I. Der
Charakter
1.
Friedrich
Nietzsche charakterisiert sich selbst als einsamen Grübler
und Rätselfreund, als unzeitgemäße Persönlichkeit. Wer auf
solchen eigenen Wegen geht, wie er, «begegnet niemandem: das bringen die
eigenen Wege mit sich. Niemand kommt, ihm dabei zu helfen; mit allem,
was ihm von Gefahr, Zufall, Bosheit und schlechtem Wetter zustößt, muss
er allein fertig werden», sagt er in der Vorrede zur zweiten Ausgabe
seiner «Morgenröte». Aber reizvoll ist es, ihm in seine Einsamkeit zu
folgen. Die Worte, die er über sein Verhältnis zu Schopenhauer
ausgesprochen hat, möchte ich über das meinige zu Nietzsche sagen: «Ich
gehöre zu den Lesern Nietzsches, welche, nachdem sie die erste Seite von
ihm gelesen haben, mit Bestimmtheit wissen, dass sie alle Seiten lesen
und auf jedes Wort hören werden, das er überhaupt gesagt hat. Mein
Vertrauen zu ihm war sofort da ... Ich verstand ihn, als ob er für mich
geschrieben hätte: um mich verständlich, aber unbescheiden und töricht
auszudrücken.» Man kann so sprechen und weit davon entfernt sein, sich
als «Gläubigen» der Nietzscheschen Weltanschauung zu bekennen. Weiter
allerdings nicht, als Nietzsche davon entfernt war, sich solche
«Gläubige» zu wünschen. Legt er doch seinem «Zarathustra» die Worte in
den Mund:
«Ihr sagt,
ihr glaubt an Zarathustra? Aber was liegt an Zarathustra! Ihr seid meine
Gläubigen: aber was liegt an allen Gläubigen!
Ihr hattet
euch noch nicht gesucht: da fandet ihr mich. So tun alle Gläubigen;
darum ist es so wenig mit allem Glauben. Nun heiße ich euch, mich
verlieren und euch finden; und erst, wenn ihr mich alle verleugnet habt,
will ich euch wiederkehren.»
Nietzsche
ist kein Messias und Religionsstifter; er kann deshalb sich wohl Freunde
seiner Meinungen wünschen; Bekenner seiner Lehren aber, die ihr eigenes
Selbst aufgeben, um das seinige zu finden, kann er nicht wollen.
In
Nietzsches Persönlichkeit finden sich Instinkte, denen ganze
Vorstellungskreise seiner Zeitgenossen zuwider sind. Von den wichtigsten
Kulturideen derjenigen, in deren Mitte er sich entwickelt hat, wendet er
sich ab mit einem instinktiven Widerwillen; und zwar nicht so, wie man
eine Behauptung ablehnt, in der man einen logischen Widerspruch entdeckt
hat, sondern wie man sich von einer Farbe abwendet, die dem Auge Schmerz
verursacht. Der Widerwille geht von dem unmittelbaren Gefühl aus; die
bewusste Überlegung kommt zunächst gar nicht in Betracht. Was andere
Menschen empfinden, wenn ihnen die Gedanken:
Schuld,
Gewissensbiss, Sünde, jenseitiges Leben, Ideal, Seligkeit, Vaterland
durch den Kopf gehen, wirkt auf Nietzsche unangenehm. Die instinktive
Art der Abneigung gegen die genannten Vorstellungen unterscheidet
Nietzsche auch von den sogenannten «Freigeistern» der Gegenwart. Diese
kennen alle Verstandeseinwände gegen die «alten Wahnvorstellungen»; aber
wie selten findet sich einer, der von sich sagen kann: seine
Instinkte hängen nicht mehr an ihnen! Gerade die Instinkte sind
es, die den Freigeistern der Gegenwart böse Streiche spielen. Das Denken
nimmt einen von den überlieferten Ideen unabhängigen Charakter an, aber
die Instinkte können sich diesem veränderten Charakter des Verstandes
nicht anpassen. Diese «freien Geister» setzen irgend einen Begriff der
modernen Wissenschaft an die Stelle einer älteren Vorstellung; aber sie
sprechen so von ihm, dass man erkennt: der Verstand geht einen andern
Weg als die Instinkte. Der Verstand sucht in dem Stoffe, in der
Kraft, in der Naturgesetzlichkeit den Urgrund der
Erscheinungen; die Instinkte aber verleiten dazu, diesen Wesen gegenüber
dasselbe zu empfinden, was andere ihrem persönlichen Gotte gegenüber
empfinden. Geister dieser Art wehren sich gegen den Vorwurf der
Gottesleugnung; aber sie tun es nicht deshalb, weil ihre Weltauffassung
sie auf etwas führt, was mit irgend einer Gottesvorstellung
übereinstimmt, sondern weil sie von ihren Vorfahren die Eigenschaft
ererbt haben, bei dem Worte «Gottesleugner» ein instinktives
Gruseln zu empfinden. Große Naturforscher betonen, dass sie die
Vorstellungen: Gott, Unsterblichkeit nicht verbannen, sondern nur im
Sinne der modernen Wissenschaft umgestalten wollen. Ihre Instinkte sind
eben hinter ihrem Verstande zurückgeblieben.
Eine große
Zahl dieser «freien Geister» vertritt die Ansicht, dass der Wille des
Menschen unfrei ist. Sie sagen: der Mensch muss in einem
bestimmten Falle so handeln, wie es sein Charakter und die auf ihn
einwirkenden Verhältnisse bedingen. Man halte aber Umschau bei diesen
Gegnern der Ansicht vom «freien Willen», und man wird finden, dass sich
die Instinkte dieser «Freigeister» von dem Vollbringer einer «bösen» Tat
geradeso mit Abscheu abwenden, wie es die Instinkte der anderen tun, die
der Meinung sind: der «freie Wille» könne sich nach Belieben dem Guten
oder dem Bösen zuwenden.
