklärung zufriedengeben, die in demselben
Sinne gehalten ist wie diejenige der seelischen Eigenschaften der Tiere.
Es soll nicht geleugnet werden, daß die Beobachtung
gewisser seelischer Verrichtungen der höheren Tiere zu einer solchen Anschauung
leicht verführt. Man braucht j a nur darauf hinzuweisen, daß Hunde merkwürdige
Beweise eines treuen Gedächtnisses geben, daß Pferde, die den Mangel eines
Hufeisens bei sich bemerken, selbst zur Schmiede gehen, in der sie gewöhnlich
beschlagen werden; daß sogar Tiere, die in einem Zimmer eingeschlossen sind,
sich selbst die Klinke öffnen, und was an dergleichen erstaunlichen Dingen mehr
angeführt werden kann. Gewiß: auch der Anthroposoph wird nicht ermangeln, jede
beliebige Steigerung der tierischen Fähigkeiten zuzugeben. Aber soll man
deshalb allen Unterschied zwischen den niederen Seelenmerkmalen, die der Mensch
mit den Tieren gemein hat, und den höheren geistigen Eigenschaften, die nur ihm
eignen, verwischen? Nur der kann das, der durch ein dogmatisches Vorurteil der
«Wissenschaft» ganz geblendet ist, welche am Grobsinnlichen haften bleiben will.
Man nehme doch nur die durch einwandfreie Beobachtung festgestellte Tatsache, daß die Tiere, auch
die höchststehenden, nicht zählen, und daher auch nicht rechnen lernen. Schon
in alten Weisheitsschulen galt es als ein vielsagender Satz, daß sich der
Mensch dadurch vom Tiere unterscheide, daß er zählen könne. - Das Zählen ist
die einfachste, die trivialste der höheren Seelenfähigkeiten. Eben deshalb sei
es hier angeführt als der Grenzpunkt, wo das Tierisch-Seelische in das
Geistig-Seelische, in das höhere Menschliche übergeht. Es ist natürlich
kinderleicht, auch hier Einwände zu machen. Erstens kann man sagen, daß ja noch
nicht aller Tage Abend ist, und daß einmal gelingen könne, was bisher nicht
gelungen ist: gewissen intelligenten Tieren das Zählen beizubringen. Und
zweitens möchte man wohl daraufhinweisen, daß ja des Menschen Gehirn immerhin
sich dem der Tiere gegenüber vervollkommnet habe; und daß es einfach daher
komme, wenn es höhere Grade von Seelentätigkeiten hervorbringe. Man mag dem,
der solche Einwände macht, nicht einmal, sondern hundertmal recht geben. Aber
in derselben Lage ist man bei solchen, die gegenüber der Tatsache, daß alles
Leben aus Lebendigem hervorgeht, immer wieder behaupten: aber im Wurm herrschen
dieselben chemischen und physikalischen Gesetze wie im Schlamme, nur in
komplizierterer Weise. Wer mit Trivialitäten und Selbstverständlichkeiten
durchaus die Geheimnisse der Natur enthüllen will, dem wird eben schwer zu
helfen sein. Es gibt Leute, die den Grad von Verstand, zu dem sie sich gerade
emporgerungen haben, für den denkbar höchsten halten, und die deshalb gar nicht
darauf verfallen, daß ein anderer sich vielleicht ihre trivialen Einwände
selbst machen könnte, wenn er nicht deren Nichtigkeit einsähe. - Es ist gar
nichts dagegen einzuwenden, daß alle höheren Verrichtungen in der Welt
nur Steigerungen der niederen sind, daß die im Wurm herrschenden Gesetze
Steigerungen derjenigen sind, die im Schlamme anzutreffen sind. Aber so wie
heute kein Einsichtiger die Herkunft des Wurmes aus dem Schlamme behauptet, so kann
kein klar Denkender das Geistig-Seelische in dieselbe Begriffsschablone
bringen wollen wie das Tierisch-Seelische. Wie man zunächst in der Reihe des
Lebendigen bleibt, um dieses Lebendige seiner Abstammung nach zu erklären, so
muß man im Reich des Seelisch-Geistigen bleiben, um das Seelisch-Geistige
seiner Herkunft nach zu verstehen.
Es gibt Tatsachen, die überall beobachtet werden
können und an denen unzählige Menschen vorbeigehen, ohne sich besondere
Gedanken dabei zu machen. Einmal kommt einer und macht an einer solch jedermann
zugänglichen Tatsache die Entdeckung einer folgenschweren Wahrheit. An einer
schwingenden Kirchenlampe soll Galilei das wichtige Gesetz der Pendelschwingung
bemerkt haben. Vorher haben unzählige Menschen Kirchenlampen schwingen sehen,
ohne daran diese tiefgreifende Bemerkung zu machen. Es kommt darauf an, daß man
mit den Dingen, die man sieht, die rechten Gedanken verknüpft. Nun gibt es eine
Tatsache, die ganz allgemein zugänglich ist, und die, richtig angesehen, ein
helles Licht wirft auf den Charakter des Seelisch-Geistigen. Das ist die
einfache Wahrheit, daß jeder Mensch eine Biographie hat, das Tier aber keine.
