VIERTER VORTRAG
Dornach, 15. August 1919
Aus
den letzten Betrachtungen, die wir hier angestellt haben,
werden Sie ersehen haben, daß innerhalb der vielen Fragen,
die die Gegenwart beschäftigen, die Erziehungsfrage die
allerwichtigste ist. Wir haben ja betonen müssen, daß
die ganze soziale Fragestellung in sich schließt als
hauptsächlichstes Moment gerade die Erziehungsfrage. Und
nachdem ich einiges vor acht Tagen angedeutet habe über
die Umgestaltung, die Umwandlung des Erziehungswesens, werden
Sie es begreiflich finden, daß wiederum innerhalb der
Erziehungsfrage die bedeutsamste Unterfrage die nach der
Bildung der Lehrer selbst ist, Wenn man den Charakter der
Zeitepoche, die verflossen ist in genauer Abgrenzung seit der
Mitte des 15. Jahrhunderts, auf sich wirken läßt, so
bekommt man ja, wie Sie wissen, den Eindruck: durch die
Menschheitsentwickelung ging hindurch in dieser Zeit die Welle
der materialistischen Prüfungen. Und wir leben in der
Gegenwart in der Notwendigkeit, aus der materialistischen Welle
uns herauszuarbeiten und den Weg zum Geiste
zurückzufinden; den Weg zum Geiste, der ja in älteren
Kulturepochen der Menschheit bekannt war, der aber damals
gegangen wurde von der Menschheit mehr oder weniger instinktiv,
unbewußt, der verloren worden ist, damit die Menschheit
ihn aus eigenem Antriebe, aus eigener Freiheit heraus suchen
könne, und der nun bewußt, voll bewußt gesucht
werden muß,
Der
Übergang, durch den die Menschheit durchgehen mußte
seit der Mitte des 15, Jahrhunderts, ist eben das, was man
nennen könnte die materialistische Prüfung der
Menschheit, Läßt man den Charakter dieser
materialistischen Zeit auf sich wirken und betrachtet man dann
mit dem, was man dadurch einsieht, die Kulturentwickelung in
den letzten drei bis vier Jahrhunderten und bis in unsere Zeit
herein, dann findet man, daß am meisten ergriffen worden
ist von der materialistischen Welle, am intensivsten in
Anspruch genommen worden ist von dieser materialistischen Welle
gerade die Lehrerbildung. Alles übrige würde einen so
nachhaltigen Eindruck nicht üben können wie die
Durchsetzung der pädagogisch-didaktischen Anschauung mit
materialistischer Gesinnung. Man braucht nur in
verständiger Weise auf Einzelheiten zu sehen in unserem
gegenwärtigen Unterrichtswesen, und man wird die ganze
Schwierigkeit, die für einen wirklich fruchtbaren
Fortschritt vorliegt, ins Auge fassen können. Bedenken
Sie, daß immer wieder und wieder wiederholt wird gerade
bei denjenigen Menschen, die heute glauben, besonders gut in
Erziehungsfragen sprechen zu können, aller Unterricht
müsse schon von der untersten Schulstufe ab anschaulich
sein — was man eben so anschaulich nennt. Ich habe Sie ja
öfter darauf aufmerksam gemacht, wie man zum Beispiel den
Rechenunterricht anschaulich machen will: Rechenmaschinen
stellt man in der Schule auf! Man legt einen großen Wert
darauf, daß gewissermaßen das Kind schon alles
anschauen könne und dann aus der Anschauung sich erst
Vorstellungen aus dem eigenen Inneren seiner
Seele heraus bilde. Dieser Trieb nach Anschaulichkeit im
Erziehungswesen, er ist gewiß auf sehr vielen Gebieten der
Pädagogik voll berechtigt. Aber er zwingt doch die Frage
aufzuwerfen: Was wird aus dem Menschen, wenn er nur durch einen
Anschauungsunterricht durchgeht? Wenn der Mensch nur durch
einen Anschauungsunterricht durchgeht, dann wird er seelisch
völlig ausgedörrt, dann ersterben nach und nach die
inneren Triebkräfte der Seele; dann bildet sich eine
Verbindung der ganzen menschlichen Wesenheit mit der
anschaulichen Umgebung. Und dasjenige, was aus dem Innern der
Seele sprießen sollte, das wird allmählich in der
Seele ertötet. Und auf Ertötung des Seelischen geht
vieles gerade wegen der Anschaulichkeit des gegenwärtigen
Unterrichts aus. Man weiß natürlich nicht, daß
man die Seele ertötet, aber man ertötet sie in
Wirklichkeit. Und die Folge davon ist das — ich habe das
von anderen Gesichtspunkten aus schon erwähnt —, was wir
an den Menschen der Gegenwart erleben. Wie viele Menschen der
Gegenwart sind eigentlich problematische Naturen. Wie viele
Menschen der Gegenwart wissen in reiferen Jahren nicht aus
ihrem eigenen Innern herauszuholen das, was ihnen in
schwierigen Zeiten Trost und Hoffnung bieten könnte, um
den verschiedenen Lagen des Lebens gewachsen zu sein. Wir sehen
in der Gegenwart viele gebrochene Naturen, und uns selber kommt
es wohl in besonderen Augenblicken an, wie wir uns nicht
zurechtfinden können.
Das
alles hängt zusammen mit den Mängeln unseres
Erziehungswesens und namentlich mit den Mängeln der
Lehrerbildung. Was wäre nun für eine gedeihliche
Zukunft gerade in bezug auf die Lehrerbildung anzustreben?
