Rudolf Steiner:
Skizzenhaft
dargestellter Ausblick auf eine Anthroposophie
(1914)
Schlusskapitel des Bandes:
„Die Rätsel der
Philosophie –
in ihrer
Geschichte als Umriss dargestellt“
GA 18
Thanks to the donation of Christian Clement, this Essay has been made available.
Wer die
Gestaltung der philosophischen Weltanschauungen bis in die Gegenwart hinein
betrachtet, dem können sich in dem Suchen und Streben der
Denkerpersönlichkeiten Unterströmungen offenbaren, die in ihnen gewissermaßen
nicht zum bewußten Ausbruch kommen, sondern instinktiv leben. In diesen
Strömungen sind Kräfte wirksam, welche den Ideen der Denker die Richtung, oft
auch die Form geben, auf welche aber ihr forschender Geistesblick nicht
unmittelbar sich richten will. Wie getrieben von verborgenen Gewalten, auf die
sie sich nicht einlassen wollen, ja vor denen sie zurückschrecken: so
erscheinen oft die Darlegungen dieser Denker. Es leben solche Gewalten in
Diltheys, in Euckens, in Cohens Gedankenwelten. Was in diesen Gedankenwelten
behauptet wird, ist der Ausdruck von Erkenntniskräften, von denen die
Philosophen zwar unbewußt beherrscht sind, die aber in ihren Ideengebäuden
keine bewußte Entfaltung finden.
Sicherheit,
Gewißheit des Erkennens wird in vielen Ideengebäuden gesucht. Die Richtung,
welche befolgt wird, nimmt mehr oder weniger von Kants Vorstellungen den Ausgangspunkt.
Bei der Gestaltung der Gedanken wirkt die naturwissenschaftliche Denkungsart
bewußt oder unbewußt bestimmend. Daß aber in der «selbstbewußten Seele» die
Quelle zu suchen ist, aus der die Erkenntnis zu schöpfen habe, um Aufschluß
auch über die außerseelische Welt zu gewinnen, das ahnen viele. Und fast alle
sind beherrscht von der Frage: Wie kommt die selbstbewußte Seele dazu, das, was
sie in sich erlebt, als einer wahren Wirklichkeit Offenbarung anzusehen? Die
alltägliche sinnliche Welt ist zur «Illusion» geworden, weil das selbstbewußte
Ich im Laufe der philosophischen Entwickelung mit seinen Innenerlebnissen sich
immer mehr in sich selbst isoliert gefunden hat. Es ist dazu gekommen, selbst
in den Wahrnehmungen der Sinne nur Innenerlebnisse zu sehen, die in sich selbst
keine Kraft verraten, durch die ihnen Dasein und Bestand in der Wirklichkeit
verbürgt werden könnte. Man fühlt, wie viel davon abhängt, in dem
selbstbewußten Ich einen Stützpunkt für die Erkenntnis zu finden. Aber man
kommt in dem Forschen, welches durch dieses Gefühl angeregt wird, zu
Anschauungen, welche nicht die Mittel hergeben, um mit dem Ich in eine Welt
einzutauchen, welche das Dasein in befriedigender Art tragen kann.
Wer nach
Erklärung dieses Tatbestandes sucht, der kann sie finden in der Art, wie sich
das durch die Philosophieentwickelung von der äußeren Weltwirklichkeit
losgelöste Seelenwesen zu dieser Wirklichkeit gestellt hat. - Es fühlt sich von
einer Welt umgeben, die sich ihm zunächst durch die Sinne offenbart. Die Seele
ist aber auch auf ihre Selbsttätigkeit, auf ihr inneres schöpferisches Erheben
aufmerksam geworden. Sie empfindet es wie eine unumstößliche Wahrheit, daß kein
Licht, keine Farbe ohne das licht-, das farbenempfindende Auge geoffenbart
werden kann. So fühlt sie das Schöpferische in der Tätigkeit schon des Auges.
Wenn aber das Auge die Farbe selbstschöpferisch hervorbringt - so muß man im
Sinne dieser Philosophie denken -, wo finde ich etwas, das in sich besteht, das
sein Dasein nicht bloß durch meine eigene Schöpferkraft hat? Wenn nun schon die
Offenbarungen der Sinne nur Äußerungen der Eigenkraft der Seele sind: muß es
dann nicht im erhöhtem Maße das Denken sein, das Vorstellungen gewinnen
will über eine wahre Wirklichkeit? Ist dieses Denken nicht dazu verurteilt,
Vorstellungsbilder zu erzeugen, die im Charakter des Seelenlebens wurzeln, die
aber nimmermehr etwas in sich bergen können, das für ein Vordringen zu den
Quellen des Daseins irgendwelche Sicherheit gewährt? Solche Fragen brechen aus
der neueren Philosophieentwickelung überall hervor.
Solange
man den Glauben hegt, in der Welt, welche sich durch die Sinne offenbart, sei
ein Abgeschlossenes, ein auf sich Beruhendes gegeben, das man untersuchen
müsse, um sein inneres Wesen zu erkennen, solange wird man aus der Wirrnis
nicht herauskommen können, welche durch die angedeuteten Fragen sich ergibt.
Die Menschenseele kann ihre Erkenntnisse nur in sich selbstschöpferisch
erzeugen. Das ist eine Überzeugung, die mit Berechtigung sich
herausgebildet hat aus den Voraussetzungen, welche in dem Kapitel dieses Buches
«Die Welt als Illusion» und bei der Darstellung der Gedanken Hamerlings
geschildert worden sind. Dann aber, wenn man zu dieser Überzeugung sich
bekennt, kommt man über eine gewisse Klippe der Erkenntnis so lange nicht
hinweg, als man sich vorstellt: die Welt der Sinne enthielte die wahren
Grundlagen ihres Daseins in sich; und man müsse mit dem, was man in der
Seele selbst erzeugt, irgendwie etwas abbilden, was außerhalb der Seele
liegt.
Nur eine
Erkenntnis wird über diese Klippe hinwegführen können, welche ins geistige Auge
faßt, daß alles, was die Sinne wahrnehmen, sich durch seine eigene Wesenheit
nicht als eine fertige, in sich beschlossene Wirklichkeit darstellt, sondern
als ein Unvollendetes, gewissermaßen als eine halbe Wirklichkeit. Sobald
man voraussetzt, man habe in den Wahrnehmungen der Sinnenwelt eine volle
Wirklichkeit vor sich, wird man nie dazu kommen, der Frage Antwort zu finden:
Was haben die selbstschöpferischen Erzeugnisse der Seele zu dieser Wirklichkeit
erkennend hinzuzubringen? Man wird bei der Kantschen Meinung stehen bleiben
müssen: der Mensch muß seine Erkenntnisse als die Eigenprodukte seiner
seelischen Organisation ansehen, nicht als etwas, was ihm als eine wahre
Wirklichkeit sich offenbart. Liegt die Wirklichkeit außerhalb der Seele
in ihrer Eigenart gestaltet, dann kann die Seele nicht das hervorbringen, was
dieser Wirklichkeit entspricht, sondern nur etwas, das aus ihrer eigenen
Organisation fließt.
Anders
wird alles, sobald erkannt wird, daß die Organisation der Menschenseele nicht
mit dem, was sie in der Erkenntnis selbstschöpferisch erzeugt, sich von der
Wirklichkeit entfernt, sondern daß sie in dem Leben, das sie vor allem
Erkennen entfaltet, sich eine Welt vorzaubert, welche nicht die
wirkliche ist. Die Menschenseele ist so in die Welt gestellt, daß sie wegen
ihrer eigenen Wesenheit die Dinge anders macht, als sie in Wirklichkeit sind.
In gewissem Sinne berechtigt ist, wenn Hamerling meint: «Gewisse Reizungen
erzeugen den Geruch in unserem Riechorgan. Die Rose duftet also nicht, wenn sie
niemand riecht . . . Leuchtet dir, lieber Leser, das nicht ein und bäumt dein
Verstand sich vor dieser Tatsache wie ein scheues Pferd, so lies keine Zeile
weiter; laß dieses und alle anderen Bücher, die von philosophischen Dingen
handeln, ungelesen; denn es fehlt dir die hierzu nötige Fähigkeit, eine
Tatsache unbefangen aufzufassen und in Gedanken festzuhalten.» (Vgl. S. 525) Wie
die sinnliche Welt erscheint, wenn sich der Mensch ihr unmittelbar gegenüberstellt,
das hängt zweifellos von der Wesenheit seiner Seele ab. Folgt aber daraus
nicht, daß er diese Erscheinung der Welt eben durch seine Seele bewirkt?
