VII
Gibt es Grenzen des Erkennens?
Wir haben festgestellt,
daß die Elemente zur Erklärung der Wirklichkeit den
beiden Sphären: dem Wahrnehmen und dem Denken zu
entnehmen sind. Unsere Organisation bedingt es, wie wir
gesehen haben, daß uns die volle, totale Wirklichkeit,
einschließlich unseres eigenen Subjektes, zunächst
als Zweiheit erscheint. Das Erkennen überwindet diese
Zweiheit, indem es aus den beiden Elementen der Wirklichkeit:
derWahrnehmung und dem durch das Denken erarbeiteten Begriff
das ganze Ding zusammenfügt. Nennen wir die Weise, in
der uns die Welt entgegentritt, bevor sie durch das Erkennen
ihre rechte Gestalt gewonnen hat, die Welt der Erscheinung im
Gegensatz zu der aus Wahrnehmung und Begriff einheitlich
zusammengesetzten Wesenheit. Dann können wir sagen: Die
Welt ist uns als Zweiheit (dualistisch) gegeben, und das
Erkennen verarbeitet sie zur Einheit (monistisch). Eine
Philosophie, welche von diesem Grundprinzip ausgeht, kann als
monistische Philosophie oder Monismus bezeichnet
werden. Ihr steht gegenüber die Zweiweltentheorie oder
der Dualismus. Der letztere nimmt nicht etwa zwei
bloß durch unsere Organisation auseinandergehaltene
Seiten der einheitlichen Wirklichkeit an, sondern zwei
voneinander absolut verschiedene Welten. Er sucht dann
Erklärungsprinzipien für die eine Welt in der
andern.
Der Dualismus beruht auf einer falschen Auffassung
des sen, was wir Erkenntnis nennen. Er trennt das gesamte
Sein in zwei Gebiete, von denen jedes seine eigenen Gesetze
hat, und läßt diese Gebiete einander
äußerlich gegenüberstehen
Einem solchen Dualismus entspringt die durch Kant
in die Wissenschaft eingeführte und bis heute nicht
wieder herausgebrachte Unterscheidung vonWahrnehmungsobjekt
und «Ding an sich». Unseren Ausführungen
gemäß liegt es in der Natur unserer geistigen
Organisation, daß ein besonderes Ding, nur als
Wahrnehmung gegeben sein kann. Das Denken überwindet
dann die Besonderung, indem es jeder Wahrnehmung ihre
gesetzmäßige Stelle im Weltganzen anweist. Solange
die gesonderten Teile des Weltganzen als Wahrnehmungen
bestimmt werden, folgen wir einfach in der Aussonderung einem
Gesetze unserer Subjektivität. Betrachten wir aber die
Summe aller Wahrnehmungen als den einen Teil und stellen
diesem dann einen zweiten in den «Dingen an sich»
gegenüber, so philosophieren wir ins Blaue hinein. Wir
haben es dann mit einem bloßen Begriffsspiel zu tun. Wir
konstruieren einen künstlichen Gegensatz, können
aber für das zweite Glied desselben keinen Inhalt
gewinnen, denn ein solcher kann für ein besonderes Ding
nur aus der Wahrnehmung geschöpft werden.
Jede Art des Seins, das außerhalb des Gebietes
von Wahrnehmung und Begriff angenommen wird, ist in die
Sphäre der unberechtigten Hypothesen zu verweisen. In
diese Kategorie gehört das «Ding an sich». Es
ist nur ganz natürlich, daß der dualistische Denker
den Zusammenhang des hypothetisch angenommenen Weltprinzipes
und des erfahrungsmäßig Gegebenen nicht finden
kann. Für das hypothetische Weltprinzip läßt
sich nur ein Inhalt gewinnen, wenn man ihn aus der
Erfahrungswelt entlehnt und sich über diese Tatsache
hinwegtäuscht. Sonst bleibt es ein inhaltsleerer
Begriff, ein Unbegriff, der nur die Form des Begriffes hat.
Der dualistische Denker behauptet dann gewöhnlich: der
Inhalt dieses Begriffes sei unserer Erkenntnis
unzugänglich; wir könnten nur wissen,
daß ein solcher Inhalt vorhanden ist, nicht was
vorhanden ist. In beiden Fällen ist die Überwindung
des Dualismus unmöglich. Bringt man ein paar abstrakte
Elemente der Erfahrungswelt in den Begriff des Dinges an sich
hinein, dann bleibt es doch unmöglich, das reiche
konkrete Leben der Erfahrung auf ein paar Eigenschaften
zurückzuführen, die selbst nur aus dieser
Wahrnehmung entnommen sind. Du Bois-Reymond denkt,
daß die unwahrnehmbaren Atome der Materie durch ihre
Lage und Bewegung Empfindung und Gefühl erzeugen, um
dann zu dem Schlusse zu kommen: Wir können niemals zu
einer befriedigenden Erklärung darüber kommen, wie
Materie und Bewegung Empfindung und Gefühl erzeugen,
denn «es ist eben durchaus und für immer
unbegreiflich, daß es einer Anzahl von Kohlenstoff,
Wasserstoff, Stickstoff, Sauerstoff, usw. Atomen nicht sollte
gleichgültig sein, wie sie liegen und sich bewegen, wie
sie lagen und sich bewegten, wie sie liegen und sich bewegen
werden. Es ist in keiner Weise einzusehen, wie aus ihrem
Zusammenwirken Bewußtsein entstehen könne».
Diese Schlußfolgerung ist charakteristisch für die
ganze Denkrichtung. Aus der reichen Welt der Wahrnehmungen
wird abgesondert: Lage und Bewegung. Diese werden auf die
erdachte Welt der Atome übertragen. Dann tritt die
Verwunderung darüber ein, daß man aus diesem
selbstgemachten und aus der Wahrnehmungswelt entlehnten
Prinzip das konkrete Leben nicht herauswickeln kann.