Sehen Sie, daß der Lehrer schließlich dasjenige
weiß, was er gewöhnlich abgefragt wird bei den
Prüfungen, das ist eigentlich eine untergeordnete Sache,
denn da wird er ja zumeist über Dinge gefragt, die er vor
den Stunden in irgendeinem Handbuch sich aufschlagen
könnte, auf die er sich, wenn er sie braucht, vorbereiten
könnte. Dasjenige aber, worauf bei den Prüfungen gar
nicht gesehen wird, das ist die allgemeine Seelenverfassung des
Lehrers, das ist dasjenige, was geistig immerfort
übergehen muß von ihm auf seine Schüler. Es ist
ein großer Unterschied, ob der eine Lehrer das
Klassenzimmer betritt oder der andere. Wenn der eine Lehrer
durch die Tür des Klassenzimmers tritt, so fühlen die
Kinder oder die Schüler eine gewisse Verwandtschaft mit
der eigenen Seelenstimmung; wenn ein anderer Lehrer die Klasse
betritt, fühlen die Kinder oder die Schüler oftmals
eine solche Verwandtschaft gar nicht; im Gegenteil, sie
fühlen eine Kluft zwischen sich und dem Lehrer, und alle
möglichen Schattierungen von Gleichgültigkeit bis zu
dem, was sich ausspricht im Komischfinden des Lehrers, in dem
Spotten über den Lehrer. Alle die Nuancen, die dazwischen
liegen, finden sich oftmals recht sehr zum Ruinieren des
wirklichen Unterrichtes und der wirklichen Erziehung.
Die
Frage ist daher in erster Linie brennend: Wie kann die
Lehrerbildung in die Zukunft hinein umgewandelt werden? Sie
kann nicht anders umgewandelt werden als dadurch, daß der
Lehrer aufnimmt in sich dasjenige, was aus der
Geisteswissenschaft kommen kann an Erkenntnissen über die
Natur des Menschen. Der Lehrer muß durchdrungen sein von
dem Zusammenhang des Menschen mit den übersinnlichen
Welten. Er muß in der Lage sein, in dem heranwachsenden
Kinde das Zeugnis dafür zu sehen, daß dieses Kind
heruntergestiegen ist aus der übersinnlichen Welt durch
Empfängnis oder Geburt und daß das, was
heruntergestiegen ist, sich mit dem Leib umkleidet hat, sich
etwas aneignet, wozu er zu helfen hat hier in der physischen
Welt, weil das Kind sich es nicht aneignen kann In dem Leben
zwischen dem Tod und einer neuen Geburt.
Als
Frage der übersinnlichen Welt an die sinnliche, so sollte
eigentlich vor dem Gemüte des Lehrenden oder Erziehenden
jedes Kind stehen. Diese Frage wird man sich nicht im
konkreten, im umfassenden Sinne aufwerfen können,
namentlich nicht jedem einzelnen Kinde gegenüber, es sei
denn, daß man die Erkenntnisse verwenden kann, die
über die Natur des Menschen aus der Geisteswissenschaft
kommen. Die Menschheit hat sich allmählich im Laufe der
drei bis vier letzten Jahrhunderte immer mehr und mehr
angewöhnt, den Menschen zu sehen, ich möchte sagen,
bloß physiologisch, bloß auf seine äußere
leibliche Konstitution hin. Am schädlichsten ist diese
Anschauung vom Menschen für den Erzieher, für den
Unterrichter. Daher wird vor allen Dingen notwendig sein,
daß eine in der Anthroposophie sich ergebende
Anthropologie die Grundlage der Zukunftspädagogik werde.
Das kann aber nicht anders geschehen als dadurch, daß der
Mensch wirklich von den Gesichtspunkten aus ins Auge
gefaßt wird, die wir öfter hier berührt haben
und die ihn in mancherlei Beziehung charakterisieren als ein
dreigliedriges Wesen. Aber man muß sich entschließen
dazu, diese Dreigliederung wirklich innerlich zu erfassen. Ich
habe Sie wiederholt von den verschiedensten Gesichtspunkten aus
darauf aufmerksam gemacht, wie der Mensch, so wie er vor uns
steht, zerfällt in das, was er zunächst als
Nerven-Sinnes-Mensch ist, was man populär so
ausdrücken kann, daß man sagt: Zunächst ist der
Mensch Kopfmensch, Hauptesmensch. Als zweites Glied der
menschlichen Wesenheit, äußerlich betrachtet, haben
wir denjenigen Menschen, in dem sich hauptsächlich die
rhythmischen Vorgänge abspielen, den Brustmenschen; und
dann, wie Sie ja wissen, zusammenhängend mit dem ganzen
Stoffwechselsystem den Gliedmaßenmenschen, den
Stoffwechselmenschen, in dem sich eben der Stoffwechsel als
solcher abspielt. Dasjenige, was der Mensch als tätiges
Wesen ist, das erschöpft sich äußerlich in der
Bildgestalt, in der physischen Bildgestalt des Menschen in
diesen drei Gliedern der menschlichen Gesamtnatur.
Notieren wir uns einmal diese drei Glieder der menschlichen
Gesamtnatur: Kopfmensch oder Nerven-Sinnes-Mensch, Brustmensch
Tafel 4 oder rhythmischer Mensch und dann
Gliedmaßenmensch, im weitesten Sinne natürlich, oder
Stoffwechselmensch.
Nun
handelt es sich darum, daß man diese drei Glieder der
menschlichen Natur in ihrem Unterschiede voneinander
erfaßt. Das ist ja für den Menschen der Gegenwart
unbequem, denn der Mensch der Gegenwart liebt schematische
Einteilungen, Er möchte sich, wenn man sagt: der Mensch
besteht aus Kopfmensch, Brustmensch, Gliedmaßenmensch, am
liebsten da einen Strich machen am Halse, was drüber ist,
ist Kopfmensch. Dann möchte er sich wieder anderswo einen
Strich machen, eine Linie ziehen, um den Brustmenschen zu
begrenzen, und so möchte er die eingeteilten Glieder
nebeneinander haben. Was sich nicht so schematisch
nebeneinanderstellen läßt, darauf läßt sich
der Mensch der Gegenwart nicht gerne ein.
