VIERTER VORTRAG
Stuttgart, 14. Juli 1923
Ja,
meine lieben Freunde, ich möchte zur Ergänzung des
Gestrigen nur noch etwas sagen, was ich eigentlich schon
gestern habe vorbringen wollen, aber die Zeit war zu kurz. Es
handelt sich darum, gerade bei dieser Gelegenheit einmal
hinzuweisen auf das Verhältnis, das wir allmählich
zur Bibel gewinnen müssen. Die Bibel, namentlich das Neue
Testament, ist ja ein Dokument, das wir wieder lernen
müssen als eine Art übersinnlicher Offenbarung
aufzufassen, nicht im dogmatischen Sinne, sondern indem man
sich zu der Erkenntnis durchringt, daß die religiösen
Dokumente, wenn sie aus der Zeit bis etwa in das vierte
nachchristliche Jahrhundert hinein stammen, nicht allein
menschlichen Ursprungs sind, sondern durchaus hineinergossen
wurden in ein Menschheitsbewußtsein, das von sich aus noch
nicht hätte die betreffenden Erkenntnisse haben
können. Ich möchte sagen, Sie brauchen die Sache nur
bis zu diesem Punkte zu nehmen, daß die Menschheit eben
ausgeht von einer Art atavistischen, instinktiven
Bewußtseins, in das Bilder der mannigfaltigsten Art
über die höchsten geistigen Dinge und Vorgänge
hineinfallen konnten; aber das, was diese Bilder trägt,
ist nicht etwas, was aus dem menschlichen Bewußtsein
selbst konzipiert, gestaltet sein konnte.
Und
so ist es gekommen, daß gerade in der Zeit, als der
Intellektualismus maßgebend wurde, die religiösen
Dokumente in vieler Beziehung ja mißverstanden worden
sind. Es wurde an sie herangegangen mit dem
intellektualistischen Denken, und es war im Grunde genommen
ganz natürlich, daß bei allem guten Willen da
zunächst Mißverständnisse eintreten mußten.
So ist es gekommen, daß die gegenwärtig vorliegenden
Texte, wenn sie in den heute üblichen Landessprachen
geschrieben sind, ja nicht die ursprünglichen Dokumente
wiedergeben, weil die Landessprachen aus einer
Intellektualität heraus gearbeitet haben, die dem ganzen
ursprünglichen Elemente, das in den religiösen
Dokumenten enthalten war, etwas Fremdes ist.
Wenn zurückgegangen wird auf die Grundsprache der
religiösen Dokumente, insbesondere auf das Neue Testament,
so liegt auch das vor, daß diese Grundsprache mit der
heutigen Seelenverfassung nicht mehr in der rechten Weise
empfunden wird. Und so ist wirklich eine Art
Unwahrhaftigkeitselement in die Auffassung der religiösen
Urkunden, auch des Neuen Testamentes, hineingekommen. Man darf
gar nicht hoffen, daß ein Fortsetzen von
Übersetzungen in dem Sinne, wie sie bisher gepflogen
worden sind, zu etwas Besserem führen kann, sondern es
muß sich darum handeln, erst die Vorbedingungen zu finden,
um in einer Art Wiederauferweckung der alten Geistigkeit den
Sinn der religiösen Dokumente wirklich zu erfassen. Das
können wir, das kann im Grunde jeder, der sich die
nötige Mühe gibt, die heute erforschbaren
geisteswissenschaftlichen Tatsachen, sagen wir zunächst
auf das Neue Testament anzuwenden.
Davon möchte ich nur eine kleine Probe geben, und zwar von
einer der wichtigsten Stellen des Neuen Testamentes. Ich
möchte vorher nur betonen, daß ja die Darstellungen
des Neuen Testamentes sich beziehen auf eine historische
Tatsache, daß die Darstellungen des Neuen Testamentes sich
nur verstehen lassen, wenn man sich darüber klar ist,
daß die Tatsache des Mysteriums von Golgatha sich ganz
hineinstellte in die übrige geschichtliche Entwickelung
der Menschheit, aber als eine solche Tatsache, die
herausfällt aus den übrigen Gesetzen der Menschheit.
