ERSTER
VORTRAG
Zürich, 3. Februar 1919
Die wirkliche Gestalt der sozialen Frage,
erfaßt aus den Lebensnotwendigkeiten der
gegenwärtigen Menschheit auf Grund
geisteswissenschaftlicher Untersuchung
Was sich heute einschließt in das Wort
soziale Frage, ist etwas, das die denkende Menschheit zu einem
großen Teile intensiv seit Jahrzehnten beschäftigt,
beschäftigt weil diese soziale Frage heute, man kann
sagen, nicht nur drängend ist für die Entwickelung
der Menschheit, sondern brennend geworden ist. Insbesondere
aber darf man sagen, daß die furchtbare kriegerische
Katastrophe, welche in den letzten Jahren über die
Menschheit hereingebrochen ist, auch ihr düsteres Licht
geworfen hat gerade auf das, was man die soziale Frage
und die damit zusammenhängende Menschheitsbewegung
der unmittelbaren Gegenwart nennt.
Da ich das soziale Rätsel in die ganze
geschichtliche Bewegung der neueren Zeit hineinstellen
muß, werde ich in den nächsten Vorträgen
über mancherlei Dinge, welche mit Ursache und Verlauf der
furchtbaren kriegerischen Katastrophe zusammenhängen, zu
sprechen haben. In diesen einleitenden Ausführungen
möchte ich nur darauf hinweisen, wie schon im
Ausgangspunkt des Krieges sich zeigte das Herein kraften der
sozialen Frage in jenen Angstemotionen, die deutlich
wahrzunehmen sind bei denjenigen, welche am Ausgangspunkt
dieses Krieges standen. Gewiß wäre vieles anders
geworden im Jahre 1914, wenn diejenigen, die da oder dort
wichtige Entscheidungen zu treffen gehabt haben, nicht unter
der Angst gestanden hätten: Was soll werden, wenn die
soziale Bewegung immer mehr und mehr sich geltend macht?
Vieles, was sich in diesem sogenannten Kriege herausgestaltet
hat, hat sich herausgestaltet unter der Furcht auf der
einen Seite und unter dem vollen Mißverständnis
von seiten mancher führender Persönlichkeiten
gegenüber der sozialen Frage auf der anderen Seite.
Manches hätte sich anders gestaltet, wäre diese
Furcht und dieses Mißverständnis nicht dagewesen. Und
wiederum, im Verlaufe des Krieges sehen wir, wie
Persönlichkeiten, die innerhalb der sozialen Bewegung sich
betätigen, Hoffnungen hervorrufen bei sich und
anderen, daß gerade die Möglichkeit sich zeigen
könnte, zu diesem oder jenem Ausgleich der Disharmonien zu
kommen, die in so schrecklicher Weise in das Menschenleben
eingezogen sind. Und jetzt, da diese tragischen Ereignisse in
eine Art von Krise eingezogen sind, sehen wir, wie insbesondere
in den besiegten Ländern zurückgeblieben ist
als Ergebnis: drängendste Notwendigkeit, zu der sozialen
Frage Stellung zu nehmen, in dasjenige einzugreifen, was als
soziale Forderungen in die Zeitgeschichte
eintritt.
Schon aus alledem könnte derjenige, der
das Leben der Gegenwart denkend überblickt, der nur
irgendwie die Neigung hat, sich bekanntzumachen mit den
Lebensgewohnheiten der Gegenwart, er könnte ersehen,
wie in der sozialen Frage gerade jetzt etwas auftaucht, womit
sich alle Glieder der menschlichen Gesellschaft werden lange,
sehr, sehr lange zu beschäftigen haben. Und gerade in
diesem Zeitpunkt, wo, wie gesagt, in den besiegten Ländern
das Leben einfach Lösungsversuche der sozialen Frage
fordert, lagert jetzt etwas wie Tragik über einem
großen Teile der zivilisierten
Menschheit.
Überblickt man die geistigen Leistungen,
die Literatur und alles ähnliche, das seit vielen
Jahrzehnten aufgetaucht ist innerhalb der Besprechungen,
der Diskussionen, der Bestrebungen in bezug auf die soziale
Frage, es ist ein Unermeßliches an Menschenarbeit, an
Menschendenken. Aber niemals stand man den sozialen
Problemen so lebendig gegenüber wie heute. Heute
zeigt sich am Leben selbst, was als soziale Forderung
auftritt. Es scheint, als ob trotz aller Anstrengungen,
eindringlichstem Denken, trotz bestem Wollen, das sich
geltend gemacht hat in den letzten Jahrzehnten, doch das, was
sich an Fähigkeiten herausgebildet hat, durch und durch
ungenügend war, um die soziale Frage, so wie sie in ihrer
wahren Gestalt heute durch das Leben vor die Menschenseele
gestellt wird, zu bewältigen. Das lagert wie etwas
ungeheuer Tragisches über den Bestrebungen der
gegenwärtigen Menschheit. Etwas, worauf man sich so lange
vorbereitet hat, es trifft gerade diejenigen, von denen man
glauben möchte, daß sie maßgebend wären,
anscheinend ganz unvorbereitet.