Aber so ist es in der Wirklichkeit nicht; die Wirklichkeit
macht nicht solche Striche. Der Mensch ist zwar über den
Schultern hauptsächlich Kopfmensch, Nerven-Sinnes-Mensch.
Aber er ist nicht allein über den Schultern
Nerven-Sinnes-Mensch; zum Beispiel der Gefühlssinn, der
Wärmesinn sind über den ganzen Leib ausgedehnt, so
daß der Kopf über den ganzen Leib wiederum reicht.
Also man kann, wenn man so sprechen will, sagen: der
menschliche Kopf ist hauptsächlich Kopf. Und die Brust ist
eben weniger Kopf, aber auch noch Kopf. Die Gliedmaßen
oder alles, was Stoffwechselsystem ist, sind noch weniger Kopf,
aber auch Kopf. So daß man also eigentlich sagen muß:
der ganze Mensch ist Kopf, nur der Kopf ist hauptsächlich
Kopf. Wollte man also schematisch zeichnen, so müßte
man etwa, wenn man wollte den Kopfmenschen zeichnen, ihn so
zeichnen (siehe Zeichnung, helle Schraffur).
Der
Brustmensch ist wiederum nicht bloß in der Brust, er ist
hauptsächlich in den Brustorganen, in den Organen, in
denen sich das Herz und der Atmungsrhythmus am deutlichsten
ausdrücken. Aber die Atmung setzt sich auch in den Kopf
hinein fort, die Blutzirkulation in ihrem Rhythmus setzt sich
in den Kopf hinein fort und in die Gliedmaßen. So daß
man sagen kann: der Mensch ist Brust allerdings in dieser
Gegend; aber er ist auch hier — zwar weniger —
Brust (siehe Zeichnung, mittlere Schraffur) und hier —
wiederum weniger Brust. Also wiederum der ganze Mensch ist
Brust, aber in der Hauptsache ist das die Brust, das der
Kopf.
Tafel 4
Und
wiederum der Gliedmaßen- und Stoffwechselmensch, ja er ist
schon in der Hauptsache dieses (siehe Zeichnung, dunkle
Schraffur); aber diese Gliedmaßen setzen sich wiederum so
fort, daß sie weniger sind in der Brust und am wenigsten
im Kopfe.
Also ebenso wahr, wie man sagen kann: der Kopf ist Kopf, kann
man sagen: der ganze Mensch ist Kopf. Ebenso wahr, wie man
sagen kann: die Brust ist Brust, kann man sagen: der ganze
Mensch ist Brust und so weiter. Die Dinge schwimmen ineinander
in der Wirklichkeit. Und unser Begreifen ist so veranlagt,
daß wir gerne so nebeneinanderstellen die Teile, die
Glieder. Dieses zeigt uns, wie wenig wir mit Bezug auf unsere
Erkenntnisvorstellungen verwandt sind der äußeren
Wirklichkeit. In der äußeren Wirklichkeit schwimmen
die Dinge ineinander. Und wir müssen, wenn wir auf der
einen Seite trennen: Kopf-, Brust-, Stoffwechselmensch, uns
bewußt sein, daß wir dann die getrennten Glieder
wieder zusammendenken müssen. Wir dürfen eigentlich
niemals bloß auseinanderdenken, wir müssen immer auch
wieder zusammendenken. Ein denkender Mensch, der nur
auseinanderdenken wollte, der gleicht einem Menschen, der nur
einatmen, nicht aber ausatmen wollte.
Damit haben Sie gleich etwas gegeben, was eintreten muß
namentlich für das Denken der Lehrer der Zukunft; die
müssen ganz besonders in sich aufnehmen dieses innerlich
bewegliche Denken, dieses unschematische Denken. Denn nur
dadurch, daß sie dieses unschematische Denken in sich
aufnehmen, kommen sie mit ihrer Seele der Wirklichkeit nahe.
Aber man wird der Wirklichkeit nicht nahekommen, wenn man nicht
dieses Nahekommen von einem gewissen größeren
Gesichtspunkte aus als Zeiterscheinung aufzufassen in der Lage
ist. Man muß die Vorliebe, welche man gegen die Gegenwart
herein immer mehr entwickelt hat, sich an die Details des
Lebens zu halten, wenn man Wissenschaftliches ins Auge
faßt, man muß diese Vorliebe überwinden und
muß dahin kommen, die Details des Lebens an die
großen Lebensfragen anzuknüpfen.
Und
bedeutsam wird eine Frage werden für alle Entwickelung der
Geisteskultur in die Zukunft hinein: das ist die
Unsterblichkeitsfrage. Man wird sich klar werden müssen
darüber, wie eigentlich ein großer Teil der
Menschheit diese Unsterblichkeit auffaßt, namentlich seit
der Zeit, in welcher viele Menschen sogar schon bis zur
Leugnung der Unsterblichkeit gekommen sind. Was lebt eigentlich
in den meisten Menschen, die heute noch aus den
Untergründen der gebräuchlichen Religionen heraus
über Unsterblichkeit sich unterrichten wollen, was lebt in
diesen Menschen? Es lebt in diesen Menschen der Drang, etwas zu
wissen darüber, was mit der Seele wird, wenn der Mensch
durch die Pforte des Todes durchgegangen ist.
Wenn wir fragen nach dem Interesse, das die Menschen nehmen an
der Unsterblichkeitsfrage, besser gesagt, an der Frage nach der
Ewigkeit des menschlichen Wesenskernes, so bekommen wir keine
andere Antwort, als: das hauptsächlichste Interesse an der
Ewigkeit des menschlichen Wesenskernes knüpft sich eben
daran: Was wird mit dem Menschen, wenn er die Pforte des Todes
durchschreitet? Der Mensch ist sich bewußt: er ist ein
Ich. In diesem Ich lebt sein Denken, Fühlen und Wollen.