Das Mysterium von Golgatha ist eine ganz singuläre
Tatsache, die nicht aus den historischen Untergründen
heraus zu verstehen gesucht werden soll, sondern die an sich
und für sich begriffen werden soll. Dann, wenn man diese,
ich möchte sagen überhistorische Tatsache, diese
kosmische Tatsache nun in Zusammenhang bringt mit demjenigen,
was man geisteswissenschaftlich über die Entwickelung der
Menschheit kennenlernen kann, dann beginnt man eigentlich erst
den tiefen Sinn der Worte, der Satzprägung des Neuen
Testamentes zu erfassen. Wenn man das nicht tut, kommt ein zu
starker Ton des Trivialen in das Neue Testament hinein. Wir
brauchen uns nur an mancherlei zu erinnern, was aus dem
Bestreben hervorgegangen ist, die Bibel möglichst so
aufzufassen, daß man überhaupt zu ihrer Erfassung
keiner Vorbereitung bedarf und sagt, man fasse sie
einfältig, primitiv auf. Man braucht sich nur dieser
Tatsache zu erinnern, um zu ermessen, wie stark die Abneigung
war, das Neue Testament in seiner vollen Tiefe zu erkennen.
Bedenken Sie, meine lieben Freunde, daß das Mysterium von
Golgatha, im richtigen Sinne genommen, als ein für die
Erde bestimmter Gnadenakt aus höheren geistigen Welten
sich vollzogen hat in einer bestimmten Zeit, in der ein
gewisser Teil der Menschheit übergegangen ist von einem
vorher entwickelten Bewußtseinszustand in einen
nachherigen. Die Zeit des Mysteriums von Golgatha fällt
ganz damit zusammen, daß die Menschheit als sich
fortentwickelnde Wesenschaft aufsteigt zu dem Erleben der
inneren Ich-Tatsache. Das Ich kommt allmählich in der
Menschheit herauf in der Zeit, in die das Mysterium von
Golgatha fällt. Nicht dürfen wir einen Zusammenhang
zwischen diesen beiden Tatsachen suchen, sei es einen kausalen
oder einen sonstigen Zusammenhang. Wir können nur einen
solchen Zusammenhang sehen, wie es etwa derjenige ist, wenn
irgend jemand sieht, wie etwas sich abspielt, und dazu etwas
aus völlig freiem Willen tut. Das Mysterium von Golgatha
kommt als eine Tatsache kosmischer Freiheit zu dem hinzu, was
sich innerhalb der Menschheitsentwickelung so ergeben hat,
daß das Ichbewußtsein auftaucht. Nun, Sie kennen ja
die übrigen wichtigen Tatsachen, die mit diesem
Heraufkommen des Ichbewußtseins verknüpft sind. Aber
nun kommt etwas Besonderes hinzu. Es ist notwendig zu wissen,
daß diesem Sicheingliedern des Ichbewußtseins in die
sich entwickelnde Menschheit vorangegangen ist ein Zustand, wo
der Mensch bei jeder Gelegenheit seines Erlebens im
Bewußtsein heraufgeschaut hat zu den Göttern, oder,
wo Monotheismus war, zu demjenigen Gott, der uns dann geblieben
ist in der Vorstellung des Vatergottes. Solange wir in der
Vorstellung des Vatergottes stehen, ist diese Vorstellung damit
zu erfüllen, daß wir sagen: Wenn der Mensch auf der
Erde sich als Ich-Wesenheit bewußt ist, so fühlt er
das, was in seinem Ich liegt, als das Hereinwirken des
Vatergottes in seine Seele. Der Vatergott träufelt
gewissermaßen einen Tropfen seines eigenen Wesens, der
aber im Zusammenhang bleibt mit dem ganzen Meere der
Geistigkeit des Vatergottes, in die Wesenheit des einzelnen
Menschen, und der einzelne Mensch kann sich dann sagen: Es lebt
in mir der Vatergott, es lebt die ganze Fülle des
Vatergottes in mir. Aber es lebt die ganze Menschheit in dem
Durchdrungensein mit der Wesenheit des Vatergottes. Dies als
ein Gegenwärtiges zu erleben, das heißt, sich zu
sagen: Ich bin!, das ist: Der Vatergott ist in mir. Dies als
Gegenwärtiges zu erleben, wurde der Menschheit
allmählich unmöglich. Sie mußte zu einem eigenen
Ich kommen, das aus dem eigenen Bewußtsein heraus der Form
nach produktiv ist. Und dieses Produktive des eigenen Ichs war
im Zusammenhange mit der ganzen kosmisch-geistigen Welt nur
möglich, wenn sich der einzelne Mensch mit dem Christus
identifizierte, also mit dem Sohnesgott.
