EINIGES ÜBER DIE TECHNIK DES KARMA IM LEBEN NACH DEM TODE
Bern, 15. Dezember 1912
Die
Feier des ersten Jahrfünftes begeht der Berner Zweig mit
dem heutigen Tage, und zugleich sind wir in der Lage, uns heute
zum erstenmal innerhalb dieses Raumes zusammenzufinden, der
durch seine ganze Art in würdiger Weise eine Umrahmung
sein soll für unsere spirituellen Bestrebungen und unsere
spirituellen Arbeiten hier an diesem Orte. Wenn gesucht werden
solche Umrahmungen und wenn wir in der Lage sind, immer und
immer mehr unsere engeren Versammlungen in solchen Umrahmungen
abzuhalten, so bedeutet dies immerhin etwas in unseren
spirituellen Bestrebungen. Wir wissen ja, daß nun schon an
mehreren Orten unseres Arbeitsgebietes solche Räume
angestrebt worden sind und auch vorhanden sind. Und wir
dürfen wohl an diesem Tage, der für uns, wie es eben
charakterisiert worden ist, in zweifacher Weise feierlich ist,
mit ein paar Worten einleitend auch der Bedeutung einer solchen
Umrahmung gedenken.
Wir
kommen ja immer wieder und wiederum bei unseren Bestrebungen
auf die Dreizahl nach der einen oder der ändern Richtung
zurück, auf die heilige Dreizahl, wie man auch sagt. Und
innerhalb des menschlichen Seelenlebens findet man diese
heilige Dreizahl ausgedrückt in dem Denken, Fühlen
und Wollen.
Wenn wir uns besinnen auf das Denken, dann werden wir uns
sagen: In unserem Denken müssen wir uns richten nach den
objektiven Notwendigkeiten. Denn wenn wir uns in unserem Denken
— sei es dem Denken über Dinge des physischen Planes
oder über Dinge der höheren Welten — nicht nach
den Notwendigkeiten richten, so werden wir allein den Irrtum
begehen können, wir werden nicht zur Wahrheit kommen. In
unserem Wollen müssen wir uns ebenfalls zunächst nach
dem richten, was uns gewisse äußere moralische
Grundsätze sagen. Wiederum müssen wir uns richten
nach Notwendigkeiten und dürfen wohl sagen, in bezug auf
unser Denken und unser Wollen ragen die Notwendigkeiten von den
höheren Welten in die physische Welt herunter.
Wirklich im richtigen Sinne des Wortes frei fühlt sich der
Mensch in seinem Fühlen. Das ist doch ganz anders als das
Denken und das Wollen. Im Fühlen und Empfinden, da
fühlen wir uns sozusagen am richtigsten, wenn wir weder
den Zwang des Denkens noch den Zwang des Wollens
verspüren, sondern wenn wir hingegeben sind an das, was
eben gefühlt werden kann. Warum ist dies so?
Ja,
beim Denken fühlen wir, daß das mit etwas
zusammenhängt, von etwas abhängt; beim Wollen
fühlen wir ebenfalls, daß wir abhängen; beim
Fühlen aber sind wir ganz in uns selber. Da leben wir
sozusagen ganz in unserer Seele drinnen. Warum ist das so? Weil
unser Gefühl letzten Endes gerade ein Spiegelbild einer
sehr, sehr jenseits unseres Bewußtseins liegenden Kraft
ist. Die Gedanken müssen wir so ansehen, daß sie
Abbilder sind dessen, was sie darstellen. Das Wollen
müssen wir so entfalten, daß es zum Ausdruck bringt,
was unsere Verpflichtung ist. In dem Fühlen dürfen
wir das frei leben, was uns zur Seele spricht, weil das
Fühlen eine Spiegelung ist, okkult gesehen, desjenigen,
was allerdings nicht in unser Bewußtsein hereintritt, was
aber jenseits unseres gewöhnlichen Bewußtseins liegt
und unmittelbar Göttlich-Geistiges ist. Man kann sagen:
Durch das Denken und das Wollen suchen Götter den Menschen
zu erziehen; im Fühlen lassen uns Götter, wenn auch
auf geheimnisvolle Weise, an ihrem eigenen Wirken, an ihrem
eigenen Schaffen teilnehmen. Im Fühlen ist es auch so,
daß wir in unserer eigenen Seele etwas gegenwärtig
haben, woran die Götter selber ihren Gefallen haben.
Nun, durch eine solche Umrahmung, wie sie hier geschaffen ist,
können wir alles dasjenige, was wir hier betrachten,
fortdauernd mit einem Gefühl begleiten, das uns sozusagen
intimer macht mit den geistigen Welten, recht intim macht mit
den geistigen Welten. Und diese Intimität mit den
geistigen Welten muß uns zukommen von all dem, was wir
sonst betrachten. Daher dürfen wir einen gewissen Wert auf
eine solche Umrahmung legen, dürfen immer mehr uns
hineinleben in das, was uns eine solche Umrahmung sein kann. Da
blicken wir nach allen Seiten in solcher Umrahmung und
fühlen da, sagen wir, die Gewalt von Licht und Farben, die
für uns zu Offenbarungen werden desjenigen, was in der
geistigen Welt ist. Gewiß kann das, was wir zu sagen
haben, auch aufgefaßt werden in den trivialen,
schrecklichen Räumen, die schon einmal in der Gegenwart
überall sind; aber warm, so recht warm kann unsere Seele
bei den spirituellen Betrachtungen nur werden, wenn wir solche
Umrahmungen haben. Daß wir sie auch hier in Bern nach
Ablauf des ersten Jahrfünfts unseres Arbeitens in dieser
Weise haben können, das dürfen wir bezeichnen als ein
gutes Karma, welches unsere Arbeit begleitet und segnet. Und so
wollen wir denn bei jeder solchen Gelegenheit, wie dieses
zweifache Fest heute eine ist, eingedenk sein der Bedeutung
dessen, was Geisteswissenschaft, was geistige Erkenntnis dem
Menschen der neueren Zeit sein kann und sein soll.
Nun, dasjenige, was wir heute eigentlich betrachten wollen, das
wird sich beziehen auf mancherlei, was schon öfters
besprochen worden ist; aber von einem neuen Gesichtspunkte aus
wollen wir Bekanntes besprechen, weil die geistigen Welten uns
nur völlig verständlich werden können, wenn wir
sie wirklich von den verschiedensten Standpunkten aus
betrachten. Das Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt
ist in der mannigfaltigsten Weise beschrieben worden. Wir
wollen es heute so betrachten, daß wir
berücksichtigen können mancherlei von dem, womit ich
mich gerade in den letzten Monaten neuerdings auf dem Gebiet
der Geistesforschung zu beschäftigen hatte.
Wir
wissen ja, daß wir unmittelbar, nachdem wir durchschritten
haben die Pforte des Todes, das sogenannte Kamaloka
durchmachen, das heißt jene Zeit, in der wir noch enger
zusammenhängen mit unserm Fühlen, unseren Affekten,
mit all unserm Seelenleben unserer letzten
Erdenverkörperung. Allmählich befreien wir uns von
diesem Zusammenhang. Wir haben ja nicht mehr den physischen
Leib, nachdem wir durch die Pforte des Todes geschritten sind.