Der Gedanke ist ihm unerträglich, dieses Ich etwa
vernichtet zu wissen. Daß er es durch den Tod tragen kann,
und was mit dem Ich nach dem Tode wird, das interessiert die
Menschen vor allen Dingen. Daß es so mit diesem Interesse
gekommen ist, das beruht im wesentlichen darauf, daß ja
die, wenigstens für uns hier zunächst in Betracht
kommenden Religionssysteme, wenn sie von der Unsterblichkeit
sprechen, von der Ewigkeit des menschlichen Wesenskernes
hauptsächlich im Auge haben eben die Frage: Was wird mit
der Menschenseele, wenn der Mensch durch die Pforte des
Todes
Nun
müssen Sie fühlen, daß man der
Unsterblichkeitsfrage, wenn man sie so stellt, einen
außerordentlich stark egoistischen Beigeschmack gibt. Es
ist im Grunde genommen ein egoistischer Trieb, der dem Menschen
das Interesse einflößt, zu wissen, was mit seinem
Wesenskern wird, wenn er die Pforte des Todes durchschreitet.
Und würden die Menschen der Gegenwart, mehr als sie das
tun, so recht Selbsterkenntnis üben, würden sie mit
sich zu Rate gehen und sich nicht so stark Illusionen hingeben,
als das der Fall ist, dann würden die Menschen schon
einsehen, wie stark der Egoismus mitwirkt bei dem Interesse,
etwas über das Schicksal der Seele nach dem Tode zu
wissen.
Diese Art der Seelenstimmung ist nun ganz besonders stark
wiederum geworden in der Zeit der materialistischen
Prüfung in den letzten drei bis vier Jahrhunderten. Und
man kann das, was so die Seele des Menschen wie eine innere
Empfindungs- und Denkgewohnheit ergriffen hat, nicht etwa durch
Theorien oder Lehren überwinden, wenn diese Theorien oder
Lehren nur abstrakte Form haben. Aber die Frage muß doch
aufgeworfen werden: Kann es so bleiben? Darf bei der Frage nach
dem ewigen Wesenskern des Menschen nur Egoistisches in der
Menschennatur sprechen?
Wenn man alles, was mit diesem Fragenkomplex
zusammenhängt, ins Auge faßt, dann muß man sich
sagen: Daß das so geworden ist mit der menschlichen
Seelenstimmung, wie ich es eben charakterisiert habe, das
rührt im wesentlichen davon her, daß von den
Religionen vernachlässigt worden ist der andere
Gesichtspunkt: anzuschauen den Menschen, indem er geboren wird,
indem er hereinwächst in die Welt vom ersten kindlichen
Schrei, in dieser wunderbaren Weise, wie sich immer mehr und
mehr die Seele hineindrängt in die Körperlichkeit,
anzuschauen den Menschen, wie da in ihm sich herauflebt das,
was vorgeburtlich in der geistigen Welt gelebt hat. Wie oft
wird denn heute die Frage aufgeworfen: Was setzt sich fort aus
dem geistigen Gebiete, wenn der Mensch geboren wird, mit dem
physischen Menschen? Danach frägt man immer wieder und
wieder: Was setzt sich fort, wenn der Mensch stirbt? Danach
aber frägt man wenig: Was setzt sich fort, wenn der Mensch
geboren wird?
Darauf ist die Hauptaufmerksamkeit zu richten in der Zukunft.
Wir müssen gewissermaßen lernen, abzulauschen dem
heranwachsenden Menschen die Offenbarung des
Geistig-Seelischen, wie es war vor der Geburt oder vor der
Empfängnis. Wir müssen lernen, in dem heranwachsenden
Kinde die Fortsetzung seines Aufenthaltes in der geistigen Welt
zu sehen: dann wird unser Verhältnis zu dem ewigen
Wesenskern des Menschen immer unegoistischer und unegoistischer
werden. Wenn einen nämlich nicht interessiert, was sich
fortsetzt mit dem physischen Leben aus der geistigen Welt
heraus, sondern nur interessiert, was sich fortsetzt hinter dem
Tode, dann ist man innerlich egoistische Es begründet in
einer gewissen Weise eine unegoistische Seelenstimmung, auf
dasjenige hinzuschauen, was sich aus dem Geistigen fortsetzt in
das physische Dasein hinein.
Der
Egoismus, der frägt aus dem Grunde nicht nach dieser
Fortsetzung, weil er ja dessen gewiß ist, daß er da
ist, der Mensch, und er ist zufrieden damit, daß er da
ist. Er ist nur dessen nicht gewiß, daß er auch noch
nach dem Tode da ist; daher möchte er sich das beweisen
lassen. Dazu treibt ihn der Egoismus. Aber die wahre Erkenntnis
wird nicht dem Menschen aus dem Egoismus heraus, auch nicht aus
jenem sublimierten Egoismus, den wir jetzt eben charakterisiert
haben als erzeugend das Interesse an der Fortsetzung des
seelischen Daseins nach dem Tode, Und ist es denn eigentlich zu
leugnen, daß die Religionen gar sehr spekulieren auf
diesen eben gekennzeichneten Egoismus? Dieses Spekulieren auf
den eben gekennzeichneten Egoismus, das muß
überwunden werden. Und der, welcher hineinschaut in die
geistige Welt, der weiß, daß diese Überwindung
mit sich bringen wird nicht bloß Erkenntnisse —
diese Überwindung wird mit sich bringen eine ganz andere
Einstellung des Menschen zu seiner menschlichen Umgebung. Man
wird ganz anders fühlen und empfinden mit dem kindlich
heranwachsenden Menschen, wenn man immer darauf hinschaut, wie
sich fortsetzt das, was nicht mehr bleiben konnte in der
geistigen Welt.
