Rudolf Steiner:
Philosophie und
Anthroposophie
(1908)
Erschienen in:
Philosophie und
Anthroposophie
Gesammelte
Aufsätze 1904 – 1918
GA 35
|
Search
for related titles available for purchase at
Amazon.com!
|
Thanks to the donation of Christian Clement, this Essay has been made available.
Vorbemerkung
Die folgenden Ausführungen über
"Philosophie und Anthroposophie" sind im wesentlichen die Wiedergabe
eines Vortrages, den ich 1908 in Stuttgart gehalten habe. Unter Anthroposophie
verstehe ich eine wissenschaftliche Erforschung der geistigen Welt, welche die
Einseitigkeiten einer bloßen Natur-Erkenntnis ebenso wie diejenigen der
gewöhnlichen Mystik durchschaut, und die, bevor sie den Versuch macht, in die
übersinnliche Welt einzudringen, in der erkennenden Seele erst die im
gewöhnlichen Bewußtsein und in der gewöhnlichen Wissenschaft noch nicht tätigen
Kräfte entwickelt, welche ein solches Eindringen ermöglichen. - Eine solche
Geisteswissenschaft gilt der anerkannten Philosophie zumeist als eine
dilettantische Betrachtungsart. Durch eine kurze Darstellung des
Entwicklungsganges der Philosophie versuche ich, zu zeigen, daß dieser Vorwurf
völlig unberechtigt ist, und daß er nur erhoben werden kann, weil die
gegenwärtige philosophische Betrachtungsart sich in Irrwege verrannt hat, die
es ihr, wenn sie sie nicht verläßt, unmöglich machen, zu erkennen, daß ihre
eigenen, wahren Ausgangspunkte von ihr die Verfolgung des Weges fordern, der
zuletzt zur Anthroposophie führt.
Rudolf Steiner
Ein gesund ausgebildetes Seelenleben kommt
ganz naturgemäß an zwei Klippen, deren Widerstand es überwinden muß, wenn es
nicht wie ein führerloses Schiff sich auf dem Lebenspfade treiben lassen will.
Ein solches Treibenlassen bringt zuletzt Unsicherheit in das eigene Innere und
endet in eine irgendwie geartete Lebensnot; oder auch es benimmt dem Menschen
die Möglichkeit, sich im Sinne der wahren Daseinsgesetze in die Weltordnung einzuleben
und macht ihn so zu einem störenden, nicht zu einem fördernden Gliede dieser
Ordnung.
Eine derjenigen Kräfte, durch die der Mensch
die Möglichkeit der inneren Sicherheit in der Lebensentwickelung und der
wesenswahren Einordnung in das Dasein gewinnen kann, ist die Erkenntnis, die in
bezug auf den Menschen Selbsterkenntnis werden muß.
Der Trieb nach Selbstkenntnis ist in jedem
Menschen. Er kann mehr oder weniger unbewußt bleiben; aber er ist immer
vorhanden. Er kann sich äußern in ganz unbestimmten Gefühlen, die wie Wogen aus
den Seelenuntergründen heraufschlagen in das Bewußtsein, die als unbefriedigtes
Leben empfunden werden. Man deutet oft solche Gefühle ganz unrichtig; man sucht
für sie einen Ausgleich in äußeren Lebensumständen. Man ist in einer - auch oft
ihrem Wesen nach unbewußt bleibenden - Ängstlichkeit gegenüber diesen Gefühlen.
Könnte man diese Ängstlichkeit überwinden, so würde man sehen, daß eine
rückhaltlose Erkenntnis des menschlichen Wesens, nicht äußerliche Mittel, zur
Abhilfe führt. Aber eine solch rückhaltlose Erkenntnis erfordert, daß man an
den zwei Klippen auch wirklich Widerstand empfindet, an welche die menschliche
Erkenntnis geführt wird, wenn sie Erkenntnis des menschlichen Wesens werden
will. Diese Klippen sind aus zwei Täuschungen aufgebaut, aus zwei Felsen, durch
die der Mensch im Erkenntnisleben nicht vorwärts kommen kann, wenn er sie nicht
in ihrer wahren Wesenheit erkennt. Diese beiden Klippen sind die
Naturerkenntnis und die Mystik. Beide Erkenntnisarten ergeben sich naturgemäß
auf dem menschlichen Lebenswege. Mit beiden muß der Mensch seine innere
Erfahrung machen, wenn sie ihn fördern sollen. Daß er die Kraft entfaltet, bei
jeder dieser beiden Erkenntnisarten wohl anzukommen, aber bei keiner von ihnen
stehen zu bleiben, davon hängt es ab, ob er Menschheit-Erkenntnis gewinnen kann
oder nicht. Er muß, bei beiden angelangt, Unbefangenheit genug bewahrt haben,
um sich zu sagen: Keine von ihnen kann ihn dahin bringen, wohin seine Seele
verlangt; aber er muß, um diese Einsicht zu gewinnen, erst beide innerlich in
ihrem Erkenntniswert erlebt haben. Er darf nicht davor zurückscheuen, ihre
Wesenheit wirklich zu erleben, um an dem Erlebnis zu erkennen, daß über beide
hinausgegangen werden muß, um sie erst wertvoll zu machen. Man muß zu den
beiden Erkenntnisarten den Zugang suchen; denn erst, wenn man sie recht
gefunden, ergibt sich der Ausweg aus ihnen.
Wer das Naturerkennen durchschaut, der
findet - bei innerer Unbefangenheit -, daß es eine Täuschung ist, wenn man
glaubt, man ergreife in demselben die wahre Wirklichkeit. In gesundem Erfühlen
der eigenen menschlichen Wirklichkeit stellt sich ein ganz bestimmtes Erlebnis
ein. Dies tritt um so mehr auf, je mehr man die Naturerkenntnis auf das
Begreifen der Menschenwesenheit ausdehnen will. Der Mensch als Naturwesen
stellt sich für diese Erkenntnis als ein Zusammenfluß der Naturwirkungen dar.
Den Aufbau der Menschenwesenheit nach Maßgabe dessen zu durchschauen, was man
im Felde der Naturreiche als Wirkungsarten erfaßt hat, kann ein
Erkenntnis-Ideal werden. Dieses Ideal ist für die echte Naturerkenntnis
berechtigt. Mag man ich auch sagen, es liege in unermeßlicher Ferne die Zeit,
in der man erkennen werde, wie der Wunderbau des menschlichen Organismus
naturgesetzlich sich gestaltet: als Ideal er Naturerkenntnis muß ein
dahingehendes Streben gelten. Aber unerläßlich ist auch, daß man gegenüber
diesem berechtigten Ideal zu einer Einsicht vordringt, die einem gesunden
Wirklichkeitsgefühl entspringt. Man muß es erleben, wie fremd und immer fremder
der innerlich erlebten Wirklichkeit dasjenige wird, was die Naturerkenntnis vor
den Menschen hinstellt. Je vollkommener sie wird, desto mehr wird sie ein dem
Innenleben Fremdes vor das menschliche Erkennntnisbedürfnis stellen.
Stoffliches, materielles Geschehen muß sie ihrem berechtigten Ideale gemäß
hinstellen. Das unbefangene Erleben muß sich zuletzt an der Klippe stoßen, die
Du Bois-Reymond empfunden hat, als er glaubte, in seinem berühmten Vortrage
"Über die Grenzen des Naturerkennens" sagen zu müssen: niemals werde
das menschliche Erkennen das in der Welt erfassen, was als Materie im Raume
spukt. - Gesund ist ein inneres Erleben, das Naturerkenntnis zwar mit allen
dazu geeigneten Kräften anstrebt, aber in demselben zugleich empfindet: es nähere
sich mit demselben nicht der wahren Wirklichkeit, sondern es entferne sich mit
ihm von derselben. Man muß dieses an den Ergebnissen der Naturerkenntnis
erleben.
Man muß es diesem ansehen, daß sie sich
keinem Begreifen, keinem Erfühlen ergeben. Und man wird dann dazu gelangen,
sich zu sagen: es ist gar nicht in Wahrheit so, daß der Mensch Naturerkenntnis
anstrebt, um der Wirklichkeit nahe zu kommen; er glaubt dies zunächst in seinem
Bewußtsein, doch der unbewußte Urquell dieses Strebens muß eine ganz andere
Bedeutung haben. Er wird gewiß für das Menschenleben eine Bedeutung haben. Sie
muß gesucht werden. Erkenntnis der wahren Wirklichkeit aber kann nicht
Naturerkenntnis sein. Ein Wendepunkt des Seelenlebens kann diese Einsicht
werden. Man erkennt durch innere Erfahrung, daß man habe der Naturerkenntnis
nachgehen müssen; daß aber diese nicht geben kann, was man sich im eifrigen
Suchen nach ihr von ihr versprochen hat. Wahre, erlebte Einsicht in das
Naturgeschehen bringt zuletzt dem Menschen diese Erkenntnis. Er hört dann auf,
zu glauben, daß ihm jemals Erkenntnis des Menschenwesens durch einen, wenn auch
noch so vollkommenen Ausbau der Naturwissenschaft werden kann. Wer zu dieser
Einsicht nicht gelangt ist, wer noch hoffen kann, das Ideal naturwissenschaftlicher
Erkenntnis könne den Menschen über sein eigenes Wesen aufklären, der ist eben
noch nicht weit genug vorgedrungen in den Erlebnissen, die man mit der
Naturerkenntnis haben kann.
Dies ist die eine Klippe, auf die das
Streben nach Erkenntnis des Menschheitswesens aufstößt. Mancher Denker hat den
Stoß empfunden und sich nach der anderen Seite gewandt, nach derjenigen der
mystischen Versenkung in das eigene Selbst. Man kann auch nach dieser Richtung
eine Zeitlang vorwärts dringen in dem Glauben, im Innern die wahre Wirklichkeit
unmittelbar zu erleben. Man kann etwas wie eine Vereinigung mit dem Urquell
alles Seins zu erfahren glauben. Geht man aber mit diesem Erleben weit genug,
zerstört man die Kräfte der Täuschung, so wird man gewahr, wie das innere Erleben,
wenn man sich auch noch so tief in dasselbe zu versenken sucht, doch machtlos
bleibt gegenüber der Wirklichkeit. Wie stark man auch, durch diesen oder jenen
Umstand verführt, gemeint hat, das Sein zu ergreifen: zuletzt erweist sich das
innere Erleben als eine irgendwie geartete Wirkung eines unbekannten Seins,
nicht aber als etwas, das im Stande wäre, die wahre Wirklichkeit zu erfassen
und festzuhalten. Der auf einem solchen Wege wandelnde Mystiker macht die
Erfahrung, daß er mit seinem inneren Erleben die wahre Wirklichkeit, die er
sucht, verlassen hat, und daß er nicht wieder an sie herankommen kann. - Der
Natur-Erkenner gelangt zu einer Außenwelt, die sich mit dem Innern nicht
ergreifen läßt; der Mystiker kommt zu einem Innenleben, das ins Leere faßt,
indem es eine Außenwelt greifen will, nach der es verlangt.