Der
Widerspruch zwischen Verstand und Instinkt ist das Merkmal unserer
«modernen Geister». Auch in den freiesten Denkern der Gegenwart leben
noch die von der christlichen Orthodoxie gepflanzten Instinkte. Genau
die entgegengesetzten sind in Nietzsches Natur wirksam. Er braucht nicht
erst darüber nachzudenken, ob es Gründe gegen die Annahme eines
persönlichen Weltenlenkers gibt. Sein Instinkt ist zu stolz, um sich vor
einem solchen zu beugen; deshalb lehnt er eine derartige Vorstellung ab.
Er spricht mit seinem Zarathustra: «Aber dass ich euch ganz mein Herz
offenbare, ihr Freunde: wenn es Götter gäbe, wie hielte ich's
aus, kein Gott zu sein! Also gibt es keine Götter.» Sich selbst
oder einen andern wegen einer begangenen Handlung «schuldig» zu
sprechen, dazu drängt ihn nichts in seinem Innern. Um ein solches
«schuldig» unstatthaft zu finden, dazu braucht er keine Theorie vom
«freien» oder «unfreien» Willen.
Auch die
patriotischen Empfindungen seiner deutschen Volksgenossen sind
Nietzsches Instinkten zuwider. Er kann sein Empfinden und Denken nicht
abhängig machen von den Gedankenkreisen des Volkes, innerhalb dessen er
geboren und erzogen ist; auch nicht von der Zeit, in der er lebt. «Es
ist so kleinstädtisch», sagt er in seiner Schrift «Schopenhauer als
Erzieher», «sich zu Ansichten verpflichten, welche ein paar hundert
Meilen weiter schon nicht mehr verpflichten. Orient und Okzident sind
Kreidestriche, die uns jemand vor unsre Augen hinmalt, um unsere
Furchtsamkeit zu narren. Ich will den Versuch machen, zur Freiheit zu
kommen, sagt sich die junge Seele; und da sollte es sie hindern, dass
zufällig zwei Nationen sich hassen und bekriegen, oder dass ein Meer
zwischen zwei Erdteilen liegt, oder dass rings um sie eine Religion
gelehrt wird, welche doch vor ein paar tausend Jahren nicht bestand.»
Die Empfindungen der Deutschen während des Krieges im Jahre 1870 fanden
in seiner Seele einen so geringen Widerhall, dass er, «während die
Donner der Schlacht von Wörth über Europa weggingen», in einem Winkel
der Alpen saß, «sehr vergrübelt und verrätselt, folglich sehr bekümmert
und unbekümmert zugleich», und seine Gedanken über die Griechen
niederschrieb. Und als er einige Wochen darauf sich selbst «unter den
Mauern von Metz» befand, war er «immer noch nicht losgekommen von den
Fragezeichen», die er zum Leben und «der griechischen Kunst gesetzt
hatte». (Vgl. «Versuch einer Selbstkritik» in der zweiten Auflage seiner
«Geburt der Tragödie».) Als der Krieg zu Ende war, stimmte er so wenig
in die Begeisterung seiner deutschen Zeitgenossen über den errungenen
Sieg ein, dass er schon im Jahre 1873 in seiner Schrift über David
Strauß von den «schlimmen und gefährlichen Folgen» des siegreich
beendeten Kampfes sprach. Er stellte es sogar als einen Wahn hin, dass
auch die deutsche Kultur in diesem Kampfe gesiegt habe, und er nannte
diesen Wahn gefährlich, weil, wenn er innerhalb des deutschen Volkes
herrschend wird, die Gefahr vorhanden ist, den Sieg «in eine völlige
Niederlage zu verwandeln: in die Niederlage, ja Exstirpation des
deutschen Geistes zugunsten des Deutschen Reiches.» Das ist
Nietzsches Gesinnung in einer Zeit, in der ganz Europa voll ist von
nationaler Begeisterung. Es ist die Gesinnung einer unzeitgemäßen
Persönlichkeit, eines Kämpfers gegen seine Zeit. Außer dem
Angeführten ließe sich noch vieles nennen, was in Nietzsches
Empfindungs- und Vorstellungsleben anders ist, als in dem seiner
Zeitgenossen.
2.
Nietzsche
ist kein «Denker» im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Für die fragwürdigen
und tiefdringenden Fragen, die er der Welt und dem Leben gegenüber zu
stellen hat, reicht das bloße Denken nicht aus. Für diese Fragen müssen
alle Kräfte der menschlichen Natur entfesselt werden; die
denkende Betrachtung allein ist ihnen nicht gewachsen. Zu bloß
erdachten Gründen für eine Meinung hat Nietzsche kein Vertrauen.
«Es gibt ein Misstrauen in mir gegen Dialektik, selbst gegen Gründe»,
schreibt er am z. Dezember 1887 an Georg Brandes. (Vgl. dessen
«Menschen und Werke», S. 212.) Wer ihn um die Gründe seiner Ansichten
fragt, für den hat er «Zarathustras» Antwort bereit: «Du fragst warum?