Zwar werden wieder manche sagen: Kann man denn nicht auch die Lebensgeschichte
einer Katze oder eines Hundes schreiben? Ihnen ist zu antworten: zweifellos,
aber es gibt auch Schulaufgaben, in denen man von den Kindern verlangt: sie
sollen die Schicksale einer Schreibfeder erzählen. Doch handelt es sich darum,
daß für den einzelnen Menschen die Biographie dieselbe grundwesentliche
Bedeutung hat, wie für das Tier die Beschreibung seiner Art. In demselben
Sinne, in dem mich bei dem Löwen die Beschreibung der Löwenart interessiert,
beschäftigt mich beim einzelnen Menschen die Biographie. Schiller, Goethe und
Heine sind nicht in demselben Sinne für mich erschöpft, wenn ich ihre
Menschenart beschreibe, wie der einzelne Löwe für mich erschöpft ist, wenn ich
ihn als Exemplar seiner Gattung erkannt habe. Der einzelne Mensch ist mehr als
ein Exemplar der Menschengattung. Er hat in demselben Sinne seine
Gattungsmerkmale mit seinen physischen Vorfahren gemein wie das Tier. Aber wo
das Gattungsmäßige aufhört, da beginnt für den Menschen das, was seine
besondere Stellung, seine Aufgaben in der Welt bedingt. Und wo dieses anfängt,
da hört alle Möglichkeit einer Erklärung nach der Schablone der
tierisch-physischen Vererbung auf. Ich kann Schillers Nase und Haare,
vielleicht auch gewisse Temperamentseigenschaften auf Entsprechendes bei seinen
Vorfahren zurückführen, aber nicht sein Genie. Und das gilt natürlich nicht nur
von Schiller. Das gilt auch von der Frau Müller aus Krähwinkel. Auch bei ihr
wird man, wenn man nur zusehen will, Seelisch-Geistiges finden, das durchaus
nicht in der gleichen Art bei ihren Eltern und Großeltern gefunden werden
könnte, wie ihre Nase und ihre blauen Augen. Zwar hat Goethe gesagt, vom Vater
habe er die Statur und des Lebens ernstes Führen, vom Mütterchen die Frohnatur
und Lust zu fabulieren, und deshalb wäre an dem ganzen Wicht nichts original zu
nennen. Nun, trotzdem wird aber niemand versuchen, Goethes Begabung in
demselben Sinne von Vater und Mutter herzuleiten, und sich damit befriedigt
erklären, wie man die Form und Lebensart des Löwen aus seinen Vorfahren
herleitet. - Hier liegt die Richtung, welche die Seelenkunde nehmen muß, wenn
sie dem naturwissenschaftlichen Satz: «alles Lebendige stammt aus Lebendigem»
den entsprechenden an die Seite stellen will: «alles Seelische ist aus
Seelischem zu erklären.» Wir werden weiterhin diese Richtung verfolgen und
zeigen, wie die Gesetze von Reinkarnation und Karma von diesem Gesichtspunkte
aus eine naturwissenschaftliche Notwendigkeit sind. Es erscheint höchst
sonderbar, daß so viele an der Frage nach der Herkunft des Seelischen vorbeigehen,
rein aus Furcht, daß sie dabei in ein unsicheres Wissensgebiet kommen könnten.
Ihnen muß vorgehalten werden, was der große Naturforscher Karl Gegenbaur vom
Darwinismus gesagt hat. Mögen die unmittelbaren Behauptungen Darwins auch nicht
ganz richtig sein, sie waren Führer zu Entdeckungen, die ohne sie nicht wären
gemacht worden. Darwin hat in einleuchtender Weise auf die Entwickelung der
Lebensformen aus einander hingewiesen, und das hat dazu angespornt, die
Zusammenhänge solcher Formen zu suchen. Auch diejenigen, welche die Irrtümer
des Darwinismus bekämpfen, müßten sich darüber klar sein, daß dieser selbe
Darwinismus der Erforschung tierischer und pflanzlicher Entwickelung Klarheit
und Sicherheit gebracht hat, und daß er durch sie in dunkle Gebiete
des Naturwirkens hineingeleuchtet hat. Seine Irrtümer wird er durch sich selbst
überwinden. Wäre er nicht gewesen, so hätten wir auch seine Folgen nicht. Und
den anthroposophischen Anschauungen müßte für das geistige Leben ein
gleiches auch derjenige zugestehen, der diesen Lehren gegenüber Unsicherheit
fürchtet. Auch wenn sie nicht ganz richtig wären, würden sie aus sich selbst
zum Licht über die Rätselfragen der Seele führen. Auch ihnen wird Klarheit und
Sicherheit verdankt werden. Und da sie sich auf unser geistiges
Schicksal, auf unsere menschliche Bestimmung, auf unsere höchsten Aufgaben
beziehen, so müßte die Herbeiführung dieser Klarheit und Sicherheit die
wichtigste Angelegenheit unseres Lebens sein. Auf diesem Gebiete ist das
Streben nach Erkenntnis zugleich eine moralische Notwendigkeit, eine unbedingte
sittliche Verpflichtung.
Eine Art Bibel des «aufgeklärten» Menschen der
neuen Zeit wollte David Friedrich Strauß in seinem 1872 erschienenen
Buche «Der alte und der neue Glaube» liefern. Dem «neuen Glauben» sollen die
Offenbarungen der Naturwissenschaft zugrunde liegen, und nicht die, nach der
Meinung des genannten Apostels der Aufklärung überlebten, Offenbarungen des «
alten Glaubens». Unter dem Eindruck der Darwinschen Vorstellungen ist die neue
Bibel geschrieben. Und sie rührt von einer Persönlichkeit her, die sich gesagt
hat: wer gleich mir zu den aufgeklärten Menschen sich rechnet, der hat längst
vor Darwin nicht an die « übernatürliche Offenbarung » und ihre Wunder
geglaubt. Er hat sich klar gemacht: in der Natur walten notwendige,
unabänderliche Gesetze, und was uns die Bibel als Wunder erzählt, wären
Störungen, Unterbrechungen dieser Gesetze; und solche kann es nicht geben. Wir
wissen nach Naturgesetzen, daß
kein Toter wieder lebendig werden kann: also kann auch Jesus den Lazarus nicht
auferweckt haben. - Aber nun - so sagt sich unser Aufgeklärter weiter - hatte
unsere Naturerklärung eine Lücke. Wir vermochten einzusehen, wie die leblosen
Erscheinungen durch unabänderliche Naturgesetze erklärt werden können; aber wie
die mannigfaltigen Arten der Pflanzen und Tiere und der Mensch selbst
entstanden seien: davon konnten wir uns keine naturgemäße Vorstellung machen.