Die Erfahrungen, welche der Mensch mit der
Naturerkenntnis einerseits, mit der Mystik andererseits macht, erweisen sich
nicht als eine Erfüllung seines Strebens, die Wirklichkeit zu finden, sondern
als Ausgangspunkt des Weges zu ihr. Denn diese Erfahrung zeigt einen Abgrund
zwischen dem materiellen Geschehen und dem seelischen Erleben; sie führt dazu,
diesen Abgrund zu sehen, und zu der Einsicht zu gelangen, daß er weder durch
Naturerkenntnis, noch durch bloße Mystik für das wahrhaftige Erkennen
ausgefüllt werden kann. Das Gewahrwerden dieses Abgrundes führt dazu, die
Einsicht in die wahre Wirklichkeit in seiner Ausfüllung mit
Erkenntniserlebnissen zu suchen, die im gewöhnlichen menschlichen Bewußtsein
noch gar nicht vorhanden sind, sondern aus diesem erst entwickelt werden
müssen. Wer mit der Naturerkenntnis und der Mystik die rechten Erfahrungen
gemacht hat, der sagt sich: zu diesen beiden hinzu muß eine andere Erkenntnis
gesucht werden, welche die materielle Außenwelt näher heranrückt an das
menschliche Innenleben, als dies durch die Naturerkenntnis geschieht, und die
zugleich das Innenleben in die wirkliche Welt tiefer hineinversenkt, als es
durch bloße Mystik geschehen kann.
Eine solche Erkenntnisart kann eine
anthroposophische genannt werden und das durch sie erlangte Wissen von der
Wirklichkeit Anthroposophie. Denn sie muß davon ausgehen, daß sich der wahrhaft
wirkliche Mensch (Anthropos) hinter demjenigen verbirgt, den die Naturerkenntnis
offenbart und den das Innenleben im gewöhnlichen Bewußtsein in sich findet. Im
dunklen Gefühl, im unbewußten Seelenleben kündigt sich dieser wahrhaft
wirkliche Mensch an; durch die anthroposophische Forschung soll er in das
Bewußtsein erhoben werden. Anthroposophie will den Menschen nicht von der
Wirklichkeit weg- und zu einer unwirklichen, ersonnenen Welt hinführen, sie
will vielmehr eine Erkenntnisart suchen, der sich die wirkliche Welt erst
erschließt. Sie muß, nach ihren Erfahrungen mit der Naturerkenntnis und der von
dem gewöhnlichen Bewußtsein erlebten Mystik, zu der Anschauung sich
durchringen, daß aus diesem gewöhnlichen Bewußtsein heraus ein anderes zu
entwickeln ist, etwa so, wie aus dem dumpfen Traumbewußtsein das wache
Tagesbewußtsein. Für die Anthroposophie würde dadurch der Erkenntnisvorgang ein
innerlich wirkliches Geschehen, das hinausführt aus dem gewöhnlichen
Bewußtsein, während Naturerkenntnis nur ein logisches Urteilen und Schließen
dieses gewöhnlichen Bewußtseins auf Grund der von außen gegebenen materiellen
Wirklichkeit, und Mystik nur ein vertiefteres Innenleben, aber doch ein solches
ist, das innerhalb des gewöhnlichen Bewußtseins stehen bleibt.
Weist man in der Gegenwart darauf hin, daß
es einen solchen innerlich wirklichen Erkenntnisvorgang, eine anthroposophische
Erkenntnis gibt, so stößt man auf Denkgewohnheiten, die einerseits durch die zu
wundervoller Größe herangewachsene Naturerkenntnis, andererseits durch Einleben
in gewisse mystische Vorurteile erzeugt sind. Und die hier gemeinte
Anthroposophie wird von der einen Seite abgewiesen, weil sie angeblich der
Naturerkenntnis nicht gerecht wird, von der andern Seite, weil sie den
mystischen Neigungen, die glauben, durch sich selbst in der wahren Wirklichkeit
stehen zu können, als etwas Überflüssiges erscheint. Von denjenigen
Persönlichkeiten aber, die "echte" Erkenntnis freihalten möchten von
allem, was über das gewöhnliche Bewußtsein hinausgeht, wird geglaubt, solche
Anthroposophie verleugne den wahrhaft wissenschaftlichen Charakter, den zum
Beispiel die philosophische Welterkenntnis sich aneignen müsse und verfalle in
Dilettantismus.
In den folgenden Ausführungen soll nun
gezeigt werden, wie wenig berechtigt dieser Vorwurf des Dilettantischen
gegenüber anthroposophischem Streben gerade von Seite der Philosophie ist. Es
soll in kurzen Zügen an dem Entwicklungsgang der Philosophie dargetan werden,
wie oft diese sich von der echten Wirklichkeit dadurch entfernt, daß sie die
beiden hier angedeuteten Erkenntnisklippen nicht sieht und wie unbewußt doch
dem philosophischen Streben ein Trieb zu Grunde liegt, der zwischen diesen
Klippen hindurch auf eine Anthroposophie loszielt. (Ausführlich hat der
Verfasser dieses Aufsatzes dieses Loszielen aller Philosophie auf eine
Anthroposophie in seinem Buche "Die Rätsel der Philosophie"
dargestellt.)
Philosophie wird zumeist von denjenigen, die
sie treiben, als etwas Unbedingtes angesehen, nicht als etwas, das im Laufe der
Menschheitsentwickelung aus gewissen Voraussetzungen heraus hat entstehen und
sich wandeln müssen. Über den eigentlichen Charakter der Philosophie ist
mancher im Irrtum. Gerade ihr gegenüber ist man imstande, auch aus äußerlichen
historischen Dokumenten, nicht bloß aus inneren Erkenntniserlebnissen,
anzugeben, wann sie als solche ihren Ursprung innerhalb der
Menschheitsentwickelung genommen hat und nehmen mußte. Das haben auch die
meisten, namentlich älteren Darsteller der Philosophie-Geschichte ziemlich gut
getroffen. In allen diesen Darstellungen wird man finden, daß mit dem Thales
begonnen wird und daß von ihm dann fortgeschritten wird bis in unsere Zeit
herein.
Allerdings haben einige neuere
Philosophie-Geschichtsschreiber, die ganz besonders vollständig und ganz
besonders gescheit sein wollten, den Anfang der Philosophie in noch frühere
Zeiten verlegt und allerlei aus früheren Weisheitslehren hereingezogen. Aber
das ist doch nur entsprungen aus einer ganz bestimmten Form des Dilettantismus,
der nicht weiß, daß alles, was in Indien, Ägypten und Chaldäa an Weisheitslehren
dargestellt worden ist, auch methodisch einen ganz anderen Ursprung hat, als
das rein philosophische, dem Spekulativen zuneigende Denken. Dieses hat sich
erst in der griechischen Welt entwickelt, und der erste, welcher da in Betracht
kommt, ist wirklich erst Thales. Man braucht aber gar nicht erst eine
Charakteristik der verschiedenen griechischen Philosophen von Thales ab, nicht
von Anaxagoras, Heraklit, Anaximenes, auch nicht von Sokrates und Plato; man
kann gleich anknüpfen an diejenige Persönlichkeit, die eigentlich zu allererst
als der Philosoph im engsten Sinne dasteht, und das ist Aristoteles.
Alle anderen Philosophien sind im Grunde
genommen noch durch Mysterienweisheit angeregte Abstraktionen; für Thales und
Heraklit ließe sich das zum Beispiel leicht nachweisen.
(Anmerkung: Mit Mysterienweisheit ist hier
eine von der späteren Erkenntnisart verschiedene gemeint, die in ältere Zeiten
der Geistesentwickelung der Menschheit fällt. Diese Weisheit hatte zur Quelle
ein innerliches Erleben der Seele, in dem die Geheimnisse des Weltgeschehens
zur Offenbarung kamen. Mit dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert ungefähr
ging diese Art des Erkennens über in diejenige, welche die Aufschlüsse über das
Weltgeschehen weniger in innerem Erleben als vielmehr in der von dem Verstande
orientierten Beobachtung der sinnlichen und seelischen Wahrnehmungen sucht. In
der älteren Art des Erkennens war ein inneres Schauen durchsetzt von einer
instinktiven Logik. Diese Seelenverfassung macht derjenigen Platz, für welche das
logische Denken immer bewußter wurde. Die alte Fähigkeit eines intuitiven
Schauens verlor sich in der Menschenseele. An die Stelle der Mysterienweisheit
trat die philosophische Betrachtung. Doch war es in den ersten Zeiten der
philosophischen Entwickelung so, daß die Philosophen entweder durch ihnen noch
mögliches inneres Schauen, oder durch Überlieferung der alten
Mysterien-Erkenntnis von dieser noch wußten und sie mit der in der
Menschheitsentwickelung auftretenden Verstandesfähigkeit durchsetzten. Wie
dieser Übergang sich gestaltete, darüber findet man Angaben in den vom
Verfasser des vorliegenden Aufsatzes veröffentlichten "Rätseln der
Philosophie".)
Aber Philosophen im eigentlichen Sinne des
Wortes sind auch noch nicht einmal Plato oder Pythagoras, die beide ihre
Quellen im Sehertum haben. Denn nicht darauf kommt es an, wenn wir die
Philosophie als solche charakterisieren, daß irgend jemand sich in Begriffen
ausdrückt; sondern wo seine Quellen sind, darauf kommt es an. Pythagoras hat
als Quellen die Mysterienweisheit und hat diese in Begriffe umgewandelt; er ist
Hellseher, nur hat er das, was er als Seher erfahren, in philosophische Form
gebracht, und dasselbe ist auch bei Plato der Fall.
Was aber den Philosophen ausmacht, und was
gerade erst bei Aristoteles auftritt, ist, daß er aus der reinen
Begriffstechnik heraus arbeitet, und daß er andere Quellen notwendig ablehnen
muß oder sie ihm unzugänglich sind. Und weil das erst bei Aristoteles der Fall
ist, deshalb ist es auch nicht ohne welthistorischen Grund, daß eben er es ist,
der die Logik, die Wissenschaft der Denktechnik, begründet hat. Alles andere
ist nur Vorläufertum gewesen. Die Art und Weise, wie man Begriffe bildet,
Urteile formt, Schlüsse zieht, das alles hat erst Aristoteles als eine Art Naturgeschichte
des subjektiven menschlichen Denkens gefunden, und alles, was uns bei ihm
entgegentritt, ist mit dieser Grundlegung der Denktechnik eng verknüpft. Da wir
noch auf einiges zurückkommen werden, was bei ihm fundamental wichtig ist für
alle späteren Betrachtungen, so bedarf es jetzt nur dieser historischen
Andeutung, um den Ausgangspunkt kurz zu charakterisieren.
Aristoteles bleibt auch für die spätere Zeit
der tonangebende Philosoph. Seine Leistungen flossen nicht nur ein in die
nacharistotelische Zeit des Altertums bis zur Begründung des Christentums,
sondern gerade in der ersten christlichen Zeit bis hinein in das Mittelalter
war er derjenige Denker, nach dem man sich bei der Ausarbeitung aller
Weltanschauungsbestrebungen richtete. Damit soll nicht gesagt werden, daß man
etwa, namentlich im Mittelalter, wo man nicht die Urtexte hatte, die
Philosophie des Aristoteles als System, als eine Summe von Dogmen vor sich
gehabt habe; aber man hatte sich eingelebt in die Art, wie man an der Leiter der
reinen Begriffstechnik zu einem Wissen bis hinauf zum Denken über die
Grundrätsel des Lebens kommt. Und so kam es, daß Aristoteles immer mehr und
mehr der logische Lehrer wurde. Man sagte sich im Mittelalter etwa so: Möge die
positive Tatsachenerkenntnis der Welt wo immer herkommen, möge sie davon
kommen, daß der Mensch mit seinen Sinnen die äußere Wirklichkeit untersucht,
oder daß eine Offenbarung durch göttliche Gnade stattfindet wie durch den
Christus Jesus - so sind das Dinge, die einfach hinzunehmen sind, auf der einen
Seite als Aussagen der Sinne, auf der anderen als Offenbarung. Will man aber
etwas in dieser oder jener Art Gegebenes durch reine Begriffe begründen, dann
muß man es mit jener Denktechnik tun, die Aristoteles aufgedeckt hat.