Wer nicht vom Gesichtspunkte theoretischer
Wissenschaft, nicht aus bloßen Begriffen heraus und auch
nicht aus einseitigen Parteianschauungen heraus in den
letzten Jahrzehnten sich mit der sozialen Frage
beschäftigt hat, der hat finden können,
daß die mächtigsten Lebenswider-Sprüche
gerade auf diesem Gebiete immer zutage getreten sind. Und
vielleicht ist der folgende einer der bemerkenswertesten
Widersprüche, die auf dem Gebiete des sozialen Lebens
zutage getreten sind. Vieles hat man diskutieren hören,
über vieles hat man lesen können durch Leute, die vom
Leben selbst hineingestellt waren in die moderne soziale
Bewegung. Überall hatte man, gerade wenn man
vielleicht mitten drinnen stand in der Diskussion, mitten
drinnen stand in dem Wollen der modernen Arbeiterschaft
selbst, überall hatte man das Gefühl: Ja, da wird
mancherlei gesprochen, da wird über viele Fragen,
über mancherlei Lebenskräfte gesprochen. Man
versucht, diesen oder jenen Impulsen Richtungen zu geben. Aber
in dem, was man nennen könnte soziales Wollen, liegt noch
etwas ganz, ganz anderes als das, was da ausgesprochen
wird. Kaum irgendeiner Lebenserscheinung gegenüber konnte
man so deutlich das Gefühl haben: das mehr oder weniger
Unterbewußte, Unausgesprochene, spielt eine
größere Rolle als das, was in scheinbar klare
Begriffe, in nüchterne Diskussionen hineinverlegt
worden ist. Hier ist der Punkt, wo man den Anhalt
dafür finden kann, nicht zu verzweifeln bei den Versuchen,
gerade von einem bestimmten Gesichtspunkte aus den
sozialen Rätseln sich zu nähern.
Ich habe ja hier in Zürich, in anderen
Städten der Schweiz, öfter gerade über
Fragen der Geisteswissenschaft sprechen dürfen. Vom
Standpunkte dieser geisteswissenschaftlichen Forschung
suchte ich mich auch seit Jahrzehnten den sozialen Rätseln
zu nähern. Hört man heute manche, die sich
Praktiker dünken, dann könnte man gewiß
verzweifeln daran, irgend etwas Ersprießliches leisten zu
können für die einschlägigen Fragen vom
Gesichtspunkte der bloßen geistigen Forschung aus. Allein
gerade das Widerspruchsvolle, auf das ich hinzudeuten habe in
den Bestrebungen innerhalb des sozialen Lebens, das treibt
diese Verzweiflung wieder weg. Denn man sieht, wie
wichtige Persönlichkeiten innerhalb der sozialen Bewegung
lächeln, wenn die Rede darauf kommt, man wolle durch diese
oder jene geistigen Bestrebungen etwas beitragen zur
Lösung der sozialen Frage; sie belächeln das als
Ideologie, als eine graue Theorie. Aus dem Gedanken heraus, aus
dem bloßen Geistesleben heraus, so meinen sie, werde
gewiß nichts beigetragen werden können zu den
brennenden sozialen Fragen der Gegenwart. Aber sieht man
genauer zu, dann drängt es sich einem auf, wie der
eigentliche Nerv, der eigentliche Grundimpuls der modernen,
gerade proletarischen Bewegung nicht in dem liegt, wovon
der heutige Proletarier spricht, sondern gerade liegt in
Gedanken.
Die moderne proletarische Bewegung ist, wie
vielleicht noch keine ähnliche Bewegung der Welt —
wenn man sie genauer anschaut, zeigt sich dies im eminentesten
Sinne — , eine Bewegung aus Gedanken entsprungen. Dies
sage ich nicht bloß wie ein Aperçu. Wenn es mir
gestattet ist, eine persönliche Bemerkung
einzufügen, so sei es diese: Ich habe jahrelang innerhalb
einer Arbeiterbildungsschule in den verschiedensten
Zweigen proletarischen Arbeitern Unterricht erteilt. Ich habe
kennengelernt, was in der Seele des modernen
proletarischen Arbeiters lebt und strebt. Von da ausgehend habe
ich kennengelernt, was in den Gewerkschaften der
verschiedenen Berufe und Berufsrichtungen lebt. Also nicht
bloß vom Gesichtspunkte theoretischer Erwägungen, wie
in einem Aperçu, ist das ausgesprochen, was ich sagen
will, sondern als Ergebnis wirklicher
Lebenserfahrung.
Wer — was bei den führenden
Intellektuellen leider so wenig der Fall ist wer die moderne
Arbeiterbewegung da kennengelernt hat, wo sie von Arbeitern
getragen wird, der weiß, welch wunderbares Phänomen
dieses ist, wie eine gewisse Gedankenrichtung, eine gewisse
Gedankenströmung die Seele gerade dieser Menschen in
der intensivsten Weise ergriffen hat. Das ist ja das, was
es so schwierig macht heute, zu den sozialen Rätseln
Stellung zunehmen, daß eine so geringe Möglichkeit
des Verständnisses, des gegenseitigen
Verständnisses der Klassen da ist. Die
bürgerlichen Klassen können heute sich so
schwer in die Seele des Proletariers hineinversetzen,
können so schwer verstehen, wie in der, ich möchte
sagen, noch undekadenten Intelligenz, in der elementarischen
Intelligenz Platz greifen konnte ein solches — mag man
nun zum Inhalte stehen, wie man will — , ein solches, an
menschliche Denkforderungen höchste
Maßstäbe anlegendes System, wie das Denksystem
von Karl Marx.
Gewiß, Karl Marxens Denksystem kann von
dem einen angenommen, von dem anderen widerlegt werden,
vielleicht das eine mit denselben guten Gründen wie
das andere. Es konnte revidiert werden von denen, die das
soziale Leben weiter betrachten nach Marxens und seines
Freundes Engels Tode. Von
dem Inhalt dieses Systems will ich gar nicht sprechen, von dem
Inhalt dieses Gedankensystems. Der scheint mir das allerwenigst
Bedeutungsvolle. Das Bedeutungsvollste erscheint mir, daß
die Tatsache vorliegt: Innerhalb der Arbeiterschaft selbst,
innerhalb der proletarischen Welt wirkt als mächtigster
Impuls ein Gedankensystem. Man kann geradezu die Sache in
der folgenden Art aussprechen: Eine praktische Bewegung, eine
reine Lebensbewegung mit alleralltäglichsten
Menschheitsforderungen stand noch niemals so fast ganz allein
auf einer rein wissenschaftlichen, gedanklichen Grundlage wie
diese moderne Proletarierbewegung. Sie ist gewissermaßen
sogar die erste derartige Bewegung der Welt, die sich rein auf
eine wissenschaftliche Grundlage gestellt hat. Dennoch, wenn
man wiederum alles das nimmt — ich deutete es schon
an — , was der
moderne Proletarier über sein eigenes Meinen und Wollen
und Empfinden zu sagen hat, so scheint einem das bei
eindringlicher Lebensbeobachtung durchaus nicht als das
Wichtige.