Daß der Dualist, der mit einem
vollständig inhaltleeren Begriff vom An-sich arbeitet,
zu keiner Welterklärung kommen kann, folgt schon aus der
oben angegebenen Definition seines Prinzipes.
In jedem Falle sieht sich der Dualist gezwungen,
unserem Erkenntnisvermögen unübersteigliche
Schranken zu setzen. Der Anhänger einer monistischen
Weltanschauung weiß, daß alles, was er zur
Erklärung einer ihm gegebenen Erscheinung der Welt
braucht, im Bereiche der letztem liegen müsse. Was ihn
hindert, dazu zu gelangen, können nur zufällige
zeitliche oder räumliche Schranken oder Mängel
seiner Organisation sein. Und zwar nicht der menschlichen
Organisation im allgemeinen, sondern nur seiner besonderen
individuellen.
Es folgt aus dem Begriffe des Erkennens, wie wir
ihn bestimmt haben, daß von Erkenntnisgrenzen nicht
gesprochen werden kann. Das Erkennen ist keine allgemeine
Weltangelegenheit, sondern ein Geschäft, das der Mensch
mit sich selbst abzumachen hat. Die Dinge verlangen keine
Erklärung. Sie existieren und wirken aufeinander nach
den Gesetzen, die durch das Denken auffindbar sind. Sie
existieren in unzertrennlicher Einheit mit diesen Gesetzen.
Da tritt ihnen unsere Ichheit gegenüber und erfaßt
von ihnen zunächst nur das, was wir als Wahrnehmung
bezeichnet haben. Aber in dem Innern dieser Ichheit findet
sich die Kraft, um auch den andern Teil der Wirklichkeit zu
finden. Erst wenn die Ichheit die beiden Elemente der
Wirklichkeit, die in der Welt unzertrennlich verbunden sind,
auch für sich vereinigt hat, dann ist die
Erkenntnisbefriedigung eingetreten: das Ich ist wieder bei
der Wirklichkeit angelangt.
Die Vorbedingungen zum Entstehen des Erkennens sind
also durch und für das Ich. Das
letztere gibt sich selbst die Fragen des Erkennens auf. Und
zwar entnimmt es sie aus dem in sich vollständig klaren
und durchsichtigen Elemente des Denkens. Stellen wir uns
Fragen, die wir nicht beantworten können, so kann der
Inhalt der Frage nicht in allen seinen Teilen klar und
deutlich sein. Nicht die Welt stellt an uns die Fragen,
sondern wir selbst stellen sie.
Ich kann mir denken, daß mir jede
Möglichkeit fehlt, eine Frage zu beantworten, die ich
irgendwo aufgeschrieben finde, ohne daß ich die
Sphäre kenne, aus der der Inhalt der Frage genommen
ist.
Bei unserer Erkenntnis handelt es sich um Fragen,
die uns dadurch aufgegeben werden, daß einer durch Ort,
Zeit und subjektive Organisation bedingten
Wahrnehmungssphäre eine auf die Allheit der Welt
weisende Begriffssphäre gegenübersteht. Meine
Aufgabe besteht in dem Ausgleich dieser beiden mir
wohlbekannten Sphären. Von einer Grenze der Erkenntnis
kann da nicht gesprochen werden. Es kann zu irgendeiner Zeit
dieses oder jenes unaufgeklärt bleiben, weil wir durch
den Lebensschauplatz verhindert sind, die Dinge wahrzunehmen,
die dabei im Spiele sind. Was aber heute nicht gefunden ist,
kann es morgen werden. Die hierdurch bedingten Schranken sind
nur vergängliche, die mit dem Fortschreiten von
Wahrnehmung und Denken überwunden werden
können.
Der Dualismus begeht den Fehler, daß er den
Gegensatz von Objekt und Subjekt, der nur innerhalb des
Wahrnehmungsgebietes eine Bedeutung hat, auf rein erdachte
Wesenheiten außerhalb desselben überträgt. Da
aber die innerhalb des Wahrnehmungshorizontes gesonderten
Dinge nur solange gesondert sind, als der Wahrnehmende sich
des Denkens enthält, das alle Sonderung aufhebt und als
eine bloß subjektiv bedingte erkennen läßt, so
überträgt der Dualist Bestimmungen auf Wesenheiten
hinter den Wahrnehmungen, die selbst für diese keine
absolute, sondern nur eine relative Geltung haben. Er zerlegt
dadurch die zwei für den Erkenntnisprozeß in
Betracht kommenden Faktoren, Wahrnehmung und Begriff, in
vier: 1. Das Objekt an sich; 2. die Wahrnehmung, die das
Subjekt von dem Objekt hat; 3. das Subjekt; 4. den Begriff,
der die Wahrnehmung auf das Objekt an sich bezieht. Die
Beziehung zwischen dem Objekt und Subjekt ist eine
reale; das Subjekt wird wirklich (dynamisch) durch
das Objekt beeinflußt. Dieser reale Prozeß soll
nicht in unser Bewußtsein fallen. Aber er soll im
Subjekt eine Gegenwirkung auf die vom Objekt ausgehende
Wirkung hervorrufen. Das Resultat dieser Gegenwirkung soll
die Wahrnehmung sein. Diese falle erst ins Bewußtsein.