Aber wenn wir auch den physischen und den Ätherleib
abgelegt haben, unser Astralleib hat alle
Eigentümlichkeiten, die er hier auf Erden hatte; und diese
Eigentümlichkeiten, die dieser Astralleib hat, weil er in
einem physischen Leibe gewirkt hat, die muß er ablegen.
Dazu braucht er eine gewisse Zeit, und das ist die
Kamalokazeit. Nach dieser Kamalokazeit durchlebt er dasjenige,
was wir die geistige Welt oder das Devachan genannt haben. Wir
haben es in unseren Schriften mehr, man möchte sagen, nach
dem charakterisiert, was der Mensch erlebt durch die
verschiedenen Elemente, die sich um ihn herum ausbreiten. Wir
wollen jetzt von einer ändern Seite die Zeit zwischen Tod
und neuer Geburt betrachten. Und zwar wollen wir dies
zunächst einmal im allgemeinen charakterisieren.
Wenn der Mensch durch die Pforte des Todes durchgegangen ist,
so erlebt er das Folgende: Während wir hier auf der Erde
sind, können wir sagen, wir sind an einem bestimmten Orte
eingeschlossen, nämlich in unsere Haut, und außerhalb
ist der Raum mit den ändern Dingen und Wesenheiten. So ist
es aber nicht nach dem Tode; sondern nach dem Tode ist es so,
daß wir uns zunächst mit unserer ganzen Wesenheit
ausdehnen, daß wir in unserem Erfühlen immer
größer und größer werden. Dieses
Gefühl: Ich bin in meiner Haut, und da draußen ist
der Raum mit den Dingen — das ist eine Erfahrung, die wir
nach dem Tode nicht haben. Nach dem Tode sind wir in den Dingen
und Wesenheiten drinnen, wir dehnen uns aus über den Raum,
der für uns in Betracht kommt. Während der
Kamalokazeit dehnen wir uns fortwährend aus, und wenn die
Kamalokazeit zu Ende ist, sind wir so groß, wie der Raum
innerhalb des Mond-Umkreises ist. Also tatsächlich wir
wachsen, wir dehnen uns aus über den Raum. Das
Im-Raume-Sein, das Dasein im Räume hat nach dem Tode eine
ganz andere Bedeutung als hier im physischen Leben.
Tatsächlich ist es in gewisser Weise so, daß wir in
der Kamalokazeit in dem Räume sind, den der Mond
umläuft. Jede einzelne Seele ist da, so daß alle
Seelen, die gleichzeitig im Kamaloka sind, den Raum
ausfüllen, den die Mondbahn umgrenzt. Sie stecken alle
ineinander. Und doch ist dieses Ineinanderstecken keineswegs
ein Beisammensein, sondern das Sichbeisammen-Fühlen, das
Miteinandersein hängt von ganz anderem ab als von dem
Ausfüllen eines gemeinschaftlichen Raumes. Da können
zwei Seelen nach dem Tode in demselben Räume sein und
können tatsächlich unendlich ferne voneinander sein,
das heißt ihr Erleben ist so, daß sie gar nichts
voneinander zu wissen brauchen, während andere Seelen
ebenfalls in demselben Räume sind, aber sich familiär
fühlen, sich beisammen fühlen, miteinander sich
erleben. Da hängt alles von innerlichen Verhältnissen
ab, nicht von äußerlich räumlichen
Zusammenhängen.
Und
in den nächsten Zeiten, wenn Kamaloka zu Ende ist, lebt
sich der Mensch noch in größere Räume ein. Immer
weiter dehnt er sich aus. Wenn der Mensch so weit sich
ausgedehnt hat, daß Kamaloka zu Ende geht und er sozusagen
ausgedehnt ist über einen Himmelsraum, der so groß
ist, daß die Mondbahn ihn begrenzen würde, dann ist
innerhalb dieses ausgedehnten Raumes, den der Mensch zu
durchmessen hat nach dem Tode innerhalb der Kamalokazeit, da
ist zurückgeblieben — wie vom Menschen abgestreift
— alles dasjenige, was der Mensch jemals während
seines Erdenlebens so begangen hat, daß es ausdrückt
seinen rechten Hang zum Erdenleben, seine Sehnsucht, seine
Leidenschaft zum Erdenleben. Alles das muß der Mensch
durchmachen, aber alles das muß er auch zurücklassen
in der Mondsphäre oder im Kamaloka. Wenn der Mensch also
weiterlebt nach dem Tode und sich später
zurückerinnert an diese Mondensphäre, so wird er da
eingeschrieben finden alles, was er hier hatte an sinnlichen
Affekten und Leidenschaften, an all das, was im Seelenleben
sich entfaltet, wegen dessen er sich sympathisch zur
Körperlichkeit hingezogen fühlt. Das alles
läßt er zurück in der Mondensphäre. Da
bleibt es; der Mensch kann es nicht so schnell wieder
ausstreichen. Der Mensch nimmt es auch mit als Kraft, aber es
bleibt in der Mondensphäre eingeschrieben. So daß
sozusagen unser Schuldkonto, eines jeden Menschen Schuldkonto
in der Mondensphäre eingeschrieben bleibt.
Dann dehnen wir uns weiter aus. Wenn wir uns weiter ausdehnen,
kommen wir in eine zweite Region, die der Okkultismus die
Merkursphäre nennt. Es ist hier nicht möglich,
genauer einzugehen auf eine Zeichnung der Sache, aber wir
wollen einmal zunächst diese Dinge so betrachten ohne
Zeichnung. Die Merkursphäre ist eine Sphäre, die
größer ist als die Mondsphäre. Wenn wir uns in
diese Sphäre hineinleben wollen nach dem Tode, so tun wir
das als Menschen in der verschiedensten Weise. Der eine Mensch
— das kann man genau untersuchen mit den entsprechenden
Mitteln der Geisteswissenschaft —, der eine Mensch, der
unmoralisch oder moralisch niedrig gestimmt war, lebt sich in
diese Merkursphäre in ganz anderer Weise ein als der
Mensch, der moralisch gestimmt ist. Der erstere kann in dieser
Merkursphäre, das heißt in der Zeit, die nach der
Kamalokazeit kommt in der Art, wie wir es früher gesagt
haben, nicht diejenigen Menschen finden, welche mit ihm oder
vor ihm oder bald nach ihm ebenfalls den physischen Plan
verlassen haben und auch in der geistigen Welt sind. Also er
lebt sich so in die geistige Welt hinein, daß er
diejenigen, die ihm lieb waren, mit denen er zusammen sein
möchte, doch nicht finden kann. Er wird ein Einsiedler der
geistigen Welt, der Merkursphäre, der hier auf Erden
unmoralisch gestimmte Mensch. Der moralisch gestimmte Mensch
wird aber das, was man nennen kann ein geselliges Wesen. Er
findet dort vor allen Dingen diejenigen Menschen, die ihm auf
Erden nahegestanden haben als Seelenwesen.