Nun haben viele in einer sehr scharfsinnigen
Weise gezeigt, wie diese moderne proletarische soziale Bewegung
heraus entstanden ist aus der Menschheitsentwickelung der
letzten Jahrhunderte. Scharfsinnig gezeigt worden ist,
wie insbesondere durch die Entwickelung der modernen
Technik, durch die Entwickelung des modernen Maschinenwesens
eigentlich das Proletariat im modernen Sinne erst geschaffen
worden ist, wie durch den gewaltigen wirtschaftlichen Umschwung
der neueren Zeit eben die moderne soziale Frage entstanden ist.
Was andere in einer so scharfsinnigen Weise gerade über
diese Entstehung der sozialen Frage gesagt haben, ich will es
hier nicht wiederholen. Aber mir scheint es notwendig, gerade
auf das hinzuweisen, was die vorhandenen
Lebenswidersprüche in dieser modernen proletarischen
Bewegung charakterisiert. Gewiß ist es richtig,
daß ohne den gewaltigen Umschwung, ohne die technische
Revolution der neueren Zeit die moderne soziale Bewegung nicht
in der Gestalt hätte kommen können, in der sie nun
einmal heraufgezogen ist. Allein so intensiv es auch
behauptet wird, daß bloß aus wirtschaftlichen
Impulsen, aus ökonomischen Kräften, aus
Klassengegensätzen, aus Klassenkämpfen heraus sich
dasjenige ergeben habe, was im sozialen Leben heute sich zeigt,
vor einer eindringlichen Seelenbeobachtung des modernen
Proletariers hält die Behauptung, daß nur
wirtschaftliche Gegensätze, nur wirtschaftliche
Kräfte dabei im Spiele seien, nicht stand. Gerade
derjenige, der gewöhnt ist aus der
Geisteswissenschaft heraus, bei allem Menschlichen
hinzublicken auf die Feinheiten und Intimitäten des
seelischen Lebens, die dem Träger dieses Seelenlebens
oftmals selbst nicht bewußt sind, gerade dem ist es klar,
daß nicht das, was sich technisch, wirtschaftlich
herausgebildet hat, das Wesentliche ist in der Gestaltung der
heutigen sozialen Frage, sondern daß die Tatsache
bedeutungsvoll ist, daß aus ganz anderen
Lebenszusammenhängen heraus gewisse Menschen zu dem
Betrieb der Maschine in der Art des großkapitalistischen
Betriebes hingestellt worden sind, und daß durch dieses
Hinstellen in diesen Menschen etwas erwacht ist, was nicht in
unmittelbarem Zusammenhange mit dem steht, was
wirtschaftlich um sie ist, und in das sie wirtschaftlich
verstrickt sind. Was da erwacht ist, das hängt vielmehr
zusammen mit den tiefsten Lebensgewohnheiten der modernen
Menschheit.
Wer die Geschichte nur so betrachtet, wie es
nun auch die sozialistische Wissenschaft der neueren Zeit
wiederum tun will, daß man immer sagt, das Folgende gehe
aus dem Vorhergehenden hervor, Wirkung führe immer auf
eine Ursache zurück, der berücksichtigt nicht,
daß Wandelkräfte, Umgestaltungskräfte in der
lebendigen Wirklichkeit vorhanden sind, die den
bloßen Zusammenhang von Ursache und Wirkung, ich
möchte sagen: des nüchternen, trockenen Zusammenhangs
von Ursache und Wirkung, an bestimmten Punkten dieser
Entwickelung revolutionierend gestalten.
Sehen wir hin auf die einzelne menschliche
Entwickelung. Wir können sie, wenn man so sagen
darf, sukzessive verfolgen, meinetwillen von der Geburt bis zum
siebenten Lebensjahre ungefähr, wo der Zahnwechsel
eintritt. Da ist eine mächtige Revolution in der
Entwickelung des menschlichen Organismus. Man muß den
Blick hinrichten auf das, was da gerade in dieser Periode des
Lebens geschieht. Da ist nicht bloß ein geradliniger
Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Dann geht es wiederum vom
siebenten bis annähernd in das vierzehnte, fünfzehnte
Jahr hinein so, daß man eine geradlinige Entwickelung von
Ursache und Wirkung verfolgen kann. Dann aber folgt wiederum
eine revolutionierende Gestaltung im menschlichen
Organismus bei der Geschlechtsreife. Weniger bemerkbar
sind später solche Umwandlungen, aber sie sind auch da.
Wie so im einzelnen menschlichen Leben solche Dinge sich
abspielen, welche zuschanden machen das immer und immer
wiederholte bequeme, aber durchaus unrichtige Wort, die
Natur mache keine Sprünge, wie im einzelnen Organismus
solche Sprünge vorhanden sind, so auch in der
geschichtlichen Entwickelung der Menschheit. Einfach haben sich
innerhalb derjenigen Zeit, die sich etwa begrenzen
läßt von der Mitte des 14., 15. Jahrhunderts bis
heute, die weiter laufen wird, mächtige
Umwandlungsprozesse im menschlichen Bewußtsein selber
abgespielt.