Bedenken Sie doch nur einmal, wie sehr sich eine Frage gerade
von diesem Gesichtspunkte aus verschiebt. Man könnte
sagen: Der Mensch war in der geistigen Welt, bevor er durch
Empfängnis oder Geburt heruntergestiegen ist in die
physische Welt. Da oben muß es also gewesen sein, daß
er sein jeweiliges Ziel nicht mehr gefunden hat. Die geistige
Welt muß ihm das nicht mehr gegeben haben, was die Seele
anstrebt. Und aus der geistigen Welt heraus muß sich der
Drang ergeben haben, herunterzusteigen in die physische Welt,
sich mit einem Leib zu umkleiden, um das in der physischen Welt
zu suchen, was nicht mehr in der geistigen Welt gesucht werden
konnte, als die Zeit nahe der Geburt zuging.
Es
ist eine ungeheure Vertiefung des Lebens, wenn man den
Gesichtspunkt so — aber jetzt fühlend und empfindend
— zu nehmen weiß. Während der eine
Gesichtspunkt, der egoistische, immerzu den Menschen dazu
drängt, abstrakter und abstrakter zu werden, ins
Theoretische einzulaufen, dem Kopfdenken sich zuzuneigen, wird
das, was nach dem anderen, dem unegoistischen Gesichtspunkte
hingeht, den Menschen immer mehr und mehr dazu drängen,
die Welt in Liebe zu erkennen und durch Liebe zu begreifen. Das
ist eines der Elemente, die in der Lehrerbildung werden
aufgenommen werden müssen: hinzuschauen auf den
vorgeburtlichen Menschen, nicht also nur das Rätsel des
Todes zu empfinden, sondern auch zu empfinden dem Leben
gegenüber das Rätsel der Geburt.
Dann aber muß gelernt werden, Anthropologie zu
erhöhen zu Anthroposophie dadurch, daß man nun
wirklich ein Gefühl sich aneignet für die Formen, die
sich in dem dreigegliederten Menschen ausdrücken. Ich
sagte schon neulich: Ja, ist denn nicht dieses Haupt des
Menschen, das, was hauptsächlich Haupt ist, in einer ganz
anderen Form kugelig, nur aufgesetzt dem übrigen
Organismus? (siehe Zeichnung). Und wiederum, wenn wir den
Brustmenschen nehmen, wie erscheint er uns? Er erscheint uns
eigentlich so, daß wir ein Stück des
Kopfes nehmen könnten, es nun vergrößern, und
hier das Rückgrat haben würden (siehe Zeichnung).
Während der Kopf seinen Mittelpunkt in sich trägt,
trägt der Brustmensch den Mittelpunkt sehr weit von sich
weg. Und würden Sie sich das gleichsam wie einen
großen Kopf denken, so würde er, dieser große
Kopf, angehören etwa einem auf dem Rücken liegenden
Menschen, So daß wir haben würden, wenn wir die
Wirbelsäule wie einen unvollkommenen Kopf betrachten,
einen horizontal liegenden Menschen, und einen vertikal
stehenden Menschen.
Tafel 5
Noch komplizierter, so daß man gar nicht in der Lage ist,
das in die Ebene zu zeichnen, wird das, wenn wir den
Stoffwechselmenschen ins Auge fassen würden. Kurz,
für eine Formbetrachtung, für eine Betrachtung der
plastischen Form, stellen sich die drei Glieder der
menschlichen Natur ganz verschieden vor. Der Kopf ist gleichsam
eine Totalität, der Brustmensch ist keine Totalität,
das ist ein Fragment; und gar erst der Stoffwechselmensch!
Nun, wodurch ist der menschliche Kopf, das menschliche Haupt,
dieses in sich Abgeschlossene? Dieses in sich Abgeschlossene
ist das menschliche Haupt dadurch, daß von allen Gliedern
des Menschen dieses menschliche Haupt am meisten angepaßt
ist der physischen Welt. So sonderbar Ihnen das scheinen mag,
weil Sie ja gewohnt sind, das menschliche Haupt als das edelste
Glied des Menschen zu betrachten, so richtig ist es doch,
daß dieses menschliche Haupt am meisten angepaßt ist
dem physischen Dasein. Das Haupt drückt am meisten vom
physischen Dasein aus. So daß man sagen kann: Will man den
physischen Leib in der Hauptsache charakterisieren, so muß
man nach dem Kopfe hinschauen. In bezug auf den Kopf ist der
Mensch am meisten physischer Leib. In bezug auf die
Brustorgane, auf die Rhythmusorgane ist der Mensch am meisten
Ätherleib; in bezug auf die Stoffwechselorgane ist der
Mensch am meisten astralischer Leib. Und das Ich, das hat
überhaupt noch nichts Deutliches in der physischen Welt
ausgeprägt.
Hier sind wir bei einem Gesichtspunkte angelangt, der
außerordentlich wichtig ist ins Auge zu fassen. Sie
müssen sich diesen Gesichtspunkt so zurechtlegen, daß
Sie sich sagen: Sehe ich das menschliche Haupt an, also das,
was ich weiß gezeichnet habe (siehe Zeichnung Seite 72,
helle Schraffur), so habe ich das Hauptsächlichste auch
vom physischen Leib. Das Haupt bringt am meisten zum Ausdrucke,
was im Menschen offenbar ist. Im Brustmenschen, da ist der
Ätherleib mehr tätig. Im Kopf ist der Ätherleib
am wenigsten tätig, in der Brust ist der Ätherleib
viel mehr tätig. Daher ist physisch genommen der Brustteil
des Menschen unvollkommener als der Kopf. Physisch genommen ist
er unvollkommener. Und erst recht unvollkommen ist der
Stoffwechselmensch, weil da wiederum der Ätherleib ganz
wenig tätig ist und der astralische Leib am meisten
tätig ist. Und wie ich oftmals betont habe: Das Ich ist ja
noch das Baby, hat noch kaum ein physisches Korrelat.