Ich gehöre nicht zu denen, welche man nach ihrem Warum fragen darf»
Nicht ob eine Ansicht logisch bewiesen werden kann, ist für ihn
maßgebend, sondern ob sie auf alle Kräfte der menschlichen
Persönlichkeit so wirkt, dass sie für das Leben Wert hat. Er
lässt einen Gedanken nur gelten, wenn er ihn geeignet findet, zur
Entwicklung des Lebens beizutragen. Den Menschen so gesund als möglich,
so machtvoll als möglich, so schöpferisch als möglich zu sehen, ist sein
Wunsch. Wahrheit, Schönheit, alle Ideale haben nur Wert und gehen den
Menschen nur etwas an, insofern sie lebensfördernd sind.
Die Frage
nach dem Werte der Wahrheit tritt in mehreren Schriften
Nietzsches auf. In der verwegensten Form wird sie in seinem Buche:
«Jenseits von Gut und Böse» gestellt. «Der Wille zur Wahrheit, der uns
noch zu manchem Wagnisse verführen wird, jene berühmte Wahrhaftigkeit,
von der alle Philosophen bisher mit Ehrerbietung geredet haben: was für
Fragen hat dieser Wille zur Wahrheit uns schon vorgelegt! Welche
wunderlichen schlimmen fragwürdigen Fragen! Das ist bereits eine lange
Geschichte -und doch scheint es, dass sie kaum eben angefangen hat. Was
Wunder, wenn wir endlich auch misstrauisch werden, die Geduld verlieren,
uns ungeduldig umdrehen? Dass wir von dieser Sphinx auch unsrerseits das
Fragen lernen? Wer ist das eigentlich, der uns hier Fragen
stellt? Was in uns will eigentlich zur Wahrheit? In der Tat,
wir machten lange halt vor der Frage nach der Ursache dieses Willens
bis wir, zuletzt, vor einer noch gründlicheren Frage ganz und gar stehen
blieben. Wir fragten nach dem Werte dieses Willens. Gesetzt, wir
wollen Wahrheit: warum nicht lieber Unwahrheit?»
Das ist ein
Gedanke von kaum zu überbietender Kühnheit. Stellt man daneben, was ein
anderer kühner «Grübler und Rätselfreund», Johann Gottlieb
Fichte, von dem Streben nach Wahrheit sagt, so sieht man erst, wie
tief aus dem Wesen der menschlichen Natur Nietzsche seine Vorstellungen
heraufholt. «Ich bin dazu berufen» sagt Fichte -«der Wahrheit Zeugnis
zu geben; an meinem Leben und an meinen Schicksalen liegt nichts; an den
Wirkungen meines Lebens liegt unendlich viel. Ich bin ein Priester der
Wahrheit; ich bin in ihrem Solde; ich habe mich verbindlich gemacht,
alles für sie zu tun und zu wagen und zu leiden.» (Fichte, Vorlesungen
«Über die Bestimmung des Gelehrten», vierte Vorlesung.' Diese Worte
sprechen das Verhältnis aus, in das sich die edelsten Geister der
abendländischen neueren Kultur zur Wahrheit setzen. Nietzsches
angeführtem Ausspruch gegenüber erscheinen sie oberflächlich. Man kann
gegen sie einwenden: Ist es denn nicht möglich, dass die Unwahrheit
wertvollere Wirkungen für das Leben hat, als die Wahrheit? Ist es
ausgeschlossen, dass die Wahrheit dem Leben schadet? Hat sich Fichte
diese Fragen gestellt? Haben es andere getan, die «der Wahrheit Zeugnis»
gegeben haben?
Nietzsche
aber stellt diese Fragen. Und er glaubt über sie erst dann ins Reine zu
kommen, wenn er das Streben nach Wahrheit nicht als bloße
Verstandessache behandelt, sondern nach den Instinkten sucht, die dieses
Streben erzeugen. Denn es könnte ja wohl sein, dass sich diese Instinkte
der Wahrheit nur als Mittel bedienten, um etwas zu erreichen, was höher
steht, als die Wahrheit. Nietzsche findet, nachdem er «lange genug den
Philosophen zwischen die Zeilen und auf die Finger gesehn» hat: «Das
meiste bewusste Denken eines Philosophen ist durch seine Instinkte
heimlich geführt und in bestimmte Bahnen gezwungen.» Die Philosophen
glauben, die letzte Triebfeder ihres Tuns sei das Streben nach Wahrheit.
Sie glauben dies, weil sie nicht auf den Grund der menschlichen Natur zu
sehen vermögen. In Wirklichkeit wird das Streben nach Wahrheit gelenkt
von dem Willen zur Macht. Mit Hilfe der Wahrheit soll die Macht
und Lebensfülle der Persönlichkeit erhöht werden. Das bewusste Denken
des Philosophen ist der Meinung: die Erkenntnis der Wahrheit sei ein
letztes Ziel; der unbewusste Instinkt, der das Denken treibt, strebt
nach Förderung des Lebens. Für diesen Instinkt ist «die Falschheit eines
Urteils noch kein Einwand gegen ein Urteil»; für ihn kommt allein die
Frage in Betracht: «wie weit es lebenfördernd, lebenerhaltend,
Art-erhaltend, vielleicht gar Art-züchtend ist» («Jenseits von Gut und
Böse», § 3 und 4). «9Wille zur Wahrheit: heißt ihr's, ihr Weisesten, was
euch treibt und brünstig macht?
Wille zur
Denkbarkeit alles Seienden: also heiße ich euren Willen!
Alles
Seiende wollt ihr erst denkbar machen: denn ihr zweifelt mit
gutem Misstrauen, ob es schon denkbar ist.
Aber es soll
sich euch fügen und biegen! So will's euer Wille. Glatt soll es werden
und dem Geiste untertan, als sein Spiegel und Widerbild.