Und in der Tat, die Begründung der
Denktechnik ist von Aristoteles so bedeutsam geleistet worden, daß Kant, und
zwar mit Recht, gesagt hat, daß seit Aristoteles die Logik eigentlich um keinen
einzigen Satz fortgeschritten sei. (Was gegen diese Anschauung Kants von verschiedenen
Seiten vorgebracht worden ist, hat doch nur die allereingeschränkteste
Geltung.)
Und
im Grunde genommen gilt das im wesentlichen auch noch für heute; auch heute ist
der Grundstock logischer, denktechnischer Lehren ziemlich unverändert geblieben
gegenüber dem, was Aristoteles gegeben hat. Das, was man heute hinzufügen
will, entspringt aus einem ziemlich mißverständlichen Verhalten gegenüber dem
Begriffe der Logik, auch in philosophischen Kreisen.
Nun wurde nicht bloß etwa das Studium des Aristoteles,
sondern vor allen Dingen das Sichhineinfinden in seine Denktechnik tonangebend
für die mittlere Zeit des Mittelalters, für die frühscholastische Zeit, wie man
sie auch nennen könnte, wo die Scholastik in der Blüte stand. Diese Zeit fand
ja in bezug auf diese ihre Blüte ihren Abschluß durch Thomas von Aquino im 13.
Jahrhundert. Wenn man von dieser frühscholastischen Zeit spricht, muß man sich
klar darüber sein, daß man heute nur dann philosophisch darüber urteilen kann,
wenn man frei von aller Autorität und allem Dogmenglauben ist. Es ist ja
gegenwärtig fast schwerer, rein objektiv, als abfällig über diese Dinge zu
sprechen. Wenn man abfällig über die Scholastik spricht, kommt man nicht in die
Gefahr, von den sogenannten freien Geistern verketzert zu werden; spricht man
aber objektiv darüber, so liegt die Wahrscheinlichkeit nahe, mißverstanden zu
werden, und zwar deshalb, weil man sich heute innerhalb der positiven und
gerade der intolerantesten Kirchenbewegung vielfach ganz mißverständlich auf die
Thomistik beruft. Was heute als orthodox-katholische Philosophie gilt, das
alles soll hier nicht besprochen werden, aber ebensowenig darf uns abschrecken,
daß uns der Vorwurf gemacht werden könnte, wir pflegten dasselbe, was von
dogmatischer Seite getrieben und festgesetzt wird. Wir wollen vielmehr,
unbekümmert um alles, was von rechts und links sich geltend machen kann, einmal
charakterisieren, welche Empfindung die Blütezeit der Scholastik in bezug auf
die Wissenschaft, die Denktechnik und die übernatürliche Offenbarung hatte.
Die Frühscholastik ist nicht das, als was
man sie gewöhnlich heute mit einem Schlagwort charakterisieren möchte; sie ist
im Gegenteil Monismus, Einheitslehre - nicht im entferntesten ist sie
dualistischer Natur in dem Sinne, wie sich das jetzt viele vorstellen. Der
Urgrund der Welt ist für sie ein durchaus einheitlicher; nur hat der
Scholastiker in bezug auf das Erschauen dieses Urgrundes eine bestimmte
Empfindung. Er sagt: es gibt ein gewisses übersinnliches Wahrheitsgut, ein Weisheitsgut,
das zunächst der Menschheit offenbart worden ist; das menschliche Denken mit
all seiner Technik kommt nicht so weit, um aus sich selbst in die Regionen zu
dringen, deren Wesenheit der Inhalt der höchsten geoffenbarten Weisheit ist.
Daher besteht für den Frühscholastiker ein gewisses Weisheitsgut, das zunächst
der Denktechnik nicht völlig zugänglich ist. - Nur insofern ist es ihr
zugänglich, als der Gedanke imstande ist, das, was geoffenbart wurde, zu
verdeutlichen.
Für diesen Teil des Weisheitsgutes obliegt
also dem Denker, es als geoffenbartes hinzunehmen, und die Denktechnik nur zu
seiner Verdeutlichung zu verwenden. Was der Mensch aus sich selbst finden kann,
bewegt sich nur in gewissen untergeordneten Regionen der Wirklichkeit. Für
diese wendet der Scholastiker die Denktätigkeit auf die eigene Forschung des
Menschen an. Er dringt da bis zu einer gewissen Grenze, an der ihm die
geoffenbarte Weisheit begegnet. So schließen sich die Inhalte der eigenen
Forschung und der Offenbarung zu einer objektiv einheitlichen, monistischen
Weltanschauung zusammen. Daß dabei eine Art von Dualismus, durch die
menschliche Eigentümlichkeit geboten, in die Sache hineinkommt, ist nur
sekundär. Es handelt sich um einen Dualismus der Erkenntnis, nicht um einen solchen
des Weltzusammenhanges.
Der Scholastiker erklärt also die
Denktechnik für geeignet, dasjenige, was in der empirischen Wissenschaft, in
der Sinnesbeobachtung gewonnen wird, rationell zu bearbeiten, ferner auch ein
Stück hinaufzudringen bis zur spirituellen Wahrheit. Und dann stellt der
Scholastiker in Bescheidenheit ein Stück der Weisheit als Offenbarung hin, die
er nicht selbst finden kann, die er nur hinzunehmen hat.
Was nun aber der Scholastiker als diese
besondere Denktechnik anwendet, das ist durchaus aus dem Boden aristotelischer
Logik entsprungen. Es gab für die Frühscholastik, die etwa mit dem 13.
Jahrhundert sich ihrem Abschluß nähert, eine zweifache Notwendigkeit, sich mit
Aristoteles zu befassen. Die eine Notwendigkeit war in der geschichtlichen
Entwickelung gegeben: der Aristotelismus hatte sich eben eingelebt. Die andere
Notwendigkeit war die Folge davon, daß dem überlieferten christlichen Lehrgut
nach und nach von einer anderen Seite ein Gegner erstanden war.
Aristoteles hatte nämlich nicht nur im
Abendlande seine Verbreitung gefunden, sondern auch im Morgenlande; und alles,
was durch die Araber über Spanien nach Europa gebracht worden war, war in bezug
auf die Denktechnik durchtränkt von Aristotelismus. Namentlich war es eine
gewisse Form der Philosophie, der Naturwissenschaft, bis in die Medizin
hineinreichend, was da herübergebracht worden war und was im eminentesten Sinne
von aristotelischer Denktechnik durchdrungen war. Nun hatte sich von dorther
die Meinung gebildet, daß gar nichts anderes als Konsequenz aus dem
Aristotelismus folgen könne, als eine Art von Pantheismus, der namentlich in
der Philosophie aus einer sehr verschwommenen Mystik entsprungen war.
Man hatte also außer dem einen Grunde, daß
nämlich Aristoteles in der Denktechnik fortgelebt hatte, noch einen andern,
sich mit ihm zu befassen: in der Auslegung der Araber erschien die im Sinne des
Aristoteles gehaltene Denkart als Gegner, als Feind des Christentums.
Man mußte sich sagen: wenn das, was die
Araber als Interpretation des Aristotelismus herübergebracht haben, wahr ist,
dann wäre dieser eine wissenschaftliche Grundlage, die dazu geeignet wäre, das
Christentum zu widerlegen. Nun stellen wir uns vor, was mußten demgegenüber die
Scholastiker empfinden? Auf der einen Seite hielten sie fest an der Wahrheit
des Christentums, auf der anderen aber konnten sie nach aller Tradition nicht
anders, als eingestehen, daß die Logik, die Denktechnik des Aristoteles, die
wahre, die richtige sei. Aus diesem Zwiespalt heraus ergab sich für die
Scholastiker die Aufgabe: zu beweisen, daß man die Logik des Aristoteles
anwenden könne, seine Philosophie treiben könne, und daß man gerade durch ihn
das Instrument habe, das Christentum wirklich zu begreifen und zu verstehen. Es
war eine Aufgabe, die durch die Zeitentwickelung gestellt war. Es mußte der
Aristotelismus so behandelt werden, daß ersichtlich wurde: was als Lehre des
Aristoteles von den Arabern gebracht worden war, ist nur eine mißverständliche
Auffassung derselben. Daß man den Aristotelismus nur richtig deuten müsse, um
in ihm das Fundament für das Begreifen des Christentums zu haben: das zu
zeigen, war die Aufgabe, die sich die Scholastik stellte und der ein großer
Teil des Schrifttums des Thomas von Aquino gewidmet ist.
Nun aber geschieht etwas anderes. Im Laufe
der Entwickelung tritt nach der Blütezeit der Scholastiker in der ganzen
logisch-philosophischen Denkentwickelung der Menschheit ein völliger Bruch ein.
Das Natürliche wäre gewesen (aber das soll keine Kritik sein, nicht einmal
soll damit gesagt sein, daß es hätte anders geschehen können; der tatsächliche
Verlauf war eben notwendig - nur hypothetisch soll das Folgende hingestellt
werden), das Natürliche wäre gewesen, daß man die Denktechnik immer mehr
ausgedehnt hätte, daß man immer höhere und höhere Teile der übersinnlichen Welt
durch das Denken ergriffen hätte. So war aber die Entwickelung zunächst nicht.
Der Grundgedanke, der zum Beispiel für Thomas von Aquino zunächst für die
höchsten Gebiete galt, und welcher hätte durchaus sich so entwickeln können,
daß die Grenze der menschlichen Forschung sich immer mehr nach oben in das
übersinnliche Gebiet hätte erweitern lassen, wurde in seiner Tragkraft gehemmt
und lebte nun weiter in der Überzeugung: die höchsten spirituellen Wahrheiten
entziehen sich ganz und gar der rein menschlichen Denktätigkeit, der
Ausarbeitung in Begriffen, zu denen es der Mensch aus sich selbst bringen kann.
Dadurch ist ein Riß im menschlichen Geistesleben eingetreten. Man stellte die
übersinnliche Erkenntnis als etwas hin, das sich jeder menschlichen Denkarbeit
absolut entziehe, das nicht durch subjektive Akte der Erkenntnis zu erreichen
sei, das nur einem Glauben entspringen müsse. Veranlagt war das schon früher,
zum Extrem getrieben wurde es gegen das Ende des Mittelalters. Es wurde immer
mehr herausgearbeitet die Scheidung zwischen dem Glauben, der durch eine
subjektive Gefühlsüberzeugung erreicht werden muß, und dem, was als Grundlage
eines sicheren Urteils durch logische Tätigkeit erarbeitet werden kann.