Davon hängt es ab, ob wir mit jemand zusammen sind; nicht
vom Räumlichen, denn wir füllen alle denselben Raum
aus, sondern von dem, wie wir gestimmt sind. Einsiedler werden
wir, trotzdem wir denselben Raum ausfüllen wie die
ändern, und Einsiedler bleiben wir, denn wir finden nicht
den Weg zu den ändern, trotzdem wir in demselben Raum
sind. Einsiedler werden wir, wenn wir unmoralische Gesinnung
hineinbringen; gesellige Wesen werden wir, wenn wir moralische
Stimmung hineinbringen. Im Kamaloka, in der Mondensphäre
finden wir andere Schwierigkeiten in bezug auf das Gesellige;
aber im allgemeinen darf man sich vorstellen, daß auch da
der Mensch, je nach Beschaffenheit seiner Seele, ein Einsiedler
oder ein geselliges Wesen werden kann. Derjenige, der ein
ausgesprochener Egoist war auf der Erde, der eigentlich nur die
Befriedigung seiner Begierden und Leidenschaften kennt, wird in
der Mondsphäre nicht leicht die Wesen finden können,
die ihm auf der Erde nahegestanden haben. Der Mensch aber, der
leidenschaftlich, wenn auch nur sinnlich leidenschaftlich noch
etwas geliebt hat, was außer ihm steht, der wird immerhin
in der Kamalokazeit kein ganz einsames Wesen sein, sondern er
wird andere Wesen finden, die ihm nahegestanden haben. Aber im
allgemeinen ist es in diesen zwei Sphären nicht
möglich, andere Menschenwesen zu finden als solche, die
uns schon auf der Erde nahegestanden haben. Die ändern
bleiben uns unbekannt. Also die Bedingung sozusagen, daß
wir mit anderen Menschen zusammenkommen, ist die, daß wir
auf Erden mit ihnen zusammen waren. Ob wir zusammenkommen, das
hängt vom Moralischen ab. Aber auch moralische
Bestrebungen können uns nicht viel über jenes Gebiet
hinaus fördern, das zu jenen Menschen führt, denen
wir schon auf Erden nahegestanden haben. Die Beziehungen zu
diesen Menschen, die wir da nach dem Tode treffen, haben das
Eigentümliche, daß sie nach dem Tode nicht
geändert werden können.
Das
müssen wir uns so vorstellen: Hier im Leben haben wir
jederzeit die Möglichkeit, die Lebensverhältnisse,
die Lebensbeziehungen zu ändern. Nehmen wir einmal an:
einen Menschen haben wir durch eine gewisse Zeit nicht so
geliebt, wie er es verdient hätte. In dem Augenblick, wo
wir dieses einsehen, wo wir zur Besinnung kommen, können
wir die richtige Liebe eintreten lassen, wenn wir stark genug
sind. Diese Möglichkeit fehlt uns nach dem Tode. Wenn wir
nach dem Tode einen Menschen antreffen, dem wir auf der Erde zu
wenig Liebe oder ungerechtfertigte Liebe entgegengebracht
haben, so sehen wir das zwar, wir nehmen die Sache viel genauer
wahr als hier auf der Erde; aber wir können nichts daran
ändern. Es muß so bleiben. Das eben ist das
Eigentümliche, daß die Lebensbeziehungen eine gewisse
Konstanz haben. Dadurch, daß sie etwas Bleibendes werden,
bildet sich in unserer Seele die Kraft aus, durch welche sich
das Karma ordnet. Wenn wir also einen Menschen fünfzehn
Jahre lang zu wenig geliebt haben, so sehen wir dies ein; und
während wir es durchleben, bilden wir die Kraft aus, wenn
wir wieder inkarniert werden auf der Erde, dieses anders zu
machen; dadurch bilden wir die Kraft und den Willen zum
karmischen Ausgleich aus. Das ist die Technik des Karma. Vor
allen Dingen müssen wir uns über eines klar sein. In
den ersten Zeiten nach dem Tode, also während der Mondund
der Merkurzeit, und auch noch während der nächsten
Zeit, die gleich charakterisiert werden soll, da leben wir in
der geistigen Welt so, daß unser Leben abhängt von
der Art, wie wir hier auf Erden, in der physischen Welt gelebt
haben; aber so, daß nicht nur in Betracht kommt unser
Bewußtsein, wie wir es auf Erden haben, sondern daß
auch in Betracht kommt unser Unterbewußtsein. So wie wir
hier auf der Erde leben normal, im Wachzustande, so leben wir
in unserem Ich. Unter unserem Ich-Bewußtsein ist das
astrale Bewußtsein, das Unterbewußtsein. Und das
wirkt zuweilen auf Erden ganz anders, ohne daß der Mensch
es weiß, als das Oberbewußtsein, das
Ich-Bewußtsein.
Nehmen wir das nächstliegende Beispiel. Zwei Menschen
leben hier in den besten Freundschaftsverhältnissen. Da
kommt es häufig vor, der eine bekommt eine gewisse
Estimation für die Geisteswissenschaft, der andere, der
mit ihm lebt, während ihm vorher die Geisteswissenschaft
gleichgültig war, bekommt jetzt einen besonderen Haß
darauf. Dieser Haß braucht nicht in der ganzen Seele zu
sein, es kann durchaus so sein, daß er nur im
Ich-Bewußtsein ist, nicht im astralen Bewußtsein. Im
Astralbewußtsein kann der Mensch, der sich immer mehr in
den wütenden Haß hineinredet, sie eigentlich lieben
und nach ihr verlangen, ohne daß er es weiß. Das ist
durchaus möglich. Solche Widersprüche gibt es in der
menschlichen Natur. Untersucht man sein Astralbewußtsein,
sein Unterbewußtsein, so lebt vielleicht gerade da eine
ihm selbst verborgene Sympathie mit der Sache, die er in seinem
Oberbewußtsein haßt. Nach dem Tode zeigt sich das
besonders bedeutsam; denn nach dem Tode wird der Mensch in
dieser Beziehung wahr. Einer, der hier auf Erden sich
eingeredet hat, noch so sehr Geisteswissenschaft zu hassen,
aber im Unterbewußtsein sie liebt, und der während
seines ganzen Lebens abgewiesen hat, was damit zusammenhing,
der hat oft die brennendste Liebe nach dieser
Geisteswissenschaff. Das kann einen tiefen Schmerz in seinem
Kamaloka-Leben bedeuten, daß er nichts weiß und also
keine Gedanken der Erinnerung hat. Denn in der ersten Zeit nach
dem Tode lebt man vorzugsweise von Erinnerungen. So daß
der Mensch nach dem Tode nicht bloß von dem abhängt,
was ihn quält oder auch, was ihm Freude macht, von dem,
was in seinem Ich-Bewußtsein lebt, sondern daß er
auch abhängt von dem, was in seinem Unterbewußtsein
sich entwickelt hat. Da wird der Mensch durchaus wahr in dieser
Beziehung.