Was
kann man also sagen über das Verhältnis der
Christusbegnadeten Menschheit zu der noch nicht mit Christus
begnadeten Menschheit? Wenn die noch nicht mit dem Christus
begnadete Menschheit zurücksah auf das Bewußtsein,
also auf die eigene Wesenheit der Seele, konnte sie dann sagen:
Ich bin als einzelner mit dem Ich begabt? Nein, die Seele
konnte sich nur sagen: In mir lebt der Vatergott, und daß
er in mir lebt, das bewirkt, daß ich zu mir Ich sagen
kann. Der einzelne war noch nicht vollkommen individualisiert,
der einzelne war ein Kind des Vatergottes, aber so, daß
das Kind gewissermaßen noch durch eine Art Nabelschnur
zusammenhing mit dem Vater. Das aber, was die Seele haben
konnte, wenn sie sich dieses ihres göttlichen Inhaltes
bewußt wurde, konnte sie nachher nicht mehr haben. Und die
Christus-begnadete Menschheit bekam das so, daß jeder aus
seinem einzelnen Seelenwesen heraus in sein Ich diese Substanz
aufnehmen konnte.
So
brachte der Christus den Menschen auf Erden dasselbe, was der
Menschheit auf Erden der Vatergott gegeben hat, aber er brachte
es auf eine neue Weise, so daß jeder es nun mit seinem aus
sich selbst herausquellenden Ich verbinden konnte. Und so
konnte der Christus der Menschheit sagen: Ich bringe euch, was
ihr gewohnt seid, aus dem Logos zu erkennen, aber ich bringe es
euch auf eine neue Weise. Ich bringe es euch so, daß der
Vatergott mir das übergeben hat, was er euch vorher direkt
gegeben hat, aber für einen anderen
Bewußtseinszustand. Als sein Gesandter bringe ich euch den
Schatz des Vaters, für jedes einzelne Bewußtsein von
euch, für jede einzelne Individualität von euch. Ich
will euch nicht mehr nur zu Menschen machen, die
gewissermaßen ein Glied im ganzen Kosmos sind, ich will
vermöge der Vollmacht, die mir der Vatergott gegeben hat,
jeden einzelnen von euch, wenn er kommen will, zu einem
gotterfüllten Menschen machen. Diejenigen, die so der
Vatergott mir übergibt als einzelne, die erfülle ich
mit dem Gottes-Bewußtsein.
Daß also die Art, wie das Gottes-Bewußtsein zu den
Menschen kommen sollte, eine andere ist als sie früher
war, das ist das Wesentliche des Mysteriums von Golgatha. Daher
ist es auch so, daß die Worte des Evangeliums durch das
Mysterium von Golgatha einen ganz anderen Sinn bekommen. Es ist
zum Beispiel durchaus möglich, von dem Inhalt des
Vaterunsers einzelne Teile in früheren
Entwickelungsstadien der Menschheit nachzuweisen. Aber auf den
Inhalt kommt es in diesem Fall nicht an, sondern darauf,
daß in anderer, in neuer Weise der mit dem
Ichbewußtsein erfüllten Seele das Vaterunser mit
denselben Worten, mit denselben Sätzen gegeben wird.