Nun zeigt eine unbefangene Betrachtung, wie der unwirkliche Charakter der
sinnlichen Außenwelt davon herrührt, daß der Mensch, indem er sich unmittelbar
den Dingen gegenüberstellt, das in sich unterdrückt, was in Wahrheit zu ihnen
gehört. Entfaltet er dann selbstschöpferisch sein Innenleben, läßt er aus den
Tiefen seiner Seele aufsteigen, was in diesen Tiefen schlummert, dann fügt er
zu dem, was er mit den Sinnen geschaut hat, ein weiteres hinzu, das das halb
Wirkliche als ganz Wirkliches in der Erkenntnis gestaltet. Es liegt im Wesen
der Seele, beim ersten Anblick der Dinge etwas auszulöschen, das zu
ihrer Wirklichkeit gehört. Daher sind sie für die Sinne so, wie sie nicht in
Wirklichkeit sind, sondern so, wie sie die Seele gestaltet. Aber ihr Schein (oder
ihre bloße Erscheinung) beruht darauf, daß die Seele ihnen erst weggenommen
hat, was zu ihnen gehört. Indem der Mensch nun nicht bei dem ersten Anschauen
der Dinge verbleibt, fügt er im Erkennen das zu ihnen hinzu, was ihre volle
Wirklichkeit erst offenbart. Nicht durch das Erkennen fügt die Seele etwas zu
den Dingen hinzu, was ihnen gegenüber ein unwirkliches Element wäre, sondern vor
dem Erkennen hat sie den Dingen genommen, was zu ihrer wahren Wirklichkeit
gehört. Es wird die Aufgabe der Philosophie sein, einzusehen, daß die dem
Menschen offenbare Welt eine «Illusion» ist, bevor er ihr erkennend gegenübertritt,
daß aber der Erkenntnisweg die Richtung weist nach der vollen Wirklichkeit. Was
der Mensch erkennend selbstschöpferisch erzeugt, erscheint nur deshalb als eine
Innenoffenbarung der Seele, weil der Mensch sich, bevor er das Erkenntniserlebnis
hat, dem verschließen muß, was aus dem Wesen der Dinge kommt. Er kann es an den
Dingen noch nicht schauen, wenn er ihnen zunächst sich nur entgegenstellt. Im
Erkennen schließt er sich selbsttätig das zuerst Verborgene auf. Hält nun der
Mensch das, was er zuerst wahrgenommen hat, für eine Wirklichkeit, so wird ihm
das erkennend Erzeugte so erscheinen, als ob er es zu dieser Wirklichkeit
hinzugebracht hätte. Erkennt er, daß er das nur scheinbar von ihm selbst
Erzeugte in den Dingen zu suchen hat, und daß er es vorerst nur von seinem
Anblick der Dinge ferngehalten hat, dann wird er empfinden, wie das Erkennen
ein Wirklichkeitsprozeß ist, durch den die Seele mit dem Weltensein
fortschreitend zusammenwächst, durch den sie ihr inneres isoliertes Erleben zum
Weltenerleben erweitert.
In einer
kleinen Schrift «Wahrheit und Wissenschaft», welche 1892 erschienen ist, hat
der Verfasser dieses Buches einen schwachen Versuch gemacht, dasjenige
philosophisch zu begründen, was eben andeutend dargestellt worden ist. Über Ausblicke
spricht er da, welche sich die Philosophie der Gegenwart eröffnen muß, wenn sie
über die Klippe hinwegkommen soll, die ihr durch ihre neuere Entwickelung
naturgemäß sich ergeben hat. In dieser Schrift wird ein philosophischer
Gesichtspunkt mit den Worten dargestellt: «Nicht die erste Gestalt, in der die
Wirklichkeit an das Ich herantritt, ist deren wahre, sondern die letzte, die
das Ich aus derselben macht. Jene erste Gestalt ist überhaupt ohne Bedeutung
für die objektive Welt und hat eine solche nur als Unterlage für den
Erkenntnisprozeß. Also nicht diejenige Gestalt der Welt, welche die Theorie
derselben gibt, ist die subjektive, sondern vielmehr diejenige, welche
dem Ich zuerst gegeben ist.» Eine weitere Ausführung über diesen Gesichtspunkt
bildet des Verfassers späterer philosophischer Versuch «Philosophie der
Freiheit» (erschienen 1894, 44.-48. Tausend, Stuttgart 1955). Er bemüht sich
da, die philosophischen Grundlagen zu geben für eine Anschauung, die sich
innerhalb des genannten Buches so angedeutet findet: «Nicht an den Gegenständen
liegt es, daß sie uns zunächst ohne die entsprechenden Begriffe gegeben werden,
sondern an unserer geistigen Organisation. Unsere totale Wesenheit funktioniert
in der Weise, daß ihr bei jedem Dinge der Wirklichkeit von zwei Seiten her die
Elemente zufließen, die für die Sache in Betracht kommen: von seiten des Wahrnehmens
und des Denkens . . . Es hat mit der Natur der Dinge nichts zu tun,
wie ich organisiert bin, sie zu erfassen. Der Schnitt zwischen Wahrnehmen und
Denken ist erst in dem Augenblicke vorhanden, wo ich, der Betrachtende, den
Dingen gegenübertrete . . .» Und auf S. 255 f.: «Die Wahrnehmung ist der Teil
der Wirklichkeit, der objektiv, der Begriff derjenige, der subjektiv (durch
Intuition) gegeben wird. Unsere geistige Organisation reißt die Wirklichkeit in
diese beiden Faktoren auseinander. Der eine Faktor erscheint dem Wahrnehmen,
der andere der Intuition. Erst der Zusammenhang der beiden, die gesetzmäßig
sich in das Universum eingliedernde Wahrnehmung, ist volle Wirklichkeit.
Betrachten wir die bloße Wahrnehmung für sich, so haben wir keine Wirklichkeit,
sondern ein zusammenhangloses Chaos; betrachten wir die Gesetzmäßigeit der
Wahrnehmungen für sich, dann haben wir es bloß mit abstrakten Begriffen zu tun.
Nicht der abstrakte Begriff enthält die Wirklichkeit; wohl aber die denkende
Beobachtung, die weder einseitig den Begriff, noch die Wahrnehmung für sich
betrachtet, sondern den Zusammenhang beider.»
Wer die
hier angedeuteten Gesichtspunkte zu den seinigen machen kann, gewinnt die
Möglichkeit, mit seinem Seelenleben in dem selbstbewußten Ich die fruchtbare
Wirklichkeit verbunden zu denken. Das ist die Anschauung, zu welcher die
philosophische Entwickelung seit dem griechischen Zeitalter hinstrebt und die
in der Weltanschauung Goethes ihre ersten deutlich erkennbaren Spuren gezeigt
hat. - Es wird erkannt, daß dieses selbstbewußte Ich nicht in sich isoliert und
außerhalb der objektiven Welt sich erlebt, daß vielmehr sein Losgelöstsein von
dieser Welt nur eine Erscheinung des Bewußtseins ist, die überwunden werden
kann, überwunden dadurch, daß man einsieht, man habe als Mensch in einem
gewissen Entwickelungszustande eine vorübergehende Gestalt des Ich dadurch zu
zeigen, daß man die Kräfte, welche die Seele mit der Welt verbinden, aus dem
Bewußtsein herausdrängt. Wirkten diese Kräfte unaufhörlich in dem Bewußtsein,
dann käme man nicht zum kraftvollen, in sich ruhenden Selbstbewußtsein. Man
könnte sich als selbstbewußtes Ich nicht erleben. Es hängt also die Entwickelung
des Selbstbewußtseins geradezu davon ab, daß der Seele die Möglichkeit gegeben
ist, die Welt ohne den Teil der Wirklichkeit wahrzunehmen, welchen das
selbstbewußte Ich auf einer gewissen Stufe, auf derjenigen, die vor seiner
Erkenntnis liegt, auslöscht. - Die Weltenkräfte dieses
Wirklichkeitsgliedes arbeiten also am Seelenwesen so, daß sie sich in die
Verborgenheit zurückziehen, um das selbstbewußte Ich kraftvoll aufleuchten zu
lassen. Dieses muß demnach einsehen, daß es seine Selbsterkenntnis einer
Tatsache verdankt, welche über die Welterkenntnis einen Schleier breitet.