Und
hier haben wir einen der Punkte, wo wir sehen können, wie
Geisteswissenschaft wirklich berufen ist, wenn sie richtig
verstanden wird, in das ganze menschliche Leben fruchtbringend
einzugreifen. Sehen Sie, der Mensch, der durch die Pforte des
Todes geschritten ist, kann nichts ändern in den
Beziehungen zu den Wesen, die um ihn sind, und die ändern
auch nicht, die um ihn sind. Da ist Unveränderlichkeit der
Verhältnisse eingetreten. Aber wo noch
Veränderlichkeit eintreten kann, das ist auf dem Gebiet
der Beziehungen zwischen den Gestorbenen und den noch Lebenden.
Die Lebenden, die noch hier sind auf dem physischen Plan, sind
sozusagen, wenn sie in irgendeiner Weise zusammengehangen
haben, also beide, sie und der jetzt Verstorbene, hier gewesen
sind, die Lebenden sind die einzigen, die etwas lindern
können den Schmerz, die etwas stillen können die Qual
derjenigen, die durch die Pforte des Todes gegangen sind. Und
fruchtbar hat sich in einer großen Anzahl von Fällen
erwiesen, was man nennen kann gerade für diesen Fall: das
Vorlesen den Toten. Es hat sich wirklich das bewährt: da
ist jemand gestorben; hier im Leben hat er sich aus irgendeinem
Grunde, aus dem, der genannt worden ist, oder aus anderen
Gründen, nicht mit Geisteswissenschaft befaßt.
Derjenige, der zurückgeblieben ist, kann aus der
Geisteswissenschaft heraus wissen, daß der Verstorbene ein
brennendes Interesse für Geisteswissenschaft haben kann.
Wenn der Zurückgebliebene nun Gedanken innerlich
durchnimmt mit ihm, als wenn der Tote ihm gegenüberstehen
würde, mit dem Gedanken, als ob der Tote vor ihm stehen
würde, so ist das für den Toten eine große
Wohltat. Wir können tatsächlich dem Toten vorlesen.
Das überbrückt sozusagen die Kluft, die besteht
zwischen den Lebenden und den Toten. Bedenken Sie, wenn die
zwei Welten, die durch die materialistische Gesinnung der
Menschen so geschieden sind — die Welt des physischen
Planes und die spirituelle Welt, die der Mensch durchläuft
zwischen Tod und neuer Geburt —, bedenken Sie, wie dies
unmittelbar ins Leben eingreift, wenn diese zwei Welten
zusammengeführt werden! Wenn Geisteswissenschaft nicht
Theorie bleibt, sondern unmittelbarer Lebensimpuls wird, also
das, was Geisteswissenschaft eben sein soll, dann gibt es keine
Trennung, sondern unmittelbare Kommunikation. Das Vorlesen den
Toten ist einer von den Fällen, in denen wir in
unmittelbare Beziehung zu den Toten treten können, in
denen wir ihnen helfen können. Derjenige, der
Geisteswissenschaft gemieden hat, bleibt immer in der Qual,
nach ihr zu verlangen, wenn wir ihm hier nicht helfen. Aber wir
können ihm auch von hier helfen, wenn er überhaupt
ein solches Verlangen hat. So kann der Lebendige dem Toten
helfen.
In
gewisser Weise ist es wiederum auch möglich, daß der
Tote für den Lebenden vernehmlich wird, obwohl die
Lebenden heute wenig tun, um mit den Toten in Verbindung zu
kommen. Aber da wird Geisteswissenschaft unmittelbar eingreifen
in das menschliche Leben, wird ein wirkliches Lebenselixir
werden. Wenn man begreifen will, wie die Toten auf die Lebenden
wirken können, müssen wir vielleicht von folgender
Betrachtung ausgehen.
Was
weiß der Mensch überhaupt von der Welt?
Außerordentlich wenig wissen wir, wenn wir hier auf dem
physischen Plane in bloßem Wachzustande die Dinge
betrachten. Der Mensch weiß dasjenige, was sich vor seinen
Sinnen abspielt und was er aus dem, was sich da abspielt, mit
seinem Verstande machen kann. Alles übrige weiß er
nicht. Meistens glaubt er, daß sich sonst nichts ergeben
könnte, als was er durch die physischen Sinne beobachten
kann. Aber es gibt sehr vieles, was nicht geschieht und doch
außerordentlich bedeutsam ist. Was heißt das?
Wir
wollen einmal annehmen, wir seien gewöhnt, jeden Tag um
acht Uhr morgens in unser Geschäft zu gehen. Einmal aber
verspäten wir uns gerade um fünf Minuten. Es
geschieht weiter nichts, als daß wir um fünf Minuten
zu spät kommen. Aber wir könnten vielleicht bei
genauer Erwägung, wenn wir alle Verhältnisse ins Auge
fassen, dazu kommen, zu erfahren, daß just an dem Tage,
wenn wir zur rechten Zeit gegangen wären, wir hätten
überfahren werden müssen; das heißt, wenn wir
zur rechten Zeit ausgegangen wären, würden wir nicht
mehr leben. Oder, was auch möglich ist, was vorgekommen
ist, daß jemand durch einen Freund abgehalten worden ist,
eine Reise auf der Titanic zu machen. Er kann sagen: Wäre
er damals gefahren, so wäre er zugrunde gegangen! Daß
das karmisch so bedingt war, ist eine andere Sache. Aber denken
Sie einmal, wenn Sie das Leben so betrachten, wieviel Sie vom
Leben wissen. Wenn nichts von dem geschehen ist, was hätte
geschehen können, so wissen Sie es nur nicht. Die
unendlichen Möglichkeiten, die da bestehen in der Welt der
Wirklichkeiten, die beachtet der Mensch nicht. Sie können
sagen: Das ist gewiß nicht bedeutsam! Für die
äußeren Verhältnisse ist es nicht bedeutsam;
bedeutsamer ist es, daß wir nicht zugrunde gegangen sind.
Aber ich möchte darauf aufmerksam machen, daß wir
hätten wissen können: die Wahrscheinlichkeit war
groß, daß wir hätten zugrunde gehen können,
wenn wir zum Beispiel einen von einer Katastrophe betroffenen
Zug nicht versäumt hätten. Man könnte sich alle
möglichen Fälle aufzählen, die aber im kleinen
immer wieder vorkommen. Gewiß, für den
äußeren Lauf der Dinge brauchen wir nur zu wissen,
was wir beobachten können. Aber nehmen wir an, wir wissen
genau, daß etwas hätte geschehen können, wenn
wir den Zug nicht versäumt hätten. Dann macht ein
solches Erlebnis einen Eindruck auf unser Gemüt, und wir
sagen: Wie bin ich da bewahrt worden durch ein gütiges
Geschick auf sonderbare Weise! Denken Sie sich alle diese
Dinge, die der Möglichkeit nach an den Menschen
herantreten. Unendlich viel reicher wäre das Seelenleben
— und wie reich wäre es, wenn der Mensch das alles
wissen könnte, während er jetzt nur das armselige
Leben des Geschehenen ins Auge faßt —, wenn er alles
das wissen könnte, was so hereinspielt in das Leben, ohne
daß es wirklich geschieht.