Dieses Hineindringen in die geistigen Kräfte der
Geschichte wird uns wiederum möglich, wenn wir selbst
geistig forschen können. Das ist es, was uns
zurückbringt zu dem ursprünglichen Sinn der
Evangelien. Dieser ursprüngliche Sinn muß heute
herauskommen. Die Menschheit darf nicht weiter mit
mißverstandenen, das heißt mit nicht hoch genug
genommenen Evangelien[übersetzungen] abgespeist werden.
Man muß sich schon überwinden, die Sache so
aufzufassen, daß man sich einmal fragt: Kann man, wenn man
ganz ehrlich ist in seiner Seele, heute noch einen Sinn
empfinden bei den Worten in Johannes 17, Vers l bis 9?
Nun, meine lieben Freunde, darüber kann allerlei gesagt
und nachgesagt werden, wenn man über die Tatsache
hinweggehen will, daß damit nicht wirklich in deutlicher
Weise ein Sinn getroffen wird. Auf künstliche Art [des
Kommentierens] läßt sich mit dieser Rede kein Sinn
verbinden. Eigentlich nur durch den Glauben läßt sich
damit ein Sinn verbinden. Denn auf etwas Reales stößt
man nicht, wenn man diese Sätze [in einer der
üblichen Übersetzungen] vor sich hat. Dagegen wenn
man den Versuch macht, mit Empfindung des [ursprünglichen]
Textes ganz wörtlich den Text in deutscher Sprache
wiederzugeben, so kommt ein tieferer Sinn hinein, und man darf
nicht, man kann gar nicht sagen, wenn man ehrlich ist mit sich
selbst, es wäre dadurch der einfältige Sinn dieser
Rede, der für jedes gewöhnliche menschliche
Gemüt verständlich sei, künstlich kommentiert
worden. Man kommt nämlich darauf, daß dieser
vertieftere Sinn wirklich der ursprüngliche ist, und von
dieser Tatsache muß man ausgehen.
Es
mag ja dem heutigen Menschen lieber sein, daß man einen
solchen Sinn im Evangelium nicht zu suchen habe. Aber man kommt
nicht über die Tatsache hinweg, daß dieser tiefere
Sinn eben doch darinnen ist und wir ihn eben herausholen
müssen. Wir können nicht anders. Es wäre eine
subjektive Phantasie, wenn wir sagen wollten: Interpretiert
nichts in das Evangelium hinein, wir wollen bei seinem
einfältigen Inhalt bleiben. Das ist eben das
Interpretieren. Wenn wir einfach zu dem Sinn zurückgehen,
der in ganz nüchterner Weise da ist, so kann ich nicht
anders, als ihn etwa in der folgenden Weise wiedergeben:
Nachdem Jesus dieses geredet hatte, erhob er seine Augen zum
Himmel und sagte: Vater, die Stunde ist gekommen, offenbare es
Deinem Sohne, auf daß Dein Sohn es von Dir offenbare, wie
Du ihm Macht über alles Fleisch gegeben hast, damit er den
ihm zu eigen Gegebenen das dauernde Leben gebe. Das aber ist
das dauernde Leben, daß sie Dich als den einzig wahren
Gott erkennen und Jesus Christus als den Abgesandten. Ich habe
Dich auf Erden geoffenbaret, um zum Ziele zu bringen das Werk,
das Du mir zu tun auferlegt hast. Und nun offenbare mich,
Vater, mit der Offenbarung, die mir durch Dich ward, ehe die
Welt bestand. Ich habe [Dich] zur Erscheinung gebracht für
die Menschen, welche Du mir aus der Welt zugeteilt hast. Dein
waren sie und Du gabst sie mir, und sie sind von Deinem Worte
erfüllt geblieben.