Und es war nur natürlich, daß, nachdem
dieser Abgrund sich einmal aufgetan hatte, Wissen und Glauben immer mehr
auseinandergedrängt wurden. Und natürlich war es auch, daß man Aristoteles und
seine Denktechnik hineinzog in diesen Riß, der sich durch die historische
Entwickelung aufgetan hatte. Insbesondere wurde er im Beginne der Neuzeit
hineingezogen. Da sagte man auf der Seite der Wissenschaftler - und vieles von
dem, was diese sagten, können wir als begründet ansehen -: mit dem bloßen
Fortspinnen des schon bei Aristoteles Gegebenen kann man doch keine
Fortschritte in der empirischen Wahrheitsforschung machen. Außerdem gestaltete
sich die geschichtliche Entwickelung so, daß es mißlich wurde, mit den
Aristotelikern eine Vereinigung zu haben, ja, als die Zeit des Kepler und
Galilei heraufkam, da war der mißverstandene Aristotelismus eine wahre
Erkenntnisplage geworden.
Es kommt ja immer wieder vor, daß die
Nachfolger, die Bekenner einer Weltanschauung ungemein viel von dem verderben,
was die Begründer durchaus richtig hingestellt haben. Statt in die Natur selbst
hineinzuschauen, statt zu beobachten, fand man es am Ende des Mittelalters
bequem, die alten Bücher des Aristoteles zu nehmen und bei allen akademischen
Vorlesungen das Geschriebene des Aristoteles zugrunde zu legen.
Charakteristisch dafür ist, daß ein orthodoxer Aristoteliker aufgefordert
wurde, sich an einer Leiche zu überzeugen, daß nicht, wie er mißverständlich
aus Aristoteles herausgelesen hatte, die Nerven vom Herzen ausgehen, sondern daß
das Nervensystem sein Zentrum im Gehirn habe. Da sagte der Aristoteliker: Die
Beobachtung zeigt mir, daß sich das wirklich so verhält, aber in Aristoteles'
Werken steht das Gegenteil, und dem glaube ich mehr. So waren die Aristoteliker
in der Tat eine Erkenntnisplage geworden. Und darum mußte die empirische
Wissenschaft aufräumen mit diesem falschen Aristotelismus und sich auf die
reine Erfahrung berufen, wie wir das besonders stark als Impuls gegeben sehen
bei dem großen Galilei.
Auf der anderen Seite entwickelte sich etwas
anderes. Bei den Persönlichkeiten, die sozusagen den Glauben vor einem Einbruch
des nun auf sich selbst gestellten Denkens schützen wollten, entwickelte sich
eine Abneigung gegen die Denktechnik. Sie waren der Meinung, daß diese Denktechnik
ohnmächtig sei gegenüber dem geoffenbarten Weisheitsgut. Wenn die weltlichen
Empiriker sich auf das Buch des Aristoteles beriefen, so beriefen sich die
andern auf etwas, was sie - freilich in mißverständlicher Weise - einem anderen
Buche, der Bibel, entnommen hatten. Das sehen wir am stärksten im Beginn der
Neuzeit zum Ausdruck gebracht, wenn wir die harten Worte Luthers hören:
"die Vernunft ist die stockblinde, taube Närrin", die nichts zu
schaffen haben soll mit den spirituellen Wahrheiten; und wenn Luther weiter
behauptet, daß die reine Glaubensüberzeugung niemals in richtiger Weise
aufdämmern kann durch das vernünftige Denken, das sich auf Aristoteles'
Vorstellungsart stützt. Diesen nennt er "einen Heuchler, einen
Sykophanten, einen stinkenden Bock". Das sind, wie gesagt, harte Worte,
aber vom Standpunkte der neuen Zeit erscheinen sie uns begreiflich; es hatte
sich eben eine tiefe Kluft aufgetan zwischen der Vernunft und ihrer Denktechnik
einerseits und der übersinnlichen Wahrheit andererseits.
Einen letzten Ausdruck hat diese Kluft durch
einen Philosophen gefunden, unter dessen Einfluß sich das 19. Jahrhundert in
einem Netz gefangen hat, aus dem es schwer wieder herauskommen kann: durch
Kant. Er ist im Grunde genommen der letzte Ausläufer jener durch den
mittelalterlichen Riß hervorgebrachten Spaltung. Er trennt streng den Glauben
und dasjenige, was der Mensch durch das Wissen erreichen kann. Schon äußerlich
steht die "Kritik der reinen Vernunft" neben der "Kritik der
praktischen Vernunft", und die praktische Vernunft versucht, einen wenn
auch rationalistischen Glaubensstandpunkt zu gewinnen gegenüber dem, was man
Wissen nennen kann. Dagegen wird in der Kantschen theoretischen Vernunft in der
extremsten Weise behauptet, daß diese Vernunft unfähig sei, das Wirkliche, das
Ding an sich, zu begreifen. Das Ding an sich mache zwar Eindrücke auf den
Menschen, aber dieser könne nur in seinen Vorstellungen, in seinen eigenen
Begriffen leben. Nun müßten wir eigentlich tief in die Geschichte der Kantschen
Philosophie hineingehen, wenn wir den verwüstenden Fundamental-Irrtum Kants
charakterisieren wollten; aber das würde uns zu weit von unserer Aufgabe
entfernen.- Man findet übrigens das zu sagen Nötige darüber in meiner
"Wahrheit und Wissenschaft".
Für heute interessiert uns vielmehr etwas
anderes, nämlich das Netz, in dem sich das philosophische Denken des 19.
Jahrhunderts gefangen hat. Wir wollen einmal untersuchen, wie das zustande
gekommen ist. Kant hatte vor allen Dingen das Bedürfnis, zu zeigen, inwiefern
in dem Denken etwas Absolutes vorliege, etwas, in dem es keine Unsicherheit
geben könne. Alles aber, was aus der Erfahrung stammt, sagte er, das ist kein
Sicheres. Die Sicherheit kann unserem Urteil nur dadurch gegeben werden, daß
ein Teil der Erkenntnis nicht von den Dingen, sondern von uns selbst stammt.
Wir sehen nun im Kantschen Sinne in unserer Erkenntnis die Dinge wie durch ein
gefärbtes Glas an; wir fangen in unserer Erkenntnis die Dinge in die
gesetzmäßigen Zusammenhänge ein, die von unserer eigenen Wesenheit herrühren.
Unsere Erkenntnis hat gewisse Formen, die Raumform, die Zeitform, die Form der
Kategorie von Ursache und Wirkung und so weiter. - Diese Formen haben für das
Ding an sich keine Bedeutung, wenigstens kann der Mensch nichts davon wissen,
ob das Ding an sich in Raum, Zeit oder Kausalität existiert. Das sind Formen,
die nur aus dem Subjekt des Menschen entspringen, und die der Mensch in dem
Augenblicke über das "Ding an sich" spinnt, in dem dies letztere an
ihn herantritt, so daß ihm das Ding an sich unbekannt bleibt. Wo also der
Mensch diesem Ding an sich gegenübertritt, da umspinnt er es mit der Form des
Raumes, der Zeit, faßt es in einen Zusammenhang, der als Ursache und Wirkung
erscheint; und so legt der Mensch sein ganzes Netz von Begriffen und Formen
über das Ding an sich hinüber. Deshalb gibt es ja für den Menschen eine gewisse
Sicherheit der Erkenntnis, weil - solange er ist, wie er ist - Zeit, Raum und
Kausalität für ihn gelten. Was der Mensch selbst in die Dinge hineinschaut, das
muß er wieder aus ihnen herausdröseln. Aber was das Ding an sich ist, kann der
Mensch nicht wissen, denn er bleibt ewig in den Formen seiner Vorstellung
befangen. Das hat Schopenhauer zum klassischen Ausdruck gebracht in dem Satze:
"Die Welt ist meine Vorstellung."
Diese ganze Schlußfolgerung ist übergegangen
fast in das gesamte Denken des 19. Jahrhunderts; nicht bloß in die
Erkenntnistheorie, sondern auch zum Beispiel in die theoretischen Grundlagen
der Physiologie. Es kamen zu den philosophischen Erwägungen gewisse Erfahrungen
hinzu. Wenn man zum Beispiel auf die Lehre von den spezifischen Sinnesenergien
blickt, so scheint in ihr eine Bestätigung der Kantischen Meinung zu liegen.
Wenigstens hat man die Sache so im Laufe des 19. Jahrhunderts angesehen. Man
sagt so: das Auge nimmt Licht wahr. Wenn man aber das Auge auf andere Weise
affiziert, zum Beispiel durch Druck, durch elektrischen Impuls und so weiter,
so zeigt es auch Lichtwahrnehmung. Daher sagt man: Der Inhalt der
Lichtwahrnehmung ist aus der spezifischen Energie des Auges heraus erzeugt und
ist übergezogen über das Ding an sich. Insbesondere Helmholtz hat das in
krasser Weise als physiologisch-philosophische Lehre zum Ausdruck gebracht,
indem er sagt: Alles, was wir wahrnehmen, ist nicht einmal bildhaft ähnlich zu
denken mit den Dingen, die außer uns sich befinden. Das Bild hat Ähnlichkeit
mit dem, was es darstellt; aber das, was wir Sinnesempfindung nennen, das kann
nicht einmal solche Ähnlichkeit mit dem Original haben, wie es das Bild mit seinem
Original hat. Man kann daher, sagt er weiter, das, was der Mensch in sich
erlebt, nicht anders ansprechen, denn als ein "Zeichen" des Dinges an
sich. Ein Zeichen braucht ja nichts Ähnliches zu haben mit dem, was es
ausdrückt.
Was sich so lange vorbereitet hat, von dem
ist das philosophische Denken des 19. Jahrhunderts und bis zur Gegenwart ganz
durchsetzt worden. Man konnte über das Verhältnis des menschlichen Erkennens
zur Wirklichkeit nur im Sinne der hier angedeuteten Vorstellungen denken. Ich
muß oft mich erinnern an ein Gespräch, das ich vor längerer Zeit mit einem von
mir sehr geschätzten philosophischen Denker des 19. Jahrhunderts führen durfte,
mit dessen erkenntnistheoretischen Anschauungen ich aber durchaus nicht
übereinstimmen konnte. Ich wollte geltend machen, daß die Anschauung von der
subjektiven Wesenheit der menschlichen Vorstellung doch eine erkenntnismäßige
Feststellung sei und nicht von vornherein behauptet werden dürfe. Er erwiderte,
man brauche sich doch nur an die Wortdefinition "Vorstellung" zu
halten; diese sage aus, daß "Vorstellung" nur in der Seele sei; da
aber alles Wirkliche nur durch die Vorstellungen gegeben sei, so habe man eben
im Erkenntnisvorgang nicht eine Wirklichkeit, sondern nur die Vorstellungen von
einer solchen. - Eine vorgefaßte Meinung hatte sich bei dem wahrlich
scharfsinnigen Denker zu einer Definition verdichtet, so daß für ihn völlig
einwandfrei feststand: Das, was ich im Vorstellen ergreife, geht immer nur bis
an die Grenze des Dinges an sich, es ist also nur subjektiv. Diese
Denkgewohnheit hat sich im Laufe der Zeit so fest eingelebt, daß alle
diejenigen Erkenntnistheoretiker, die sich etwas darauf zugute tun, Kant zu
verstehen, einen jeden für einen beschränkten Menschen halten, der nicht
zugeben kann, daß ihre Definition von der Vorstellung und von der subjektiven
Natur des Beobachteten richtig sei. Das alles ist durch den vorhin
geschilderten Riß in der menschlichen Geistesentwickelung herbeigeführt worden.