Das ist euer
ganzer Wille, ihr Weisesten, als ein Wille zur Macht ...»
(«Zarathustra», 2. Teil, «Von der Selbstüberwindung».)
Die Wahrheit
soll die Welt dem Geiste untertan machen und dadurch dem Leben dienen.
Nur als Lebensbedingung hat sie einen Wert. Kann man nicht aber noch
weiter gehen und fragen: was ist das Leben selbst wert? Nietzsche hält
eine solche Frage für unmöglich. Dass alles Lebende so machtvoll, so
inhaltreich leben will, als irgend möglich ist, nimmt er als eine
Tatsache hin, über die er nicht weiter grübelt. Die Lebensinstinkte
fragen nicht nach dem Werte des Lebens. Sie fragen nur: welche Mittel
gibt es, um die Macht ihres Trägers zu erhöhen. «Urteile, Werturteile
über das Leben, für oder wider, können zuletzt niemals wahr sein: sie
haben nur Wert als Symptome, sie kommen nur als Symptome in Betracht
an sich sind solche Urteile Dummheiten. Man muss durchaus seine Finger
darnach ausstrecken und den Versuch machen, die erstaunliche Finesse zu
fassen, dass der Wert des Lebens nicht abgeschätzt werden kann.
Von einem Lebenden nicht, weil ein solcher Partei, ja sogar Streitobjekt
ist, und nicht Richter; von einem Toten nicht, aus einem andren Grunde.
Von seiten eines Philosophen im Wert des Lebens ein Problem
sehen, bleibt dergestalt sogar ein Einwurf gegen ihn, ein Fragezeichen
an seiner Weisheit, eine Unweisheit.» -(«Götzen-Dämmerung», «Das Problem
des Sokrates».) Die Frage nach dem Werte des Lebens existiert nur für
eine mangelhaft ausgebildete, kranke Persönlichkeit. Wer allseitig
entwickelt ist, lebt, ohne zu fragen, wie viel sein Leben wert
ist.
Weil
Nietzsche die beschriebenen Ansichten hat, deshalb legt er auf logische
Beweisgründe für ein Urteil wenig Gewicht. Nicht darauf kommt es ihm an,
ob sich das Urteil logisch beweisen lässt, sondern wie gut sich unter
seinem Einflusse leben lässt. Nicht allein der Verstand, sondern die
ganze Persönlichkeit des Menschen soll befriedigt werden. Die besten
Gedanken sind diejenigen, welche alle Kräfte der menschlichen Natur in
eine ihnen angemessene Bewegung bringen.
Nur Gedanken
dieser Art haben für Nietzsche Interesse. Er ist kein philosophischer
Kopf, sondern ein «Honigsammler des Geistes», der die «Bienenkörbe» der
Erkenntnis aufsucht und heimzubringen sucht, was dem Leben frommt.
3.
In
Nietzsches Persönlichkeit sind diejenigen Instinkte vorherrschend, die
den Menschen zu einem gebietenden, herrischen Wesen machen. Ihm gefällt
alles, was Macht bekundet; ihm missfällt alles, was Schwäche verrät. Er
fühlt sich nur so lange glücklich, als er sich in Lebensbedingungen
befindet, die seine Kraft erhöhen. Er liebt Hemmnisse, Widerstände für
seine Tätigkeit, weil er sich bei ihrer Überwindung seiner Macht bewusst
wird. Er sucht die beschwerlichsten Wege auf, die der Mensch gehen kann.
Ein Grundzug seines Charakters ist in dem Spruche ausgedrückt, den er
der zweiten Ausgabe seiner «Fröhlichen Wissenschaft» auf das Titelblatt
gesetzt hat:
«Ich wohne
in meinem eignen Haus,
Hab'
niemandem nie nichts nachgemacht
Und lachte
noch jeden Meister aus,
Der nicht
sich selber ausgelacht.»
Jede Art von
Unterordnung unter eine fremde Macht empfindet Nietzsche als Schwäche.
Und über das, was eine «fremde Macht» ist, denkt er anders als mancher,
der sich als «unabhängigen, freien Geist» bezeichnet. Nietzsche
empfindet es als Schwäche, wenn der Mensch sich in seinem Denken und
Handeln sogenannten «ewigen, ehernen» Gesetzen der Vernunft unterwirft.
Was die allseitig entwickelte Persönlichkeit tut, das lässt sie sich von
keiner Moralwissenschaft vorschreiben, sondern allein von den Antrieben
des eigenen Selbst. Der Mensch ist in dem Augenblicke schon schwach, in
dem er nach Gesetzen und Regeln sucht, nach denen er denken und
handeln soll. Der Starke bestimmt die Art seines Denkens
und Handelns aus seinem eigenen Wesen heraus.
Diese
Ansicht spricht Nietzsche am schroffsten in Sätzen aus, um derentwillen
ihn kleinlich denkende Menschen geradezu als einen gefährlichen Geist
bezeichnet haben: «Als die christlichen Kreuzfahrer im Orient auf jenen
unbesiegbaren Assassinenorden stießen, jenen Freigeisterorden par
excellence, dessen unterste Grade in einem Gehorsame lebten, wie einen
gleichen kein Mönchsorden erreicht hat, da bekamen sie auf irgend
welchem Wege auch einen Wink über jenes Symbol und Kerbholzwort, das nur
den obersten Graden, als deren Sekretum, vorbehalten war: Nichts ist
wahr, alles ist erlaubt.