Also Sie sehen, man kann den Menschen auch so beschreiben,
daß man sagt: Der Mensch besteht aus dem physischen Leib.
Willst du dir die Frage beantworten: Was ist am ähnlichsten
dem physischen Leib des Menschen? so lautet die Antwort: Die
Kopfkugel. Der Mensch besteht aus dem Ätherleibe. Was ist
am ähnlichsten dem Ätherleibe? Das Brustfragment. Der
Mensch besteht aus astralischem Leib. Was ist am
ähnlichsten dem astralischen Leib? Der Stoffwechselmensch.
Für das Ich hat man kaum auf etwas hinzudeuten im
physischen Menschen. So wird jedes der drei Glieder des
Menschen, Kopf, Nerven-Sinnes-Mensch, der Brustmensch, der
rhythmische Mensch und der Stoffwechselmensch zum Bilde
für etwas Dahinterstehendes: der Kopf zum Bilde für
den physischen Leib, die Brust zum Bilde für den
Ätherleib, der Stoffwechsel zum Bilde für den
astralischen Leib, Das wird man lernen müssen, nicht so zu
betrachten, wie man heute den Menschen betrachtet, indem man
den Leichnam in der Klinik untersucht, ein Stück als
Gewebe oder so etwas betrachtet, gleichgültig ob es in der
Brust oder im Kopfe ist. Man wird lernen müssen, sich zu
sagen: Kopf-, Brust- und Stoffwechsel-Mensch stehen in
verschiedenen Beziehungen zum Kosmos, drücken bildhaft
verschiedenes Dahinterstehendes aus. Das wird erweitern die
heutige bloß anthropologische Betrachtungsweise ins
Anthroposophische hinein. Rein physisch betrachtet sind
Brustorgane und Kopforgane gleichwertig. Ob Sie
schließlich die Lunge sezieren oder das Gehirn sezieren,
physisch genommen ist das eine wie das andere Materie. Geistig
genommen ist dies keineswegs der Fall. Geistig genommen ist das
so, daß, wenn Sie das Gehirn sezieren, Sie wirklich das
ziemlich deutlich vor sich haben, was Sie sezieren. Wenn Sie
die Brust sezieren, zum Beispiel die Lunge, da haben Sie das
schon recht undeutlich vor sich, was Sie sezieren, denn da
spielt der Ätherleib eine eminent wichtige Rolle darinnen,
während der Mensch schläft.
Die
Sache, die ich eben jetzt auseinandergesetzt habe, hat ihr
geistiges Gegenbild. Derjenige, der etwas vorgeschritten ist
durch Meditation, durch solche Übungen, wie Sie sie
beschrieben finden in unserer Literatur, der kommt
allmählich dazu, den Menschen wirklich dreizugliedern. Sie
wissen, ich spreche von dieser Dreigliederung von einem
gewissen Gesichtspunkte aus in dem Kapitel meines Buches
«Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren
Welten?», wo auf den Hüter der Schwelle hingedeutet
wird. Aber man kann die Dreigliederung so auch vollziehen durch
starke Konzentration auf sich selbst: daß man nun wirklich
Kopfmenschen (siehe Zeichnung, helle Tafel 4 Schraffur),
Brustmenschen (mittlere Schraffur) und Stoffwechselmenschen
(dunkle Schraffur) trennt. Dann merkt man, wodurch der Kopf
dieser Kopf eigentlich ist, den wir haben. Sehen Sie, wenn Sie
durch innere Konzentration den Kopf herausziehen mit seinem
Anhange, herausziehen aus dem übrigen menschlichen
Organismus und dann als wirklichen Kopf unbeeinflußt von
den anderen Gliedern der Menschennatur vor sich haben, dann ist
er tot, dann lebt er nicht mehr. Sie können hellseherisch
unmöglich den Kopf abgliedern von dem übrigen
menschlichen Organismus, ohne daß Sie ihn als Leichnam
wahrnehmen. Beim Brustmenschen können Sie das, der bleibt
lebendig. Und wenn Sie den astralischen Leib abtrennen dadurch,
daß Sie abtrennen den Stoffwechselmenschen, dann
läuft er Ihnen davon, der astralische Mensch, dann bleibt
er nicht an dem Orte, dann folgt er den kosmischen Bewegungen,
denn er hat das Astralische in sich.
Und
jetzt denken Sie sich einmal, Sie stehen vor einem
Menschenkinde, Sie schauen es mit solchen Erkenntnissen
unbefangen und vernünftig an, wie ich sie eben
auseinandergesetzt habe. Dann blicken Sie hin auf das
menschliche Haupt: es trägt den Tod in sich; Sie blicken
hin auf dasjenige, was das Haupt beeinflußt von der Brust
aus: es belebt alles. Sie blicken hin, wenn das Kind
anfängt zu laufen, Sie merken: das ist der astralische
Leib eigentlich, der da im Laufen drinnen tätig ist. Jetzt
wird Ihnen die menschliche Wesenheit etwas innerlich
Durchschaubares. Der Kopf — Leichnam; das sich
ausbreitende Leben in dem Menschen stillstehend, wenn er ganz
ruhig sein würde. Im Augenblick, wo er zu laufen beginnt,
merken Sie sogleich: der astralische Leib ist es eigentlich,
der läuft; und er kann laufen, weil dieser astralische
Leib beim Laufen, beim Bewegen Stoffe verbraucht, der
Stoffwechsel ist tätig in einer gewissen Weise. Das Ich,
wie kann man das beobachten? Es ist eigentlich jetzt schon
alles erschöpft. Wenn Sie verfolgen den Kopf-Leichnam, das
Belebende des Brustmenschen, das Laufen, was bleibt noch
übrig, um das Ich äußerlich anzuschauen? Ich
sagte Ihnen, das Ich hat kaum ein physisches Korrelat. Sie
schauen das Ich nur an, wenn Sie den Menschen in seinem
aufsteigenden Wachstum betrachten. Mit einem Jahr, da ist er
ganz klein, mit zwei Jahren größer und so weiter.