Es
ist, wie wenn Sie den Blick hinwenden auf das Getreidefeld und
da die Ähren betrachten, die vielen Weizenkörner, von
denen diejenigen, die wieder ausgesät werden, eine
verhältnismäßig geringe Anzahl ausmachen,
unzählige aber werden keine neuen Halme mit Ähren,
sondern gehen einen anderen Weg. Das, was möglich ist mit
uns, verhält sich zu dem, was wirklich wird, so wie die
vielen Weizenkörner, die nicht wieder zu Ähren
werden, zu denen, die Ähren werden. Es ist so in
Wirklichkeit; denn das, was im Leben möglich ist, ist
ungeheuer reich. Und diejenigen Momente, wo besonders wichtige
Dinge in der Welt des Möglichen mit uns vorgehen, das sind
die günstigen Momente, wo die Toten uns nahetreten
können. Nehmen wir an, daß jemand fünf Minuten
zu früh weggeht und dadurch vor dem Zutodefallen bewahrt
geblieben ist in dem Moment, wo er von einem Unglück
erreicht worden wäre oder auch von etwas Freudigem
erreicht wird, das uns auf diese Weise entgangen ist. In diesem
Moment ist es, wo hereinwehen kann in das Leben wie in einem
Traumbilde dasjenige, was die Toten uns selber mitteilen. Aber
der Mensch lebt grob. Er kümmert sich nur um das Grobe,
nicht um die Feinheiten des Lebens, die in dieses Leben
hereinspielen und vorgehen. In dieser Beziehung wird durch die
Geisteswissenschaft das Gefühl und die Empfindung
verfeinert. Dann wird der Mensch diejenigen in das Leben
hereinragen fühlen, die da tot sind, und er wird
Zusammenhang haben mit ihnen. Die Kluft zwischen Lebendigen und
Toten wird überbrückt werden durch die
Geisteswissenschaft, die wirklich ein Lebenselixier wird.
Die
nächste Sphäre, also die nächste Zeit nach dem
Tode ist die sogenannte Venus-Sphäre. In dieser
Venus-Sphäre werden wir Einsiedler, wenn wir hier
unreligiös gestimmt waren. Gesellige Wesen werden wir
durch religiöse Stimmung, die wir mitbringen. Je nachdem
wir in der Lage waren zu fühlen hier in der physischen
Welt unsere Hingabe an den heiligen Geist, finden wir alle
diejenigen, die die gleiche Stimmung dem Geist-Göttlichen
gegenüber haben. In dieser Venus-Sphäre sind die
Menschen gruppiert nach Religionsund
Weltanschauungs-Verhältnissen. Hier auf Erden ist es noch
so, daß sowohl religiöses Streben als auch
religiöses Erleben den Ausschlag geben. In der
Venus-Sphäre ist die Gruppierung lediglich nach
Religionsund Weltanschauungs-Bekenntnissen. Diejenigen, welche
die gleiche Weltanschauung haben, sind in großen,
mächtigen Gemeinden in der Venus-Sphäre; sie sind
nicht Einsiedler. Einsiedler sind diejenigen, die gar keine
religiösen Empfindungen und Impulse entwickeln
können. Also diejenigen, die wir in unserer Zeit Monisten,
Materialisten nennen, werden nicht zu geselligen, sondern zu
einsamen Wesen werden; jeder wird wie in einem eigenen
Käfige die Zeit in der Venus-Sphäre zubringen, und
ein Monistenbund ist in dieser Sphäre ganz unmöglich,
weil durch das, was das monistische Glaubensbekenntnis ist, der
Mensch zur Einsamkeit verurteilt wird. Das ist eine Tatsache,
nicht etwa nur Ausgedachtes, daß jeder in einen eigenen
Käfig gesperrt ist. Das ist dazu da, um die Seele zu
erziehen für die Wirklichkeit gegenüber der
Phantasterei des Monismus, die sie sich hier angeeignet hat. Im
ganzen kann man sagen: Zusammenkommen kann man mit denjenigen,
die mit uns gleicher Weltanschauung, gleichen Glaubens sind.
Schwer verständlich sind uns andere Bekenntnisse in der
VenusSphäre.
Dann kommt die Sonnensphäre. Das ist die
nächstfolgende Zeit. In der Sonnensphäre kann uns nur
noch dasjenige helfen, was die verschiedenen Bekenntnisse
ausgleicht, was die Brücke bilden kann von einem
Religionsbekenntnis zum ändern. Nun ja, in bezug auf
dieses Brückebilden von einem Bekenntnis zum ändern
haben die Menschen so ihre eigenen Anschauungen und können
nicht leicht begreifen, wie man finden kann ein wirkliches
Verständnis auch des anders Denkenden und anders
Fühlenden. Theoretisch ist ja dieses Verständnis
vielfach gefordert worden; wenn die Forderung aber praktisch
werden soll, da wird die Sache gleich anders.
Dann kann man die Erfahrung machen, daß mancher, der der
Hindu-Religion angehört, zwar von dem gemeinsamen
Wesenskern aller Religionen redet, aber er meint mit
gemeinsamem Wesenskern nur das, was in der Hinduoder
Buddha-Religion enthalten ist. Die Bekenner reden von der
Hinduund der Buddha-Religion in besonderen Egoismen, und wenn
sie davon reden, sind sie im Gruppenegoismus befangen. —
Man könnte da eine schöne Legende vom Gruppenegoismus
einfügen, die sich bei den Esten findet.
Die
Esten haben eine sehr schöne Legende über die
Entstehung der Sprachen: Gott wollte den Menschen die Sprache
gewähren durch das Feuer. Da soll ein großes Feuer
angemacht worden sein, und durch das eigentümliche
Tönen des Feuers, dem die Menschen zuhören sollten,
und durch das, was sie da als Laute hören würden,
sollte die Sprache werden. So rief die Gottheit die Völker
der Erde zusammen, auf daß die Völker ihre Sprachen
lernen könnten. Aber bevor die ändern hergerufen
wurden, nahm Gott die Esten vor, und ihnen lehrte er die
göttlich-geistige Sprache, also eine höhere Sprache.
Dann kamen erst die ändern heran, und die durften dem
Feuer zuhören, und da sie hörten, wie das Feuer
brannte, da lernten sie die Töne verstehen. Die einzelnen
Völker, die die Esten besonders gern hatten, die kamen
zuerst, als das Feuer noch ziemlich stark brannte. Als das
Feuer schon ziemlich gegen das Ende ging, kamen die Deutschen,
denn die Esten lieben die Deutschen nicht besonders. Und da
konnte man hören aus dem schon zerprasselnden Feuer:
«Deitsch, peitsch, deitsch, peitsch.» Dann kamen die
Lappen, die die Esten gar nicht lieben, und da hörte man
nur noch: «Lappen latschen.» Und da hier das Feuer
nur bloß noch Asche war, brachten die Lappen die
allerschlechteste Sprache heraus, weil die Esten mit den Lappen
in Todfeindschaft lebten. So sieht man, wie die Esten alles,
was sie an Gruppenegoismus haben, da zum Ausdruck bringen.