Wer nun aber wirklich den Aristoteles
richtig begreift, der wird finden, daß in einer geraden, also gewissermaßen
nicht umgebogenen Entwickelung von Aristoteles aus ganz anderes als
Erkenntnis-Prinzip und -Theorie hätte kommen können. Aristoteles hat bereits
Dinge eingesehen auf erkenntnistheoretischem Gebiet, zu denen sich der Mensch
heute durch all das denkerische Wesen, das unter dem Einflusse Kants entstanden
ist, erst wieder langsam und allmählich wird aufschwingen können. Er muß vor
allen Dingen begreifen lernen, daß Aristoteles schon die Möglichkeit hatte,
durch die Denktechnik Begriffe sich zu erarbeiten, die richtig gefaßt sind, und
die unmittelbar dahin führen, die durch die gekennzeichnete Vorstellungsart von
dem Menschen selbst gezogenen Erkenntnisgrenzen zu überschreiten. Wir brauchen
uns nur mit einigen Fundamental-Begriffen des Aristoteles zu befassen, um das
einzusehen. Es ist durchaus in seinem Sinne zu sagen: Wenn wir die Dinge um uns
herum gewahr werden, finden wir zunächst das, was uns eine Erkenntnis dieser
Dinge verschafft, dadurch, daß wir mit dem Sinn wahrnehmen; der Sinn liefert
uns das einzelne Ding. Wenn wir aber anfangen zu denken, da gruppieren sich uns
die Dinge, wir fassen verschiedene Dinge in einer Denkeinheit zusammen. Und
Aristoteles findet die richtige Beziehung zwischen dieser Gedankeneinheit und
einem objektiv Wirklichen, jenem Objektiven, das zu dem Ding an sich führt -
indem er zeigt, daß wir bei konsequentem Denken die Erfahrungswelt um uns herum
zusammengesetzt denken müssen aus Materie und aus dem, was er die Form nennt.
Materie und Form faßt Aristoteles in zwei Begriffen, die er in dem einzig
richtigen Sinne, wie sie geschieden werden müssen, wirklich scheidet. Man
könnte stundenlang reden, wenn man diese beiden Begriffe und alles, was damit
zusammenhängt, erschöpfen wollte. Aber einiges Elementare wollen wir wenigstens
herbeitragen, um zu verstehen, was Aristoteles als Form und Materie
unterscheidet. Er ist sich klar darüber, daß es in bezug auf alle Dinge, die
unsere Erfahrungswelt bilden, für das Erkennen darauf ankommt, daß wir die Form
ergreifen, denn die Form gibt den Dingen das Wesentliche, nicht die Materie.
Es gibt auch in unserer Zeit noch
Persönlichkeiten, die ein richtiges Verständnis haben für Aristoteles. Vincenz
Knauer, der in den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts in Wien
Universitätsdozent war, hat seinen Hörern den Unterschied zwischen Materie und
Form gewöhnlich durch eine Illustration klar gemacht, über die man vielleicht
spotten mag, die aber doch treffend ist. Er sagte, man solle sich einmal
denken, wie ein Wolf, der einige Zeit seines Lebens lauter Lämmer gefressen
habe, wie der sich dann eigentlich aus der Materie der Lämmer zusammensetzt und
doch wird dieser Wolf niemals ein Lamm! Das gibt, wenn man es nur richtig
verfolgt, den Unterschied zwischen Materie und Form. Ist der Wolf ein Wolf
durch Materie? Nein! Seine Wesenheit hat er durch die Form - wir finden die
"Wolfform" nicht nur bei diesem Wolf, sondern bei allen Wölfen. So
finden wir die Form, indem wir einen Begriff bilden, der ein Universelles zum
Ausdruck bringt, im Gegensatz zu dem, was die Sinne erfassen, und das immer ein
Besonderes, ein einzelnes Ding ist. Man bewegt sich mit dem Denken durchaus
innerhalb der Vorstellungsart des Aristoteles, wenn man, wie die Scholastiker,
das Wesenhafte der Form durch eine Gliederung des Universellen in drei Arten
erkennend zu durchschauen strebt. Die Scholastiker setzen das Universelle als
Sein der Form vor allem Wirken und Leben dieser Form in dem einzelnen Dinge
voraus; dann dachten sie es sich als diese einzelnen Dinge durchwirkend und
durchlebend; und drittens fanden sie, daß die menschliche Seele die universelle
Form durch die Beobachtung der Dinge in sich auf diejenige Art aufleben läßt,
die ihr möglich ist. Danach unterschieden diese Philosophen das in den Dingen
Universell-Lebende und im menschlichen Erkennen zum Ausdruck Kommende in
folgender Art: Erstens Universalia ante rem, das Wesenhafte der Form, bevor es
in den Einzelheiten der Dinge lebt; zweitens Universalia in re, die wesenhaften
Formen in den Dingen; drittens Universalia post rem, diese wesenhaften Formen,
von den Dingen abgezogen und als innere Seelenerlebnisse im Erkennen durch das
Wechselverhältnis der Seele mit den Dingen auftretend.
Bevor man nicht auf diese Dreigliederung
eingeht, kann man auf diesem Grunde zu keiner richtigen Einsicht in bezug auf
dasjenige kommen, was hier wichtig ist. Denn man bedenke, um was es sich
handelt! Es handelt sich um die Einsicht, daß der Mensch, insofern er in den
Universalia post rem drinnen lebt, ein Subjektives hat. Aber es wird zugleich
auf etwas Wesentliches hingewiesen, nämlich darauf, daß der Begriff in der
Seele eine "Repräsentation" dessen ist, was als reale Formen
(Entelechien) universalen Bestand hat. Und diese - die Universalia in re - sind
wiederum nur in die Dinge hineingeflossen, weil sie schon vor den Dingen
existiert haben als Universalia ante rem.
In dem Universell-Wesenhaften, wie es vor
seiner Verwirklichung in den Einzeldingen besteht, muß eine rein geistige
Daseinsstufe gedacht werden. Es ist selbstverständlich, daß in der Annahme
eines solchen Wesenhaften (Universalia ante rem) derjenige das Ergebnis eines
abstrakten Gedankengespinstes sehen muß, der nur das sinnlich Gegebene als
Wirkliches gelten lassen will. Aber es kommt gerade darauf an, das innere
Seelenerlebnis zu haben, das zu einer solchen Annahme nötigt. Es ist das
Seelenerlebnis, welches in dem Allgemein-Begriff "Wolf" nicht bloß
ein Gebilde des die verschiedenen Einzel-Wölfe zusammenfassenden Verstandes, sondern
eine über diese Einzelwesen hinausliegende geistige Wirklichkeit
"Wolf" schaut. Diese geistige Wirklichkeit gibt dann die Möglichkeit,
den Unterschied zwischen Tier und Mensch in einem geistgemäßen Sinne zu sehen.
Das Gattungsmäßige "Wolf" kommt nicht im Einzelwolfe, sondern in der
Gesamtheit dieser Einzelwölfe zur Verwirklichung. Im Menschen aber lebt das
Geistig-Seelische, das im Tiere durch die Gattung (oder Art) in der Summe der
Individuen zur Offenbarung kommt, auf individuelle Art. Oder aristotelisch
gesprochen: Im menschlichen Individuum lebt die "Form" sich in der
sinnlichen Wesenheit unmittelbar aus; im tierischen Reich bleibt diese
"Form" als solche im Übersinnlichen und gestaltet sich in dem ganzen
Entwickelungsleben erst aus, das alle Individuen derselben "Form"
umfaßt. Es gestattet der Aristotelismus bei den Tieren von Gruppenseelen (Art-,
Gattungsseelen) zu sprechen, beim Menschen von Individualseelen. Gelingt es,
ein solches inneres Seelenleben herzustellen, für das eine derartige Unterscheidung
einer angeschauten Wirklichkeit entspricht, so ist dieses Seelenleben ein
weiterer Fortschritt auf einer Erkenntnisbahn, die der
Aristotelismus und die Scholastik nur bis
zur Begriffstechnik beschritten haben.
Daß solches gelingen kann, sucht die
anthroposophische Geisteswissenschaft zu beweisen. Für sie sind die
"Formen" nicht bloß Ergebnisse begrifflicher Unterscheidung, sondern
der übersinnlichen Anschauung. Sie schaut in den Gattungsseelen der Tiere und
in den Individualseelen der Menschen Wesen ähnlicher Art. Und sie schaut in
diese Verhältnisse hinein, wie in die physisch-sinnliche Wirklichkeit die Sinne
hineinschauen. Wie das innerhalb der anthroposophischen Geisteswissenschaft
angestrebt wird, soll in dem weiteren Fortgang dieser Abhandlung angedeutet
werden; hier sollte gezeigt werden, wie in der aristotelischen Vorstellungsart
die Möglichkeit liegt, Begriffe zu finden, durch die man Anthroposophie stützen
kann. Nur gehört zu all dem, was uns bei Aristoteles entgegentritt, noch etwas,
das in der Neuzeit immer unbeliebter geworden ist. Es ist nötig, daß man sich
dazu bequeme, in scharfen, fein ziselierten Begriffen zu denken, in Begriffen,
die man sich erst zubereitet; es gehört dazu, daß man die Geduld hat, von
Begriff zu Begriff vorzuschreiten, daß man vor allen Dingen Neigung zu
begrifflicher Reinheit und Sauberkeit habe, daß man weiß, wovon man redet, wenn
man einen Begriff anschlägt.
Wenn man im scholastischen Sinne zum
Beispiel von der Beziehung des Begriffs zu dem, was er repräsentiert, spricht,
so muß man erst lange Definitionen in den scholastischen Schriften
durcharbeiten. Man muß wissen, was es heißt, wenn man sagt, der Begriff ist
formaliter begründet im Subjekt und fundamentaliter im Objekt; was der Begriff
als seine eigene Gestalt hat, kommt vom Subjekt, was er als Inhalt hat, vom
Objekt her. - Das ist nur eine kleine Probe. Wirklich nur eine kleine. Wenn Sie
scholastische Werke durchnehmen, müssen Sie sich durch dicke Bände von
Definitionen durchwinden, und das ist dem heutigen Wissenschafter sehr
unangenehm; daher betrachtet er die Scholastiker als Schulfüchse und tut sie
damit ab. Er weiß gar nicht, daß wahre Scholastik nichts anderes ist, als die
gründliche Ausarbeitung der Gedankenkunst, so daß diese ein Fundament für das wirkliche
Begreifen der Wirklichkeit bilden kann. Indem ich dies spreche, werden Sie
empfinden, daß es eine große Wohltat ist, wenn gerade innerhalb der
Anthroposophischen Gesellschaft Bestrebungen auftauchen, die in allerbestem
(erkenntnistheoretischem) Sinne auf eine Ausarbeitung der
erkenntnistheoretischen Prinzipien hinzielen. Und wenn wir gerade hier in
Stuttgart einen Arbeiter auf diesem Gebiete von außerordentlicher Bedeutung
haben (Dr. Unger), so ist das als eine wohltätige Strömung innerhalb unserer
Bewegung zu betrachten. Denn diese Bewegung wird in ihren tiefsten Teilen nicht
durch diejenigen ihre Geltung in der Welt erlangen, die nur die Tatsachen der
höheren Welt hören wollen, sondern durch solche, welche die Geduld besitzen, in
eine Gedankentechnik einzudringen, die einen realen Grund für ein wirklich
gediegenes Arbeiten schafft, die ein Skelett schafft für das Arbeiten in der
höheren Welt. So wird vielleicht gerade innerhalb der anthroposophischen
Bewegung und aus der Anthroposophie selbst heraus erst wiederum verstanden
werden, was die von Anhängern und Gegnern zum Zerrbild gemachte Scholastik
eigentlich wollte. Es ist natürlich bequemer, mit ein paar mitgebrachten
Begriffen alles, was uns als höhere Wirklichkeit entgegentritt, begreifen zu wollen,
als eine gediegene Fundamentierung in der Begriffstechnik zu schaffen; aber was
sind die Folgen davon? Es gibt oft einen mißlichen Eindruck, wenn man heute
philosophische Bücher in die Hand nimmt. Die Menschen verstehen einander gar
nicht mehr, wenn sie über höhere Dinge sprechen; sie sind sich nicht klar
darüber, wie sie die Begriffe gebrauchen. Das hätte in der scholastischen Zeit
nicht vorkommen können, denn damals mußte man sich klar über die Konturen eines
Begriffs sein.