Wohlan, das
war Freiheit des Geistes, damit war der Wahrheit selbst
der Glaube gekündigt» ... («Genealogie der Moral», 3. Abhandlung,
§ 24.) Dass diese Sätze die Empfindungen einer vornehmen, einer
Herrennatur zum Ausdruck bringen, die sich die Erlaubnis, frei, nach
ihren eigenen Gesetzen zu leben, durch keine Rücksicht auf ewige
Wahrheiten und Vorschriften der Moral verkümmern lassen will, fühlen
diejenigen Menschen nicht, die, ihrer Art nach, zur Unterwürfigkeit
geeignet sind. Eine Persönlichkeit, wie die Nietzsches ist, verträgt
auch jene Tyrannen nicht, die in der Form abstrakter Sittengebote
auftreten. Ich bestimme, wie ich denken, wie ich handeln will,
sagt eine solche Natur.
Es gibt
Menschen, die ihre Berechtigung, sich «Freidenker» zu nennen, davon
herleiten, dass sie sich in ihrem Denken und Handeln nicht solchen
Gesetzen unterwerfen, die von anderen Menschen herrühren, sondern nur
den «ewigen Gesetzen der Vernunft», den «unumstößlichen
Pflichtbegriffen» oder dem «Willen Gottes». Nietzsche sieht solche
Menschen nicht als wahrhaft starke Persönlichkeiten an. Denn auch
sie denken und handeln nicht nach ihrer eigenen Natur, sondern nach den
Befehlen einer höheren Autorität. Ob der Sklave der Willkür seines
Herrn, der Religiöse den geoffenbarten Wahrheiten eines Gottes oder der
Philosoph den Aussprüchen der Vernunft folgt, das ändert nichts an dem
Umstande, dass sie alle Gehorchende sind. Was befiehlt, ist dabei
gleichgültig; das ausschlaggebende ist, dass überhaupt befohlen
wird, dass der Mensch sich nicht selbst die Richtung für sein Tun gibt,
sondern der Meinung ist, es gebe eine Macht, welche ihm diese Richtung
vorzeichnet.
Der starke,
wahrhaft freie Mensch will die Wahrheit nicht empfangen er will
sie schaffen; er will sich nichts «erlauben» lassen, er will
nicht gehorchen. «Die eigentlichen Philosophen aber sind Befehlende
und Gesetzgeber: sie sagen: so soll es sein!; sie bestimmen
erst das Wohin? und Wozu? des Menschen und verfügen dabei über die
Vorarbeit aller philosophischen Arbeiter, aller Überwältiger der
Vergangenheit, sie greifen mit schöpferischer Hand nach der Zukunft,
und alles, was ist und war, wird ihnen dabei zum Mittel, zum Werkzeug,
zum Hammer. Ihr Erkennen ist Schaffen, ihr Schaffen ist eine
Gesetzgebung, ihr Wille zur Wahrheit ist Wille zur Macht.
Gibt es heute solche Philosophen? Gab es schon solche Philosophen?
Muss es nicht solche Philosophen geben?» («Jenseits von Gut und
Böse», §211.)
4.
Ein
besonderes Zeichen menschlicher Schwäche sieht Nietzsche in jeder Art
von Glauben an ein Jenseits, an eine andere Welt, als die ist, in der
der Mensch lebt. Man kann, nach seiner Ansicht, dem Leben keinen
größeren Schaden tun, als wenn man sein Leben im Diesseits im Hinblick
auf ein anderes Leben im Jenseits einrichtet. Man kann sich keiner
größeren Verirrung hingeben, als wenn man hinter den Erscheinungen
dieser Welt Wesenheiten annimmt, die der menschlichen Erkenntnis
unzugänglich sind, und die als der eigentliche Urgrund, als das
Bestimmende alles Daseins gelten sollen. Durch eine solche Annahme
verdirbt man sich die Freude an dieser Welt. Man würdigt sie zum
Scheine, zu einem bloßen Abglanz eines Unzugänglichen herab. Man erklärt
die uns bekannte Welt, die für uns allein wirkliche, für einen nichtigen
Traum und schreibt die wahre Wirklichkeit einer erträumten, erdichteten
anderen Welt zu. Man erklärt die menschlichen Sinne für Betrüger, die
uns Scheinbilder statt Wirklichkeiten liefern.
Nur aus der
Schwäche kann eine solche Ansicht stammen. Denn der Starke, der fest in
der Wirklichkeit wurzelt, der seine Freude am Leben hat, wird es sich
nicht in den Sinn kommen lassen, eine andere Wirklichkeit zu erdichten.
Er ist mit dieser Welt beschäftigt und bedarf keiner andern. Aber die
Leidenden, die Kranken, die unzufrieden sind mit diesem Leben, nehmen
ihre Zuflucht zum Jenseits. Was ihnen das Diesseits entzogen hat, soll
ihnen das Jenseits bieten. Der Starke, der Gesunde, der entwickelte und
taugliche Sinne hat, um die Gründe dieser Welt in ihr selber
aufzusuchen, der bedarf zur Erklärung der Erscheinungen, innerhalb derer
er lebt, keiner jenseitigen Gründe und Wesenheiten. Der Schwache, der
mit verkrüppelten Augen und Ohren die Wirklichkeit wahrnimmt, der
braucht Ursachen hinter den Erscheinungen.
Aus dem
Leiden und der kranken Sehnsucht ist der Glaube an das Jenseits geboren.
Aus dem Unvermögen, die wirkliche Welt zu durchschauen, sind alle
Annahmen von «Dingen an sich» erwachsen.