Wir glaubten zwar, daß auch da nur notwendige Naturgesetze in Betracht kämen;
aber welche es seien, und wie sie wirken, davon wußten wir nichts. Was wir uns
auch Mühe gaben: etwas Vernünftiges konnten wir nicht einwenden gegen das, was
Karl von Linne, der große Naturforscher des achtzehnten Jahrhunderts,
ausgesprochen hat: es seien so viele « Spezies im Tier- und Pflanzenreich
vorhanden, als ursprünglich im Prinzip geschaffen worden sind.» Hatten
wir da nicht so viele Schöpfungswunder vor uns, als Arten von Pflanzen und
Tieren? Was nützte uns unsere Überzeugung, Gott könne nicht durch einen übernatürlichen
Eingriff in die Naturordnung, durch ein Wunder, den Lazarus erweckt haben, wenn
wir solcher übernatürlicher Taten doch unzählige annehmen mußten. Da kam Darwin
und zeigte uns, daß durch unabänderliche Naturgesetze - Anpassung und Kampf ums
Dasein - die pflanzlichen und tierischen Arten entstehen wie die leblosen
Erscheinungen. Unsere Lücke in der Naturerklärung war ausgefüllt.
Aus der Stimmung heraus, die ihm aus solcher
Überzeugung kam, schrieb David Friedrich Strauß diese Worte seines «Alten und
neuen Glaubens» hin: «Wir Philosophen und kritischen Theologen haben gut reden
gehabt, wenn wir das Wunder in Abgang dekretierten; unser Machtspruch verhallte
ohne Wirkung,weil wir es nicht entbehrlich zu machen, keine Natur kraft
nachzuweisen wußten, die es an den Stellen, wo es bisher am meisten für
unerläßlich galt, ersetzen konnte. Darwin hat diese Naturkraft, dieses
Naturverfahren nachgewiesen, er hat die Tür geöffnet, durch welche eine
glücklichere Nachwelt das Wunder auf Nimmerwiederkehr hinauswerfen wird. Jeder,
der weiß, was am Wunder hängt, wird ihn dafür als einen der größten Wohltäter
des menschlichen Geschlechts preisen.»
In diesen Worten liegt Siegerstimmung. Und alle,
die wie Strauß empfinden, dürfen den folgenden Ausblick in einen «neuen
Glauben» eröffnen: Einmal haben sich leblose Stoffteilchen durch die ihnen
innewohnenden Kräfte so zusammengeballt, daß sie lebendigen Stoff gaben.
Dieser entwickelte sich durch notwendige Gesetze zu den einfachsten,
unvollkommensten Lebewesen. Dann veränderten sich diese nach ebenso notwendigen
Gesetzen weiter zum Wurm, Fisch, zur Schlange, zum Beuteltier und zuletzt zum
Affen. Und da Huxley, der große englische Naturforscher, nachgewiesen hat, daß
die Menschen ihrem Baue nach den höchststehenden Affen viel ähnlicher sind, als
diese den niederen Affen: was steht noch dem Glauben entgegen, daß der Mensch
selbst sich nach denselben Naturgesetzen aus höheren Affen entwickelt habe?
Ferner, treffen wir nicht das, was wir höhere menschliche Geistestätigkeit, was
wir Moral nennen, in einem unvollkommenen Zustande schon bei den Tieren? Dürfen
wir daran zweifeln, daß die Tiere, als ihr Bau vollkommener wurde, als er sich
zur menschlichen Gestalt entwickelte, bloß auf Grund der physischen Gesetze,
auch die Andeutungen von Verstandestätigkeit und Moral, die sich schon bei
ihnen finden, zur menschlichen Höhe ausgestalteten ?
Alles scheint da aufs beste zu stimmen. Zwar wird
jeder zugestehen müssen, daß unsere Naturkenntnis noch lange nicht ausreichen
wird, um sich vorzustellen, wie das oben Beschriebene alles im einzelnen vor
sich geht; aber man wird immer mehr Tatsachen und Gesetze entdecken; und dann
wird auch der «neue Glaube» immer festere Stützen gewinnen.
Nun haben die Forschungen und Überlegungen der
letzten Zeit zwar gar keine so festen Stützen für diesen Glauben geliefert,
vielmehr alles mögliche zu seiner Erschütterung beigetragen : er lebt aber doch
in immer weiteren Kreisen fort und ist ein schweres Hindernis für jede andere
Überzeugung.
Es kann kein Zweifel darüber bestehen: haben David
Friedrich Strauß und seine Gesinnungsgenossen recht, so ist alles Reden von
höheren geistigen Gesetzen des Daseins ein Unding: man müßte den «neuen
Glauben» lediglich auf die Grundlagen aufbauen, von denen diese Persönlichkeiten
behaupten, daß sie Ergebnisse des Naturerkennens seien.
Nun stellt sich aber eine merkwürdige Tatsache dem
vor Augen, der mit unbefangenen Augen die Ausführungen dieser Anhänger des
«neuen Glaubens» verfolgt. Und diese Tatsache drängt sich besonders dann
unwiderstehlich auf, wenn man auf die Gedanken derer blickt, die sich noch ein
wenig Unbefangenheit bewahrt haben gegenüber den mit solcher Sicherheit
auftretenden Behauptungen der orthodoxen Aufklärer.