Dadurch ist notwendig bedingt, daß alles, was die Seele zum kraftvollen,
energischen Erleben des Ich bringt, die tieferen Grundlagen unoffenbar macht,
in welchen dieses Ich wurzelt. Nun ist aber alle Erkenntnis des gewöhnlichen
Bewußtseins eine solche, welche das Kraftvolle des selbstbewußten Ich bewirkt.
Der Mensch erfühlt sich als ein selbstbewußtes Ich dadurch, daß er mit seinen
Sinnen eine Außenwelt wahrnimmt, daß er sich außerhalb dieser Außenwelt erlebt,
und daß er zu dieser Außenwelt in einem solchen Verhältnisse steht, das auf
einer gewissen Stufe der wissenschaftlichen Forschung die «Welt als Illusion»
erscheinen läßt. Wenn alles dies nicht so wäre, träte das selbstbewußte Ich
nicht in die Erscheinung. Strebt man also danach, im Erkennen nur nachzubilden,
was schon vor dem Erkennen beobachtet wird, so erlangt man kein wahres
Erleben in der vollen, sondern ein Abbild der «halben Wirklichkeit.»
Gibt man
zu, daß die Dinge so stehen, so kann man die Antwort auf die Rätselfragen der
Philosophie nicht in den Erlebnissen der Seele suchen, die sich dem
gewöhnlichen Bewußtsein darbieten. Dieses Bewußtsein ist dazu berufen, das
selbstbewußte Ich zu erkraften; es muß, zu diesem Ziele strebend, den Ausblick
in den Zusammenhang des Ich mit der objektiven Welt verschleiern, kann also
nicht zeigen, wie die Seele mit der wahren Welt zusammenhängt. - Damit ist der
Grund angedeutet, warum ein Erkenntnisstreben, welches mit den Mitteln der naturwissenschaftlichen
Vorstellungsart oder mit ähnlichem philosophisch vorwärts kommen will, stets an
einem Punkte anlangen muß, wo ihm das Erstrebte im Erkennen zerfällt. Bei
vielen Denkern der neueren Zeit mußte dieses Zerfallen von diesem Buche angedeutet werden. Denn im Grunde
arbeitet alles wissenschaftliche Streben der neueren Zeit mit den
wissenschaftlichen Denkermitteln, welche der Loslösung des selbstbewußten Ich
von der wahren Wirklichkeit dienen. Und die Stärke und Größe der neueren
Wissenschaft, namentlich der Naturwissenschaft, beruhen auf der rückhaltlosen
Anwendung dieser Denkmittel.
Einzelne
Philosophen wie Dilthey, Eucken und andere lenken die philosophische
Betrachtung auf die Selbstbeobachtung der Seele hin. Was sie aber betrachten,
das sind diejenigen Erlebnisse der Seele, welche die Grundlage bilden des
selbstbewußten Ich. Dadurch dringen sie nicht bis zu jenen Quellen der Welt, in
denen die Erlebnisse der Seele aus der wahren Wirklichkeit hervorsprudeln.
Diese Quellen können nicht dort liegen, wo die Seele mit dem gewöhnlichen
Bewußtsein zunächst sich selbst beobachtend gegenübersteht. Will die Seele zu
diesen Quellen kommen, so muß sie aus diesem gewöhnlichen Bewußtsein
herausspringen. Sie muß etwas in sich erleben, was ihr dieses Bewußtsein nicht
geben kann. Ein solches Erleben erscheint dem gewöhnlichen Erkennen zunächst
als vollster Unsinn. Die Seele soll sich in einem Elemente wissend erleben,
ohne ihr Bewußtsein in dieses Element mit hineinzutragen. Man soll das
Bewußtsein überspringen und doch zugleich noch bewußt sein! - Und doch: man
wird entweder immer weiter im philosophischen Streben zu Unmöglichem kommen,
oder man wird sich den Ausblick darauf eröffnen müssen, daß der angedeutete
«volle Unsinn» ein nur scheinbarer ist und daß gerade er den Weg weist, auf dem
für die Rätselfragen der Philosophie Hilfe gesucht werden muß.
Man wird
sich gestehen müssen, daß der Weg «ins Innere der Seele» ein ganz anderer sein
muß als derjenige, den manche Weltanschauungen der neueren Zeit wählen.
Solange
man die Seelenerlebnisse nimmt, wie sie sich dem gewöhnlichen Bewußtsein
darbieten, solange kommt man nicht in die Tiefen der Seele. Man bleibt bei dem
stehen, was diese Tiefen hervortreiben. Euckens Weltanschauung ist in dieser
Lage. - Man muß unter die Oberfläche der Seele hinunterstreben. Das kann man
aber nicht mit den gewöhnlichen Mitteln des Seelenerlebens. Diese haben ihre
Stärke gerade darin, daß sie die Seele in diesem gewöhnlichen Bewußtsein
erhalten.
Mittel,
tiefer in die Seele einzudringen, bieten sich dar, wenn man den Blick auf
dasjenige richtet, was im gewöhnlichen Bewußtsein zwar mitarbeitet, aber in
seiner Arbeit gar nicht in dieses Bewußtsein eintritt. Wenn der Mensch denkt,
so ist sein Bewußtsein auf die Gedanken gerichtet. Er will durch die Gedanken
etwas vorstellen; er will im gewöhnlichen Sinne richtig denken. Man kann aber
auch auf anderes seine Aufmerksamkeit richten. Man kann die Tätigkeit des
Denkens als solche in das Geistesauge fassen. Man kann zum Beispiel einen
Gedanken in den Mittelpunkt des Bewußtseins rücken, der sich auf nichts Äußeres
bezieht, der wie ein Sinnbild gedacht ist, bei dem man ganz unberücksichtigt
läßt, daß er etwas Äußeres abbildet. Man kann nun in dem Festhalten eines
solchen Gedankens verharren. Man kann sich ganz einleben nur in das innere Tun
der Seele, während man so verharrt. Es kommt hierbei nicht darauf an, in
Gedanken zu leben, sondern darauf, die Denktätigkeit zu erleben. Auf diese
Weise reißt sich die Seele los von dem, was sie in ihrem gewöhnlichen Denken
vollführt. Sie wird dann, wenn sie solche innere Übung genügend lange
fortsetzt, nach einiger Zeit erkennen, wie sie in Erlebnisse hineingeraten ist,
welche sie abtrennen von demjenigen Denken und Vorstellen, das an die
leiblichen Organe gebunden ist. Ein gleiches kann man vollziehen mit dem Fühlen
und Wollen der Seele, ja, auch mit dem Empfinden, dem Wahrnehmen der
Außendinge. Man wird auf diesem Wege nur etwas erreichen, wenn man nicht
zurückschreckt davor, sich zu gestehen, daß die Selbsterkenntnis der Seele
nicht einfach angetreten werden kann, indem man nach dem Innern schaut, das
stets vorhanden ist, sondern vielmehr nach demjenigen, das durch innere
Seelenarbeit erst aufgedeckt werden muß. Durch eine Seelenarbeit, die durch
Übung zu einem solchen Verharren in der inneren Tätigkeit des Denkens, Fühlens
und Wollens gelangt, daß diese Erlebnisse gewissermaßen sich geistig in sich
«verdichten». Sie offenbaren dann in dieser «Verdichtung» ihr inneres Wesen,
das im gewöhnlichen Bewußtsein nicht wahrgenommen werden kann. Man entdeckt
durch solche Seelenarbeit, daß für das Zustandekommen des gewöhnlichen
Bewußtseins die Seelenkräfte sich so «verdünnen» müssen und daß sie in dieser
Verdünnung unwahrnehmbar werden. Die hier gemeinte Seelenarbeit besteht in der unbegrenzten
Steigerung von Seelenfähigkeiten, welche auch das gewöhnliche Bewußtsein
kennt, die dieses aber in solcher Steigerung nicht anwendet. Es sind die
Fähigkeiten der Aufmerksamkeit und der liebevollen Hingabe an das von
der Seele Erlebte. Es müssen, um das Angedeutete zu erreichen, diese
Fähigkeiten in einem solchen Grade gesteigert werden, daß sie wie völlig neue
Seelenkräfte wirken.
Indem
man so vorgeht, ergreift man in der Seele ein wirkliches Erleben, dessen eigene
Wesenheit sich als eine solche offenbart, welche von den Bedingungen der
leiblichen Organe unabhängig ist. Das ist ein Geistesleben, das begrifflich
nicht verwechselt werden darf mit dem, was Dilthey und Eucken die geistige Welt
nennen. Denn diese geistige Welt wird von dem Menschen doch nur erlebt,
indem er mit seinen Leibesorganen verbunden ist. Das hier gemeinte Geistesleben
ist für die Seele, die an den Leib gebunden ist, nicht vorhanden.