So
ähnlich sind die meisten Völker, wenn sie davon
sprechen, daß sie zu dem Wesenskern in den verschiedenen
Religionsgemeinschaften vordringen wollen. Und da muß
tatsächlich gesagt werden, daß in dieser Beziehung
das Christentum unbedingt anders ist als die ändern
Bekenntnisse. Wenn es zum Beispiel im Abendlande geradeso
wäre wie in der Hindu-Religion, so würde der alte
Wotan als Nationalgott immer noch herrschend sein. Aber das
Abendland hat nicht einen herrschenden Gott genommen, der
innerhalb des Abendlandes zu finden war, sondern einen, der
außerhalb zu finden ist. Das ist ein wesentlicher
Unterschied gegenüber dem Hinduismus und dem Buddhismus.
So ist in vieler Beziehung das abendländische Christentum
nicht durchsetzt von religiösem Egoismus, es ist
religiös viel selbstloser als die morgenländischen
Religionen. Deshalb ist die richtige Erkenntnis und Empfindung
des ChristusImpulses auch dasjenige, was den Menschen in ein
richtiges Verhältnis bringt zu den Mitmenschen,
gleichgültig welches innere Bekenntnisleben sie haben.
In
der Sonnensphäre zwischen Tod und neuer Geburt heißt
es wirklich, das Verständnis dessen zu haben, was uns
ermöglicht, nicht nur mit Menschen des gleichen
Bekenntnisses, sondern mit allen Menschen sozusagen in ein
Verhältnis zu kommen, weil dieses Christentum niemals,
wenn wir es so weit fassen, daß wir es mit der
alttestamentlichen Religion zusammenhängend betrachten,
Einseitigkeit lehrt. Auf eines ist aufmerksam gemacht worden,
was im höchsten Grade bedeutsam und notwendig ist zu
erkennen: Es wird Ihnen erinnerlich sein, daß eines der
schönsten Worte des Neuen Testamentes, das der Christus
sagt, an das Alte Testament erinnert, das Wort: «Ihr seid
Götter.» Christus weist die Menschen darauf hin,
daß in jedem Menscheninnern ein göttlicher Kern lebt,
ein Gott: Ihr seid alle Götter. Ihr kommt Göttern
gleich. — Eine hohe Lehre des Christus ist es, den
Menschen hinzuweisen auf seine göttliche Natur, darauf,
daß er sein kann wie Gott. Du kannst sein wie Gott, eine
wunderbare, groß und tief zum Herzen gehende Lehre des
Christus! Ein anderes Wesen hat dieselben Worte vorgetragen,
und es gehört zum Christus-Bekenntnis, daß ein
anderes Wesen dasselbe vorgebracht hat. Luzifer, im Beginn des
Alten Testamentes, trat an den Menschen heran, und die
Versuchung besteht darin, daß er den Ausgangspunkt nimmt
von den Worten: «Ihr werdet sein wie Gott.» Das
gleiche Wort sagt Luzifer am Ausgangspunkt der Versuchung im
Paradies, und wiederum sagt es der Christus Jesus, ganz
dasselbe Wort! Wir berühren hier einen der tiefsten,
bedeutungsvollsten Punkte des Christus-Bekenntnisses, den
Punkt, wo sozusagen mit dem Finger darauf hingedeutet wird,
daß es nicht bloß auf den Inhalt irgendwelcher Worte
ankommt, sondern daß es darauf ankommt, welches Wesen im
Weltenzusammenhang irgendein Wort ausspricht. Deshalb
mußte auch im letzten Mysterienspiel gezeigt werden: Es
kann dieselben Sätze Luzifer sagen, und sie sind etwas
ganz anderes, als wenn Ahriman sie sagt, und etwas anderes,
wenn Christus sie sagt. Da berühren wir ein tiefes
Geheimnis des Weltendaseins, und es ist wichtig, daß wir
uns ein Verständnis aneignen für dasjenige, was
gerade durch dieses «Ihr seid Götter», «Ihr
werdet sein wie Gott» das eine Mal aus dem Munde des
Christus, das andere Mal aus dem Munde des Luzifer
ausgesprochen ist.
Das
muß durchaus in Betracht gezogen werden, daß wir
zwischen Tod und neuer Geburt auch eben einmal in der
Sonnensphäre leben werden und in dieser Sonnensphäre
ein ganz gründliches Verständnis des
Christus-Impulses nötig haben. Dieses müssen wir von
der Erde mitbringen; denn der Christus ist einmal auf der Sonne
gewesen, aber er ist, wie wir gehört haben, von der Sonne
heruntergekommen und hat sich jetzt mit der Erde vereinigt.
Mithin müssen wir ihn hinauftragen bis in die Sonnenzeit
und dann können wir mit dem Christus-Impuls ein geselliges
Wesen sein, können ihn in der Sonnensphäre
verstehen.
Aber wir müssen unterscheiden lernen, und das lernen wir
jetzt nur durch die Anthroposophie, zwischen Christus und
Luzifer. Denn dasjenige, was wir von der Erde mitbringen in
unserm Christus-Verständnis, das führt uns allerdings
bis zur Sonne hinauf und ist innerhalb der Sonnensphäre
sozusagen ein Führer von Menschenseele zu Menschenseele
ohne Unterschied von Glaube und Bekenntnis; aber ein anderes
Wesen begegnet uns in der Sonnensphäre, das dieselben
Worte spricht, die im Grunde genommen denselben Inhalt haben:
Luzifer ist dieses Wesen. Und dieses Verständnis
müssen wir erworben haben für den Unterschied
zwischen Christus und Luzifer, denn Luzifer muß uns nun
begleiten durch die weiteren Sphären zwischen Tod und
neuer Geburt.
Sehen Sie, so durchleben wir eine Mond-, Merkur-, Venusund
Sonnensphäre. In jeder dieser Sphären erreichen wir
zunächst dasjenige, was wir in bezug auf die innere Kraft
mit uns gebracht haben. In der Mondsphäre die Affekte:
Triebe, Leidenschaften, sinnliche Liebe verbinden uns mit
dieser Sphäre. In der Merkursphäre erreicht uns
alles, was wir an moralischen Unvollkommenheiten haben, in der
Venus-Sphäre, was wir an religiösen
Unvollkommenheiten haben, in der Sonnensphäre, was uns
trennt von all dem, was «menschlich» heißt.