So wie der einzelne menschliche Organismus ein
anderer ist, wenn er geschlechtsreif geworden ist, als er
vorher war in einer gewissen Richtung, so ist der menschliche
soziale Organismus etwas anderes geworden, nachdem die
elementaren, grundlegenden, nicht bloß innerhalb der
geraden Linie von Ursache und Wirkung aufzufindenden Impulse
sich geltend gemacht haben. Wer genauer das geschichtliche
Leben zu beobachten vermag, der weiß, daß vor
diesem Zeitraum in der Menschheit vieles instinktiv sich
abgespielt hat, was in diesem Zeitraum eintritt in die volle
Bewußtheit, was aufgenommen werden muß von der vollen
Bewußtheit. Daher nimmt die soziale Bewegung in dieser
Zeit, für die sie besonders charakteristisch ist, die
Gestalt an, die in dem ja oft gebrauchten Wort, das nur
nicht intensiv genug charakterisiert wird, zutage tritt:
proletarisches Klassenbewußtsein. Bei diesem Wort
«proletarisches Klassenbewußtsein» sollte
man viel weniger darauf Rücksicht nehmen, daß es
hindeutet auf den notwendigen Kampf, in den sich der
Proletarier gegen die anderen Klassen verstrickt glaubt, man
sollte vielmehr darauf hinweisen, daß etwas
eingezogen ist in die Seele des Proletariers in einem
Zeitalter, in dem soziale Instinkte, die früher gewaltet
haben, in soziales Bewußtsein sich umgestalten.
Früher waren Klasseninstinkte vorhanden. Nunmehr
liegt zugrunde der sozialen Bewegung
Klassenbewußtsein.
Dieses Klassenbewußtsein, es ist, ich
möchte sagen, nur der Oberfläche nach
bezeichnet, wenn man den Wortlaut ernst nimmt:
proletarisches Klassenbewußtsein. Das, was sich in
diesem Wort «proletarisches Klassenbewußtsein»
versteckt, das ist etwas ganz anderes. Und es läßt
sich vielleicht, wenn man kurz eine wichtige Tatsache
charakterisieren will, diese Tatsache so charakterisieren:
Innerhalb alter Berufszusammenhänge, wie sie sich
zum Beispiel im alten Handwerk oder in anderen Berufen zum
Ausdrucke brachten, lagen gewisse soziale Instinkte, die in die
menschliche Seele hereinleuchteten, die in der menschlichen
Seele krafteten. Diese Instinkte konnten wirken, so daß
sie ein gewisses persönliches Band bildeten zwischen
dem, was der Mensch denkt, fühlt, will, was er für
seine Ehre, für seine Freude, für sein
ästhetisches Bedürfnis hält. Die Arbeit
selbst gab den Menschen für alle diese Dinge
etwas.
Als der Mensch an die Maschine gestellt worden
war, als er in das durchaus unpersönliche Getriebe des
modernen Kapitalismus hineingestellt wurde, wo nicht mehr
klar durchsichtig für die verfertigte
Menschenleistung das Entgelt auftritt, sondern wo die
Vermehrung des Kapitals durch das Kapital das Wesentliche ist,
also der Mensch hineingestellt worden ist auf der einen
Seite in das Maschinengetriebe, auf der anderen Seite in den
modernen Kapitalismus und seine Wirtschaftsordnung, da
war er herausgerissen aus denjenigen Welt- und
Lebenszusammenhängen, die ihm etwas gaben für
sein Persönliches, für seine persönliche Freude,
für seine persönliche Ehre, für seine
persönlichen Willensimpulse. Er war
gewissermaßen auf die Spitze seiner Persönlichkeit
gestellt neben der Maschine, innerhalb der rein
objektiven, unpersönlichen Zirkulation von Ware und
Kapital, die ihn menschlich-persönlich im Grunde nichts
anging. Aber die menschliche Seele will immer in einer gewissen
Weise voll wirken, will immer ihren ganzen Umfang eigentlich
entfalten. Und so wurde der Arbeiter, der entrissen wurde aus
den charakterisierten anderen Lebenszusammenhängen, der
hineingestellt wurde in einen Zusammenhang, der
losgerissen ist von der volllebendigen Menschlichkeit,
darauf hingewiesen, über seine Menschenwürde
nachzusinnen, seine Menschenwürde
nachzuempfinden.
Und so verbirgt sich hinter dem, was man
proletarisches Klassenbewußtsein nennt, in der
modernen geschichtlichen Entwickelung in Wahrheit ein
Heraufdämmern, ein Heraufglänzen eines vollen, aus
dem Menschenwesen, aus der menschlichen Seele selbst
geschöpften Menschenbewußtseins. Hinlenkung des
Bewußtseins auf die Frage: Was bin ich als Mensch? —
auf die Frage: Was bedeute ich als Mensch in der Welt? —
das zu empfinden hatte derjenige Gelegenheit, der als
Proletarier hingestellt war neben die den Menschen
verleugnende Maschine, neben das den Menschen verleugnende
Kapital.
Da glaube ich doch, daß die ganze
Betrachtung der sozialen Frage auf einen anderen Boden gestellt
wird, wenn man bedenkt, daß, während die übrigen
Menschen mehr oder weniger aus Lebenszusammenhängen
heraus, die nicht so radikal Revolutionierendes brachten, aus
den alten Instinkten in das moderne Bewußtsein
hineingetrieben worden sind, der moderne Proletarier radikal in
die bewußte Auffassung seiner selbst hineingetrieben
wurde aus der früher bloß instinktiven Auffassung der
Menschenwürde und der sozialen Stellung des einzelnen
Menschen in der menschlichen Gesellschaft.