Es gibt nämlich verborgene Ecken in den Bekenntnissen
dieser Neu-Gläubigen. Und deckt man das auf, was in diesen Ecken vorhanden ist,
dann erstrahlen die wahren Ergebnisse der neueren Naturwissenschaft zwar
in einem hellen Glänze, aber die Meinungen der Neu-Gläubigen über den
Menschen beginnen zu erblassen [3].
Leuchten wir doch in ein paar solcher Ecken einmal
hinein. Halten wir uns an die Persönlichkeit zunächst, welche die
bedeutendste und verehrungswürdigste dieser Neu-Gläubigen ist. Auf Seite 804
der neunten Auflage von Haeckels «Natürlicher Schöpfungsgeschichte » ist
zu lesen: « Das Endresultat (einer Vergleichung der Tiere und des Menschen)
ist, daß zwischen den höchstentwickelten Tierseelen und den tiefststehenden Menschenseelen
nur ein geringer quantitativer, aber kein qualitativer Unterschied existiert; dieser
Unterschied ist viel geringer als der Unterschied zwischen den niedersten und
höchsten Menschenseelen oder als der Unterschied zwischen den höchsten und niedersten
Tierseelen.» Nun, wie verhält sich der Neu-Gläubige zu einer solchen Tatsache ?
Er verkündet: wir müssen den Unterschied zwischen den niederen und den höheren
Tierseelen aus notwendigen und unabänderlichen Gesetzen heraus erklären. Und
wir studieren diese Gesetze. Wir fragen uns: wie ist es gekommen, daß aus
Tieren mit niedriger Seele solche mit höherer sich entwickelt haben ? Wir
suchen in der Natur nach Bedingungen, durch die das Niedere zum Höheren werden
kann. Wir finden da zum Beispiel, daß Tiere, die in die Höhlen von Kentucky aus
anderen Orten herkommen, blind werden. Es wird uns klar, daß der Aufenthalt im
Finstern die Augen außer Tätigkeit gesetzt hat. In diesen Augen wird dadurch
nicht mehr die physikalische und chemische Tätigkeit verrichtet, die während
des Sehens vor sich geht. Der Strom der Nahrung, der für diese Tätigkeit früher
verwendet worden ist, fließt nunmehr ändern Organen zu. Die Tiere verändern
ihre Gestalt. Auf solche Weise können neue Tierarten aus alten entstehen, wenn
die Verwandlungen nur hinreichend groß und mannigfaltig genug sind, welche die
Natur an diesen Arten bewirkt. - Was geschieht da eigentlich? Die Natur nimmt
mit gewissen Wesen Veränderungen vor; und diese Veränderungen treten dann auch
bei den Nachkommen auf. Man sagt, sie vererben sich. So ist die
Entstehung neuer Tier- und Pflanzenarten erklärt [4].
Und nun geht bei den Neu-Gläubigen die Erklärung
munter weiter. Der Unterschied zwischen den tiefstehenden Menschenseelen und
den hochstehenden Tierseelen ist nicht gar so groß. Also haben gewisse
Lebensverhältnisse, in welche hochstehende Tierseelen versetzt worden sind,
Veränderungen in ihnen bewirkt, wodurch sie zu niederen Menschenseelen wurden.
Das Wunder der Menschenseelen-Entwickelung ist - um mit Strauß zu reden - auf
Nimmerwiederkehr aus dem Tempel des neuen Glaubens hinausgeworfen, und der
Mensch nach «ewigen, notwendigen» Gesetzen der Tierwelt eingereiht. Der
Neu-Gläubige zieht sich damit befriedigt zum friedlichen Schlummer zurück; von
jetzt an will er nicht mehr weiter.
Ehrliches Denken muß ihn stören in diesem
Schlummer. Denn dieses ehrliche Denken muß an seinem Schlummerlager Geister am
Leben erhalten, die er selbst gerufen hat. Sehen wir uns einmal obigen
Haeckelschen Satz näher an, «der Unterschied (zwischen höheren Tieren und
Menschen) ist viel geringer als der Unterschied zwischen den niedersten und
höchsten Menschenseelen ». Wenn der Neu-Gläubige das zugibt: darf er sich
dann in friedlichen Schlummer einlullen, sobald er - nach seiner Ansicht - die
Entwickelung der niederen Menschen aus den höchsten Tieren erklärt hat?
Nein, er darf es nicht; und tut er es doch, dann
verleugnet er die ganze Grundlage, auf die er seine Überzeugung aufgebaut hat. Was würde ein
Neu-Gläubiger dem ändern entgegnen, wenn dieser käme und sagte: ich habe
gezeigt, wie die Fischtiere aus niedrigeren Lebewesen entstanden sind. Damit
bin ich fertig. Ich habe gezeigt, daß sich alles entwickelt - also werden sich
schon die über den Fischen stehenden Arten so entwickelt haben wie die Fische.
Ohne Zweifel würde unser Neu-Gläubiger sagen: mit deinem allgemeinen Entwickelungsgedanken
ist es nichts: du mußt auch begreiflich machen, wie die Säugetiere entstehen;
denn zwischen den Säugetieren und den Fischen ist ein größerer Unterschied als
zwischen den Fischen und den unmittelbar unter ihnen stehenden Tieren. - Und
was müßte daraus folgen, wenn der Neu-Gläubige sich wirklich in seinem
Bekenntnisse treu bliebe? Er müßte sagen: der Unterschied zwischen den höheren
und niederen Menschenseelen ist größer, als der zwischen diesen niederen Seelen
und den unmittelbar unter ihnen stehenden Tierseelen: also muß ich zugeben, daß
es im Weltall Ursachen gibt, welche an der niederen Menschenseele Verwandlungen
bewirken, die sie ebenso umgestalten, wie die von mir aufgezeigten Ursachen die
niedere Tierform in die höhere überführen. Tue ich das nicht, so bleiben die
Arten der Menschenseelen für mich ihrer Entstehung nach ebenso Wunder, wie
es die verschiedenen Tierarten für den bleiben, der nicht an die Veränderung
der Lebewesen durch Naturgesetze glaubt.