Das Objekt habe eine objektive (vom Subjekt
unabhängige), die Wahrnehmung eine subjektive
Realität. Diese subjektive Realität beziehe das
Subjekt auf das Objekt. Die letztere Beziehung sei eine
ideelle. Der Dualismus spaltet somit den
Erkenntnisprozeß in zwei Teile. Den einen, Erzeugung des
Wahrnehmungsobjektes aus dem «Ding an sich»,
läßt er außerhalb, den andern,
Verbindung der Wahrnehmung mit dem Begriff und Beziehung
desselben auf das Objekt, innerhalb des
Bewußtseins sich abspielen. Unter diesen
Voraussetzungen ist es klar, daß der Dualist in seinen
Begriffen nur subjektive Repräsentanten dessen zu
gewinnen glaubt, was vor seinem Bewußtsein liegt. Der
objektiv-realeVorgang im Subjekte, durch den die Wahrnehmung
zustande kommt, und um so mehr die objektiven Beziehungen der
«Dinge an sich» bleiben für einen solchen
Dualisten direkt unerkennbar; seiner Meinung nach kann sich
der Mensch nur begriffliche Repräsentanten für das
objektiv Reale verschaffen. Das Einheitsband der Dinge, das
diese unter sich und objektiv mit unserem Individualgeist
(als «Ding an sich») verbindet, liegt jenseits des
Bewußtseins in einem Wesen an sich, von dem wir in
unserem Bewußtsein ebenfalls nur einen begrifflichen
Repräsentanten haben könnten.
Der Dualismus glaubt die ganze Welt zu einem
abstrakten Begriffsschema zu verflüchtigen, wenn er
nicht neben den begrifflichen Zusammenhängen der
Gegenstände noch reale Zusammenhänge statuiert. Mit
andern Worten: dem Dualisten erscheinen die durch das Denken
auffindbaren Idealprinzipien zu luftig, und er sucht noch
Realprinzipien, von denen sie gestützt werden
können.
Wir wollen uns diese Realprinzipien einmal
näher anschauen. Der naive Mensch (naive Realist)
betrachtet die Gegenstände der äußeren
Erfahrung als Realitäten. Der Umstand, daß er diese
Dinge mit seinen Händen greifen, mit seinen Augen sehen
kann, gilt ihm als Zeugnis der Realität. «Nichts
existiert, was man nicht wahrnehmen kann», ist geradezu
als das erste Axiom des naiven Menschen anzusehen, das
ebensogut in seiner Umkehrung anerkannt wird: «Alles,
was wahrgenommen werden kann, existiert.» Der beste
Beweis für diese Behauptung ist der Unsterblichkeits,
und Geisterglaube des naiven Menschen. Er stellt sich die
Seele als feine sinnliche Materie vor, die unter besonderen
Bedingungen sogar für den gewöhnlichen Menschen
sichtbar werden kann (naiver Gespensterglaube).
Dieser seiner realen Welt gegenüber ist
für den naiven Realisten alles andere, namentlich die
Welt der Ideen, unreal, «bloß ideell». Was wir
zu den Gegenständen hinzu-denken, das ist bloßer
Gedanke über die Dinge. Der Gedanke fügt
nichts Reales zu der Wahrnehmung hinzu.
Aber nicht nur in bezug auf das Sein der Dinge
hält der naive Mensch die Sinneswahrnehmung für das
einzige Zeugnis der Realität, sondern auch in bezug auf
das Geschehen. Ein Ding kann, nach seiner Ansicht, nur dann
auf ein anderes wirken, wenn eine für die
Sinneswahrnehmung vorhandene Kraft von dem einen ausgeht und
das andere ergreift. Die ältere Physik glaubte, daß
sehr feine Stoffe von den Körpern ausströmen und
durch unsere Sinnesorgane in die Seele eindringen. Das
wirkliche Sehen dieser Stoffe ist nur durch die Grobheit
unserer Sinne im Verhältnis zu der Feinheit dieser
Stoffe unmöglich. Prinzipiell gestand man diesen Stoffen
aus demselben Grunde Realität zu, warum man es den
Gegenständen der Sinnenwelt zugesteht, nämlich
wegen ihrer Seinsform, die derjenigen der sinnenfälligen
Realität analog gedacht wurde.
Die in sich beruhende Wesenheit des ideell
Erlebbaren gilt dem naiven Bewußtsein nicht in gleichem
Sinne als real wie das sinnlich Erlebbare. Ein in der
«bloßen Idee» gefaßter Gegenstand gilt so
lange als bloße Schimäre, bis durch die
Sinneswahrnehmung die Überzeugung von der Realität
geliefert werden kann. Der naive Mensch verlangt, um es kurz
zu sagen, zum ideellen Zeugnis seines Denkens noch das reale
der Sinne. In diesem Bedürfnisse des naiven Menschen
liegt der Grund zur Entstehung der primitiven Formen des
Offenbarungsglaubens. Der Gott, der durch das Denken gegeben
ist, bleibt dem naiven Bewußtsein immer nur ein
«gedachter» Gott. Das naive
Bewußtsein verlangt die Kundgebung durch Mittel, die der
sinnlichen Wahrnehmung zugänglich sind. Der Gott
muß leibhaftig erscheinen, und man will auf das Zeugnis
des Denkens wenig geben, nur etwa darauf, daß die
Göttlichkeit durch sinnenfällig konstatierbares
Verwandeln von Wasser in Wein erwiesen wird.
Auch das Erkennen selbst stellt sich der naive
Mensch als einen den Sinnesprozessen analogen Vorgang vor.
Die Dinge machen einen Eindruck in der Seele, oder
sie senden Bilder aus, die durch die Sinne eindringen und so
weiter.
Dasjenige, was der naive Mensch mit den Sinnen
wahrnehmen kann, das hält er für wirklich, und
dasjenige, wovon er keine solche Wahrnehmung hat (Gott,
Seele, das Erkennen usw.), das stellt er sich analog dem
Wahrgenommenen vor.