Nun fiel dieses Eintreten des
Menschheitsbewußtseins in die Seele des Proletariers
zusammen mit allerlei anderem, das ja vorging in der
menschlichen Entwickelung. Es fiel zusammen mit einer gewissen
Stufe des menschlichen Denkens, mit einer gewissen Stufe der
menschlichen Entwickelung. Man kennt heute im Grunde genommen
die geschichtliche Entwickelung der Menschheit sehr schlecht.
Denn diese geschichtliche Entwickelung der Menschheit, sie wird
ja im Grunde genommen immer von der einen Seite oder von der
anderen Seite parteiisch dargestellt. Wer unbefangen
hinblickt auf die Entwickelung der Menschheit, dem stellt sich
oftmals etwas ganz anderes heraus als das, was üblich ist
zu sagen über diese Entwickelung der Menschheit. So kann
man auch sagen: Wer heute auf das hinsieht, was
gegenwärtig am meisten Autorität genießt,
die Wissenschaft, der weiß, daß auch das, was man
heute gewissermaßen mit absoluter Objektivität
belegt, sich entwickelt hat, aus irgend etwas hervorgegangen
ist und deutlich in sich die Kennzeichen davon trägt,
daß es auch wiederum andere Gestalten annehmen werde.
Sieht man auf diese Wissenschaft hin in ihren glänzenden
Methoden, in ihren unendlich gewissenhaften Forschungsweisen,
auf diese Wissenschaft, die geradezu besonders geeignet
ist, die Natur und ihre Erscheinungen zu durchdringen, so
merkt man: das Eindringlichste an ihr, was sie zu sagen hat,
ist, daß sie im Grunde genommen recht wenig geeignet ist,
zu ergreifen das tiefste, intimste menschliche Fühlen und
Empfinden, daß sie recht wenig zu sagen hat
über das, was der Mensch eigentlich wissen will, wenn er
seinen Blick richtet auf Selbsterkenntnis und Selbsterfassung.
Auch die Wissenschaft hat sich in gewisser Weise
losgerissen vom Menschen. Sie trägt keinen
persönlichen Charakter mehr, und sie spricht auch nicht
mehr von dem, was im Menschen das Geistige, das
Übersinnliche, das Ewige ist. Spricht sie davon, so zeigt
sie deutlich, daß sie in der Art, wie sie heute Mode ist,
nicht die entsprechenden Methoden, nicht die
entsprechenden Forschungsweisen hat.
Man kann von dieser Gestalt der Wissenschaft
zurückblicken auf jene Zeiten, wo innerhalb der
Menschheitsentwickelung das Leben noch in vollem Zusammenhang
zeigte religiöse Erfassung der Welt, religiöses
Empfinden und wissenschaftliches Anschauen. Die beiden traten
auseinander. Was einheitlich war, spaltete sich
ungefähr in derselben Zeit, in der jene objektive
Revolution heraufkam, die im Maschinenzeitalter und im modernen
Kapitalismus ihren Ausdruck findet. Damals war es auch, als
diese wirtschaftliche Umwälzung geschah, damals war es
auch, wo gewissermaßen die religiöse Entwickelung
stillestehen wollte, nicht mitmachen wollte das, was der
wissenschaftlichen Entwickelung sich ergab. Damals, als man die
Galilei, die Giordano Bruno verurteilte, da blieb
in einer gewissen Weise das innerste menschliche Empfinden und
Fühlen zurück vor demjenigen, was aus dem Menschen
heraus über die Natur, über die Welt überhaupt
sprechen will. Der Mensch verlor den Glauben daran, daß er
durchdringen könne sein Wissen mit religiöser Glut,
mit religiöser Wärme. Heute ist man stolz darauf,
daß man die Wissenschaft freihalten kann von alldem, was
man nur der Religion zuerteilen will. In diese Zeit
hinein, wo die Wissenschaft immer mehr und mehr religionsfrei,
geistfrei werden wollte, in diese Zeit hinein fällt die
Entwickelung des proletarischen Bewußtseins, fällt
die Ergreifung des Menschheitsbewußtseins durch das
Proletariat.
Dieses Proletariat drängte hin zum
modernen Denken, zur modernen Intelligenz, zum Erfassen
desjenigen, was erfaßt werden kann mit den menschlichen
Geisteskräften. Es fand aber eine Wissenschaft, die nicht
mehr in sich die Stoßkraft hatte, den ganzen Menschen zu
ergreifen und zu erfüllen. Und das hat der Seele des
modernen Proletariers die besondere Gestalt gegeben. Das
geistige Bewußtsein der Menschheit, das geistige
Bewußtsein der führenden Klassen, die es in
früheren Zeiten waren, hatte seine Stoßkraft
verloren, hatte der Menschheit eine mehr oder weniger für
die menschlichen Angelegenheiten abstrakte Wissenschaft
geliefert. So sahen sich die Seelen des Proletariats der
neueren Zeit einer Wissenschaft gegenübergestellt, die
nicht das Vertrauen erweckte, daß durch sie etwas gegeben
werden kann, was als wahrste innerste Geistwirklichkeit in der
äußeren sinnlichen und wirtschaftlichen
Tätigkeit lebt. Eine solche Wissenschaft hatte der
Proletarier vor sich, einer solchen Wissenschaft sah er sich
gegenübergestellt. In sie lebte er sich ein. Und so trat
in seiner Seele etwas aus rein geistigen
Entwickelungsuntergründen auf, was heute wie als eine
Selbstverständlichkeit, wie als eine absolute Wahrheit
genommen wird, was aber nur in seiner wahren Wesenheit erkannt
wird, wenn man einen Blick hat für das, was in den Seelen
der Menschen vor sich geht. Was den tieferen Beobachter am
meisten berührt, das ist die Art und Weise, wie der
moderne Proletarier über die eigentlichen geistigen
Angelegenheiten, über Sitte, Sittlichkeit, Kunst,
Religion, selbst über Wissenschaft innerhalb der
Menschheitsentwickelung redet, daß er alle diese
Dinge mit dem Ausdruck Ideologie umfaßt. Das berührt
einen am allertiefsten. Insbesondere berührt es einen
tief, wenn man vernimmt, dieser moderne Proletarier glaube sich
klar sein zu können, daß alles das, was der Mensch
denkt, was er künstlerisch ausbildet, was er
religiös empfindet, eigentlich nur wie ein aus der
menschlichen Seele heraus gebildetes Scheinbild, eine Ideologie
ist. Die wahre Wirklichkeit aber sind die wirtschaftlichen
Kämpfe, sind die ökonomischen Vorgänge;
die stellen eine Wirklichkeit dar. Das, was sie wie einen
Abglanz hineinwerfen in die menschliche Seele, das ist geistige
Entwickelung der Menschheit, das ist Ideologie. Das wirft
höchstens wiederum einige Impulse zurück in die rein
materielle Wirklichkeit des ökonomischen Geschehens. Aber
es ist auch, wenn es wieder zurückwirkt in das
ökonomische Geschehen, doch ursprünglich aus diesem
ökonomischen Geschehen herausgewachsen.