Und dies ist unbedingt richtig: die Neu-Gläubigen,
die sich so aufgeklärt dünken, weil sie das Wunder auf dem Gebiete des
Lebendigen «hinausgeworfen» zu haben glauben, sie sind Wunder gläubige, ja
Anbeter des Wunders auf dem Gebiete des seelischen Lebens. Und nur dadurch
unterscheiden sie sich von den von ihnen so sehr verachteten Wundergläubigen,
daß diese ihren Glauben ehrlich eingestehen; sie selbst aber gar keine Ahnung
davon haben, daß sie von dem finstersten Aberglauben befallen sind.
Und nun soll unser Licht in eine andere Ecke des
«neuen Glaubens » getragen werden. Schön hat Dr. Paul Topinard in seiner
«Anthropologie» die Ergebnisse der modernen Menschenursprungslehre
zusammengestellt. Am Schluß des Buches wiederholt er kurz, wie die höheren
Tierformen nach Haeckel in den verschiedenen Zeiten der Erde sich entwickelt
haben: «Im Beginne der Erdperiode, die von den Geologen laurentische genannt
wird, bildeten sich durch zufälliges Zusammentreffen unter Bedingungen, die
sich wahrscheinlich nur in dieser Epoche darboten, aus einigen Elementen:
Kohlenstoff, Sauerstoff, Wasserstoff und Stickstoff die ersten Ei-weißklümpchen.
Aus ihnen gingen durch Urzeugung Moneren - kleinste, unvollkommene Lebewesen -
hervor. Darauf teilten und vervielfältigten sich diese, ordneten sich zu
Organen an und gaben schließlich, nach einer Reihe von Umbildungen, die Haeckel
auf neun festsetzt, einigen Wirbeltieren nach Art des Amphioxus lanceolatus
(Lanzettfischchen) das Leben.» Wir können übergehen, wie die weiteren Arten der
Tiere in derselben Richtung verfolgt werden, und fügen sogleich den Schluß der
Topinardschen Sätze hinzu: «Im zwanzigsten Grade (der Umbildungen) ist der
Anthropoide (menschenähnliche Affe) da, ungefähr während der ganzen
Miozänperiode; im einundzwanzigsten der Affenmensch, der die Sprache und ein
dementsprechendes Gehirn noch nicht besitzt. Im zweiundzwanzigsten erscheint endlich
der Mensch, so wie wir ihn kennen, wenigstens in seinen minder vollkommenen
Formen.» Und nun, nachdem Topinard aufgeführt hat, was die
«naturwissenschaftliche Grundlage des neuen Glaubens » sein soll, macht er in
wenigen Worten ein wichtiges Geständnis. Er sagt: « Hier schneidet
die Aufzählung ab. Haeckel vergißt den dreiundzwanzigsten Grad, in dem ein
Lamarck und Newton glänzen.»
Eine Ecke im Bekenntnis des Neu-Gläubigen ist damit
aufgezeigt, in der er so deutlich wie nur irgend möglich auf Tat-Sachen weist,
denen gegenüber er dieses sein Bekenntnis verleugnet. Er will mit den
Begriffen, mit denen er in der übrigen Natur sich zurechtzufinden sucht, nicht
heraufsteigen in menschlich-seelisches Gebiet. - Täte er dies, beträte er mit
seiner an der äußeren Natur gewonnenen Gesinnung das Feld, das Topinard den
dreiundzwanzigsten Grad nennt, dann müßte er sich sagen: wie ich die höhere
Tierart aus der niederen durch Entwickelung herleite, so leite ich die höhere
Seelenart durch Entwickelung aus der niederen her. Ich kann Newtons Seele nicht
verstehen, wenn ich sie nicht hervorgehend denke aus einem vorausgehenden
seelischen Wesen. Und dieses seelische Wesen kann nie und nimmer in den
physischen Vorfahren gesucht werden. Denn wollte man es da suchen, so würde man
allen Geist der Naturforschung auf den Kopf stellen. Wo könnte es einem
Naturforscher je beifallen, eine tierische Art aus einer anderen sich
entwickeln zu lassen, wenn die letztere der ersteren in physischer Beziehung so
unähnlich wäre wie in seelischer Beziehung Newton seinen Vorfahren? Man
stellt sich doch vor, daß eine Tierart aus einer ähnlichen hervorgeht, die nur
um einen Grad tiefer steht als sie. Also muß Newtons Seele aus einer solchen
hervorgegangen sein, die ihr ähnlich, nur in seelischer Beziehung einen Grad
tiefer ist als sie. Das Seelische in Newton umfaßt mir seine Biographie
(vergleiche Seite 75). Ich erkenne Newton aus dieser seiner Biographie, wie ich
einen Löwen aus der Beschreibung seiner Art erkenne. Und ich verstehe die
Löwenart, wenn ich mir vorstelle, daß sie aus einer im Verhältnis zu ihr
niedrigeren hervorgegangen ist. Also verstehe ich das, was ich in Newtons
Biographie umfasse, wenn ich es mir entwickelt denke aus dem Biographischen
einer Seele, die ihr ähnlich, als Seele mit ihr verwandt ist. Demnach
war Newtons Seele in anderer Form bereits da, wie die Löwenart in anderer Form
vorher da war. Für ein klares Denken gibt es kein Entrinnen aus dieser
Anschauung. Nur weil die Neu-Gläubigen nicht den Mut haben, ihre Gedanken wirklich
zu Ende zu führen, kommen sie nicht zu dieser Schlußfolgerung. Durch sie ist
aber das Wiedererscheinen der Wesenheit, die man in der Biographie umfaßt,
gesichert. - Man lasse entweder die ganze naturwissenschaftliche
Entwickelungslehre fallen, oder man gebe zu, daß sie auf die seelische
Entwickelung ausgedehnt werden müsse. Es gibt nur zweierlei: entweder es
ist jede Seele durch ein Wunder geschaffen, wie die tierischen Arten
durch Wunder geschaffen sein müßten, wenn sie sich nicht auseinander entwickelt
haben; oder die Seele hat sich entwickelt und ist in anderer Form früher
dagewesen, wie die tierische Art in anderer Form da war. Einige der
gegenwärtigen Denker, die sich noch ein wenig Klarheit und Mut zu
folgerichtigem Vorstellen bewahrt haben, sind ein lebendiger Beweis für diese
Tatsache. Sie können sich zwar ebensowenig in den unserer Zeit so ungewohnten
Gedanken von der Seelenentwickelung hineinfinden wie die charakterisierten
Neu-Gläubigen. Aber sie haben wenigstens den Mut, sich zu der dann einzig
möglichen anderen Ansicht zu bekennen: zu dem Wunder der Seelenschöpfung. So
kann man in dem Werk über Psychologie des Greifswalder Professors Johannes
Rehmke, eines der besten Denker unserer Zeit, lesen: «Der Schöpfungsgedanke ...