Will der naive Realismus eine Wissenschaft
begründen, so kann er eine solche nur in einer genauen
Beschreibung des Wahrnehmungsinhaltes sehen. Die
Begriffe sind ihm nur Mittel zum Zweck. Sie sind da, um
ideelle Gegenbilder für die Wahrnehmungen zu schaffen.
Für die Dinge selbst bedeuten sie nichts. Als real
gelten dem naiven Realisten nur die Tulpenindividuen, die
gesehen werden, oder gesehen werden können; die eine
Idee der Tulpe gilt ihm als Abstraktum, als das unreale
Gedankenbild, das sich die Seele aus den allen Tulpen
gemeinsamen Merkmalen zusammengefügt hat.
Den naiven Realismus mit seinem Grundsatz von der
Wirklichkeit alles Wahrgenommenen widerlegt die Erfahrung,
welche lehrt, daß der Inhalt der Wahrnehmungen
vergänglicher Natur ist. Die Tulpe, die ich sehe, ist
heute wirklich; nach einem Jahr wird sie in Nichts
verschwunden sein. Was sich behauptet hat, ist die
Gattung Tulpe. Diese Gattung ist aber für den
naiven Realismus «nur» eine Idee,
keine Wirklichkeit. So sieht sich denn diese Weltanschauung
in der Lage, ihre Wirklichkeiten kommen und verschwinden zu
sehen, während sich das nach ihrer Meinung Unwirkliche
dem Wirklichen gegenüber behauptet. Der naive Realismus
muß also neben den Wahrnehmungen auch noch etwas
Ideelles gelten lassen. Er muß Wesenheiten in sich
aufnehmen, die er nicht mit den Sinnen wahrnehmen kann. Er
findet sich dadurch mit sich selbst ab, daß er deren
Daseinsform analog mit derjenigen der Sinnesobjekte denkt.
Solche hypothetisch angenommenen Realitäten sind die
unsichtbaren Kräfte, durch die die sinnlich
wahrzunehmenden Dinge aufeinander wirken. Ein solches Ding
ist die Vererbung, die über das Individuum hinaus
fortwirkt, und die der Grund ist, daß sich aus dem
Individuum ein neues entwickelt, das ihm ähnlich ist,
wodurch sich die Gattung erhält. Ein solches Ding ist
das den organischen Leib durchdringende Lebensprinzip, die
Seele, für die man im naiven Bewußtsein stets einen
nach Analogie mit Sinnesrealitäten gebildeten Begriff
findet, und ist endlich das göttliche Wesen des naiven
Menschen. Dieses göttliche Wesen wird in einer Weise
wirksam gedacht, die ganz dem entspricht, was als Wirkungsart
des Menschen selbst wahrgenommen werden kann:
anthropomorphisch.
Die moderne Physik führt die
Sinnesempfindungen auf Vorgänge der kleinsten Teile der
Körper und eines unendlich feinen Stoffes, des
Äthers oder auf Ähnliches zurück. Was wir zum
Beispiel als Wärme empfinden, ist innerhalb des Raumes,
den der wärmeverursachende Körper einnimmt,
Bewegung seiner Teile. Auch hier wird wieder ein
Unwahrnehmbares in Analogie mit dem Wahrnehmbaren gedacht.
Das sinnliche Analogon des Begriffs «Körper»
ist in diesem Sinne etwa das Innere eines allseitig
geschlossenen Raumes, in dem sich nach allen Richtungen
elastische Kugeln bewegen, die einander stoßen, an die
Wände an- und von ihnen abprallen und so weiter.
Ohne solche Annahmen zerfiele dem naiven Realismus
die Welt in ein unzusammenhängendes Aggregat von
Wahrnehmungen ohne gegenseitige Beziehungen, das sich zu
keiner Einheit zusammenschließt. Es ist aber klar,
daß der naive Realismus nur durch eine Inkonsequenz zu
dieser Annahme kommen kann. Wenn er seinem Grundsatz: nur das
Wahrgenommene ist wirklich, treu bleiben will, dann darf er
doch, wo er nichts wahrnimmt, kein Wirkliches annehmen. Die
unwahrnehmbaren Kräfte, die von den wahrnehmbaren Dingen
aus wirken, sind eigentlich unberechtigte Hypothesen vom
Standpunkte des naiven Realismus. Und weil er keine anderen
Realitäten kennt, so stattet er seine hypothetischen
Kräfte mit Wahrnehmungsinhalt aus. Er wendet also eine
Seinsform (das Wahrnehmungsdasein) auf ein Gebiet an, wo ihm
das Mittel fehlt, das allein über diese Seinsform eine
Aussage zu machen hat: das sinnliche Wahrnehmen.
Diese in sich widerspruchsvolle Weltanschauung
führt zum metaphysischen Realismus. Der konstruiert
neben der wahrnehmbaren Realität noch eine
unwahrnehmbare, die er der erstem analog denkt. Der
metaphysische Realismus ist deshalb notwendig Dualismus.
Wo der metaphysischeRealismus eine Beziehung
zwischen wahrnehmbaren Dingen bemerkt (Annäherung durch
Bewegung, Bewußtwerden eines Objektiven usw.), da setzt
er eine Realität hin. Die Beziehung, die er bemerkt,
kann er jedoch nur durch das Denken ausdrücken, nicht
aber wahrnehmen. Die ideelle Beziehung wird willkürlich
zu einem dem Wahrnehmbaren Ähnlichen gemacht. So ist
für diese Denkrichtung die wirkliche Welt
zusammengesetzt aus den Wahrnehmungsobjekten, die im ewigen
Werden sind, kommen und verschwinden, und aus den
unwahrnehmbaren Kräften, von denen die
Wahrnehmungsobjekte hervorgebracht werden, und die das
Bleibende sind.