Diese Stellung zum geistigen Leben, die lebt in
der modernen proletarischen Frage als etwas viel
Wesentlicheres, als man denkt. Und warum, warum ist Kunst,
Sitte, Sittlichkeit, Religion, sonstiges geistiges Leben dem
modernen Proletarier zur Ideologie geworden? Weil er empfangen
hat von denjenigen, die früher die führenden Kreise
waren, eine Wissenschaft, die nicht mehr einen lebendigen
Zusammenhang unterhalten will zu der wirklichen Geistwelt, eine
Wissenschaft, die nicht mehr aufweist irgendeinen Impuls, der
zu wirklicher Geistigkeit führt. Eine solche Wissenschaft
kann höchstens zu abstrakten Begriffen als Naturgesetze
führen. Sie kann auch zu nichts anderem führen, als
zu einer Anschauung des Geistigen als Ideologie. Sie
zeitigt Methoden, die eben nur geeignet sind auf der
einen Seite für die rein objektive, außermenschliche
Natur, und innerhalb des Menschenlebens nur für das
wirtschaftliche Geschehen. Als der moderne Proletarier diese
Wissenschaftsrichtung übernehmen mußte, da wurde sein
Blick wie durch eine mächtige suggestive Kraft
hingelenkt auf das, worauf man durch solche Wissenschaft nur
hingelenkt werden kann, auf das Wirtschaftsleben. Und er fing
an zu glauben, daß dieses Wirtschaftsleben die einzige
Wirklichkeit sei, während die Wahrheit die ist,
daß das, was ihm die bürgerlichen Klassen als
Wissenschaft übergeben haben, eben einzig und allein sich
richten kann auf das wirtschaftliche Leben.
Das aber war ein ungeheuer Ausschlaggebendes,
denn das gab der modernen proletarischen Bewegung ihren
eigentlichen charakteristischen Impuls. Man kann sehen, wie
altes Instinktives in dieser proletarischen Bewegung noch
vorhanden war, selbst bis in die letzten Jahrzehnte des
19. Jahrhunderts hinein. Man findet da in einzelnen
proletarischen Programmen noch solche Punkte, wo gesprochen
wird von einem Bewußtsein der Menschenwürde, von der
Inanspruchnahme von Rechten, die zu solcher wahren
Menschenwürde führen. Seit den neunziger Jahren aber
sehen wir unter dem Einfluß derjenigen Impulse, von denen
ich eben gesprochen habe, wie des Proletariers und seines
gelehrten Verfechters Blick wie durch eine mächtige
suggestive Kraft bloß hingelenkt worden ist auf das
Wirtschaftsleben. Und nun glaubt er nicht mehr, daß
anderswo in einem Geistigen oder Seelischen ein Anstoß
liegen könne zu dem, was notwendig eintreten
müßte auf dem Gebiete der sozialen Bewegung. Er
glaubt allein, daß durch die Entwickelung des
ungeistigen, unseelischen Wirtschaftslebens der Zustand
herbeigeführt werden kann, den er als den
menschenwürdigen empfindet. So wurde sein Blick darauf
gerichtet, das Wirtschaftsleben selber so umzugestalten,
daß ihm genommen werde all der Schaden, der von der
privaten Unternehmung, von dem Egoismus des einzelnen
Arbeitgebers herrührt und der Unmöglichkeit des
einzelnen Arbeitgebers, gerecht zu werden den
Ansprüchen auf Menschenwürde von seiten der
Arbeitnehmer. Und so fing der Proletarier an, das einzige Heil
zu sehen in der Überführung alles
Privatbesitzes an Produktionsmitteln in
gemeinschaftlichen Betrieb oder gar gemeinschaftliches
Eigentum. Dabei liegt zugrunde das, was sich allein ergeben
konnte, wenn man gewissermaßen den Blick abgelenkt hatte
von allem Seelischen und Geistigen, wenn das Geistige rein zur
Ideologie geworden war, wenn man eine Methode hatte und
auf diese als eine rein wissenschaftliche fußte, die doch
nur hingerichtet sein konnte auf den rein ökonomischen
Prozeß.
Nun stellte sich aber eine sehr
merkwürdige Tatsache heraus, die eben zeigt, wieviel
Widerspruchsvolles in dieser modernen proletarischen Bewegung
liegt. Der moderne Proletarier glaubt, daß die Wirtschaft,
das Wirtschaftsleben selbst sich so entwickeln müsse,
daß ihm zuletzt sein volles Menschenrecht werde. Um dies
volle Menschenrecht, so wie er es anschaut, kämpft er.