So
haben sie erkannt, wie alles, was Du mir gegeben hast, aus Dir
ist. Denn die Gedankenkräfte, die Du mir gegeben hast,
habe ich zu ihnen gebracht. Sie haben sich mit ihnen verbunden
und durchschaut, daß ich von Dir komme und eingesehen,
daß Du mich ihnen gegeben hast. Für sie als einzelne
Menschen, nicht für die Menschen im Allgemeinen, bitte ich
bei Dir, nur für die Menschen, die Du mir gegeben hast,
weil sie durch Dich sind. -
Nun
liegt in der ganzen Darstellung dasjenige, was ich Ihnen vorher
gesagt habe, und es ist nichts anderes, meine lieben Freunde,
als daß die geistigen Entwickelungstatsachen der
Menschheit in den Evangelien wiedergegeben sind. Man kann die
Evangelien eben gerade in ihrer Richtigkeit finden, wenn man
auf die geistigen Tatsachen darin gekommen ist. Und damit
entsteht eben das Bewußtsein, das, ich möchte sagen,
das richtige Licht zu werfen vermag auf die Worte. Nicht wahr,
es ist ganz gewiß von mir nicht die Sucht, eine eitle
Kritik zu üben, wenn ich sage, es ist nicht möglich,
das Wort zu sagen: «Vater, die Stunde ist hie, daß Du
Deinen Sohn verklärest, auf daß Dich Dein Sohn auch
verkläre.» Wenn man ehrlich ist, muß man sagen:
Damit ist eigentlich gar nichts gesagt, wenigstens nicht von
der Art, daß man einen mit dem menschlichen Herzen
ergreifbaren Sinn darinnen haben könnte. Dagegen kommt
selbstverständlich ein richtiger Sinn heraus, wenn man
nach dem griechischen Texte sagt: «Vater, die Stunde ist
gekommen, offenbare es Deinem Sohne ...» also die Bitte an
den Vater, er solle dem Sohne offenbaren. Die
ist keine Verklärung, die
ist ein Offenbaren, ein Bekanntgeben, ein
Zur-Erkenntnis-Bringen, und so ist es hier gemeint: «...
auf daß Dein Sohn es von Dir offenbare.» Die
Vermittlung des Vater-Inhaltes durch die Kraft des Sohnes kommt
da in den Worten unmittelbar zum Ausdruck in naiver Anschauung.
Vorher hatten die Menschen auf die geschilderte Art die
Substanz des Vatergottes in sich. Nun hat der Vatergott den
Sohn dazu gebracht, daß der Sohn den Inhalt an die
Menschheit vermittelt. Das steht wirklich da und es ist gar
nicht zu leugnen, daß es da steht: «... wie Du ihm
Macht über alles Fleisch gegeben hast ...» der
Ausdruck «Fleisch» ist schwer zu übersetzen, da
er falsch verstanden wird durch die gewöhnliche Sprache.
Eigentlich müßte man sagen: «... wie Du ihm
Macht über alle Menschenleiber gegeben hast, damit er den
ihm zu eigen Gegebenen das dauernde Leben verleihe.» Wenn
man bedenkt, daß ja die Tatsache vorliegt, daß
früher die menschlichen Leiber so waren, daß sie von
der ursprünglichen Bewußtheit erfaßt wurden, die
noch gotterfüllt war und damit das dauernde Leben bekamen,
so sieht man ein, daß, weil jetzt nicht mehr das
Bewußtsein von der Kraft erfüllt ist, die Leiber in
die Seele nichts zurückreflektieren können, was
dauerndes Leben verleiht. Darum ist der Christus der Menschheit
gesandt worden. «Das aber ist das dauernde Leben, daß
sie Dich als den einzig wahren Gott erkennen und Jesus Christus
als den Abgesandten. Ich habe Dich auf Erden geoffenbaret, um
zum Ziele zu bringen das Werk, das Du mir zu tun auferlegt
hast. Und nun offenbare mich, Vater, mit der Offenbarung, die
mir durch Dich ward, ehe die Welt bestand. Ich habe [Dich] zur
Erscheinung gebracht für die Menschen, welche Du mir aus
der Welt zugeteilt hast. Dein waren sie und Du gabst sie mir,
und sie sind von Deinem Worte erfüllt geblieben.»