Der metaphysische Realismus ist eine
widerspruchsvolle Mischung des naiven Realismus mit dem
Idealismus. Seine hypothetischen Kräfte sind
unwahrnehmbare Wesenheiten mitWahrnehmungsqualitäten.Er
hat sich entschlossen, außer dem Weltgebiete, für
dessen Daseinsform er in dem Wahrnehmen ein Erkenntnismittel
hat, noch ein Gebiet gelten zu lassen, bei dem dieses Mittel
versagt, und das nur durch das Denken zu ermitteln ist. Er
kann sich aber nicht zu gleicher Zeit auch entschließen,
die Form des Seins, die ihm das Denken vermittelt, den
Begriff (die Idee), auch als gleichberechtigten Faktor neben
der Wahrnehmung anzuerkennen. Will man den Widerspruch der
unwahrnehmbaren Wahrnehmung vermeiden, so muß man
zugestehen, daß es für die durch das Denken
vermittelten Beziehungen zwischen den Wahrnehmungen für
uns keine andere Existenzform als die des Begriffes gibt. Als
die Summe von Wahrnehmungen und ihrer begrifflichen
(ideellen) Bezüge stellt sich die Welt dar, wenn man aus
dem metaphysischen Realismus den unberechtigten Bestandteil
hinauswirft. So läuft der metaphysische Realismus in
eine Weltanschauung ein, welche für die Wahrnehmung das
Prinzip der Wahrnehmbarkeit, für die Beziehungen unter
den Wahrnehmungen die Denkbarkeit fordert. Diese
Weltanschauung kann kein drittes Weltgebiet neben der
Wahrnehmungs, und Begriffswelt gelten lassen, für das
beide Prinzipien, das sogenannte Realprinzip und das
Idealprinzip, zugleich Geltung haben.
Wenn der metaphysische Realismus behauptet,
daß neben der ideellen Beziehung zwischen dem
Wahrnehmungsobjekt und seinem Wahrnehmungssubjekt noch eine
reale Beziehung zwischen dem «Ding an sich» der
Wahrnehmung und dem «Ding an sich» des
wahrnehmbaren Subjektes (des sogenannten Individualgeistes)
bestehen muß, so beruht diese Behauptung auf der
falschen Annahme eines den Prozessen der Sinnenwelt analogen,
nicht wahrnehmbaren Seinsprozesses. Wenn ferner der
metaphysische Realismus sagt: Mit meiner Wahrnehmungswelt
komme ich in ein bewußt-ideelles Verhältnis; mit
der wirklichen Welt kann ich aber nur in ein dynamisches
(Kräfte) Verhältnis kommen, — so begeht er nicht
weniger den schon gerügten Fehler. Von einem
Kräfteverhältnis kann nur innerhalb der
Wahrnehmungswelt (dem Gebiete des Tastsinnes), nicht aber
außerhalb desselben die Rede sein.
Wir wollen die oben charakterisierte
Weltanschauung, in die der metaphysische Realismus zuletzt
einmündet, wenn er seine widerspruchsvollen Elemente
abstreift, Monismus nennen, weil sie den einseitigen
Realismus mit dem Idealismus zu einer höheren Einheit
vereinigt.
Für den naiven Realismus ist die wirkliche
Welt eine Summe von Wahrnehmungsobjekten; für den
metaphysischen Realismus kommt außer den Wahrnehmungen
auch noch den unwahrnehmbarenKräftenRealität
zu;derMonismus setzt an die Stelle von Kräften die
ideellen Zusammenhänge, die er durch sein Denken
gewinnt. SolcheZusammenhänge aber sind die
Naturgesetze. Ein Naturgesetz ist ja nichts anderes
als der begriffliche Ausdruck für den Zusammenhang
gewisser Wahrnehmungen.
Der Monismus kommt gar nicht in die Lage,
außer Wahrnehmung und Begriff nach anderen
Erklärungsprinzipien der Wirklichkeit zu fragen. Er
weiß, daß sich im ganzen Be reiche der Wirklichkeit
kein Anlaß dazu findet. Er sieht in der
Wahrnehmungswelt, wie sie unmittelbar dem Wahrnehmen
vorliegt, ein halbes Wirkliches; in der Vereinigung derselben
mit der Begriffswelt findet er die volle Wirklichkeit. Der
metaphysische Realist kann dem Anhänger des Monismus
einwenden: Es mag sein, daß für deine Organisation
deine Erkenntnis in sich vollkommen ist, daß kein Glied
fehlt; du weißt aber nicht, wie sich die Welt in einer
Intelligenz abspiegelt, die anders organisiert ist als die
deinige. Die Antwort des Monismus wird sein: Wenn es andere
Intelligenzen gibt als die menschlichen, wenn ihre
Wahrnehmungen eine andere Gestalt haben als die unsrigen, so
hat für mich Bedeutung nur dasjenige, was von ihnen zu
mir durch Wahrnehmen und Begriff gelangt. Ich bin durch mein
Wahrnehmen, und zwar durch dieses spezifische menschliche
Wahrnehmen als Subjekt dem Objekt gegenübergestellt. Der
Zusammenhang der Dinge ist damit unterbrochen. Das Subjekt
stellt durch das Denken diesen Zusammenhang wieder
her.Damithat es sich demWeltganzen wieder eingefügt. Da
nur durch unser Subjekt dieses Ganze an der Stelle zwischen
unserer Wahrnehmung und unserem Begriff zerschnitten
erscheint, so ist in der Vereinigung dieser beiden auch eine
wahre Erkenntnis gegeben. Für Wesen mit einer andern
Wahrnehmungswelt (zum Beispiel mit der doppelten Anzahl von
Sinnesorganen) erschiene der Zusammenhang an einer andern
Stelle unterbrochen, und die Wiederherstellung
müßte demnach auch eine diesen Wesen spezifische
Gestalt haben. Nur für den naiven und den metaphysischen
Realismus, die beide in dem Inhalte der Seele nur eine
ideelle Repräsentation der Welt sehen, besteht die Frage
nach der Grenze des Erkennens. Für sie ist nämlich
das außerhalb des Subjektes Befindliche ein Absolutes,
ein in sich Beruhendes, und der Inhalt des Subjektes ein Bild
desselben, das schlechthin außerhalb dieses Absoluten
steht. Die Vollkommenheit der Erkenntnis beruht auf der
größeren oder geringeren Ähnlichkeit des
Bildes mit dem absoluten Objekte. Ein Wesen, bei dem die Zahl
der Sinne kleiner ist, als beim Menschen, wird weniger,
eines, bei dem sie größer ist, mehr von der Welt
wahrnehmen. Das erstere wird demnach eine unvollkommenere
Erkenntnis haben als das letztere.