Wenn Sie ihn so größer und größer werden
sehen, wenn Sie zusammenfügen dasjenige, was er in den
aufeinanderfolgenden Zeiten ist, dann sehen Sie physisch das
Ich an. Sie sehen das Ich niemals im Menschen, wenn Sie ihm nur
gegenüberstehen, sondern das Ich sehen Sie erst dadurch,
daß Sie den Menschen wachsen sehen. Würden sich die
Menschen nicht Illusionen hingeben, sondern die Wirklichkeit
sehen, dann würden sie sich klar sein darüber,
daß sie in dem Menschen, der einem nur so einfach
begegnet, physisch gar nicht das Ich so ohne weiteres
wahrnehmen, daß sie das Ich eigentlich nur wahrnehmen,
wenn sie den Menschen in verschiedenen Lebensaltern betrachten,
Wenn Sie aber einen Menschen später wiedersehen nach
zwanzig Jahren, dann nehmen Sie sehr stark sein Ich wahr an der
Veränderung, die mit ihm vorgegangen ist, insbesondere
wenn Sie ihn vor zwanzig Jahren als Kind gesehen haben.
Nun
bitte ich Sie, das, was ich gesagt habe, nicht theoretisch
bloß zu durchdenken, sondern ich bitte, beleben Sie Ihre
Vorstellungen und überlegen Sie sich, wenn Sie so den
Menschen betrachten: Kopf — Leichnam, Brust —
Belebung, Laufen des astralischen Leibes,
Größerwerden durch das Ich — wie sich der ganze
Mensch belebt, der vorher wie eine Wachspuppe vor Ihnen
stand.
Was
ist denn schließlich das, was man gewöhnlich mit
seinen physischen Augen und auch mit seinem Verstande vom
Menschen sieht? Eine Wachspuppe! und die belebt sich, wenn Sie
das hinzufügen, was ich eben jetzt auseinandergesetzt
habe!
Dazu brauchen Sie allerdings die Durchsetzung Ihrer Anschauung
durch dasjenige, was Geisteswissenschaft in die Empfindungen,
in die Gefühle, in das ganze Verhältnis des Menschen
zur Welt hineingießen kann. Ein laufendes Kind verrät
Ihnen den astralischen Leib. Und das, was in der Geste des
Laufens liegt — jedes Kind läuft ja anders
Ä, das kommt von der Konfiguration der
verschiedenen astralischen Leiber her. Und dasjenige, was im
Wachsen liegt, das prägt etwas vom Ich aus.
Sehen Sie, da wirkt das Karma sehr stark in den Menschen
hinein. Nehmen wir ein Beispiel, das der Gegenwart nicht mehr
naheliegt: Fichte, Johann Gottlieb Fichte, Ich habe Ihnen von
den verschiedensten Seiten Johann Gottlieb Fichte
charakterisiert. Ich habe ihn Ihnen charakterisiert einmal als
großen Philosophen, ich habe ihn Ihnen charakterisiert
einmal als Bolschewisten, und so weiter, nicht wahr. Wollen wir
ihn aber einmal noch von einem anderen Gesichtspunkte aus ins
Auge fassen. Sie erinnern sich ja wohl, daß ich auch
gezeigt habe, wie Johann Gottlieb Fichte durchaus unter die
Bolschewisten gerechnet werden kann; nun wollen wir ihn von
einem anderen Gesichtspunkte ins Auge fassen. Nehmen wir einmal
an, wir stünden so auf der Straße und Fichte ginge
vorüber, wir schauen ihm nach: ein nicht sehr großer
Mann, stämmig, Was verrät die Art, wie er gewachsen
ist? Zurückgehaltenes Wachstum. Stark aufsetzend die
Füße, besonders stark die Fersen aufsetzend, so, wenn
man ihm nachschaut, geht er dahin. Das ganze Fichte-Ich ist
dadrinnen, Keine Nuance dessen, was der Mann war, kann einem
entgehen, wenn man ihn so anschaut mit dem durch etwas Hungern
in der Jugend zurückgehaltenen Wachstum, stämmig, den
Körper zurückgehalten, stark die Fersen aufsetzend.
Man hörte, wie er sprach, indem man ihn so von
rückwärts bemerkte!
Sie
sehen, in die Äußerlichkeiten des Lebens kann ein
geistiges Element hineinkommen. Es kann allerdings nicht
hineinkommen in die Äußerlichkeiten des Lebens, wenn
nicht die Menschen etwas anderes, als heute noch in der
Seelenverfassung ist, an Gesinnung in sich aufnehmen. Für
die heutigen Menschen wäre ja das Anschauen ihrer
Mitmenschen von diesem Gesichtspunkte aus eine recht böse
Indiskretion. Man möchte es nicht sehr wünschen,
daß das sich verbreitete, denn die Menschen von heute sind
ja zumeist so geartet durch den Materialismus, wie er sich
immer mehr und mehr ausgebreitet hat, daß sie nur deshalb,
weil es verboten ist, nicht Briefe aufmachen, die ihnen nicht
gehören, sonst würden sie es nämlich tun. Aber
bei einer solchen Menschengesinnung ist es nicht tunlich,
daß mit den Menschen alles anders werde. Dennoch, die Erde
hat mit der Mitte des 15. Jahrhunderts dasjenige erfüllt,
was die Menschen auf andere Weise sich im Erdendasein nicht
aneignen konnten, als dadurch, daß Mensch dem Menschen bis
ins Physische hinein geistig entgegenkommt. Und je mehr wir der
Zukunft entgegenwachsen, desto mehr müssen wir alles
dasjenige, was sinnlich um uns herum ist, lernen geistig
aufzufassen. Und angefangen muß das werden mit der
pädagogischen Betätigung des Lehrers gegenüber
dem heranwachsenden Kinde, Physiognomische Pädagogik:
Wille, dieses größte Rätsel Mensch in jedem
einzelnen Exemplar Mensch durch die Erziehung zu
lösen!