Alle, welche
Grund haben, das wirkliche Leben zu verneinen, sagen Ja zu
einem erdichteten. Nietzsche will ein Jasager gegenüber
der Wirklichkeit sein. Diese Welt will er durchforschen nach allen
Richtungen, er will sich einbohren in die Tiefen des Daseins; von einem
andern Leben will er nichts wissen. Ihn kann selbst das Leiden
nicht veranlassen, Nein zum Leben zu sagen; denn auch das Leiden ist ihm
ein Mittel der Erkenntnis. «Nicht anders, als es ein Reisender macht,
der sich vorsetzt, zu einer bestimmten Stunde aufzuwachen, und sich dann
ruhig dem Schlafe überlässt: so ergeben wir Philosophen, gesetzt, dass
wir krank werden, uns zeitweilig mit Leib und Seele der Krankheit wir
machen gleichsam vor uns die Augen zu. Und wie jener weiß, dass irgend
etwas nicht schläft, irgend etwas die Stunden abzählt und ihn
aufwecken wird, so wissen auch wir, dass der entscheidende Augenblick
uns wach finden wird, dass dann etwas hervorspringt und den Geist
auf der Tat ertappt, ich meine auf der Schwäche oder Umkehr oder
Ergebung oder Verhärtung oder Verdüsterung, und wie alle die krankhaften
Zustände des Geistes heißen, welche in gesunden Tagen den Stolz
des Geistes wider sich haben... Man lernt nach einer derartigen
Selbst-Befragung, Selbst-Versuchung, mit einem feineren Auge nach allem,
worüber überhaupt bisher philosophiert worden ist, hinsehn...» Vorrede
zur zweiten Ausgabe der «Fröhlichen Wissenschaft».)
5.
Dieser
lebens- und wirklichkeitsfreundliche Sinn Nietzsches zeigt sich auch in
seinen Anschauungen über die Menschen und ihre gegenseitigen
Beziehungen. Auf diesem Gebiete ist Nietzsche vollkommener
Individualist. Jeder Mensch gilt ihm als eine Welt für sich, ein Unikum.
Das wunderlich bunte Mancherlei, das zum «Einerlei» vereinigt ist und
uns als ein bestimmter Mensch entgegentritt, kann kein noch so seltsamer
Zufall ein zweites Mal in gleicher Weise zusammenschütteln.
(«Schopenhauer als Erzieher», i.) Die wenigsten Menschen sind jedoch
geneigt, ihre nur einmal vorhandenen Eigentümlichkeiten zu entfalten.
Sie fürchten sich vor der Einsamkeit, in die sie dadurch gedrängt
werden. Es ist bequemer und gefahrloser, in gleicher Weise wie die
Mitmenschen zu leben; man findet dann immer Gesellschaft. Wer auf seine
eigene Art sich einrichtet, wird von anderen nicht verstanden und findet
keine Genossen. Für Nietzsche hat die Einsamkeit einen besonderen Reiz.
Er liebt es, die Heimlichkeiten des eigenen Innern aufzusuchen. Er
flieht die Gemeinschaft der Menschen. Seine Gedankengänge sind zumeist
Bohrversuche nach Schätzen, die tief in seiner Persönlichkeit verborgen
liegen. Das Licht, das andere ihm bieten, verschmäht er; die Luft, die
man da atmet, wo das «Gemeinsame der Menschen», die «Regel Mensch» lebt,
will er nicht mitatmen. Er trachtet instinktiv nach seiner «Burg und
Heimlichkeit, wo er von der Menge, den vielen, den allermeisten
erlöst ist». («Jenseits von Gut und Böse», § 26.) In seiner
«Fröhlichen Wissenschaft» klagt er, dass es ihm schwer ist, seine
Mitmenschen zu «verdauen»; und in «Jenseits von Gut und Böse» (§ 282)
verrät er, dass er zumeist gefährliche Verdauungsstörungen davontrug,
wenn er sich an Tische setzte, an denen die Kost des
«Allgemein-Menschlichen» genossen wurde. Die Menschen dürfen Nietzsche
nicht zu nahe kommen, wenn er sie ertragen soll.
6.
Nietzsche
erklärt einen Gedanken, ein Urteil in derjenigen Form für gültig, zu der
die freiwaltenden Lebensinstinkte ihre Zustimmung geben. Ansichten, für
die das Leben sich entscheidet, lässt er sich durch keine logischen
Zweifel nehmen. Dadurch erhält sein Denken einen sichern, freien Zug. Es
wird nicht beirrt durch Bedenken wie: ob eine Behauptung auch «objektiv»
wahr ist, ob sie die Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens nicht
überschreitet und so weiter. Wenn Nietzsche den Wert eines Urteiles für
das Leben erkannt hat, dann fragt er nicht mehr nach einer
weiteren «objektiven» Bedeutung und Gültigkeit desselben. Und wegen
Grenzen des Erkennens macht er sich keine Sorgen. Er ist der Ansicht,
dass ein gesundes Denken das schafft, was es schaffen kann, und sich
nicht mit der nutzlosen Frage abquält: was kann ich nicht?