Jetzt also gehen wir in die ändern Sphären, die der
Okkultist als die Mars-, die Jupiter-, die Saturnsphäre
kennt. Da ist Luzifer unser Führer, da treten wir ein in
eine Welt, die uns mit neuen Kräften befruchtet. So wie
wir hier die Erde unter uns haben, so haben wir da den Kosmos
innerhalb der Sonne unter uns. Wir wachsen hinein in die
göttlich-geistigen Welten, und während wir
hineinwachsen in diese göttlich-geistigen Welten,
müssen wir dasjenige im Gedächtnis behalten, was wir
mitgebracht haben von dem ChristusImpuls. Den können wir
nur auf der Erde erwerben, und je stärker wir ihn erworben
haben, desto weiter können wir ihn hinaustragen in den
Kosmos. Da tritt dann Luzifer an uns heran. Der führt uns
in die Welt, in die wir hinaus müssen, damit wir für
eine neue Inkarnation vorbereitet werden. Und dasjenige, was
wir nicht entbehren können, damit Luzifer uns nicht
gefährlich werde, das ist das Verständnis des
Christus-Impulses, dasjenige, was wir gehört haben von
Christus während der Erdenzeit. Der Luzifer kommt schon an
uns heran in der Zeit zwischen Tod und Geburt, aber den
Christus müssen wir aufgenommen haben während der
Erdenzeit. Dann wachsen wir hinein in die ändern
Sphären, die außerhalb der Sonne sind. Wir werden
immer größer und größer sozusagen, wir
haben unter uns die Sonne und über uns den ganzen
großen, mächtigen Sternenhimmel. In den großen
Weltenraum hinein wachsen wir, in den Kosmos hinaus bis zu
gewissen Grenzen. Und während wir hinauswachsen, wirken
die kosmischen Kräfte aus allen Sternen auf uns. Wir
nehmen aus der ganzen mächtigen Sternenwelt die
Kräfte auf in unser mächtig ausgedehntes Wesen.
Bis
zu einer Grenze kommen wir. Dann ziehen wir uns wiederum
zusammen und treten wieder in dasjenige ein, was wir
durchgemacht haben. Wir kommen durch die Sonnen-, Venus-,
Merkur-, Mondensphäre, bis wir wiederum der Erde nahe
kommen, und bis dasjenige, was in den Weltenraum hinausgetragen
war, sich wiederum zusammenzieht zu einem Keim, der in einer
Menschenmutter zu einem neuen Menschen sich bildet. Das
geschieht dann wiederum, wenn der Mensch sich hinausgedehnt hat
in die fernen Weltenräume und da aufgenommen hat die
kosmischen Kräfte.
Das
ist das Geheimnis vom Menschensein nach dem Tode, zwischen Tod
und neuer Geburt. Nachdem der Mensch durch die Pforte des Todes
gegangen war, ist er von dem kleinen Raum der Erde ausgehend
immer größer und größer geworden, ist bis
zur Mond-, Merkur-, Venus-, Sonnen-, Mars-, Jupiter-,
Saturnsphäre hinausgewachsen. Da sind wir in den
Weltenraum hinausgewachsen; gleichsam eine Riesenkugel werden
wir als Geisteswesen. Dann, nachdem wir als Seele aufgenommen
haben die Kräfte des Universums, der Sterne, ziehen wir
uns wieder zusammen, und dann haben wir die Kräfte der
Sternenwelt in uns. Da haben wir eine Erklärung der
Geistesforschung dafür, daß in dieser unserer
zusammengepreßten Gehirnmasse ein Abdruck des ganzen
Sternenhimmels zu finden ist. Tatsächlich birgt unser
Gehirn ein bedeutungsvolles Geheimnis.
Und
noch ein Geheimnis liegt hierin: der Mensch hat sich also
zusammengezogen, hat sich inkarniert in einem physischen Leibe,
in den er durch ein Elternpaar gekommen ist. So weit ist der
Mensch gelangt, denn da hat er eingeschrieben, während er
sich ausgedehnt hat im Weltenraum, alles dasjenige, was seine
Eigenschaften waren. Wenn wir auf der Erde stehen und in den
Sternenhimmel hinausblicken, so sind da nicht bloß Sterne,
sondern da sind unsere Eigenschaften aus den früheren
Inkarnationen. Wenn wir zum Beispiel in früheren
Inkarnationen ehrgeizig waren, so steht dieser Ehrgeiz in der
Sternenwelt geschrieben. Er ist eingeschrieben in der
AkashaChronik, und wenn Sie hier auf Erden an einem bestimmten
Punkte stehen, kommt der Ehrgeiz mit dem betreffenden Planeten
in dieser oder jener Lage zu Ihnen; er macht seinen
Einfluß geltend. Und das ist deren Moral, daß die
Astrologen nicht bloß Sterne und Stern-Wirkungen sehen,
sondern daß sie sagen: Da steht Ihre Eitelkeit, Ihr
Ehrgeiz, Ihr Unmoralisches, Ihre Trägheit; und da wirkt
jetzt etwas, was Sie in die Sterne eingeschrieben haben, in
gewisser Weise aus der Sternenwelt wieder herunter und bedingt
Ihr Schicksal. Darum schreiben wir dasjenige, was in unserer
Seele ist, ein in den großen Raum, und da wirkt es von dem
Räume auf uns zurück, während wir hier auf Erden
sind, während wir hier auf Erden wandeln zwischen Geburt
und Tod. Diese Dinge gehen uns ungeheuer nahe, wenn wir sie
wirklich verstehen, und sie erklären uns so manches.
Sehen Sie, ich habe mich im Leben viel mit Homer
beschäftigt, aber als ich gerade im letzten
Spätsommer die Aufgabe hatte, diese Verhältnisse
zwischen Tod und Neugeburt zu untersuchen und auf den
Standpunkt kam, daß unveränderlich bleiben die
Verhältnisse von einem Tod zur nächsten Geburt, da
mußte ich mir bei einer Stelle sagen: die Griechen nennen
ihn den Blinden, weil er ein großer Seher war. Er sagt:
das Leben nach dem Tode geschehe an dem Orte, wo es keine
Veränderung gibt. Ein wunderbar treffendes Wort. Man lernt
dieses Wort erst verstehen, wenn man es aus den okkulten
Geheimnissen heraus tut. Und je weiter man in diesem innern
Ringen vorwärtskommt, desto mehr wird es klar, daß
die antiken Dichter die allergrößten Seher waren und
in ihre Werke manches hineingeheimnißt haben, zu dessen
Verständnis vieles notwendig ist.
Da
will ich einer Sache Erwähnung tun, die mir im
Frühherbst passiert ist und die recht bezeichnend ist. Ich
wehrte mich anfangs dagegen, weil sie ganz überraschend
ist. Aber es ist einer jener Fälle, wo die
Objektivität siegt.
In
Florenz gibt es ein Grabmal von Michelangelo für
Lorenzo und Giuliano Medici. Da sind diese beiden Brüder
abgebildet und dabei sind vier allegorische Figuren. Diese
Figuren sind sehr bekannt. Aber daß da etwas nicht ganz
stimmte mit dieser Gruppe, das hat sich mir gleich ergeben, als
ich sie das erste Mal sah. Es war mir gleich klar, daß
der, der als Giuliano beschrieben ist, der Lorenzo ist und
umgekehrt. Es ist offenbar: man hat sie, da die Figuren
abgenommen werden können, bei irgendeiner Gelegenheit
verwechselt und das nicht beachtet. Daher beschreibt man als
Giuliano den Lorenzo und umgekehrt. Aber worauf es jetzt hier
ankommt, das sind die vier allegorischen Figuren.