Für den Monismus liegt die Sache anders. Durch
die Organisation des wahrnehmenden Wesens wird die Gestalt
bestimmt, wo der Weltzusammenhang in Subjekt und Objekt
auseinandergerissen erscheint. Das Objekt ist kein absolutes,
sondern nur ein relatives, in bezug auf dieses bestimmte
Subjekt. Die Überbrückung des Gegensatzes kann
demnach auch nur wieder in der ganz spezifischen, gerade dem
menschlichen Subjekt eigenen Weise geschehen. Sobald das Ich,
das in dem Wahrnehmen von der Welt abgetrennt ist, in der
denkenden Betrachtung wieder in denWeltzusammenhang sich
einfügt, dann hört alles weitere Fragen, das nur
eine Folge der Trennung war, auf.
Ein anders geartetes Wesen hätte eine anders
geartete Erkenntnis. Die unsrige ist ausreichend, um die
durch unser eigenes Wesen aufgestellten Fragen zu
beantworten.
Der metaphysische Realismus muß fragen:
Wodurch ist das als Wahrnehmung Gegebene gegeben; wodurch
wird das Subjekt affiziert?
Für den Monismus ist die Wahrnehmung durch das
Subjekt bestimmt. Dieses hat aber in dem Denken zugleich das
Mittel, die durch es selbst hervorgerufene Bestimmtheit
wieder aufzuheben.
Der metaphysische Realismus steht vor einer
weiteren Schwierigkeit, wenn er die Ähnlichkeit der
Weltbilder verschiedener menschlicher Individuen
erklären will. Er muß sich fragen: Wie kommt es,
daß das Weltbild, das ich aus meiner subjektiv
bestimmten Wahrnehmung und meinen Begriffen aufbaue,
gleichkommt dem, das ein anderes menschliches Individuum aus
denselben beiden subjektiven Faktoren aufbaut? Wie kann ich
überhaupt aus meinem subjektiven Weltbilde auf das eines
andern Menschen schließen? Daraus, daß die Menschen
sich miteinander praktisch abfinden, glaubt der metaphysische
Realist die Ähnlichkeit ihrer subjektiven Weltbilder
erschließen zu können. Aus der Ähnlichkeit
dieser Weltbilder schließt er dann weiter auf die
Gleichheit der den einzelnen menschlichen
Wahrnehmungssubjekten zugrunde liegenden Individualgeister
oder der den Subjekten zugrunde liegenden «Ich an
sich».
Dieser Schluß ist also ein solcher aus einer
Summe von Wirkungen auf den Charakter der ihnen zugrunde
liegenden Ursachen. Wir glauben aus einer hinreichend
großen Anzahl von Fällen den Sachverhalt so zu
erkennen, daß wir wissen, wie sich die erschlossenen
Ursachen in andern Fällen verhalten werden. Einen
solchen Schluß nennen wir einen Induktionsschluß.
Wir werden uns gendtigt sehen, die Resultate desselben zu
modifizieren, wenn in einer weitern Beobachtung etwas
Unerwartetes sich ergibt, weil der Charakter des Resultates
doch nur durch die individuelle Gestalt der geschehenen
Beobachtungen bestimmt ist. Diese bedingte Erkenntnis der
Ursachen reiche aber für das praktische Leben
vollständig aus, behauptet der metaphysische
Realist.
Der Induktionsschluß ist die methodische
Grundlage des modernen metaphysischen Realismus. Es gab eine
Zeit, in der man aus Begriffen glaubte etwas herauswickeln zu
können, was nicht mehr Begriff ist. Man glaubte aus den
Begriffen die metaphysischen Realwesen, deren der
metaphysische Realismus einmal bedarf, erkennen zu
können. Diese Art des Philosophierens gehört heute
zu den überwundenen Dingen. Dafür aber glaubt man,
aus einer genügend großen Anzahl von
Wahrnehmungstatsachen auf den Charakter des Dinges an sich
schließen zu können, das diesen Tatsachen zugrunde
liegt. Wie früher aus dem Begriffe, so meint man heute
das Metaphysische aus den Wahrnehmungen heraus-wickeln zu
können. Da man die Begriffe in durchsichtiger Klarheit
vor sich hat, so glaubte man aus ihnen auch das Metaphysische
mit absoluter Sicherheit ableiten zu können. Die
Wahrnehmungen liegen nicht mit gleich durchsichtiger Klarheit
vor. Jede folgende stellt sich wieder etwas anders dar, als
die gleichartigen vorhergehenden. Im Grunde wird daher das
aus den vorhergehenden Erschlossene durch jede folgende etwas
modifiziert. Die Gestalt, die man auf diese Weise für
das Metaphysische gewinnt, ist also nur eine relativ richtige
zu nennen; sie unterliegt der Korrektur durch künftige
Fälle. Einen durch diesen methodischen Grundsatz
bestimmten Charakter trägt die Metaphysik Eduard von
Hartmanns, der als Motto auf das Titelblatt seines ersten
Hauptwerkes gesetzt hat: «Spekulative Resultate nach
induktiv naturwissenschaftlicher Methode. »
Die Gestalt, die der metaphysische Realist
gegenwärtig seinen Dingen an sich gibt, ist eine durch
Induktionsschlüsse gewonnene. Von dem Vorhandensein
eines objektiv-realen Zusammenhanges der Welt neben dem
«subjektiven» durch Wahrnehmung und Begriff
erkennbaren, ist er durch Erwägungen über den
Erkenntnisprozeß überzeugt. Wie diese objektive
Realität beschaffen ist, das glaubt er durch
Induktionsschlüsse aus seinen Wahrnehmungen heraus
bestimmen zu können.