Wer den Wert
eines Urteils nach dem Grade bestimmen will, in dem es das Leben
fördert, kann diesen Grad natürlich nur durch seine eigenen,
persönlichen Lebenstriebe und Lebensinstinkte festsetzen. Er kann nie
mehr sagen wollen, als: in bezug auf meine Lebensinstinkte halte ich
dieses bestimmte Urteil für ein wertvolles. Und Nietzsche will auch nie
etwas anderes sagen, wenn er eine Ansicht ausspricht. Gerade dieses sein
Verhältnis zu seiner Gedankenwelt wirkt so wohltuend auf den
freiheitlich gesinnten Leser. Es gibt Nietzsches Schriften den Charakter
anspruchsloser, bescheidener Vornehmheit. Wie abstoßend und unbescheiden
klingt es daneben, wenn andere Denker glauben, ihre Person sei das
Organ, durch das der Welt ewige, unumstößliche Wahrheiten verkündet
werden. Man kann in Nietzsches Werken Sätze finden, die ein starkes
Selbstbewusstsein ausdrücken, zum Beispiel: «Ich habe der Menschheit das
tiefste Buch gegeben, das sie besitzt, meinen Zarathustra: ich
gebe ihr über kurzem das unabhängigste.» («Götzen-Dämmerung»,
«Streifzüge eines Unzeitgemäßen», §51.) Was besagt dies aber aus seinem
Munde? Ich habe es gewagt, ein Buch zu schreiben, dessen Inhalt tiefer
aus dem Wesen einer Persönlichkeit geholt ist, als das sonst bei
ähnlichen Büchern der Fall ist; und ich werde ein Buch liefern, das
unabhängiger von jedem fremden Urteil ist, als andere philosophische
Schriften; denn ich werde über die wichtigsten Dinge bloß aussprechen,
wie sich meine persönlichen Instinkte zu ihnen verhalten. Das ist
vornehme Bescheidenheit. Sie geht freilich denen wider den Geschmack,
deren verlogene Demut sagt: ich bin nichts, mein Werk ist alles; ich
bringe nichts von persönlichem Empfinden in meine Bücher, sondern ich
spreche bloß aus, was die reine Vernunft mich aussprechen heißt. Solche
Menschen wollen ihre Person verleugnen, um behaupten zu können, dass
ihre Aussprüche die eines höheren Geistes sind. Nietzsche hält seine
Gedanken für Erzeugnisse seiner Person und für nicht mehr.
7.
Die
Fachphilosophen mögen über Nietzsche lächeln oder ihre Meinungen über
die «Gefahren» seiner «Weltanschauung» zum besten geben. Manche dieser
Geister, die nichts sind als personifizierte Lehrbücher der Logik,
können natürlich Nietzsches aus den mächtigsten, unmittelbarsten
Lebensimpulsen entspringendes Schaffen nicht loben. Nietzsche mit seinen
kühnen Gedankensprüngen trifft jedenfalls auf tiefere Geheimnisse der
menschlichen Natur, als mancher logische Denker mit seinem vorsichtigen
Kriechen. Was nutzt alle Logik, wenn sie mit ihren Begriffsnetzen nur
einen wertlosen Inhalt fängt? Wenn uns wertvolle Gedanken mitgeteilt
werden, dann erfreuen wir uns an ihnen, wenn sie auch nicht mit
logischen Fäden verknüpft sind. Das Heil des Lebens hängt nicht allein
von der Logik ab, sondern auch von der Gedankenerzeugung. Unsere
Fachphilosophie ist gegenwärtig unfruchtbar genug, und sie könnte die
Belebung mit Gedanken eines mutigen, kühnen Schriftstellers, wie es
Nietzsche ist, sehr wohl brauchen. Die Entwicklungskraft dieser
Fachphilosophie ist gelähmt durch den Einfluss, den das Kantische Denken
auf sie genommen hat. Sie hat durch diesen Einfluss alle
Ursprünglichkeit, allen Mut verloren. Kant hat aus der
Schulphilosophie seiner Zeit den Begriff von Wahrheiten, die aus der
«reinen Vernunft» stammen, übernommen. Er hat zu zeigen versucht, dass
wir durch solche Wahrheit nichts wissen können von Dingen, die jenseits
unserer Erfahrung liegen, von «Dingen an sich». Seit einem Jahrhundert
ist nun unermesslicher Scharfsinn aufgewendet worden, um diesen
Kantischen Gedanken nach allen Seiten durchzudenken. Die Erzeugnisse
dieses Scharfsinns sind allerdings oft dürftig und trivial. Übersetzte
man die Banalitäten manches philosophischen Buches der Gegenwart aus den
Schulformeln in eine gesunde Sprache, so würde sich ein solcher Inhalt
gegenüber manchem kurzen Aphorismus Nietzsches armselig genug ausnehmen.
Dieser konnte im Hinblick auf die Philosophie der Gegenwart mit einem
gewissen Recht den stolzen Satz aussprechen: «Mein Ehrgeiz ist, in zehn
Sätzen zu sagen, was jeder andere in einem Buche sagt was jeder andere
in einem Buche mehr sagt ... »
8.
Wie
Nietzsche in seinen eigenen Meinungen nichts geben will als ein
Erzeugnis seiner persönlichen Instinkte und Triebe, so sind ihm auch
fremde Ansichten nichts weiter als Symptome, aus denen er auf die in
einzelnen Menschen oder ganzen Völkern, Rassen und so weiter
vorwaltenden Instinkte schließt. Er macht sich nichts mit Diskussionen
oder Widerlegungen fremder Meinungen zu schaffen. Aber er sucht die
Instinkte auf, die sich in diesen Meinungen aussprechen. Er sucht die
Charaktere der Persönlichkeiten oder Völker aus ihren Ansichten zu
erkennen. Ob eine Ansicht auf das Vorwalten der Instinkte für
Gesundheit, Tapferkeit, Vornehmheit, Lebensfreude hinweist, oder ob sie
aus ungesunden, sklavischen, müden, lebens-feindlichen Instinkten
entspringt, das interessiert ihn. Wahrheiten an sich sind ihm
gleichgültig; er kümmert sich darum, wie die Menschen ihre Wahrheiten
ihren Instinkten gemäß ausbilden, und wie sie damit ihre Lebensziele
fördern. Die natürlichen Ursachen der menschlichen Ansichten will er
aufsuchen.