Sie sehen, es hat in der Tat einen Weg
gegeben, um in die Tiefen der Denktechnik einzudringen. Und wäre dieser Weg
weiter beschritten worden, hätte man sich nicht einfangen lassen in das
Kantsche Gespinst vom "Ding an sich" und der Vorstellung, die
subjektiv sein soll, dann hätte man zweierlei erreicht: erstens wäre man zu
einer in sich selbst sicheren Erkenntnistheorie gelangt, und zweitens - und das
ist von großer Bedeutung - hätte man nicht in den maßgebenden Kreisen
diejenigen großen Philosophen so gänzlich mißverstehen können, die nach Kant
gearbeitet haben. Es folgt zum Beispiel das Trifolium Fichte, Schelling, Hegel.
Was sind sie dem heutigen Menschen? Man hält sie für Philosophen, die aus rein
abstrakten Begriffen eine Welt haben herausspinnen wollen. Das ist ihnen niemals
eingefallen! Aber man war eingezwängt in Kantsche Begriffe und deshalb konnte
man den größten Philosophen der Welt weder philosophisch noch sachlich
begreifen.
(Anmerkung: Es ist dem Verfasser dieser
Abhandlung durchaus nicht unbekannt, daß es neuere philosophische Betrachtungen
gibt die auf Fichte, Schelling und Hegel zurückgehend, sich an den Anschauungen
dieser Denker orientieren möchten. Allein er muß finden, daß in diesen
Bestrebungen gerade das nicht lebt, was für jene Denker das Bedeutsame ist: deren
Stellung zu einer geistigen Wirklichkeit, die im Seelenleben erfahren werden
muß. In dem Zurückgehen auf dasjenige, was im abstrakt-logischen Elemente bei
diesen Denkern sich ausgelebt hat, wird man, was in ihren Anschauungen wirkte,
nicht erreichen.)
Sie wissen, es ist derjenige, der im Hause
vis-ä-vis, wie aus der Gedenktafel hervorgeht, die Sie sehen können, wenn Sie
hier die Straße betreten, seine Jugendzeit verbracht hat: Hegel. Erst
allmählich wird man dazu heranreifen, das zu verstehen, was er der Welt gegeben
hat; erst dann wird man ihn begreifen können, wenn man wieder herauskommt aus
dem theoretisch gesponnenen, beengenden Erkenntnisgespinst. Und das wäre so
einfach! Man brauchte sich nur zu einem natürlichen, unbefangenen Denken zu
bequemen und sich frei zu machen von dem, was in der philosophischen Literatur
unter dem Einfluß der getrübten Strömungen des Kantianismus sich zu
Denkgewohnheiten entwickelt hat. Man muß sich klar sein über die Frage: Verhält
es sich denn wirklich so, daß der Mensch vom Subjekt ausgeht, sich im Subjekt
seine Vorstellung baut und diese Vorstellung dann hinüberspinnt über das
Objekt? Ist das wirklich so? Ja, es ist so. - Aber folgt daraus
notwendigerweise, daß der Mensch niemals in das Ding an sich eindringen kann? Ich
will einen einfachen Vergleich machen. Denken Sie sich, Sie haben ein
Petschaft, darauf stehe der Name Müller. Nun drücken Sie das Petschaft in ein
Siegellack und nehmen es fort. Nicht wahr, darüber sind Sie sich doch klar, daß
wenn dies Petschaft, sagen wir, aus Messing besteht, daß nichts von dem Messing
in das Siegellack übergehen wird. Wenn nun dies Siegellack erkennend im
Kantschen Sinne wäre, so würde es sagen: "Ich bin ganz Lack, nichts kommt
vom Messing in mich herein, also gibt es keine Beziehung, durch die ich über
die Natur dessen, was mir da entgegentritt, etwas wissen könnte." Dabei
ist ganz vergessen, daß das, worauf es ankommt, nämlich der Name Müller, ganz
objektiv als Abdruck im Siegellack drinnen ist, ohne daß vom Messing etwas hinübergegangen
ist. So lange man materialistisch denkt und glaubt, daß, um Beziehungen
herzustellen, Materie von dem einen zum anderen hinüberfließen müsse, so lange
wird man auch theoretisch sagen: "Ich bin Siegellack, und das andere ist
Messing an sich, und da von dem Messing an sich, nichts hereinkommen kann in
mich, kann auch der Name Müller nichts anderes sein als ein Zeichen. Das Ding
an sich aber, das im Petschaft drinnen war, das sich mir abgedrückt hat, so daß
ich es lesen kann: das bleibt mir ewig unbekannt."
Da sehen Sie die Schlußformel, der man sich
bedient. Spinnt man in dem Vergleiche weiter, so ergibt sich: "der Mensch
ist ganz Siegellack (Vorstellung), das Ding an sich ist ganz Petschaft (das
außerhalb der Vorstellung befindliche). Weil ich nun als Lack (Vorstellender)
nur an die Grenze des Petschafts (das Ding an sich) herankommen kann, so bleibe
ich in mir selbst, es kommt nichts vom Ding an sich in mich herüber."
Solange man den Materialismus auf die Erkenntnistheorie ausdehnen wird, solange
wird man nicht herausfinden, worauf es ankommt.
(Anmerkung: Man sieht daraus, daß man den
Begriff Materialismus viel weiter fassen muß, als man dies gewöhnlich tut. Wer
durch seine Vorstellungsart dazu gezwungen ist, zu denken, von dem wirklichen
"Ding an sich" könne nichts in seiner Seele aufleben, weil dessen
Materie nicht in diese herüberwandern kann, der ist Materialist, auch wenn er
glaubt, Idealist zu sein, weil er die Seele gelten läßt. Und Kant war zu seinen
Vorstellungen durch seinen versteckten Materialismus verführt. Sieht man diese
Dinge im rechten Lichte, so wird allerdings auch die Nichtigkeit der in der
Gegenwart immer wieder auftretenden Versicherung durchschaut: Die Wissenschaft
sei heute über den Materialismus der zweiten Hälfte des neunzehnten
Jahrhunderts hinausgekommen. Sie ist in ihn deshalb tiefer hineingekommen, weil
sie ihre materialistische Vorstellungsart nicht mehr als solche erkennt.)
Der Vordersatz gilt: wir kommen nicht über
unsere Vorstellung hinaus, aber was herüberkommt vom Wirklichen zu uns, ist als
Geistiges zu bezeichnen; das hat nicht nötig, daß materielle Atome
herüberfließen. Nichts von einem Materiellen kommt in das Subjekt herein -
trotzdem aber kommt das Geistige herüber in das Subjekt, so wahr wie der Name
Müller in das Siegellack. Davon muß eine gesunde, erkenntnistheoretische
Forschung ausgehen können, dann wird man sehen, wie sehr sich der neuzeitliche
Materialismus unvermerkt selbst in die erkenntnistheoretischen Begriffe
eingebürgert hat. Es folgt nichts anderes aus einem unbefangenen Betrachten der
Sachlage, als daß Kant sich ein "Ding an sich" nur materiell
vorstellen konnte, so grotesk eine solche Behauptung sich auch für den ersten
Blick ausnehmen mag.
Nun müssen wir allerdings, wenn wir die
Sache vollständig betrachten wollen, noch etwas anderes skizzieren. Wir haben
gesagt, daß Aristoteles darauf hingewiesen hat, daß bei allem, was in unseren
Erfahrungskreis tritt, notwendig unterschieden werden müsse zwischen dem, was
Form und was Materie ist. Nun kann man sagen: wir kommen im Erkenntnisprozeß
bis zur Form heran in dem Sinne, wie eben dargestellt worden ist. Gibt es aber
nun auch eine Möglichkeit, bis zum Materiellen heranzukommen? Wohl gemerkt:
Aristoteles versteht unter dem Materiellen nicht nur Stoffliches, sondern die
Substanz, dasjenige, was auch als Geistiges der Wirklichkeit zugrunde liegt.
Gibt es eine Möglichkeit, nicht nur das, was vom Ding zu uns herüberfließt, zu
begreifen, sondern auch in die Dinge hineinzutauchen, sich mit der Materie zu
identifizieren? Diese Frage ist auch für die Erkenntnistheorie wichtig. Sie
kann nur von demjenigen beantwortet werden, der sich in die Natur des Denkens,
des reinen Denkens, vertieft hat. Zu diesem Begriff des reinen Denkens muß man
sich zuerst aufschwingen. Das reine Denken können wir nach Aristoteles als
Aktualität bezeichnen. Es ist reine Form; es ist zunächst, so wie es auftritt,
ohne Inhalt in bezug auf die unmittelbaren, einzelnen Dinge in der sinnlichen
Wirklichkeit draußen. Warum? Machen wir uns einmal klar, wie der reine Begriff
im Gegensatz zur Wahrnehmung entsteht.
Man stelle sich vor, daß man sich den
Begriff des Kreises bilden will. Das kann man, wenn man zum Beispiel
hinausfährt aufs Meer, bis man rings um sich herum nur Wasser sieht; dann hat
man sich durch die Wahrnehmung die Vorstellung eines Kreises gebildet. Es gibt
aber eine andere Art, zum Begriff des Kreises zu kommen, indem man nämlich,
ohne an die Sinne zu appellieren, sich folgendes sagt: Ich konstruiere mir im
Geiste die Summe aller Orte, welche von einem Punkt gleich weit entfernt sind.
Um diese ganz im Innern des Gedankenlebens verlaufende Konstruktion zu bilden,
braucht man nicht an Äußerliches zu appellieren; das ist durchaus reines Denken
im Sinne des Aristoteles, reine Aktualität.
Nun aber tritt etwas Besonderes hinzu.