Allein innerhalb seines Strebens tritt etwas auf, was eben
niemals aus dem wirtschaftlichen Leben allein als eine Folge
auftreten kann. Das ist eine bedeutende, eine eindringliche
Sprache redende Tatsache, daß geradezu im
Mittelpunkte der verschiedenen Gestaltungen der sozialen Frage
aus den Lebensnotwendigkeiten der gegenwärtigen Menschheit
heraus etwas liegt, von dem man glaubt, daß es aus dem
Wirtschaftsleben selbst hervorgehe, dieses aber niemals aus dem
Wirtschaftsleben allein hervorgehen konnte, was vielmehr in der
geraden Fortentwickelungslinie liegt, die über das alte
Sklavenwesen durch das Leibeigenwesen der Feudalzeit zu dem
modernen Arbeitsproletariat heraufführt. Wie auch
immer die Warenzirkulation, die Geldzirkulation, das
Kapitalwesen, der Besitz, das Wesen von Grund und Boden und so
weiter sich gestaltet haben, innerhalb dieses modernen Lebens
hat sich etwas herausgebildet, was nicht deutlich ausgesprochen
wird, auch von dem modernen Proletarier nicht ganz deutlich
ausgesprochen wird, was aber nur allzu deutlich empfunden
wird als der eigentliche Grundimpuls seines sozialen Wollens.
Das ist dieses: die moderne kapitalistische Wirtschaftsordnung
kennt im Grunde genommen nur Ware innerhalb ihres
Zirkulationsgebietes. Sie kennt Wertbildung dieser Waren
innerhalb des wirtschaftlichen Organismus. Und es ist innerhalb
des kapitalistischen Organismus der neueren Zeit etwas zu einer
Ware geworden, von dem heute der Proletarier empfindet: es darf
nicht Ware sein. Aber er kann sich wissenschaftlich, da sein
Blick nur auf das ökonomische Leben gerichtet ist, doch
nichts anderes sagen, als: es ist Ware. Das ist nämlich
seine eigene Arbeitskraft.
Wenn man einmal einsehen wird, daß hier
einer der Grundimpulse der ganzen modernen sozialen Bewegung
liegt, daß in den Instinkten, in den unterbewußten
Empfindungen des modernen Proletariers ein Abscheu davor lebt,
daß er seine Arbeitskraft dem Arbeitsunternehmer ebenso
verkaufen muß, wie man auf dem Markte Waren verkauft,
daß er einen Abscheu empfindet, daß auf dem
Arbeitskräftemarkt nach Angebot und Nachfrage seine
Arbeitskraft ihre Rolle spielt, wie die Ware auf dem Markte
unter Angebot und Nachfrage, wenn man darauf kommen wird,
daß dieser Abscheu vor der Ware Arbeitskraft der
eigentliche Grundimpuls der modernen sozialen Bewegung
ist, wenn man ganz unbefangen darauf blicken wird, daß
dies eindringlich und radikal auch von den sozialistischen
Theorien nicht hinlänglich ausgesprochen wird, dann wird
man den Punkt gefunden haben, von dem ausgegangen werden kann
in dem, was sich heute so drängend, ja brennend erweist
mit Bezug auf die soziale Bewegung.
Im Altertum gab es Sklaven. Der ganze Mensch
wurde wie eine Ware verkauft. Etwas weniger vom Menschen wurde
verkauft, aber noch immer nahezu der ganze Mensch, in der
Leibeigenschaft. Das Kapital ist die Macht geworden, die noch
etwas vom Menschen als eine Ware in Anspruch nimmt,
nämlich seine Arbeitskraft. Die Methoden müssen
gesucht werden, durch die getrennt werden kann von der
übrigen Warenzirkulation die Ware Arbeitskraft. Man
wird erst durchschauen, was hinter dieser Tatsache steckt, wenn
man nicht suggestiv auf das Wirtschaftsleben hinsieht, das nach
ganz anderen Methoden begriffen werden muß als der
Mensch selber, wenn man wissen wird, daß nicht aus diesem
Wirtschaftsleben heraus, sondern aus einem ganz anderen
Erleben im sozialen Organismus herausfließen
muß die Art, wie die menschliehe Arbeitskraft dem
Charakter der Ware entzogen werden könne. Man wird
einsehen müssen — und geisteswissenschaftliche
Forschung wird dazu die Grundlage geben — , daß der
Glaube falsch ist, man könne durch die Betrachtung des
bloßen Wirtschaftssystems, auf das allein die
naturwissenschaftliche Methode paßt, die Wege
herausfinden, wie die Arbeitskraft des einzelnen Menschen in
den sozialen Organismus sich eingliedern könne. Erst wenn
man verstehen wird, daß der Glaube, Arbeitskraft
gehöre dem wirtschaftlichen System an, dem anderen Glauben
gleicht, dem man sich hingibt, wollte man, was im
menschlichen Lungen- und Herzsystem, im
Zirkulationssystem vor sich geht, in gleicher Art betrachten
wie das, was im Nervensystem des Kopfes vor sich geht, ist man
auf dem rechten Weg. Das Nerven- und Sinnessystem, wie es im
Kopfe zentralisiert ist, ist im menschlichen Organismus ein
eigenes, für sich bestehendes, selbständiges Glied.
Was als Lungen- und Herzsystem, als Zirkulationssystem
vorliegt, ist wiederum ein für sich bestehendes,
selbständiges Glied. Ebenso das Stoffwechselsystem. Das
Genauere können Sie in meinem Buch «Von
Seelenrätseln» nachlesen. Das ist das
Charakteristische im menschlichen Organismus, daß seine
Systeme gerade dadurch ihre rechte Entfaltung und Wirksamkeit
entfalten, daß sie nicht zentralisiert sind, sondern
daß sie nebeneinander bestehen und frei
zusammenwirken. Kann man heute nicht einmal in dieser
umfassenden, eindringlichen Weise den menschlichen Organismus
begreifen, so kann man mit der Wissenschaft, die noch
nicht reformiert ist, die aber in geisteswissenschaftlichem
Sinne reformiert werden muß, den sozialen Organismus erst
recht nicht verstehen. Man glaubt heute, der menschliche
Organismus ist etwas Zentralisiertes, während er eine
Dreigliedrigkeit ist.