Wenn man ausgeht von der Betrachtung der Figur der
«Nacht», dieser wunderbaren «Nacht», ja,
solange man bei der Meinung bleibt, man habe es mit einer
Allegorie zu tun, kommt man nicht zurecht. Wenn man aber das,
was man über den menschlichen Ätherleib weiß, in
seiner vollen Tätigkeit sich so vorstellt, daß man
fragt: Wenn der Astralleib und das Ich frei sind und der
Ätherleib die ihm am allermeisten entsprechende Geste
suchen würde, was würde für eine Geste
herauskommen? —, so erhält man die Antwort: Eine
solche Geste würde da herauskommen, wie Michelangelo sie
der «Nacht» gegeben hat. Wirklich, diese Nacht ist so
gebildet, daß sie den wunderbarsten Ausdruck gibt für
den freien, unabhängigen Ätherleib, der sich in der
Physiognomie des physischen Leibes ausdrückt, wenn
Astralleib und Ich außerhalb sind. Diese Figur ist nicht
eine Allegorie, sondern tatsächlich der Mensch,
geschildert im Zusammenhang mit physischem und Ätherleib,
wenn Astralleib und Ich heraus sind. Da versteht man die Figur
in dieser Haltung, die der historisch treueste Ausdruck des
Ätherleibes in seiner Lebendigkeit ist.
Und
wenn man davon ausgeht, dann bekommt man in der
«Tag»Figur das groteske Urteil: Wenn das Ich am
stärksten tätig ist, wenn es am wenigsten vom
Astral-, Ätherund physischen Leibe beeinflußt ist,
kommt diese eigentümliche Wendung, diese Geste heraus, die
Michelangelo der «Tag»-Figur gegeben hat. Wenn der
Astralleib für sich tätig ist, ohne von physischem,
Ätherleib und Ich abhängig zu sein, dann kommt die
Geste der «Morgen»-Figur heraus, und für den
physischen Leib, der unabhängig von den ändern drei
Gliedern sich betätigt, kommt die Geste der
«Abenddämmerung» heraus.
Ich
sträubte mich lange gegen diese Erkenntnis, ich hielt sie
im Anfang für toll; aber je mehr man darauf eingeht, desto
mehr zwingt einen das, was man sieht in dieser in die Steine
hineingegossenen Schrift, zur Erkenntnis dieser Wahrheit. Nicht
als ob Michelangelo dies gewußt hätte; aber in sein
intuitives Schaffen drang es herein. Da versteht man auch, was
die Legende bedeutet, die erzählt, daß, wenn
Michelangelo allein in seiner Werkstatt war, die Figur der
«Nacht» Leben bekam, so daß sie herumging. Es
ist eben eine besondere Illustration zu der Tatsache, daß
man es mit dem Ätherleib zu tun hat. Überall herein
wirkt das Spirituelle, sowohl in der Menschheitsentwickelung
als auch in der Kunst und so fort. Man lernt das Sinnliche
wirklich erst verstehen, wenn man die Art versteht, wie das
Spirituelle in die sinnliche Wirklichkeit hereinwirkt.
Es
gibt einen Ausspruch von Kant, der sehr schön ist.
Kant sagt: Zwei Dinge sind es, die ganz besonderen Eindruck auf
mich gemacht haben: der bestirnte Himmel über mir und das
moralische Gesetz in mir. — Es macht ganz besonderen
Eindruck, wenn man nun darauf kommt, daß beides dasselbe
ist. Denn zwischen Tod und Geburt sind wir ausgegossen
über den Sternenraum und nehmen seine Kräfte in uns
herein, und wenn wir im physischen Leibe sind, dann sind diese
Kräfte, die wir aufgenommen haben, in uns als unsere
moralischen Impulse wirksam. Wenn wir da stehen und den
Sternenhimmel betrachten, können wir sagen: Was da
draußen an Kräften lebt und webt im Weltenraum, darin
leben und weben wir in der Zeit zwischen Tod und neuer Geburt.
Und das ist jetzt das richtunggebende Gesetz unseres
moralischen Lebens. So sind der Sternenhimmel draußen und
das moralische Gesetz in uns ein und dieselbe Wirklichkeit, nur
zwei Seiten dieser Wirklichkeit. Den gestirnten Himmel
durchleben wir zwischen Tod und neuer Geburt, das moralische
Gesetz zwischen Geburt und Tod.
Wenn wir dies erfassen, dann wird Geisteswissenschaft
unmittelbar zur Andacht, wie zu einem gewaltigen Gebet; denn
was ist ein Gebet anderes als dasjenige, was unsere Seele mit
dem GöttlichGeistigen, das die Welt durchwebt,
verbindet.
Dieses Gebet ist das, was ein Gebet heute sein kann. Wir
müssen es uns erobern, indem wir die Sinnenwelt
durchleben. Indem wir dieses bewußt anstreben, wird ganz
von selbst das, was wir wissen können, zu einem Gebet. Da
wird spirituelle Erkenntnis unmittelbar Gefühl und
Erlebnis und Empfindung. Und das soll sie werden.
Dann mag sie noch so sehr mit Begriffen und Ideen arbeiten:
Ideen und Begriffe werden zuletzt gebetsartige reine
Empfindungen, reines Fühlen. Das aber ist es, was unsere
Zeit braucht. Unsere Zeit braucht das unmittelbare Herausleben
aus der Betrachtung zum Erleben des Kosmos, da wo die
Betrachtung selber wie ein Gebet wird. Während die
Betrachtung der äußeren physischen Welt immer
trockener, immer gelehrtenhafter wird, immer abstrakter wird,
wird die Betrachtung des geistigen Lebens immer herzlicher
gestimmt, immer tiefer, wird geradezu immer gebetartiger, und
das nicht durch eine einseitige Sentimentalität, sondern
durch ihre eigene Natur. Dann wird der Mensch nicht bloß
aus abstrakten Ideen heraus wissen, er habe das Göttliche,
was den Weltenraum durchwebt und durchlebt, in sich; sondern er
wird wissen, indem er weiterschreitet in der Erkenntnis,
daß er es wirklich erlebt hat in dem Leben zwischen dem
letzten Tod und der neuen Geburt. Er wird wissen: was er da
durchlebt hat, das hat er jetzt in sich als die Reichtümer
seines Lebens.
Das
sind solche Betrachtungen, die gerade zusammenhängen mit
erst neuerdings gemachten Forschungen, die uns aber unsere
eigene Entwickelung verständlich machen können. Dann
wird sich Geisteswissenschaft einmal zu einem wirklich
geistig-spirituellen Lebenssaft umwandeln können. Von
diesen Dingen soll in Zukunft noch öfter gesprochen
werden.
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