Zusatz zur Neuausgabe (1918). Für die
unbefangene Beobachtung des Erlebens in Wahrnehmung und
Begriff, wie sie in den vorangehenden Ausführungen zu
schildern versucht worden ist, werden gewisse Vorstellungen
immer wieder störend sein, die auf dem Boden der
Naturbetrachtung entstehen. Man sagt sich, auf diesem Boden
stehend, durch das Auge werden im Lichtspektrum Farben
wahrgenommen vom Rot bis zum Violett. Aber über das
Violett hinaus liegen im Strahlungsraum des Spektrums
Kräfte, welchen keine Farbwahrnehmung des Auges, wohl
aber eine chemische Wirkung entspricht; ebenso liegen
über die Grenze der Rotwirksamkeit hinaus Strahlungen,
die nur Wärmewirkungen haben. Man kommt durch
Überlegungen, die auf solche und ähnliche
Erscheinungen gerichtet sind, zu der Ansicht: der Umfang.der
menschlichen Wahrnehmungswelt ist durch den Umfang der Sinne
des Menschen bestimmt, und dieser würde eine ganz andere
Welt vor sich haben, wenn er zu den seinigen noch andere,
oder wenn er überhaupt andere Sinne hätte. Wer sich
ergehen mag in den ausschweifenden Phantasien, zu denen, nach
dieser Richtung hin, namentlich die glänzenden
Entdeckungen der neueren Naturforschung eine recht
verführerische Veranlassung bieten, der kann wohl zu dem
Bekenntnisse kommen: In des Menschen Beobachtungsfeld
fällt doch nur dasjenige herein, was auf die aus seiner
Organisation heraus gestalteten Sinne zu wirken vermag. Er
hat kein Recht, dieses von ihm durch seine Organisation
begrenzte Wahrgenommene als irgendwie maßgeblich
für die Wirklichkeit anzusehen. Jeder neue Sinn
müßte ihn vor ein anderes Bild der Wirklichkeit
stellen. — Dies alles ist, in den entsprechenden Grenzen
gedacht, eine durchaus berechtigte Meinung. Wenn aber jemand
sich durch diese Meinung in der unbefangenen Beobachtung des
in diesen Ausführungen geltend gemachten
Verhältnisses von Wahrnehmung und Begriff beirren
läßt, so verbaut er sich den Weg zu einer in der
Wirklichkeit wurzelnden Welt, und Menschenerkenntnis. Das
Erleben der Wesenheit des Denkens, also die tätige
Erarbeitung der Begriffswelt ist etwas durchaus anderes als
das Erleben eines Wahrnehmbaren durch die Sinne. Welche Sinne
immer der Mensch noch haben könnte: keiner gäbe ihm
eine Wirklichkeit, wenn er nicht das durch ihn vermittelte
Wahrgenommene denkend mit Begriffen durchsetzte; und jeder
wie immer geartete Sinn gibt, so durchsetzt, dem Menschen die
Möglichkeit, in der Wirklichkeit drinnen zu leben. Mit
der Frage: wie der Mensch in der wirklichen Welt steht, hat
die Phantasie von dem möglichen ganz anderen
Wahrnehmungsbild bei anderen Sinnen nichts zu tun. Man
muß eben einsehen, daß jedes
Wahrnehmungsbild seine Gestalt erhält von der
Organisation des wahrnehmenden Wesens, daß aber das von
der erlebten denkenden Betrachtung durchsetzte
Wahrnehmungsbild den Menschen in dieWirklichkeit führt.
Nicht die phantastische Ausmalung, wie anders eine Welt
für andere als die menschlichen Sinne aussehen
müßte, kann den Menschen veranlassen, Erkenntnis zu
suchen über sein Verhältnis zur Welt, sondern die
Einsicht, daß jede Wahrnehmung nur einen Teil
der in ihr steckenden Wirklichkeit gibt, daß sie also
von ihrer eigenen Wirklichkeit hinwegführt.