erscheint uns ... allein geeignet, dem Geheimnis der Seelenentstehung doch
etwas Begreifliches abzugewinnen.» Rehmke kommt dazu, ein bewußtes Allwesen
anzuerkennen, von dem er sagt, es «würde dasselbe,... als alleinige Bedingung
der Seelenentstehung, der Schöpfer der Seele heißen müssen». So spricht
ein Denker, der nicht sanft sich in geistigen Schlummer einlullen will, nachdem
er die physischen Lebensvorgänge begriffen hat, und dem doch die Fähigkeit
fehlt, sich zu der Vorstellung zu bekennen, daß eine Seele sich aus ihrer früheren
Daseinsform entwickelt habe. Rehmke hat eben den Mut zum Wunder, da er den
anderen nicht haben kann zur anthroposophischen Ansicht von dem
Wiedererscheinen der Seele, oder der Reinkarnation. Denker, in denen das
naturwissenschaftliche Streben anfängt, sich folgerichtig auszubilden, kommen notwendig
zu dieser Ansicht. So lesen wir in der Schrift des Göttinger
Philosophieprofessors Julius Baumann über « Neuchristentum und reale Religion » unter den
neununddreißig Sätzen eines « Entwurfes eines kurzen Inbegriffs
realwissenschaftlicher Religion» auch den folgenden (zweiundzwanzigsten): «...
Wie ... in der unorganischen Natur die physikalisch-chemischen Elemente und
Kräfte nicht vergehen, sondern nur ihre Kombinationen ändern, so ist dies nach
realwissenschaftlicher Methode auch anzunehmen von den organischen und den
organisch-geistigen Kräften. Die Menschenseele als formale Einheit, als
verknüpfendes Ich kehrt wieder in neuen Menschenleibern und kann so alle Stufen
menschheitlicher Entwicklung durchleben.»
Solche Anschauung muß haben, wer den vollen Mut zum
naturwissenschaftlichen Glaubensbekenntnis der Gegenwart besitzt. Das soll
nicht dahin mißverstanden werden, als ob hier behauptet werde, die
Hervorragenderen unter den Neu-Gläubigen seien, im gewöhnlichen Sinne des
Wortes, mutlose Persönlichkeiten. Mut, unbeschreiblich großer Mut gehörte dazu,
die naturwissenschaftliche Ansicht gegen die widerstrebenden Mächte des
neunzehnten Jahrhunderts durchzukämpfen. [5] - Aber dieser Mut ist etwas
anderes als der höhere dem folgerichtigen Denken gegenüber. Solches
folgerichtiges Denken lassen aber gerade Naturforscher der Gegenwart vermissen,
die aus den Erkenntnissen ihres Gebietes eine Weltansicht aufbauen wollen. Ist
es denn nicht trostlos, daß in einem Vortrage, der auf der letzten
Naturforscherversammlung von dem Breslauer Chemiker Albert Ladenburg gehalten
worden ist, der Satz vorkommt: «Kennen wir denn ein Substrat der Seele? Ich kenne
keins.» Und daß dann, nach diesem - Eingeständnis, von demselben Manne gesagt
werden konnte: «Wie wollen Sie es mit der Unsterblichkeit halten? Ich glaube,
daß bei dieser Frage mehr als bei jeder anderen der Wunsch der Vater des
Gedankens ist, denn ich kenne keine einzige wissenschaftlich erhärtete
Tatsache, auf die wir uns bei dem Unsterblichkeitsglauben berufen können.» Was
würde der gelehrte Herr wohl sagen, wenn er einem Redner gegenüberstände, der
sagte: «Ich kenne nichts von den chemischen Tatsachen. Deshalb leugne ich die
chemischen Gesetze, denn ich kenne keine einzige wissenschaftlich erhärtete
Tatsache, auf die wir uns bei diesen Gesetzen berufen können.» Da würde doch
der Professor sagen: Was geht uns deine Unwissenheit in der chemischen Wissenschaft
an; befasse dich doch erst mit Chemie, dann rede. Der Professor Ladenburg kennt
kein Substrat der Seele; also soll er die Welt nicht mit den Ergebnissen seiner
Unkenntnis behelligen.