Und so ist auch der soziale Organismus eine
Dreigliedrigkeit. Was heute unter einer mächtigen
Suggestion als einziger sozialer Organismus angesehen
wird, das Wirtschaftssystem, das ist nur ein Glied. Ein anderes
Glied ist dasjenige, aus dem heraus entspringen muß das
Verständnis für die Funktion der menschlichen
Arbeitskraft in der ganzen Struktur des sozialen Organismus.
Die beiden Systeme müssen nebeneinanderstehen. Und
der Charakter der Ware wird der Arbeitskraft nur im falschen
neuzeitlichen Denken verliehen.
Und dieses engherzige neuzeitliche Denken, das
hat auf der anderen Seite das dritte, das sich selbständig
in den ganzen sozialen Organismus hineinstellen muß, das
geistige Leben, zur bloßen Ideologie gemacht. Die
theoretische Ansicht, daß das Geistige bloß Ideologie
ist, sie ist das Ungefährlichste. Das Wichtigste ist,
daß in einem Menschen, der die Anschauung hat, das
Geistige wurzele nicht in einer allen Dingen
zugründe liegenden geistigen Wirklichkeit, sondern
in einer bloßen Ideologie, nicht die geistige
wirkliche Stoßkraft vorhanden sein kann. Ein solcher
Mensch hat kein Interesse daran, dem geistigen Leben seine
richtige Rolle in der Welt zuzuerteilen.
Betrachtet man gerade nach den
Lebensnotwendigkeiten der neueren Zeit das, was sich auf dem
Gebiete des proletarischen Bewußtseins abgespielt
hat, so findet man, daß man nicht einen Einblick gewinnen
konnte in die drei Glieder des sozialen Organismus. Der ist
einem verlorengegangen. Nach Verstaatlichung strebt man,
weil man glaubt, daß ein einziger sozialer
Organismus alles übernehmen könne.
Geisteswissenschaftliches Bewußtsein
muß einen weiteren Horizont eröffnen, als heute
selbst in dieser brennenden Zeit von berufenen
Führern oftmals gegeben wird mit Bezug auf die
soziale Frage. Es muß hingewiesen werden darauf,
daß nicht nur Neues gewollt werden soll, sondern
daß wir nötig haben, neu zu denken, daß wir
nötig haben nicht nur eine wissenschaftliche Betrachtung
des sozialen Lebens, welche die traditionelle
Wissenschaft übernimmt, sondern daß wir nötig
haben den Neuaufbau einer Wissenschaft, die neue Gedanken, die
erst Wirklichkeitsgedanken sein werden vom sozialen
Organismus, in das Bewußtsein der Menschheit
hineinbringt.
Das wird dazu führen müssen, daß
die Gründe für soviel Unglück in der neueren
Zeit einmal durch das Menschheitsbewußtsein beseitigt
werden. Auch derjenige, der nicht theoretisch, sondern aus dem
Leben heraus wirkt, wie ich glaube, es auch in dieser Stunde
getan zu haben, auch der wird heute abgefertigt und
unschädlich gemacht zumeist von denjenigen, die sich die
eigentlichen Praktiker denken, indem sie sagen: Ach, von
solchen theoretischen Sachen kommt doch nichts irgendwie
Ersprießliches in die Welt. Diese
«Lebenspraktiker», die die wahren Abstraktlinge
sind, diese Lebenspraktiker, deren Praxis in nichts anderem
besteht als in der Beschränkung ihres Sinnes auf die
engste Grenze, diese Lebenspraktiker sind es, die vielfach das
Unglück und die Katastrophe der neueren Zeit
herbeigeführt haben. Werden sie weiter wirtschaften
können auf allen Parteirichtungen, wird das Unglück
nicht zu Ende gehen, wird das Unglück sich nur ins
Unermeßliche erweitern. Die wirklichen
Lebenspraktiker müssen ihre gebührende Stellung in
der öffentlichen Wirksamkeit erhalten, diejenigen, die von
den Entwickelungs-möglichkeiten sprechen, die im sozialen
Organismus räumlich und in der zeitlichen Entwickelung
liegen, wie zum Beispiel im einzelnen menschlichen Organismus.
Diese wahren Lebenspraktiker, die aus der tiefer liegenden
Wirklichkeit heraus sprechen, die sind es, auf welche in
Wahrheit heute gerechnet werden sollte. Sie sind es, die nicht
zu verzweifeln brauchen an ihrem eigenen Wissen. Sie
sehen allerdings zu ihrem Leidwesen und zu ihrem Bedauern, wie
das, was die Lebenspraktiker, auch die sozialistischen
Lebenspraktiker, auf der anderen Seite einzig und allein tun zu
müssen glauben, wie das nirgends zu etwas anderem
als zum Raubbau des Lebens führen kann. Derjenige, der aus
dem Geiste heraus als Lebenspraktiker wirken will, will aus der
Wirklichkeit für lebensfähige Wirklichkeit
streben.
In welchem Sinne Lösungsversuche sich
ergeben können für die Fragen, die ich versucht
habe, heute aus den neueren Lebensgewohnheiten heraus in einer
wahren Gestalt darzustellen, wie daraus
Lösungsversuche sich ergeben können auf
Grundlage einer Wirklichkeitsuntersuchung des sozialen
Lebens und der gesellschaftlichen Struktur der Menschheit,
davon werde ich mir dann erlauben, übermorgen hier zu
sprechen.