Diejenigen reinen Gedanken, die so gebildet werden, passen zur Erfahrung. Ohne
sie kann man sogar die Erfahrung gar nicht begreifen. Man denke einmal, daß
Kepler sich durch reine Begriffskonstruktion ein System ausarbeitet, das zum
Beispiel elliptische Bahnen zeigt für die Planeten, wobei die Sonne sich in
einem Brennpunkt befindet, und daß dann hinterher durch das Fernrohr
konstatiert wird, die Beobachtung stimme überein mit dem vor der Erfahrung
gefaßten reinen Gedankenbilde! Da zeigt es sich für jedes unbefangene Denken,
daß das, was als reines Denken entsteht, für die Realität nicht bedeutungslos
ist; - denn es stimmt ja mit der Realität überein. Ein Forscher wie Kepler
illustriert durch sein Verfahren, was der Aristotelismus erkenntnistheoretisch
begründet hat. Er erfaßt das, was zu den Universalien post rem gehört und
findet, wenn er an die Dinge herangeht, daß diese Universalia post rem vorher
als Universalia ante rem in sie hineingelegt worden sind. Werden nun nicht im
Sinne einer verkehrten Erkenntnistheorie die Universalien zu bloßen subjektiven
Vorstellungen gemacht, sondern zeigt es sich, daß man sie objektiv in den
Dingen findet, so müssen sie erst in die Form hineingelegt sein, von der
Aristoteles annimmt, daß sie der Welt zugrunde liegt.
So findet man, daß das, was zuerst das
Subjektivste ist, was unabhängig von der Erfahrung festgestellt ist, daß gerade
das am allerobjektivsten in die Wirklichkeit hineinführt. Was ist denn der
Grund, warum das Subjektive der Vorstellung zuerst nicht in die Welt
hinauskommen kann? Der Grund ist, daß es sich an einem "Ding an sich"
stößt. Wenn der Mensch einen Kreis konstruiert, da stößt er an kein Ding an
sich, da lebt er in der Sache selbst, wenn auch zunächst nur formal.
Nun ist die nächste Frage: kommen wir
überhaupt aus einem solchen subjektiven Denken zu irgendeiner Realität, zu
einem Bleibenden? Und nun handelt es sich darum, daß ja, wie wir
charakterisiert haben, das Subjektive zunächst gerade im Denken konstruiert,
formal ist, daß es zunächst für das Objektive wie etwas Hinzugebrachtes
aussieht. Gewiß, wir können sagen: im Grunde genommen ist es einem in der Welt
befindlichen Kreis oder einer Kugel ganz gleichgültig, ob ich sie denke oder
nicht. Mein Gedanke, der zur Wirklichkeit hinzu kommt, ist für die um mich
liegende Erfahrungswelt ganz gleichgültig. Diese besteht in sich, unabhängig
von meinem Denken. Es kann also sein, daß das Denken zwar für den Menschen eine
Objektivität ist, daß es aber die Dinge nichts angehe. Wie kommen wir über
diesen scheinbaren Widerspruch hinaus? Wo ist der andere Pol, den wir jetzt
ergreifen müssen? Wo gibt es innerhalb des reinen Denkens einen Weg, nicht nur
die Form zu erzeugen, sondern mit der Form zugleich die Materie? Sobald wir
irgend etwas haben, was mit der Form zugleich die Materie erzeugt, dann können
wir an einen festen Punkt erkenntnistheoretisch anknüpfen. Wir sind ja überall,
zum Beispiel wenn wir einen Kreis konstruieren, in dem besonderen Fall, daß wir
sagen müssen: was ich von diesem Kreis behaupte, ist objektiv richtig; - ob es
anwendbar ist auf die Dinge, das hängt davon ab, daß, wenn ich den Dingen
begegne, sie mir zeigen, ob sie die Gesetze in sich tragen, die ich konstruiert
habe. Wenn die Summe aller Formen sich auf löst im reinen Denken, so muß ein
Rest bleiben, den Aristoteles Materie nennt, wenn es nicht möglich ist, aus dem
reinen Denken selbst zu einer Wirklichkeit zu kommen.
Aristoteles kann hier durch Fichte ergänzt
werden. Im Sinne des Aristoteles kann man zunächst zu der Formel kommen: Alles,
was um uns herum ist, auch das, was unsichtbaren Welten angehört, macht es
notwendig, daß wir dem Formalen der Wirklichkeit ein Materielles
entgegensetzen. Für Aristoteles ist nun der Gottesbegriff eine reine Aktualität,
ein reiner Akt, das heißt, ein solcher Akt, bei dem die Aktualität, also die
Formgebung, zugleich die Kraft hat, ihre eigene Wirklichkeit hervorzubringen,
nicht etwas zu sein, dem die Materie entgegensteht, sondern etwas, das in ihrer
reinen Tätigkeit zugleich selbst die volle Wirklichkeit ist.
Das Abbild dieser reinen Aktualität findet
sich nun im Menschen selbst, wenn er aus dem reinen Denken heraus zu dem
Begriff des "Ich" kommt. Da ist er im Ich bei etwas, was Fichte als
Tathandlung bezeichnet. Er kommt in seinem Innern zu etwas, das, indem es in
Aktualität lebt, zugleich mit dieser Aktualität seine Materie mit hervorbringt.
Wenn wir das Ich im reinen Gedanken fassen, dann sind wir in einem Zentrum, wo
das reine Denken zugleich essentiell sein materielles Wesen hervorbringt. Wenn
Sie das Ich im Denken fassen, so ist ein dreifaches Ich vorhanden: ein reines
Ich, das zu den Universalien "ante rem" gehört, ein Ich, in dem Sie
drinnen sind, das zu den Universalien "in re" gehört, und ein Ich,
das Sie begreifen, das zu den Universalien "post rem" gehört. Aber
noch etwas ganz Besonderes ist hier: für das Ich verhält es sich so, daß, wenn
man sich zum wirklichen Erfassen des Ich aufschwingt, diese drei
"Ichs" zusammenfallen. Das Ich lebt in sich, indem es seinen reinen
Begriff hervorbringt und im Begriff als Realität leben kann. Für das Ich ist es
nicht gleichgültig, was das reine Denken tut, denn das reine Denken ist der
Schöpfer des Ich. Hier fällt der Begriff des Schöpferischen mit dem Materiellen
zusammen, und man braucht nur einzusehen, daß wir in allen anderen
Erkenntnisprozessen zunächst an eine Grenze stoßen, nur beim Ich nicht: dieses
umfassen wir in seinem innersten Wesen, indem wir es im reinen Denken
ergreifen.
So läßt sich erkenntnistheoretisch der Satz
fundamentieren, "daß auch im reinen Denken ein Punkt erreichbar ist, in
dem Realität und Subjektivität sich völlig berühren, wo der Mensch die Realität
erlebt". Setzt er da ein und befruchtet er sein Denken so, daß dieses
Denken von da aus wiederum aus sich herauskommt, dann ergreift er die Dinge von
innen. Es ist also in dem durch einen reinen Denkakt erfaßten und damit
zugleich geschaffenen Ich etwas vorhanden, durch das wir die Grenze
durchdringen, die für alles andere zwischen Form und Materie gesetzt werden
muß.
Damit wird eine solche Erkenntnistheorie,
die gründlich vorgeht, zu etwas, das auch im reinen Denken den Weg zeigt, in
die Realität hinein zu gelangen. Geht man diesen Weg, so wird man schon finden,
daß man von da aus in die Anthroposophie hineinkommen muß. Die wenigsten
Philosophen haben ein Verständnis für diesen Weg. Sie haben sich in ein
selbstgemachtes Begriffsnetz eingesponnen; sie können auch, weil sie den
Begriff nur als etwas Abstraktes kennen, niemals den einzigen Punkt erfassen,
wo er archetypisch schöpferisch ist; sie können dadurch auch nichts finden,
durch das sie mit einem "Ding an sich" sich verbinden können.
Um das "Ich" als dasjenige zu
erkennen, vermittelst dessen das Untertauchen der menschlichen Seele in die
volle Wirklichkeit durchschaut werden kann, muß man sich sorgfältig davor
bewahren, in dem gewöhnlichen Bewußtsein, das man von diesem "Ich"
hat, das wirkliche Ich zu sehen. Wenn man, durch eine solche Verwechslung
verführt, wie der Philosoph Descartes sagen wollte: "Ich denke, also bin
ich," so würde man von der Wirklichkeit jedesmal dann widerlegt, wenn man
schläft. Denn dann ist man, ohne daß man denkt. Das Denken verbürgt nicht die
Wirklichkeit des "Ich". Aber ebenso gewiß ist, daß durch nichts anderes
das wahre Ich erlebt werden kann als allein durch das reine Denken. Es ragt
eben in das reine Denken, und für das gewöhnliche menschliche Bewußtsein nur in
dieses, das wirkliche Ich herein. Wer bloß denkt, der kommt nur bis zu dem
Gedanken des "Ich"; wer erlebt, was im reinen Denken erlebt werden
kann, der macht, indem er das "Ich" durch das Denken erlebt, ein
Wirkliches, das Form und Materie zugleich ist, zum Inhalte seines Bewußtseins.
Aber außer diesem "Ich" gibt es zunächst für das gewöhnliche Bewußtsein
nichts, was in das Denken Form und Materie zugleich hereinsenkt. Alle anderen
Gedanken sind zunächst nicht Bilder einer vollen Wirklichkeit. Doch indem man
im reinen Denken das wahre Ich als Erlebnis erfährt, lernt man kennen, was
volle Wirklichkeit ist. Und man kann von diesem Erlebnis weiter vordringen zu
anderen Gebieten der wahren Wirklichkeit.
Dies versucht die Anthroposophie. Sie bleibt
nicht bei den Erlebnissen des gewöhnlichen Bewußtseins stehen. Sie strebt nach
einer Wirklichkeitsforschung, die mit einem verwandelten Bewußtsein arbeitet.