Christus Jesus hat bewirkt, daß das Wort nicht erstorben
ist in den Menschen, daß der väterliche
Substanzinhalt den Menschen geblieben ist. Wenn das Mysterium
von Golgatha nicht gewesen wäre, so hätten die
Menschen ihren Inhalt vergessen. Der Vater wäre vergessen
worden, wenn der Sohn nicht die Gegenwart des Vaters
aufrechterhalten hätte. «So haben sie erkannt, wie
alles, was Du mir gegeben hast, aus Dir ist. Denn die
Gedankenkräfte, die Du mir gegeben hast, habe ich zu ihnen
gebracht. Sie haben sich mit ihnen verbunden und durchschaut,
daß ich von Dir komme und eingesehen, daß Du mich
ihnen gegeben hast. Für sie als einzelne Menschen, nicht
für die Menschen im Allgemeinen, bitte ich bei Dir, nur
für die Menschen, die Du mir gegeben hast, weil sie durch
Dich sind.» Ich setze hierher «für die Menschen
im Allgemeinen» statt «für die Welt». Das
wird nicht mehr verstanden. Es ist eben auf dieses geistige
Verbundensein hingewiesen, was damals gangbare Vorstellung war:
Für sie als einzelne Menschen, nicht nur für die
Menschen im allgemeinen.
Wahrhaftig, das Neue Testament wird dadurch, daß man
seinen Inhalt ergreift, nicht weniger schön, groß und
erhaben. Das gehört auch zum richtigen Sichhineinstellen
in die Gegenwart, in das geistige Leben der Gegenwart, in eine
religiöse Bewegung der Gegenwart, daß man einfach
wieder zurückgeht zu der Wirklichkeit im Evangelium. Wie
oft ist die Forderung aufgetaucht, man müßte wieder
zu dem ursprünglichen Christentum zurückkehren. Das
scheiterte eben daran, daß man nicht erreichen konnte
darauf auszugehen, den Logos in seiner Urbedeutung zu ergreifen
und sich wieder und wieder mit der menschlichen Bequemlichkeit
tröstete, daß man die Evangelien eben mehr in dem
einfältigen Inhalte hinnehmen müsse. Aber der
einfache Inhalt würde ja nicht mehr verwischt werden, wenn
man einfach auf das eingeht, was dasteht. Wir dürfen nicht
vergessen, meine lieben Freunde, daß die Worte ja im Laufe
der Zeit ihre Gefühlswerte wesentlich ändern. Es ist
nicht möglich, einfach lexikographisch ein Wort aus einer
alten Sprache herüberzunehmen. Schon wenn man jetzt in der
Gegenwart etwas einfach lexikographisch übersetzt, bekommt
man ganz andere Inhalte heraus. Das ist noch mehr der Fall,
wenn man Dinge der Vergangenheit übersetzt. Es kommt ja
nicht darauf an, den Gefühlswert, der in der Gegenwart bei
einem Worte da ist, unmittelbar an das anzulehnen, was im
Wortlaute des alten Wortes liegt, sondern die Aufgabe ist die,
zurückzugehen zu dem Gefühlsinhalte des alten
Wortlautes. Da können wir überall im Neuen Testament
die Tatsache finden, daß die Evangelien gesprochen sind zu
einer Zeit, als die Offenbarung desjenigen, was vom geistigen
Kosmos aus Gnade für die Menschheit geschehen ist, aus dem
noch nicht voll entwickelten Ichbewußtsein in das
vollentwickelte Bewußtsein der Ichheit übergegangen
ist. Alle übrigen Tatsachen müssen nach dieser
Grundtatsache beurteilt werden. Man darf nicht bei Vorurteilen
stehenbleiben und sagen, die Jünger, die als einfache
Menschen aus den niedersten Ständen hervorgegangen sind,
konnten einen solchen Sinn nicht erfassen. Wenn der Sinn der
Evangelien einfach aufzufassen ist, so müssen wir
andererseits die wunderbare Tatsache enthüllen: Wie sind
diese einfachen Menschen dazu gekommen, den Evangelien diesen
tiefen Sinn zu geben? Das ist viel geistiger, als wenn man
sagt, diese einfachen, aus dem Volke hervorgegangenen Menschen
hätten einen solchen Sinn gar nicht erfassen können.