Wie der Naturforscher zu den Tierformen geht, aus
denen sich andere entwickelt haben, um diese anderen zu verstehen, so sollte
der Seelenforscher, der sich auf den Boden dieser Naturforschung stellt, zu der
Seelenform gehen, aus der sich eine andere entwickelt hat, um die letztere zu
verstehen. Die Schädelform der höheren Tiere erklären doch die Naturforscher
aus der Umbildung des niederen Tierschädels. Also sollen sie alles, was in das
Biographische einer Seele gehört, aus dem Biographischen der Seele erklären,
aus welcher diejenige hervorgegangen ist, die man im Auge hat. Die späteren
Zustände sind die Wirkungen früherer. Und zwar die späteren physischen
die Wirkungen früherer physischer; aber auch die späteren seelischen die
Wirkungen früherer seelischer. Dies ist der Inhalt des Karma-Gesetzes, das
besagt: alles, was ich in meinem gegenwärtigen Leben kann und tue, steht nicht
abgesondert für sich da als Wunder, sondern hängt als Wirkung mit den früheren
Daseinsformen meiner Seele zusammen, und als Ursache mit den späteren.
Diejenigen, welche mit offenem Geistesauge das menschliche
Leben betrachten und dieses umfassende Gesetz nicht kennen, oder nicht
anerkennen wollen, stehen fortwährend vor Lebensrätseln. - Es sei ein Beispiel
für vieles angeführt. In Maurice Maeterlincks «Begrabenem Tempel» kann man es
finden, einem Buche, das von solchen Rätseln spricht, wie sie den gegenwärtigen
Denkern in verzerrter Gestalt erscheinen, weil diese mit den großen Gesetzen
von Ursache und Wirkung im geistigen Leben, mit Karma nicht vertraut sind.
Diejenigen, welche den engumgrenzten Dogmen der Neu-Gläubigen verfallen sind,
haben für solche Rätselfragen heute überhaupt keinen Sinn. Maeterlinck wirft eine derselben auf: «Wenn
ich mich bei strenger Kälte ins Wasser werfe, um meinen Nächsten zu retten,
oder wenn ich hineinfalle, während ich ihn hineinzuwerfen suche, so werden die
Folgen der Erkältung in beiden Fällen die gleichen sein, und keine Macht im
Himmel und auf Erden, außer mir selbst und dem Menschen (wenn er es vermag),
wird meine Leiden mehren, weil ich ein Verbrechen begangen, oder mir einen
Schmerz abnehmen, weil ich eine tugendhafte Tat vollbracht habe.» Gewiß : es
erscheinen die hier in Rede stehenden Folgen für eine Beobachtung, die sich auf
die bloß physischen Tatsachen beschränkt, als die gleichen in beiden Fällen.
Aber darf diese Beobachtung, ohne weiteres, als eine vollständige angesehen
werden? Wer das behauptet, der steht als Denker ungefähr auf dem gleichen
Gesichtspunkte mit jenem, der beobachtet, daß zwei Knaben von zwei
verschiedenen Lehrern unterrichtet werden, und der dabei nichts sieht, als daß
in beiden Fällen die Lehrer sich täglich die gleiche Anzahl Stunden mit den
beiden Knaben beschäftigen, und dabei ungefähr das gleiche vollziehen. Ginge
der Beobachter tiefer auf die Tatsachen ein, so würde er vielleicht in beiden
Fällen eine große Verschiedenheit wahrnehmen und es dann erklärlich finden, daß
der eine Knabe ein untüchtiger, der andere ein vorzüglicher Mensch wird. - Und
betrachtete der, welcher auf seelisch-geistige Zusammenhänge eingehen will, die
obigen Folgen für die Seelen der in Betracht kommenden Menschen, so müßte er
sich sagen: was da geschieht, kann nicht für sich allein angesehen werden. Die
Folgen der Erkältung sind Seelenerlebnisse, und ich muß sie, wenn sie nicht als
Wunder gelten sollen, als Ursachen und Wirkungen im Seelenleben ansehen. Die
Folgen beim Lebensretter werden aus anderen Ursachen fließen als beim
Verbrecher; oder sie werden in dem einen oder anderen Falle andere Wirkungen
haben. Und wenn ich in dem gegenwärtigen Leben der Menschen diese Ursachen und
Wirkungen nicht finden kann, wenn für dieses gegenwärtige Leben alles gleich
ist, so muß ich den Ausgleich im vergangenen und zukünftigen suchen. Ich
verfahre dann genau wie der Naturforscher auf dem Felde der äußeren
Tatsachen verfährt: auch dieser erklärt die Augenlosigkeit der Tiere in
finsteren Höhlen aus früheren Erlebnissen ; und er setzt voraus, daß die
gegenwärtigen Erlebnisse ihre Wirkungen in künftigen Rassen- und Artbildungen
haben werden.
Nur der hat ein inneres Recht, im Gebiete der
äußeren Natur von Entwickelung zu reden, der diese Entwickelung auch im
Geistig-Seelischen anerkennt. Es ist nun klar, daß diese Anerkennung, diese
Erweiterung des Naturerkennens über die Natur hinaus, mehr ist als bloßes
Erkennen. Denn sie wandelt die Erkenntnis in Leben; sie
bereichert nicht nur des Menschen Wissen, sondern sie gibt ihm die Kraft, seine
Lebenswege zu wandeln. Sie zeigt ihm, woher er kommt und wohin er geht. Und
sie wird ihm dieses Woher und Wohin über Geburt und Tod hinaus zeigen, wenn er
standhaft die Richtung verfolgt, die ihm die Erkenntnis weist. Von allem, was
er tut, weiß er, daß es sich eingliedert in einen Strom, der von Ewigkeit zu
Ewigkeit fließt. Immer höher und höher wird der Gesichtspunkt, von dem aus er
sein Leben regelt. Wie in einen dumpfen Nebel gehüllt ist der Mensch, bevor er
zu dieser Gesinnung kommt, denn er ahnt nichts von seinem wahren Wesen, nichts
von dessen Ursprung und seinen Zielen. Er folgt den Antrieben seiner Natur,
ohne Einsicht in diese Antriebe zu haben. Er muß sich sagen, daß er vielleicht
ganz anderen folgen würde, wenn er seine Wege mit dem Lichte der Erkenntnis
beleuchtete. Das Verantwortlichkeitsgefühl gegenüber dem Leben wächst immer
mehr unter dem Einfluß solcher Gesinnung. Allein, bildet der Mensch dieses
Verantwortlichkeitsgefühl nicht in sich aus, so verleugnet er im höheren Sinne
sein Menschentum. Erkenntnis ohne das Ziel der Menschenveredelung ist nur
Befriedigung höherer Neugierde. Die Erkenntnis hinauf zu heben zum Erfassen des
Geistigen, damit sie die Kraft des ganzen Lebens werde, das ist - im höheren
Sinne gefaßt - Pflicht. Und Pflicht ist es daher für jeden Menschen,
Verständnis zu suchen für das Woher und Wohin der Seele.