Dieser Einsicht tritt dann die andere zur Seite, daß das
Denken in den durch die Wahrnehmung an ihr selbst verborgenen
Teil der Wirklichkeit hineinführt. Störend für
die unbefangene Beobachtung des hier dargestellten
Verhältnisses zwischen Wahrnehmung und denkend
erarbeitetem Begriff kann auch werden, wenn im Gebiete der
physikalischen Erfahrung sich die Nötigung ergibt, gar
nicht von unmittelbar anschaulich-wahrnehmbaren Elementen,
sondern von unanschaulichen Größen wie elektrischen
oder magnetischen Kraftlinien und so weiter zu sprechen. Es
kann scheinen, als ob die Wirklichkeitselemente, von
denen die Physik spricht, weder mit dem Wahrnehmbaren, noch
mit dem im tätigen Denken erarbeiteten Begriff etwas zu
tun hätten. Doch beruhte eine solche Meinung auf einer
Selbsttäuschung. Zunächst kommt es darauf an,
daß alles in der Physik Erarbeitete, insofern
es nicht unberechtigte Hypothesen darstellt, die
ausgeschlossen bleiben sollten, durch Wahrnehmung und Begriff
gewonnen ist. Was scheinbar unanschaulicher Inhalt ist, das
wird aus einem richtigen Erkenntnisinstinkt des Physikers
heraus durchaus in das Feld versetzt, auf dem die
Wahrnehmungen liegen, und es wird in Begriffen gedacht, mit
denen man sich auf diesem Felde betätigt. Die
Kraftstärken im elektrischen und magnetischen Felde und
so weiter werden, dem Wesen nach, nicht durch einen
andern Erkenntnisvorgang gewonnen als durch denjenigen, der
sich zwischen Wahrnehmung und Begriff abspielt. — Eine
Vermehrung oder Andersgestaltung der menschlichen Sinne
würde ein anderes Wahrnehmungsbild ergeben, eine
Bereicherung oder Andersgestaltung der menschlichen
Erfahrung; aber eine wirkliche Erkenntnis müßte
auch dieser Erfahrung gegenüber durch die
Wechselwirkung von Begriff und Wahrnehmung gewonnen werden.
Die Vertiefung der Erkenntnis hängt von den im
Denken sich auslebenden Kräften der Intuition
(vergleiche Seite 95) ab. Diese Intuition kann in demjenigen
Erleben, das im Denken sich ausgestaltet, in tiefere
oder weniger tiefe Untergründe der Wirklichkeit tauchen.
Durch die Erweiterung des Wahrnehmungsbildes kann dieses
Untertauchen Anregungen empfangen und auf diese Art mittelbar
gefördert werden. Allein niemals sollte das
Tauchen in die Tiefe, als das Erreichen der Wirklichkeit,
verwechselt werden mit dem Gegenüberstehen von weiterem
oder engerem Wahrnehmungsbild, in dem stets nur eine
halbe Wirklichkeit, wie sie von der erkennenden Organisation
bedingt wird, vorliegt. Wer nicht in Abstraktionen
sich verliert, der wird einsehen, wie auch die Tatsache
für die Erkenntnis des Menschenwesens in Betracht kommt,
daß für die Physik imWahrnehmungsfelde Elemente
erschlossen werden müssen, für welche
nicht ein Sinn wie für Farbe oder Ton unmittelbar
abgestimmt ist. Das konkrete Wesen des Menschen ist
nicht nur durch dasjenige bestimmt, was er durch seine
Organisation sich als unmittelbare Wahrnehmung
gegenüberstellt, sondern auch dadurch, daß er
anderes von dieser unmittelbaren Wahrnehmung
ausschließt. Wie dem Leben neben dem bewußten
Wachzustande der unbewußte Schlafzustand notwendig ist,
so ist dem Sich-Erleben des Menschen neben dem Umkreis seiner
Sinneswahrnehmung notwendig ein - viel größerer
sogar - Umkreis von nicht sinnlich wahrnehmbaren Elementen in
dem Felde, aus dem die Sinneswahrnehmungen stammen. Dies
alles ist mittelbar schon ausgesprochen in der
ursprünglichen Darstellung dieser Schrift. Deren
Verfasser fügt hier diese Erweiterung des Inhaltes an,
weil er die Erfahrung gemacht hat, daß mancher Leser
nicht genau genug gelesen hat. - Bedacht sollte auch werden,
daß die Idee von der Wahrnehmung, wie sie in
dieser Schrift entwickelt wird, nicht verwechselt werden darf
mit derjenigen von äußerer Sinnes-wahrnehmung, die
nur ein Spezialfall von ihr ist. Man wird aus dem schon
Vorangehenden, aber noch mehr aus dem später
Ausgeführten ersehen, daß hier alles sinnlich
und geistig an den Menschen Herantretende als
Wahrnehmung aufgefaßt wird, bevor es von dem tätig
erarbeiteten Begriff erfaßt ist. Um Wahrnehmungen
seelischer oder geistiger Art zu haben, sind nicht Sinne von
gewöhnlich gemeinter Art nötig. Man könnte
sagen, solche Erweiterung des üblichen Sprachgebrauches
sei unstatthaft. Allein sie ist unbedingt notwendig,
wenn man sich nicht auf gewissen Gebieten eben durch den
Sprachgebrauch in der Erkenntniserweiterung fesseln lassen
will. Wer von Wahrnehmung nur im Sinne von
sinnlicher Wahrnehmung spricht, der kommt auch über
diese sinnliche Wahrnehmung nicht zu einem für die
Erkenntnis brauchbaren Begriff. Man muß
manchmal einen Begriff erweitern, damit er auf einem engeren
Gebiete seinen ihm angemessenen Sinn erhält. Man
muß auch zuweilen zu dem, was in einem Begriffe
zunächst gedacht wird, anderes hinzufügen, damit
das so Gedachte seine Rechtfertigung oder auch
Zurechtrückung findet. So findet man auf Seite 107
dieses Buches gesagt: «Die Vorstellung ist also ein
individualisierter Begriff.» Demgegenüber wurde mir
eingewendet, das sei ein ungewöhnlicher Wortgebrauch.
Aber dieser Wortgebrauch ist notwendig, wenn man
dahinterkommen will, was Vorstellung eigentlich ist. Was
sollte aus dem Fortgang der Erkenntnis werden, wenn man
jedem, der in die Notwendigkeit versetzt ist, Begriffe
zurechtzurücken, den Einwand machte: «Das ist ein
ungewöhnlicher Wortgebrauch. »
|