Und als
eine erste Erfahrung dieses errungenen neuen Geisteslebens stellt sich
die wahre Erkenntnis des gewöhnlichen Seelenlebens dar. In Wahrheit ist auch
dieses nicht durch den Leib hervorgebracht, sondern es verläuft außerhalb des
Leibes. Wenn ich eine Farbe sehe, wenn ich einen Ton höre, so erlebe ich die
Farbe, den Ton nicht als ein Ergebnis des Leibes, sondern ich bin als
selbstbewußtes Ich mit der Farbe, mit dem Ton außerhalb des Leibes verbunden.
Der Leib hat die Aufgabe, so zu wirken, daß man ihn mit einem Spiegel vergleichen
kann. Wenn ich mit einer Farbe im gewöhnlichen Bewußtsein nur seelisch
verbunden bin, so kann ich wegen der Einrichtung dieses Bewußtseins nichts von
der Farbe wahrnehmen. Wie ich auch mein Gesicht nicht sehen kann, wenn ich vor
mich Hinblicke. Steht aber ein Spiegel vor mir, so nehme ich dies Gesicht als
Körper wahr. Ohne vor dem Spiegel zu stehen, bin ich der Körper, ich
erlebe mich als solchen. Vor dem Spiegel stehend nehme ich den Körper als
Spiegelbild wahr. So ist es - das selbstverständlich Ungenügende eines
Vergleichs muß beachtet werden - mit der Sinneswahrnehmung. Ich lebe mit der
Farbe außer meinem Leibe, durch die Tätigkeit des Leibes (des Auges, des
Nervensystems) wird mir die Farbe zur bewußten Wahrnehmung gemacht. Nicht ein
Hervorbringer der Wahrnehmungen, des Seelischen überhaupt, ist der Menschenleib,
sondern ein Spiegelungsapparat dessen, was außerhalb des Leibes
seelisch-geistig sich abspielt.
Durch
solche Anschauung wird die Erkenntnislehre auf eine aussichtsvolle Grundlage
gestellt. «Man wird . . . zu einer . . . Vorstellung über das ,Ich' erkenntnistheoretisch
gelangen, wenn man es (das Ich) nicht innerhalb der Leibesorganisation
befindlich vorstellt und die Eindrücke ihm,von außen‘ geben läßt, sondern wenn
man dieses ,Ich' in die Gesetzmäßigkeit der Dinge selbst verlegt und in der
Leibesorganisation nur etwas wie einen Spiegel sieht, welcher das außer dem
Leibe liegende Weben des Ich im wahren Weltwesen diesem durch die organische
Leibestätigkeit zurückspiegelt.» Mit solchen Worten versuchte der Verfasser
dieses Buches die ihm vorschwebende Aussicht auf eine Erkenntnislehre zu
charakterisieren in dem Vortrag, den er für den 1911 in Bologna gehaltenen
philosophischen Kongreß ausgearbeitet hat: «Die psychologischen Grundlagen und
die erkenntnistheoretische Stellung der Geisteswissenschaft.» (Siehe «Die
Drei», Stuttgart 1948, 18. Jahrg. Heft 2/3.)
Während
des menschlichen Schlafes ist die spiegelnde Wechselwirkung zwischen dem Leibe
und der Seele unterbrochen; das «Ich» lebt nur im Weben des
Seelisch-Geistigen. Für das gewöhnliche Bewußtsein ist aber ein Erleben der
Seele nicht vorhanden, wenn der Leib die Erlebnisse nicht spiegelt. Daher
verläuft der Schlaf unbewußt. Durch die angedeuteten und ähnlichen
Seelenübungen wird bewirkt, daß die Seele ein anderes als das gewöhnliche
Bewußtsein entfaltet. Sie gelangt dadurch zu der Fähigkeit, rein
seelisch-geistig nicht nur zu erleben, sondern auch das Erlebte in sich so zu
erstarken, daß dieses sich gewissermaßen ohne die Hilfe des Leibes in sich
selbst spiegelt und so zur geistigen Wahrnehmung kommt. Und in dem so Erlebten
kann erst die Seele sich selbst wahrhaft erkennen, kann sie sich in ihrem Wesen
bewußt erleben. - Wie die Erinnerung vergangene Tatsachen des physischen
Erlebens aus den Tiefen der Seele heraufzaubert, so treten vor eine Seele,
welche sich durch die charakterisierten Verrichtungen dazu bereitgemacht hat,
aus deren inneren Tiefen wesenhafte Erlebnisse herauf, welche nicht der Welt
des Sinnesseins angehören, doch aber einer Welt, in welcher die Seele ihr
Grundwesen hat. - Es liegt nur zu nahe, daß der Gläubige mancher gegenwärtigen
Vorstellungsart diese Welt, die hier zum Vorschein kommt, in das Gebiet der
Erinnerungsirrtümer, der Illusionen, Halluzinationen, Autosuggestionen und
dergleichen verweist. Man kann dem nur erwidern, daß ein ernstes Seelenstreben,
das auf dem angedeuteten Wege arbeitet, in der inneren Geistesverfassung,
welche es sich anerzieht, so sichere Mittel findet, Illusion von geistiger
Wirklichkeit zu unterscheiden, wie man im gewöhnlichen Leben bei gesunder Seelenverfassung
ein Phantasiegebilde von einer Wahrnehmung unterscheiden kann. Theoretische
Beweise, daß die charakterisierte geistige Welt wirklich ist, wird man
vergeblich suchen; doch gibt es solche auch nicht für die Wirklichkeit der
Wahrnehmungswelt. Wie da zu urteilen ist, darüber entscheidet das Erleben selbst
in dem einen und dem anderen Falle.
Was
viele zurückhält, den Schritt zu unternehmen, der nach dieser Darstellung
allein für die philosophischen Rätselfragen aussichtsvoll ist, das ist, daß sie
durch denselben in ein Gebiet nebelhafter Mystik zu verfallen glauben. Wer
nicht von vornherein den Zug der Seele zu solch nebelhafter Mystik hat, der
wird auf dem geschilderten Wege sich den Zugang zu einer Welt seelischen
Erlebens eröffnen, welches in sich kristallklar wie das mathematische
Ideengebäude ist. Wenn man allerdings den Hang dazu hat, das Geistige im
«dunklen Unbekannten», in dem, «was sich nicht erklären läßt», zu suchen, dann
wird man weder als Kenner noch als Gegner des geschilderten Weges auf demselben
sich zurechtfinden können.
Leicht
verständlich ist auch, daß solche Persönlichkeiten, welche in der
Vorstellungsart, deren sich die Naturwissenschaft zur Erkenntnis der Sinneswelt
bedient, den einzigen wahren wissenschaftlichen Weg erkennen wollen, sich gegen
das hier Angedeutete kräftig sträuben. Doch wird, wer solche Einseitigkeit
absteift, erkennen können, daß eben in der echten naturwissenschaftlichen Gesinnung
die Grundlage liegt für ein Aufnehmen des hier Geschilderten. Man hat an
den Ideen, welche in diesem Buche als diejenigen der neueren
naturwissenschaftlichen Vorstellungsart geschildert worden sind, die besten
Übungsgedanken, welchen die Seele sich hingeben und auf denen sie verharren
kann, um sich in ihrem inneren Erleben von dem Gebundensein an den Leib zu
lösen. Wer diese naturwissenschaftlichen Ideen verwendet, um mit ihnen so zu
verfahren, wie in diesen Ausführungen geschildert worden ist, der wird finden,
daß Gedanken, die ursprünglich nur bestimmt scheinen, die Naturvorgänge
abzubilden, bei der inneren Geistesübung die Seele wirklich loslösen vom Leibe,
und daß daher die hier gemeinte Geisteswissenschaft eine Fortsetzung bilden muß
der seelisch recht erlebten naturwissenschaftlichen Denkungsart.