Nach dem
Sinne jener Idealisten, die der Wahrheit einen selbständigen Wert
zuerkennen, die ihr einen «reinen, höheren Ursprung» als den aus den
Instinkten geben wollen, ist Nietzsches Bestreben allerdings nicht. Er
erklärt die menschlichen Ansichten als das Ergebnis natürlicher Kräfte,
wie der Naturforscher die Einrichtung des Auges aus dem Zusammenwirken
natürlicher Ursachen erklärt. Eine Erklärung der geistigen Entwicklung
der Menschheit aus besonderen sittlichen Zwecken, Idealen, aus einer
sittlichen Weltordnung erkennt er ebenso wenig an, wie der Naturforscher
der Gegenwart die Erklärung anerkennt, dass die Natur das Auge deswegen
in einer bestimmten Weise gebaut hat, weil sie den Zweck hatte,
dem Organismus ein Organ zum Sehen anzuerschaffen. In jedem Ideal sieht
Nietzsche nur den Ausdruck für einen Instinkt, der sich auf eine
bestimmte Art seine Befriedigung sucht, wie der moderne Naturforscher in
der zweckmäßigen Einrichtung eines Organs das Ergebnis organischer
Bildungsgesetze sieht. Wenn es gegenwärtig noch Naturforscher und
Philosophen gibt, die jedes Schaffen der Natur nach Zwecken ablehnen,
aber vor dem sittlichen Idealismus halt machen und in der Geschichte die
Verwirklichung eines göttlichen Willens, einer idealen Ordnung der Dinge
sehen, so ist dies eine Instinkthalbheit. Solchen Personen fehlt für die
Beurteilung geistiger Vorgänge der richtige Blick, während sie ihn in
der Beobachtung von Naturvorgängen zeigen. Wenn ein Mensch glaubt, er
strebe ein Ideal an, das nicht aus der Wirklichkeit stammt, so glaubt er
dies nur, weil er den Instinkt nicht kennt, aus dem dieses Ideal
entsteht.
Nietzsche
ist Anti-Idealist in dem Sinne, wie der moderne Naturforscher Gegner der
Annahme von Zwecken ist, die die Natur verwirklichen soll. Er spricht
ebenso wenig von sittlichen Zwecken, wie der Naturforscher von
Naturzwecken spricht. Nietzsche hält es nicht für weiser, zu sagen: der
Mensch soll ein sittliches Ideal verwirklichen, wie zu erklären: der
Stier hat Hörner, damit er stoßen könne. Er betrachtet den einen wie den
andern Ausspruch als Produkt einer Welterklärung, welche von «göttlicher
Vorsehung», «weiser Allmacht», statt von natürlichen Wirkungen
spricht.
Diese
Welterklärung ist ein Hemmschuh für alles gesunde Denken; sie schafft
einen erdichteten, idealen Nebel, der das natürliche, auf die
Beobachtung der Wirklichkeit gerichtete Sehvermögen hindert, die
Weltvorgänge zu durchschauen; sie stumpft endlich völlig allen
Wirklichkeitssinn ab.
9.
Wenn
Nietzsche sich in einen geistigen Kampf einlässt, so will er nicht
fremde Meinungen als solche widerlegen, sondern er tut es, weil diese
Meinungen auf schädliche, naturwidrige Instinkte hinweisen, die er
bekämpfen will. Er hat dabei eine ähnliche Absicht, wie sie jemand hat,
der eine schädliche Naturwirkung bekämpft oder ein gefährliches
Naturwesen vertilgt. Er baut nicht auf die «überzeugende» Kraft der
Wahrheit, sondern darauf, dass er den Gegner besiegen wird, wenn dieser
die ungesunden, schädlichen Instinkte, er aber die gesunden,
lebenfördernden hat. Er sucht nach keiner weiteren Rechtfertigung eines
solchen Kampfes, wenn seine Instinkte die des Gegners als schädlich
empfinden. Er glaubt nicht als Vertreter irgend einer Idee kämpfen zu
müssen, sondern er kämpft, weil ihn seine Instinkte dazu treiben. Zwar
ist das bei keinem geistigen Kampfe anders, aber gewöhnlich sind sich
die Kämpfer der wirklichen Triebfedern ebenso wenig bewusst, wie die
Philosophen sich ihres «Willens zur Macht» oder die Anhänger der
sittlichen Weltordnung der natürlichen Ursachen ihrer sittlichen Ideale.
Sie glauben, dass lediglich Meinung gegen Meinung kämpft, und verhüllen
ihre wirklichen Motive durch Begriffsmäntel. Sie nennen auch die
Instinkte des Gegners nicht, die ihnen unsympathisch sind, ja diese
kommen ihnen vielleicht gar nicht zum Bewusstsein. Kurz, die Kräfte, die
eigentlich feindlich gegen einander gerichtet sind, treten gar nicht
offen hervor. Nietzsche nennt rücksichtslos die Instinkte des Gegners,
die ihm zuwider sind, und er nennt auch die Instinkte, die er
ihnen entgegensetzt. Wer dies Zynismus nennen will, der mag es
tun. Er soll aber nur nicht übersehen, dass es in aller menschlichen
Tätigkeit niemals etwas anderes als solchen Zynismus gegeben hat, und
dass alle idealistischen Wahngewebe von diesem Zynismus geweht sind.