Das gewöhnliche Bewußtsein schaltet sie mit Ausnahme des im reinen Denken
erlebten Ich für die Zwecke ihrer Forschung aus. Und sie setzt an dessen Stelle
ein solches Bewußtsein, das sich in seinem vollen Umfange so betätigt, wie das
gewöhnliche Bewußtsein dies nur dann zustande bringt, wenn es das Ich im reinen
Denken erlebt. Um das so Angestrebte zu erreichen, muß die Seele die Kraft
erwerben, sich von aller
äußeren Wahrnehmung und von allen
Vorstellungen zurückzuziehen, die im gewöhnlichen Leben der menschlichen
Innenwelt so anvertraut werden, daß sie in der Erinnerung wieder aufleben
können. Die meisten Menschen, welche eine Erkenntnis der wahren Wirklichkeit
anstreben, stellen in Abrede, daß von der Menschenseele das hier
Gekennzeichnete erreicht werden könne. Ungeprüft stellen sie es in Abrede. Denn
die Prüfung kann nur dadurch geschehen, daß man innerhalb des Seelenlebens
diejenigen inneren Verrichtungen vornimmt, die zu der angegebenen Umwandlung
des Bewußtseins führen. (Ich habe ausführlich von diesen inneren
Seelenverrichtungen in meinem Buche "Wie erlangt man Erkenntnisse der
höheren Welten?" und in anderen meiner Bücher gesprochen.) Wer sich
dagegen ablehnend verhält, kann nie in die wahre Wirklichkeit eindringen. -
Hier kann nur von dem Prinzipiellen dieser Seelenverrichtungen gesprochen
werden. (Genaues findet man in dem genannten und anderen meiner Bücher.) Die
Seelenkräfte, die im gewöhnlichen Leben und in der gewöhnlichen Wissenschaft in
das Wahrnehmen und in ein Vorstellen einfließen, das in der Erinnerung wieder
aufleben kann, sie können auch auf das Erleben einer übersinnlichen, geistigen
Welt gerichtet werden. Man erlebt auf diese Art zunächst seine eigene,
übersinnliche Wesenheit. Man durchschaut, warum man im gewöhnlichen Bewußtsein
diese übersinnliche Wesenheit nie erreichen kann. (Immer ausgenommen in dem
einen Punkt des wahren Ich, das man aber in seiner Isoliertheit nicht
unmittelbar erkennen kann.) Dieses gewöhnliche Bewußtsein kommt eben dadurch
zustande, daß das Leiblich-Körperhafte des Menschen dessen übersinnliche
Wesenheit gewissermaßen aufsaugt und an deren Stelle wirkt. Die gewöhnliche
Wahrnehmung der sinnlichen Welt ist diejenige Tätigkeit des Menschenorganismus,
die durch Umwandlung der übersinnlichen Menschenwesenheit in Sinnliches sich
vollzieht. Das gewöhnliche Vorstellen entsteht auf eben dieselbe Art. Nur daß
die Wahrnehmung im Wechselverhältnis des Menschenorganismus mit der Außenwelt
sich vollzieht, das Vorstellen im Innern dieses Organismus selbst abläuft. -
Auf der Einsicht in diese Tatsachen beruht alle wahre Wirklichkeits-Erkenntnis.
Diese Einsicht zu erwerben, muß für den Erkenntnis Suchenden innere
Seelenarbeit werden. Die Denkgewohnheiten unserer Zeit verwechseln diese innere
Seelenarbeit mit allen möglichen Arten nebelhaft mystischer Dilettantismen. Sie
ist in Wahrheit das gerade Gegenteil davon. Sie lebt in der vollsten, inneren
Seelenklarheit. Das streng logische Denken ist ihr Vorbild und Ausgangspunkt.
Was nicht in solch reiner, innerer Klarheit erlebt wird wie dieses, schließt
sie von sich aus. Aber dieses bloße logische Denken verhält sich zu ihr selbst
wie das Schattenbild zu dem schattenwerfenden Gegenstand. Durch sie erkraftet
sich das menschliche Erkenntnisstreben so, daß es nicht allein abstrakte
Gedanken erlebt, sondern von geistiger Wirklichkeit durchtränkten Inhalt. Eine
Erkenntnis lebt in der Seele auf, von der ein nicht umgewandeltes Bewußtsein
sich keine Vorstellung machen kann. Mit irgendeiner Form der visionären oder
sonstigen krankhaften Art des Seelenlebens hat diese Steigerung des Bewußtseins
nichts zu tun. Denn diese Formen beruhen auf einer Herabstimmung des
Seelenlebens unter die Sphäre, in welcher das logisch klare Denken wirkt; die
anthroposophische Forschung führt aber über diese Sphäre in das Geistige
hinauf. Bei jenen Formen wirkt stets der körperlich-leibliche Organismus mit;
die anthroposophische Forschung erkraftet das Seelenleben so, daß dieses ohne
den Organismus im Bereich des Übersinnlichen sich betätigen kann. - Um solche
Erkraftung des Seelenlebens zu erreichen, ist zunächst notwendig, sich zu üben
in bildhaftem Denken.. Man stellt in das Bewußtsein herein so
lebendig-anschauliche Vorstellungen, wie sie sonst nur unter dem Einfluß der
äußeren Sinneswahrnehmung entstehen. Dadurch lebt man mit dem Bewußtsein in
einer solch regen Tätigkeit, die sonst nur von äußerem Ton oder äußerer Farbe
oder einer anderen Sinneswahrnehmung hervorgerufen wird, die jetzt aber durch
Aufrufung rein innerer Kraftanstrengung vollbracht wird. Diese Tätigkeit ist
zugleich ein Denken, aber ein solches, das nicht in abstrakten Begriffen die
sinnliche Anschauung begleitet, sondern das selbst sich steigert bis zur
Anschaulichkeit, die im gewöhnlichen Leben nur in Sinnesbildern lebt. - Nicht
darauf kommt es an, was man so denkt, sondern darauf, daß man sich einer
solchen, von dem gewöhnlichen Bewußtsein nie geübten Tätigkeit bewußt wird.
Denn dadurch lernt man sich in dem übersinnlichen Wesen seines Ich erleben, das
sich im gewöhnlichen Seelenleben hinter den Offenbarungen des
körperlich-leiblichen Organismus verbirgt. Mit dem, was man auf diese Art als
ein umgewandeltes Selbstbewußtsein erworben hat, läßt sich erst die
übersinnliche Wirklichkeit wahrnehmen. Um dies zu können, sind noch andere
Seelenverrichtungen notwendig, die sich auf Wollen und Fühlen beziehen, während
die bisher gemeinten es mit umgewandelten Wahrnehmungs- und Vorstellungskräften
zu tun haben. Wollen und Fühlen beziehen sich im gewöhnlichen Seelenleben auf
Wesen oder Vorgänge, die außerhalb des eigenen Seelenlebens liegen. Um die
übersinnliche Wirklichkeit in den Erkenntnisbereich zu ziehen, muß die Seele
dieselben Betätigungen entfalten, die sonst im Fühlen und Wollen auf Äußeres
gehen; diese Betätigungen müssen aber lediglich das eigene, innere Leben
ergreifen. Der Mensch muß, um im Übersinnlichen zu forschen, für die Dauer
dieser Forschung Wollen und Fühlen ganz von der Außenwelt ablenken und von
ihnen nur das ergreifen lassen, was nach den umgewandelten Wahrnehmungs- und
Vorstellungskräften im Innern der Seele lebt. Man fühlt nur und durchsetzt nur
mit Willensimpulsen, was man als umgewandeltes Selbstbewußtsein durch das zu
innerer Anschaulichkeit gesteigerte Denken erlebt. (Das Genauere über diese
Umwandlung von Fühlen und Wollen findet man in den oben bezeichneten Büchern.)
Dadurch aber geht mit dem Seelenleben eine völlige Umwandlung vor sich. Es
erlebt sich als geistige Eigenwesenheit in einer wirklichen
übersinnlich-geistigen Umwelt, wie sich für das gewöhnliche Bewußtsein der
Mensch durch seine Sinne und das an diese gebundene Vorstellungsvermögen in
einer sinnlich-physischen Umwelt erlebt.
Der Mensch strebt eine Erkenntnis der
wahrhaftigen Wirklichkeit an. Der erste Schritt für eine ihm mögliche
Befriedigung dieses Strebens ist die Einsicht, daß ihm solche Erkenntnis nicht
durch Naturbetrachtung und auch nicht durch gewöhnliches, mystisches Innenleben
werden kann. Denn zwischen beiden klafft ein Abgrund - wie im Beginne dieser
Auseinandersetzungen gezeigt worden ist -, der erst ausgefüllt werden muß.
Durch die hier skizzenhaft geschilderte Umwandlung des Bewußtseins wird dieser
Abgrund ausgefüllt. Niemand kann zu der angestrebten Erkenntnis der wahrhaften
Wirklichkeit gelangen, der nicht erkannt hat, daß zu dieser Erkenntnis die
gewöhnlichen Erkenntnismittel nicht ausreichen und daß die zu ihr notwendigen
Erkenntnismittel erst ausgebildet werden müssen. Der Mensch fühlt, daß mehr in
ihm schlummert, als im gewöhnlichen Leben und in der gewöhnlichen Wissenschaft
sein Bewußtsein umfaßt. Er verlangt instinktiv nach einer Erkenntnis, welche
für dieses Bewußtsein nicht erreichbar ist. Er darf nicht davor
zurückschrecken, zur Erlangung dieser Erkenntnis die Kräfte, welche im
gewöhnlichen Bewußtsein auf die sinnliche Welt gerichtet sind, so umzuwandeln,
daß sie eine übersinnliche Welt ergreifen können. Bevor man die wahre
Wirklichkeit ergreifen kann, muß man erst den Seelenzustand herstellen, der auf
die übersinnliche Welt Bezug haben kann. Was für das gewöhnliche Bewußtsein
erreichbar ist, hängt von der Menschheitsorganisation ab, die im Tode zerfällt.
Deshalb ist es begreiflich, daß die Erkenntnis dieses Bewußtseins von dem
Übersinnlichen, dem Ewigen in der Menschennatur nichts wissen kann. Erst das verwandelte
Bewußtsein schaut in diejenige Welt, in welcher der Mensch als übersinnliches
Wesen lebt, als ein Wesen, das von dem Zerfall des sinnlichen Organismus nicht
berührt wird.
Das Bekennen zu dem verwandlungsfähigen
Bewußtsein und damit zu einer wahren Wirklichkeitsforschung liegt den
Denkgewohnheiten der Gegenwart noch fern. Vielleicht ferner, als zu Kopernikus'
Zeit den Menschen das physische Weltsystem dieses Denkers gelegen hat. Aber so
wie dieses den Zugang zu den Menschenseelen durch alle Hemmnisse hindurch
gefunden hat, so wird ihn auch die anthroposophische Geisteswissenschaft
finden. Sie zu verstehen, wird auch der Philosophie der Gegenwart schwer, weil
diese ihren Ursprung aus einer Vorstellungsart herleitet, welche die
fruchtbaren Keime einer vorurteilslosen Begriffstechnik, die schon im
Aristotelismus liegen, nicht. zur Entfaltung bringen konnte. Aus diesem Mangel
aber entsprang, wie hier gezeigt worden ist, der andere, daß man sich durch
künstliche Begriffsgespinste von der wahren Wirklichkeit, die man zu einem
unnahbaren "Ding an sich" machte, abschloß. Durch diese ihre
Grundrichtung muß die Philosophie der Gegenwart die Anthroposophie ablehnen.
Denn für ihre Begriffe von
Wissenschaftlichkeit kann diese Anthroposophie als nichts anderes denn als
Dilettantismus erscheinen. Wer die in Betracht kommenden Dinge durchschaut, dem
wird nicht unbegreiflich, sondern eigentlich selbstverständlich dieser Vorwurf
des Dilettantismus erscheinen. Hier sollte der Quell dieses Vorwurfes dargelegt
werden.
Man kann aus dieser Darlegung vielleicht
ersehen, was notwendig geschehen muß, bevor die Philosophen dazu kommen werden,
einzusehen, daß Anthroposophie nicht Dilettantismus ist. Es ist notwendig, daß
die Philosophie mit ihrem Begriffssystem sich zu einem vorurteilslosen Erkennen
ihrer eigenen Grundlagen hindurcharbeite. Es verhält sich, was hier in Betracht
kommt, nicht so, daß Anthroposophie einer gesunden Philosophie widerspräche,
sondern so, daß eine für Wissenschaft geltende neuere Erkenntnistheorie den
tieferen Grundlagen einer wahren Philosophie selbst widerspricht. Diese
Erkenntnistheorie wandelt in Irrgängen und muß erst aus diesen herauskommen,
wenn sie Verständnis für anthroposophisches Weltbegreifen entwickeln will.