*
Man erlebt
wissend das wahre Wesen der Menschenseele, wenn man es auf dem
charakterisierten Wege sucht. Die Entwickelung der philosophischen
Weltanschauungen hat im griechischen Zeitalter zur Geburt des Gedankens auf dem
Felde dieser Weltanschauungen geführt. Der Fortschritt dieser Entwickelung ging
später dahin, durch die Gedankenerlebnisse die philosophische Betrachtung auf
das selbstbewußte Ich hinzuführen. Goethe strebte in dem selbstbewußten Ich
nach solchen Erlebnissen, die, indem sie von der Menschenseele erarbeitet
werden, zugleich diese Seele in den Bereich derjenigen Wirklichkeit stellen,
welche den Sinnen unzugänglich ist. Wenn er nach einer solchen Idee der Pflanze
strebt, die nicht mit Sinnen geschaut werden kann, die jedoch das übersinnliche
Wesen aller Pflanzen so enthält, daß man, von ihr ausgehend, Pflanzen ersinnen
kann, die lebensmöglich sind, so steht Goethe mit solcher Geistesart auf dem
hier angezeigten Boden. - Hegel hat dann in dem Gedankenerleben der
Menschenseele selbst das «Stehen in dem wahren Weltenwesen» gesehen; ihm wurde
die Welt der wahren Gedanken zum inneren Wesen der Welt. - Ein unbefangenes
Verfolgen der philosophischen Entwickelung zeigt, daß das Gedankenerleben zwar
das Element war, durch welches das selbstbewußte Ich auf sich selbst gestellt
werden sollte, daß aber über das Leben in Gedanken fortgeschritten werden muß
zu einem solchen seelischen Erleben, das über das gewöhnliche Bewußtsein
hinausführt. Denn auch Hegels Gedankenerleben verläuft noch in dem Bereiche
dieses gewöhnlichen Bewußtseins.
In der
Seele eröffnet sich so der Ausblick auf eine Wirklichkeit, welche den Sinnen
unzugänglich ist. Was in der Seele durch das Eindringen in diese Wirklichkeit
erlebt wird, stellt sich dar als die tiefere Seelenwesenheit. Wie aber ist das
Verhältnis dieser tieferen Seelenwesenheit zu der durch Vermittelung des Leibes
erlebten Außenwelt? - Die vom Leibe auf die gekennzeichnete Art sich frei
erlebende Seele erfühlt sich in einem seelisch-geistigen Weben. Sie ist mit dem
Geistigen außerhalb des Leibes. Und sie weiß, daß sie auch im gewöhnlichen
Leben außerhalb dieses Leibes ist, der ihr nur ihre seelisch-geistigen
Erlebnisse wie ein Spiegelungsapparat zur Wahrnehmung bringt. Dadurch wird für
sie das geistige Erheben so erhöht, daß ihr ein neues Element in Wirklichkeit
sich offenbart. Betrachtungen über die geistige Welt nach der Art Diltheys oder
Euckens finden als geistige Welt die Summe der Kulturerlebnisse der Menschheit.
Mit dieser Welt als der einzig erfaßbaren Geisteswelt steht man nicht auf dem
Boden, welcher der naturwissenschaftlichen Denkungsart entsprechend sich zeigt.
Die Gesamtheit der Weltwesen ordnet sich für den naturwissenschaftlichen Blick
so, daß der physische Mensch in seinem individuellen Dasein wie eine
Zusammenfassung, eine Einheit erscheint, nach der alle anderen Naturvorgänge
und Naturwesen hinweisen. Die Kulturwelt ist dasjenige, was durch diesen
Menschen geschaffen wird. Allein eine individuelle Einheit höherer Art
gegenüber der Individualität des Menschen ist sie nicht. Die hier gemeinte
Geisteswissenschaft zeigt auf ein Erleben, das die Seele unabhängig vom Leibe
haben kann. Und dieses Erleben offenbart sich als ein Individuelles. Es tritt
auf wie ein höherer Mensch, der zu dem physischen Menschen wie zu seinem
Werkzeuge steht. Was durch das geistige Erleben der Seele frei vom physischen
Leibe sich erfühlt, ist ein geistig-seelisches einheitliches Menschenwesen, das
so einer geistigen Welt angehört, wie der Leib der physischen. Erhebt die Seele
dieses ihr geistiges Wesen, dann erkennt sie auch, daß dies in einem gewissen
Verhältnisse zum Leibe steht. Der Leib erscheint einerseits wie eine Ablösung
von dem seelisch-geistigen Wesen, etwa so, daß man den Vergleich wagen kann mit
der Schneckenschale, die sich, die Schnecke umhüllend, wie ein Abbild aus ihr ergibt.
Anderseits erscheint das Geistig-Seelische im Leibe wie die Summe von Kräften
in der Pflanze, welche, nachdem die Pflanze sich entfaltet hat, nachdem sie
ihre Entwickelung durch Blätter und Blüte vollendet hat, sich in dem Keime
zusammendrängen, um die Anlage zu einer neuen Pflanze zu bilden. Man kann den
geistig-seelischen Menschen nicht erleben, ohne zugleich durch das Erlebnis zu
wissen, daß in diesem Menschen etwas enthalten ist, was sich zu einem neuen
physischen Menschen gestalten will. Zu einem solchen, der durch sein Erleben in
dem physischen Leibe sich Kräfte gesammelt hat, die nicht in diesem
gegenwärtigen physischen Leibe zum Ausleben kommen können. Dieser gegenwärtige
physische Leib hat wohl der Seele die Möglichkeit gegeben, Erlebnisse im Zusammenhange
mit der Außenwelt zu haben, welche den geistig-seelischen Menschen anders
machen als er war, da er das Leben in diesem physischen Leibe angetreten
hat; doch ist dieser Leib gewissermaßen zu bestimmt gestaltet, als daß der
geistig-seelische Mensch ihn nach den in ihm gemachten Erlebnissen umformen
könnte. So steckt in dem Menschen ein geistig-seelisches Wesen, das die Anlage
zu einem neuen Menschen enthält.
Solche
Gedanken können hier nur angedeutet werden. Was sie enthalten, eröffnet die
Aussicht auf eine Geisteswissenschaft, die in ihrer inneren Wesenheit nach dem
Muster der Naturwissenschaft gebaut ist. Der Bearbeiter einer solchen
Geisteswissenschaft wird verfahren, wie etwa der Botaniker verfährt. Dieser
verfolgt die Pflanze, wie sie Wurzel schlägt, Stamm und Blätter entfaltet, sich
zur Blüte und Frucht entwickelt. In der Frucht wird er den Keim des neuen
Pflanzenlebens gewahr. Und wenn er eine Pflanze entstehen sieht, so sucht er
deren Ursprung in dem Keim, der von einer anderen Pflanze herrührt. Der
Geisteswissenschafter wird verfolgen, wie ein Menschenleben, abgesehen von
seiner Außenseite, auch ein inneres Wesen entfaltet; er wird die äußeren
Erlebnisse gleich den Pflanzenblättern und Blüten hinsterbend finden; im Innern
aber den geistig-seelischen Kern verfolgen, der die Anlage zu einem neuen
Menschenleben birgt. In dem durch die Geburt ins Leben tretenden Menschen wird
er dasjenige wieder in die Sinnesweht kommen sehen, was durch den Tod aus ihr
hinausgegangen ist. Er wird beobachten lernen, wie dasjenige, was in der
physischen Vererbungsströmung von den Ahnen dem Menschen übergeben wird, nur
der Stoff ist, den der seelisch-geistige Mensch formend gestaltet, um das zum
physischen Dasein zu bringen, was in einem vorhergegangenen Leben sich keimhaft
vorgebildet hat.
Man
wird, von dem Gesichtspunkte dieser Weltanschauung aus, manches in der
Seelenwissenschaft in einem neuen Lichte sehen. Vieles könnte hier erwähnt
werden. Doch sei nur auf eines hingedeutet. Man beobachte, wie die
Menschenseele durch Erlebnisse verwandelt wird, die in einem gewissen Sinne
eine Wiederkehr früherer Erlebnisse darstellen. Wenn man ein bedeutungsvolles
Buch in seinem zwanzigsten Jahre gelesen hat und es in seinem vierzigsten
wieder liest, so erlebt man es wie ein anderer Mensch. Und wenn man unbefangen
nach dem Grunde dieser Tatsache fragt, so ergibt sich, daß, was man durch das
Buch im zwanzigsten Jahre aufgenommen hat, in einem fortlebt und ein Teil der
eigenen Wesenheit geworden ist. Man hat in dem eigenen Geistig-Seelischen die
Kraft, die in dem Buche liegt; und es liegt in diesem Buche im vierzigsten
Jahre des Menschen diese in ihn eingegangene Kraft. So ist es auch mit
Lebenserfahrungen. Diese werden zum Menschen selbst. Sie leben in seinem «Ich».