Nun
können Sie fühlen, wie stark eigentlich in unserer
Zeit das ist, was ich als Prüfung der Menschheit
auseinandergesetzt habe, Eigentlich drängt dasjenige, was
ich auseinandergesetzt habe, dahin: immer mehr und mehr zu
individualisieren, jeden Menschen als ein Wesen für sich
zu betrachten. Das muß uns ja eigentlich als großes
Ideal vorschweben: Keiner gleicht dem andern, jeder, jeder ist
ein Wesen für sich. Würde die Erde an ihr Ziel
kommen, ohne daß wir uns aneignen würden als
Menschen, anzuerkennen jeden Menschen als ein Wesen für
sich, die Menschheit würde auf der Erde nicht ihr Ziel
erreichen. Aber wie weit sind wir heute von der Gesinnung
entfernt, die nach diesem Ziele hinstrebt! Wir nivellieren ja
heute die Menschen. Wir sehen die Menschen so an, daß wir
sie gar nicht stark auf ihre individuellen Eigenschaften hin
prüfen, Hermann Bahr, von dem ich Ihnen öfter
erzählt habe, hat einmal in Berlin verraten, wie die
Zeitbildung dahin geht, gar nicht mehr zu individualisieren.
Als Hermann Bahr in den neunziger Jahren eine Zeitlang in
Berlin lebte und mitmachte das Berliner Gesellschaftsleben,
hatte er natürlich an jedem Abend rechts eine Tischdame
und links eine Tischdame neben sich, nicht wahr. Aber wenn er
wiederum am nächsten Abend zwischen zwei Tischdamen
saß, da konnte er höchstens aus der Einladungskarte
entnehmen, daß das andere Damen waren: er schaute sie sich
nämlich gar nicht so genau an, denn im Grunde genommen war
die Dame von gestern und die Dame von heute ganz dasselbe. Was
er von ihnen sah, war ganz dasselbe. Und die gesellschaftliche,
namentlich industrielle Kultur, die macht auch
äußerlich aus den Menschen gleiche, läßt
die Individualitäten nicht herauskommen. Und so strebt man
in der Gegenwart nach Nivellement, während das innerste
Ziel des Menschen sein muß, nach Individualisierung zu
streben. Wir verdecken am meisten die Individualität in
der Gegenwart und haben es am nötigsten, die
Individualität aufzusuchen.
Beginnen, den inneren Seelenblick voll auf die
Individualität hinzulenken, das muß im Unterricht des
Menschen kommen. In die Lehrerbildung muß die Gesinnung
aufgenommen werden: Individualitäten in den Menschen zu
finden. Das können wir nur dadurch, daß wir unsere
Vorstellung vom Menschen so beleben, wie ich es dargestellt
habe; daß wir uns wirklich bewußt werden: Es ist
nicht ein Mechanismus, der sich vorwärtsbewegt, es ist der
astralische Leib, der sich vorwärtsbewegt, und der den
physischen Leib mitzieht. Und vergleichen Sie mit dem, was in
Ihrer Seele entstehen kann als innerlich belebtes und sich
bewegendes Bild des ganzen Menschen, vergleichen Sie damit das,
was heute die gebräuchliche Wissenschaft gibt: den
Homunkulus, einen richtigen Homunkulus! Die Wissenschaft sagt
nichts vom Menschen, predigt nur den Homunkulus, Der wirkliche
Mensch, das ist derjenige, der vor allen Dingen in die
Pädagogik einziehen muß. Aber er ist ganz
heraußen aus der Pädagogik.
Also die Erziehungsfrage ist eine Lehrerbildungsfrage, und so
lange Sie nicht als das betrachtet wird, ist man nicht so weit,
daß irgend Ersprießliches in der Erziehung geschehen
kann. Sie sehen, alles gehört von den höheren
Gesichtspunkten aus betrachtet so zusammen, daß man das
eine wirklich an das andere anschließt. Heute möchte
man am liebsten auch die menschlichen Tätigkeiten,
innerlichen Tätigkeiten als Fächer nebeneinander
ausbilden. Da lernt der Mensch Menschenkunde, dann Religion
— die Dinge haben nicht viel miteinander zu tun. In
Wahrheit grenzt, wie Sie gesehen haben, dasjenige, was man am
Menschen betrachtet, an die Unsterblichkeitsfrage, an die Frage
nach dem ewigen Wesen der Menschennatur, Und wir mußten
die Frage nach dem ewigen Wesen der Menschennatur mit dem
unmittelbaren Anschauen des Menschen zusammenbringen. Dieses
Bewegliche des seelischen Erlebens, das muß insbesondere
in die Pädagogik hinein. Dann werden ganz andere innere
Fähigkeiten entwickelt, als sie heute durch die
Lehrerbildungsanstalten entwickelt werden. Und das ist von ganz
besonderer Wichtigkeit.
Ich
wollte Ihnen durch die heutige Betrachtung nahebringen, wie
Geisteswissenschaft eigentlich alles durchdringen muß, und
wie man ohne Geisteswissenschaft die großen sozialen
Probleme der Gegenwart nicht lösen kann.
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