Wie diese Gesetze des Geisteslebens - Reinkarnation
und Karma - wirken, das soll Gegenstand eines nächsten Aufsatzes
(siehe: Wie Karma wirkt)
werden.
Anmerkungen:
1 Das Obige muß
ausdrücklich gesagt werden, denn die flüchtigen Leser sind heute zahlreich, und
sie sind jederzeit gern bereit, jeden möglichen Unsinn in die
Ausführungen eines Denkers hineinzulesen, auch wenn dieser bemüht ist,
ganz genau sich auszusprechen. Deshalb sei hier noch besonders
hinzugefügt, daß es mir gar nicht beifallen kann, diejenigen zu bekämpfen, die,
auf naturwissenschaftlichen Voraussetzungen fußend, dem Problem der «Urzeugung
» nachgehen. Aber wenn es auch Tatsache sein kann, daß irgendwie bloß «leblose»
Substanzen sich zu lebendigem Eiweiß vereinigen, so folgt daraus nicht, daß,
richtig verstanden, Redis Anschauung falsch sei.
2 Die Getreuen der Wundtschen
Schule mögen sich entsetzlich berührt fühlen, daß ich in so altvaterischer
Weise von «Seele» spreche, während sie doch auf die Worte ihres Meisters
schwören, der es eben wieder verkündet hat, daß man nicht von «Seele» sprechen
soll, weil von dieser «überwirklichen» Seelensubstanz, nachdem «sich die
Mythologisierung der Erscheinungen ins Transzendente verflüchtigt» hat, nichts
übriggeblieben ist, als ein «zusammenhängendes Geschehen». Nun ja: Wundtsche
Weisheit kommt der Behauptung gleich, daß man nicht von «Lilie» reden dürfe,
weil man es ja nur mit Farbe, Form, Wachstumsprozessen usw. zu tun habe. (Wundt:
Naturwissenschaft und Psychologie, Leipzig 1903.)
3 Es mag heute
viele geben, die sich gerne recht schnell über die Lehren der Geistes
Wissenschaft unterrichten möchten. Solche werden es recht unbequem finden, wenn
man ihnen in umständlicher Weise die naturwissenschaftlichen Tatsachen erst
einmal in einem solchen Lichte vorführt, daß sie als Grundlage eines
anthroposophischen Aufbaues dienen müssen. Sie sagen: wir wollen etwas von
Geisteswissenschaft hören, und ihr erzählt uns naturwissenschaftliche Dinge,
die jeder Gebildete kennt. Das ist ein Einwand, der so recht klar zeigt, wie
unsere Zeitgenossen gar nicht ernstlich denken wollen. In Wahrheit
wissen die, welche in der angedeuteten Weise reden, gar nichts von der
Tragweite ihrer Kenntnisse; der Astronom nichts von den Konsequenzen der
Astronomie, der Chemiker nichts von denen der Chemie usw. Und es gibt für
sie kein Heil, als bescheiden zu sein und still zuzuhören, wenn ihnen
klargemacht wird, wie sie - wegen der Flüchtigkeit ihres Denkens gar nichts
wissen von dem, was sie in ihrem Dünkel ganz ausgeschöpft zu haben glauben. — Und
auch Anthroposophen meinen oft, es sei unnötig, die Überzeugungen von Karma und
Reinkarnation mit Ergebnissen der Naturwissenschaft zu belegen. Sie wissen
nicht, daß dies die Aufgabe der Unterrassen ist, denen die Bewohner
Europas und Amerikas angehören; und daß ohne diese Grundlage die
Mitglieder dieser Rassen nicht wahrhaft zur geisteswissenschaftlichen
Einsicht kommen können. Wer nur nachreden will, was er von den
großen Lehrern des Ostens hört, der kann innerhalb der
europäisch-amerikanischen Gesittung nicht Anthroposoph werden.
4 Von manchem mag gegen die
obigen Ausführungen eingewendet werden, daß ja die Naturwissenschaft in der
gegenwärtigen Gestalt der anthroposophischen Lehre widerspräche, und daß zum
Beispiel in H.P.Blavatskys «Geheimlehre» eine andere Abstammungslehre sich
finde, als die von Haeckel vertretene ist. Wie es sich damit verhält, wird
später einmal auseinandergesetzt werden. Hier soll ja gar nicht gezeigt werden,
wie sich der «Neue Glaube» zur «Geheimlehre» verhält, sondern lediglich, wie er
sich zu sich selbst verhalten müßte, wenn er seine eigenen
Voraussetzungen verstände.
5 Dem Schreiber dieses Aufsatzes
kann schon aus dem Grunde kein Verkennen der großen Verdienste unserer
Neu-Gläubigen vorgeworfen werden, weil er doch selbst in seinem Buche «Welt-
und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert» diese Verdienste im
Zusammenhange der Geistesentwickelung ihrer Zeit in vollem Maße gewürdigt und
mit Anerkennung ihres Wertes dargestellt hat.