Aber man sieht auch, daß während des einen Lebens dieses innere Kräftigen des
höheren Menschen geistig-seelisch bleiben muß. Aber auch das andere wird man
gewahr, daß dieser Mensch strebt, kräftig genug zu werden, um sich in
Leiblichkeit auszuleben. Um das zu erreichen, ist die körperliche Bestimmtheit
in dem einen Leben ein Hindernis. Im Innern des Menschen aber lebt anlagehaft
der Keim, der ein neues Menschenleben mit dem Erworbenen bilden will, wie im
Innern der Pflanze der Keim für eine neue Pflanze hebt.
Dazu
kommt, daß das Einleben der Seele in die vom Leibe unabhängige Geisteswelt ihr
das wahrhaft Geistig-Seelische auf eine ähnliche Art ins Bewußtsein treten
läßt, wie in der Erinnerung Vergangenes auftaucht. Doch zeigt sich dieses
Geistig-Seelische als über das Einzelleben hinaufreichend. Wie, was ich jetzt
in meinem Bewußtsein trage, in sich die Ergebnisse meines früheren physischen
Erlebens in sich enthält, so offenbart sich der durch die angedeuteten Übungen
gegangenen Seele das ganze physische Erleben, mit der besonderen Gestaltung des
Leibes, als geformt von dem geistig-seelischen Wesen, das der Leibesbildung
vorangegangen ist. Und dieses der Leibesbildung vorangegangene Leben kündigt
sich an als ein solches in einer rein geistigen Welt, in welcher die Seele gelebt
hat, bevor sie die Keimanlagen eines vorhergehenden physischen Lebens in einem
neuen physischen Leben entwickeln konnte. Man muß sich verschließen vor der
doch so einleuchtenden Möglichkeit, daß die Kräfte der menschlichen Seele
entwickelungsfähig sind, wenn man sich sträubt, anzuerkennen, daß eine Seele
Wahrheit redet, die ihre Erfahrung dahingehend ausspricht, daß sie durch innere
Arbeit wirklich dazu gelangt ist, von einer geistigen Welt innerhalb eines von
dem gewöhnlichen abweichenden Bewußtseins zu wissen. Und dieses Wissen führt
zum geistigen Ergreifen einer Welt, aus welcher anschaulich wird, daß das wahre
Wesen der Seele hinter dem gewöhnlichen Erleben liegt; daß sich dieses wahre
Wesen geistig im Tode erhält, wie der Pflanzenkeim nach dem Hinsterben der
Pflanze sich physisch erhält. Es führt zur Erkenntnis, daß die Menschenseele in
wiederholten Erdenleben lebt, und daß zwischen diesen Erdenleben rein geistiges
Dasein liegt.
Von
solchem Gesichtspunkt aus kommt Wirklichkeit in die Annahme einer geistigen
Welt. Die Menschenseelen selbst sind es, welche das in einer Kulturepoche
Errungene in die späteren hinübertragen. Die Seele erscheint im physischen
Leben mit einer gewissen inneren Verfassung, deren Entfaltung man wahrnimmt,
wenn man nur nicht so befangen ist, daß man in dieser Entfaltung nur das
Ergebnis der physischen Vererbung sehen will. Was in dem von Eucken und
Dilthey gemeinten Kulturleben als geistige Welt sich darstellt, ist so
gestaltet, daß das Folgende stets an das unmittelbar Vorangehende sich
schließt. Doch stehlen sich in diesen Fortgang hinein die Menschenseelen,
welche das Ergebnis ihrer vorangehenden Leben mitbringen in Form der inneren
Seelenstimmung, die aber, was in der physischen Kulturwelt sich entwickelt hat,
während sie in einem rein geistigen Dasein waren, durch äußeres Lernen sich
aneignen müssen.
In einer
geschichtlichen Darstellung kann nicht die volle Auseinandersetzung gegeben
werden über das hier Angedeutete. Wer eine solche sucht, den erlaube ich mir zu
verweisen auf meine Schriften über die hier gemeinte Geisteswissenschaft. Wenn
diese auch anstreben, in einer möglichst allgemein zugänglichen Darstellungsart
die Weltanschauung zu geben, deren Gesichtspunkte und Ziele hier skizziert sind,
so glaube ich doch, daß es möglich ist, auch in dem Gewande dieser
Darstellungsart zu erkennen, wie diese Weltanschauung auf einer ernst
erstrebten philosophischen Grundlage ruht, und von dieser aus hineinstrebt in
die Welt, welche die Menschenseele erschauen kann, wenn sie sich die leibfreie
Beobachtung durch innere Arbeit erwirbt.
Einer
der Lehrmeister dieser Weltanschauung ist die Philosophiegeschichte selber.
Deren Betrachtung zeigt, daß der Gang der philosophischen Arbeit hindrängt nach
einer Anschauung, die nicht im gewöhnlichen Bewußtsein errungen werden kann. In
den Darstellungen der repräsentativen Denkerpersönlichkeiten zeigt sich in
mannigfaltigen Formen, wie die Durchforschung des selbstbewußten Ich, nach
allen Seiten, mit den Mitteln des gewöhnlichen Bewußtseins versucht worden ist.
Eine theoretische Auseinanderetzung, warum diese Mittel an unbefriedigenden
Punkten ankommen müssen, gehört nicht in die geschichtliche Darstellung. Doch
sprechen die geschichtlichen Tatsachen selbst deutlich aus, wie das gewöhnliche
Bewußtsein, nach allen Seiten durchsucht, nicht dazu kommen kann, Fragen zu
lösen, die es doch stellen muß. Und warum dem gewöhnlichen, auch dem gewohnten
wissenschaftlichen Bewußtsein die Mittel für die Bearbeitung dieser Fragen
fehlen müssen, das sollte dieses Schlußkapitel einerseits zeigen. Anderseits
sollte es darlegen, wonach die charakterisierten Weltanschauungen unbewußt
strebten. - Wenn von einem gewissen Gesichtspunkte aus dieses letzte Kapitel
nicht mehr zur eigentlichen Philosophiegeschichte gehört, so wird es von einem
anderen aus doch gerechtfertigt erscheinen, von einem solchen, dem die
Ergebnisse dieses Buches einleuchtend sind. Denn diese Ergebnisse bestanden
darin, daß die geisteswissenschaftliche Weltanschauung von der neueren
Philosophieströmung wie gefordert erscheint, wie eine Antwort auf die von ihr
hervorgetriebenen Fragen. Man muß diese Philosophieströmung an einzelnen
charakteristischen Punkten betrachten, um dies gewahr zu werden. Franz Brentano
spricht in seiner «Psychologie» davon, wie diese Strömung davon abgelenkt
worden ist, die tieferen Rätsel des Seelischen zu behandeln (vgl. S. 521). Man
kann in seinem Buche lesen: «Indessen, so scheinbar die Notwendigkeit der
Beschränkung des Forschungsgebietes nach dieser Seite ist, so ist sie doch vielleicht
nicht mehr als scheinbar. David Hume hat sich seinerzeit mit aller
Entschiedenheit gegen die Metaphysiker erklärt, welche eine Substanz als
Trägerin der psychischen Zustände in sich zu finden behaupten. ,Ich für mein
Teil', sagt er, ,wenn ich recht tief in das, was ich mich selbst nenne,
eingehe, stoße immer auf die eine oder die andere Wahrnehmung von Hitze oder
Kälte, Licht oder Schatten, Liebe oder Haß, Schmerz oder Lust. Nie, so oft ich
es auch versuche, kann ich meiner selbst habhaft werden ohne eine
Vorstellung, und nie kann ich etwas entdecken außer der Vorstellung. Sind meine
Vorstellungen für irgendwelche Zeit aufgehoben, wie bei gesundem Schlafe, so
kann ich ebenso lange nichts von mir selbst verspüren, und man könnte in
Wahrheit sagen, daß ich gar nicht bestehe.'» (Brentano, Psychologie, S. 20.) -
Hume weiß nur von einer Seelenbeobachtung, welche ohne innere Seelenarbeit auf
die Seele lossteuert. Eine solche Beobachtung kann eben nicht bis zu dem
Wesenhaften der Seele dringen. Brentano knüpft nun an Humes Sätze an und
spricht aus: «Nichtsdestoweniger bemerkt derselbe Hume, daß die sämtlichen
Beweise für die Unsterblichkeit bei einer Anschauung wie der seinigen noch ganz
dieselbe Kraft besitzen wie bei der entgegengesetzten und hergebrachten Annahme.»