Eine solche Auffassung beruht auf einem anderen Vorurteil.
Ich
weiß nicht, ob Sie es erlebt haben vielleicht die
Älteren unter Ihnen. Wenn Sie vor vierzig Jahren mit einem
liebenden Herzen unter das Landvolk gegangen sind, dann konnte
man die folgende Erfahrung machen. Man ging als Gebildeter
hinaus, als ungeheuer gescheit sich Fühlender, und sprach
mit den Leuten über das, was man gelernt hatte. Da konnten
sie nicht mit. Aber ging man mit ihnen mit, so entdeckte man
unter diesen einfachen Leuten eine ungeheuer tiefe Weisheit,
die das überstrahlte, was man selbst mitgebracht hatte.
Die Weisheit der naiven Leute ist nämlich eine tiefere als
die der Gebildeten. Die Theorie von der Einfältigkeit des
primitiven Menschen ist eben eine Theorie der
intellektualistisch Gebildeten. Was zum Beispiel Jakob
Böhme gemeint hat mit manchen seiner Sätze, das
konnte man vor vierzig Jahren noch eher von manchem
Kräutersammler lernen als heute im
Universitätskolleg. Das ist nicht zu leugnen. Und wie treu
manchmal alte Texte wiedergegeben werden, davon wird Ihnen Herr
Professor Beckh ein Lied singen können in bezug auf
Sanskrit und andere orientalische Texte. Man wird nicht zu weit
gehen, wenn man sagt: Was in der indischen Philosophie
enthalten ist, das ist nicht wiederzuerkennen in den
Übersetzungen, die zum Beispiel Deußen gemacht hat,
weil man, wenn man auf den ursprünglichen menschlichen
Inhalt der Sache gehen will, das, was in Deußens
Übersetzungen steht, einfach wie bloße
Wortzusammensetzungen, wie bloße Worthülsen
empfindet, in die man überhaupt keinen Sinn mehr
hineinbringt. Diese Dinge sind ungeheuer ernst und hängen
mit tiefernsten Fragen unserer Zeit zusammen. Deshalb wollte
ich wirklich nicht versäumen, unsere Zusammenkunft noch
mit dieser Betrachtung zu beschließen, weil ich glaube,
daß sie Sie hinweisen kann auf etwas, was gerade im
gegenwärtigen Augenblicke notwendig ist.
Ich
hoffe, daß sich das erfüllen kann, wovon ich gestern
sprach, daß für die religiöse Bewegung die
Menschenweihehandlung die tiefste und fortdauernde Tatsache
sein wird, daß sie nicht bloß bildhaft ist, sondern
ein Lebendiges werden muß, das sich fortentwickelt, wie
das Leben sich fortentwickelt, und das fähig bleibt, immer
neu und reicher zu werden. Und ich hoffe, daß wir
zusammenarbeiten können an dieser lebendigen
Fortentwickelung desjenigen, was wir ja so hoffnungsvoll
begonnen haben.
Werner Klein spricht im Schlußwort den Wunsch aus,
daß der gute Wille zur Arbeit so stark bleiben wird,
daß man übers Jahr sich wieder versammeln kann und
den Rat Dr. Steiners erbitten darf.
Rudolf Steiner: Wir wollen es hoffen und in unseren
Herzen so halten.
|