Dazu muß aber gesagt werden, daß nicht Erkenntnis, sondern nur ein Glaube
festhalten könnte an den Worten Humes, wenn seine Meinung richtig wäre, daß
nichts in der Seele zu finden ist, als was er angibt. Denn was könnte für einen
Fortbestand bürgen dessen, was Hume als Inhalt der Seele findet? Brentano fährt
fort: «Denn wenn auch der, welcher die Seelensubstanz leugnet, von einer
Unsterblichkeit im eigentlichen Sinne selbstverständlich nicht reden kann, so
ist es doch durchaus nicht richtig, daß die Unsterblichkeitsfrage durch die
Leugnung eines substantiellen Trägers der psychischen Erscheinungen allen Sinn
verliert. Dies wird sofort einleuchtend, wenn man bedenkt, daß, mit oder ohne
Seelensubstanz, ein gewisser Fortbestand unseres psychischen Leben hier auf
Erden jedenfalls nicht geleugnet werden kann. Verwirft einer die
Seelensubstanz, so bleibt ihm nur die Annahme übrig, daß es zu einem
Fortbestande wie diesem eines substantiellen Trägers nicht bedürfe. Und die
Frage, ob unser psychisches Leben etwa auch nach der Zerstörung unserer
leiblichen Erscheinung fortbestehen werde, wird darum für ihn ebensowenig wie
für andere sinnlos sein. Es ist eigentlich eine bare Inkonsequenz, wenn Denker
dieser Richtung die Frage nach der Unsterblichkeit auch in dieser ihrer
wesentlichen Bedeutung, in welcher sie allerdings besser Unsterblichkeit des
Lebens als Unsterblichkeit der Seele zu nennen ist, auf die angegebenen Gründe
hin verwerfen.» (Brentano, Psychologie, S.21 f.) - Diese Meinung Brentanos läßt
sich doch nicht stützen, wenn man nicht auf die hier skizzierte Weltanschauung
eingehen will. Denn wo sollen sich Gründe zur Annahme finden, daß die
seelischen Erscheinungen nach der Auflösung des Leibes fortbestehen, wenn man
bei dem gewöhnlichen Bewußtsein stehen bleiben will? Dieses Bewußtsein
kann doch nur so lange dauern, als sein Spiegelungsapparat, der physische Leib,
besteht. Was ohne diesen fortbestehen kann, darf nicht als Substanz bezeichnet
werden; es muß ein anderes Bewußtsein sein. Dieses andere Bewußtsein
kann aber nur entdeckt werden durch die innere Seelenarbeit, die sich leibfrei
macht. Diese lernt erkennen, daß die Seele Bewußtsein auch ohne die leibliche
Vermittelung haben kann. Durch diese Arbeit findet die Seele in übersinnlicher
Anschauung den Zustand, in dem sie sich befindet, wenn sie den Leib
abgelegt hat. Und sie findet, daß, während sie den Leib trägt, dieser selbst es
ist, der jenes andere Bewußtsein verdunkelt. Mit der Einverleibung in den
physischen Körper wirkt dieser so stark auf die Seele, daß sie das
charakterisierte andere Bewußtsein im gewöhnlichen Leben nicht zur Entfaltung
bringen kann. Das zeigt sich, wenn die in diesem Kapitel angedeuteten
Seelenübungen mit Erfolg gemacht werden. Die Seele muß dann bewußt die Kräfte
unterdrücken, die, vom Leibe ausgehend, das leibfreie Bewußtsein auslöschen.
Dieses Auslöschen kann nach der Auflösung des Leibes nicht mehr stattfinden. Es
ist also das geschilderte andere Bewußtsein dasjenige, das sich hindurcherhält
durch die aufeinanderfolgenden Leben der Seele und durch die rein geistigen
Leben zwischen Tod und Geburt. Und es wird von diesem Gesichtspunkte aus nicht
von einer nebelhaften Seelensubstanz gesprochen, sondern mit einer den
naturwissenschaftlichen Ideen ähnlichen Vorstellung gezeigt, wie die Seele
deshalb fortbesteht, weil in einem Leben sich keimhaft das nächste vorbereitet,
gleich dem Pflanzenkeim in der Pflanze. Es wird in dem gegenwärtigen Leben der
Grund des künftigen gefunden. Es wird das Wahrhafte gezeigt, das sich
fortsetzt, wenn der Tod den Leib auflöst.
Man
befindet sich mit der hier gemeinten Geisteswissenschaft nirgends im
Widerspruche mit der neueren naturwissenschaftlichen Vorstellungsart. Man wird
nur zugeben müssen, daß über das Gebiet des Geisteslebens mit dieser Vorstellungsart
selbst keine Einsichten gewonnen werden können. Erkennt man die Tatsache eines
anderen Bewußtseins, als es das gewöhnliche ist, so wird man finden, daß man
durch dieses Bewußtsein zu Vorstellungen über die geistige Welt geführt wird,
die für diese Welt einen Gesetzeszusammenhang ergeben, ganz ähnlich dem, der
sich dem naturwissenschaftlichen Forschen für die physische Welt ergibt.
Von
Bedeutung wird sein, daß man von dieser Geisteswissenschaft den Glauben
fernhält, als ob ihre Erkenntnisse irgendeiner älteren Religionsform entlehnt
seien. Man wird zu diesem Glauben leicht verführt, weil zum Beispiel die
Anschauung von den wiederholten Erdenleben ein Bestandstück gewisser
Glaubensbekenntnisse ist. Für den modernen Geistesforscher kann es eine Entlehnung
von solchen Glaubensbekenntnissen nicht geben. Er findet, daß die Erringung
eines in die Geisteswelt reichenden Bewußtseins eine Tatsache für eine Seele
werden kann, die sich gewissen - den geschilderten - Verrichtungen hingibt. Und
er lernt als ein Ergebnis dieses Bewußtseins erkennen, daß die Seele in der
charakterisierten Art ihren Bestand in der geistigen Welt hat. Für seine
Betrachtung zeigt sich in der Philosophiegeschichte seit dem Aufleuchten des
Gedankens im Griechentum der Weg, um philosophisch zu der Überzeugung zu
kommen, daß man das wahre Seelenwesen findet, wenn man die gewöhnlichen
Seelenerlebnisse als Oberfläche betrachtet, unter die hinabgestiegen werden
muß. Der Gedanke hat sich als der Erzieher der Seele erwiesen. Er hat diese
dahin gebracht, in dem selbstbewußten Ich ganz einsam zu sein. Aber indem er
sie zu dieser Einsamkeit geführt hat, hat er ihre Kräfte gestählt, wodurch sie
fähig werden kann, sich in sich so zu vertiefen, daß sie, in ihren Untergründen
stehend, zugleich in dem tiefer Wirklichen der Welt steht. Denn vom
Gesichtspunkte der hier charakterisierten geisteswissenschaftlichen
Weltanschauung aus wird nicht der Versuch unternommen, mit den Mitteln des
gewöhnlichen Bewußtseins durch bloßes Nachdenken (Hypothetisieren) hinter die
Sinneswelt zu kommen. Es wird anerkannt, daß für dieses gewöhnliche Bewußtsein
die übersinnliche Welt verschleiert sein muß, und daß die Seele sich durch ihre
eigene innere Verwandlung in die übersinnliche Welt hineinstellen muß, wenn sie
ein Bewußtsein von ihr erlangen will.
Auf
diesem Wege wird auch erkannt, daß der Ursprung der sittlichen Impulse in
derjenigen Welt liegt, welche die Seele leibfrei anschaut. Aus dieser Welt
ragen in das Seelenleben herein die Antriebe, welche nicht aus der leiblichen Natur
des Menschen stammen, sondern unabhängig von dieser das Handeln des Menschen
bestimmen sollen.
Wenn man
sich bekannt macht damit, daß das «Ich» mit seiner seelisch-geistigen Welt
außerhalb des Leibes lebt, daß es also die Erlebnisse der Außenwelt selbst an
diesen Leib heranbringt, so wird man auch den Weg finden zu einer wahrhaft
geistgemäßen Auffassung des Schicksalsrätsels. Der Mensch ist in seinem
seelischen Erleben durchaus verbunden mit dem, was er als Schicksal erlebt. Man
betrachte doch den seelischen Bestand eines dreißigjährigen Menschen. Der
wirkliche Inhalt seines inneren Seins wäre ein ganz anderer, wenn er in den
vorhergehenden Jahren anderes erlebt hätte, als der Fall ist. Sein «Ich» ist
nicht denkbar ohne diese Erlebnisse. Und wenn sie ihn auch als leidvolle
Schicksalsschläge getroffen haben, er ist durch sie geworden, was er ist. Sie
gehören zu den Kräften, welche in seinem «Ich» wirksam sind, nicht dieses von
außen treffen. Wie der Mensch geistig-seelisch mit der Farbe lebt, und diese ihm
nur durch die Spiegelung des Leibes zur Wahrnehmung gebracht wird, so lebt er
als in einer Einheit mit seinem Schicksal. Mit der Farbe ist man seelisch
verbunden; doch wahrnehmen kann man sie nur, wenn der Leib sie spiegelt; mit
den Ursachen eines Schicksalsschlages ist der Mensch wesenhaft eins von
vorangehenden Leben her, doch erlebt er ihn dadurch, daß sich seine
Seele in ein neues Erdendasein geführt hat, in dem sie sich in Erlebnisse
unbewußt stürzte, die diesen Ursachen entsprechen. Im gewöhnlichen Bewußtsein
weiß er seinen Willen nicht mit diesem Schicksal verbunden; in dem
errungenen leibfreien Bewußtsein kann er finden, daß er sich selbst nicht
wollen könnte, wenn er mit demjenigen Teile seiner Seele, der wesenhaft in der
Geisteswelt steht, nicht alle Einzelheiten seines Schicksals wollte. Auch das
Schicksalsrätsel wird nicht so gelöst, daß man über dasselbe Hypothesen
erdenkt, sondern dadurch, daß man verstehen lernt, wie man in einem über das
gewöhnliche Bewußtsein hinausgehenden Erleben der Seele mit seinem Schicksal
zusammenwächst. Dann erkennt man, daß in den Keimanlagen der dem gegenwärtigen
vorangehenden Erdenleben auch die Ursachen liegen, warum man dieses oder jenes
Schicksalsmäßige erlebt. Das Schicksal erscheint in der Art, wie es sich dem
gewöhnlichen Bewußtsein darstellt, nicht in seiner wahren Gestalt. Es verläuft
als Folge der vorangehenden Erdenleben, deren Anblick dem gewöhnlichen
Bewußtsein nicht gegeben ist. Einsehen, daß man mit seinen Schicksalsschlägen
durch die vorigen Leben verbunden ist, heißt, sich zugleich mit dem Schicksal versöhnen.
Auch für
solche Philosophierätsel, wie dieses, muß behufs ausführlicher Darstellung auf
des Verfassers angeführte Werke über Geisteswissenschaft verwiesen werden. Hier
können nur wichtigere Ergebnisse dieser Wissenschaft besprochen, nicht
aber im einzelnen die Wege angedeutet werden, die dazu führen, von ihr
überzeugt zu werden.
Die
Philosophie führt durch ihre eigenen Wege zu der Erkenntnis, daß sie von der
Betrachtung zu einem Erleben schreiten müsse der Welt, die sie sucht. In
der Betrachtung der Welt erlebt die Seele etwas, bei dem sie nicht
stehenbleiben kann, wenn sie sich nicht unaufhörlich Rätsel sein will. Es ist
mit dieser Betrachtung in der Tat so wie mit dem Samenkorn, das sich in der
Pflanze entwickelt. Dasselbe kann in einer zweifachen Art seinen Weg finden,
wenn es gereift ist. Es kann zur menschlichen Nahrung verwendet werden.
Untersucht man es in bezug auf diese seine Verwendbarkeit, so kommen andere
Gesichtspunkte in Betracht, als diejenigen sind, welche aus dem
fortschreitenden Wege des Korns sich ergeben, den es macht, wenn es in den
Boden versenkt, der Keim einer neuen Pflanze wird. Was der Mensch seelisch
erlebt, hat in ähnlicher Art einen zweifachen Weg. Es tritt auf der einen Seite
in den Dienst der Betrachtung einer äußeren Welt. Untersucht man das seelische
Erleben von diesem Gesichtspunkte aus, so wird man die Weltanschauungen
ausbilden, welche vor allen Dingen danach fragen: Wie dringt Erkenntnis in das
Wesen der Dinge; was kann die Betrachtung der Dinge leisten? Solche
Untersuchung ist zu vergleichen mit derjenigen nach dem Nahrungswert des
Samenkorns. Doch kann man auch hinblicken auf das seelische Erleben, insofern
dieses nicht nach außen abgelenkt wird, sondern in der Seele fortwirkend diese
von Daseinsstufe zu Daseinsstufe führt. Dann erfaßt man dieses seelische
Erleben in der ihm eingepflanzten treibenden Kraft. Man erkennt es als einen
höheren Menschen im Menschen, der in dem einen Leben das andere vorbereitet. Man
wird zu der Einsicht kommen, daß dieses der Grundimpuls des seelischen Erlebens
ist. Und daß die Erkenntnis sich zu diesem Grundimpuls verhält wie die
Verwendung des Samenkornes als Nahrung zu dem fortschreitenden Wege dieses
Kornes, der es zum Keim einer neuen Pflanze macht. Wenn man dies nicht
berücksichtigt, so lebt man in der Täuschung, daß man in dem Wesen des
seelischen Erlebens das Wesen des Erkennens suchen kann. Man muß dadurch in
einen Irrtum verfallen, dem ähnlich, der entstünde, wenn man das Samenkorn nur
chemisch untersuchte auf seinen Nahrungswert hin und in dem Ergebnis dieser
Untersuchung das innere Wesen des Samenkorns finden wollte. Die hier
charakterisierte Geisteswissenschaft sucht diese Täuschung zu vermeiden, indem
sie die selbsteigene innere Wesenheit des seelischen Erlebens offenbar machen
will, das auf seinem Wege auch in den Dienst der Erkenntnis treten kann,
ohne in dieser betrachtenden Erkenntnis seine ureigentliche Natur zu
haben.
Nicht
verwechselt darf werden das hier geschilderte «leibfreie Seelenbewußtsein» mit
denjenigen Seelenzuständen, welche nicht durch die charakterisierte innere
Seelen-Eigen-Arbeit errungen werden, sondern aus herabgestimmtem Geistesleben
(im traumhaften Hellsehen, in der Hypnose usw.) sich ergeben. Bei diesen
Seelenzuständen hat man es nicht mit einem wirklichen Erleben der Seele in
einem leibfreien Bewußtsein zu tun, sondern mit einer Verbindung des Leibes und
der Seele, die von der des gewöhnlichen Lebens abweicht. Wirkliche Geisteswissenschaft
kann nur errungen werden, wenn die Seele in eigener selbst geleisteter
Innenarbeit den Übergang findet von dem gewöhnlichen Bewußtsein zu einem
solchen, mit dem sie in der geistigen Welt sich drinnen stehend klar erlebt.
In einer Innenarbeit, die Steigerung, nicht Herabstimmung des gewohnten
Seelenlebens ist.
Durch
solche Innenarbeit kann die Menschenseele erreichen, was von der Philosophie
angestrebt wird. Die Bedeutung der letztern ist deshalb wahrlich nicht gering,
weil sie auf dem Wege, den ihre Bearbeiter zumeist gehen, nicht zu dem kommen
kann, was sie erreichen will. Denn wesentlicher als die philosophischen
Ergebnisse selbst sind die Kräfte der Seele, welche sich in der philosophischen
Arbeit erringen lassen. Und diese Kräfte müssen zuletzt doch dahin führen, wo
der Philosophie die Anerkennung des «leibfreien Seelenlebens» möglich ist. Dort
wird sie erkennen, daß die Welträtsel nicht bloß wissenschaftlich bedacht,
sondern von der Menschenseele erlebt sein wollen, nachdem diese sich
erst in den Zustand gebracht hat, in dem solches Erleben möglich ist.
Naheliegend
ist die Frage: Soll also das gewöhnliche, auch das vollwissenschaftliche
Erkennen sich verleugnen und für eine Weltanschauung nur das gelten lassen, was
ihr von einem Gebiete gereicht wird, das außerhalb des ihrigen liegt? Doch
liegt die Sache so, daß die Erlebnisse des charakterisierten, von dem
gewöhnlichen unterschiedenen Bewußtseins sogleich auch diesem gewöhnlichen
Bewußtsein einleuchtend sind, insofern dieses sich nur nicht selbst Hindernisse
dadurch bereitet, daß es sich in seinem eigenen Bereiche einschließen will.
Gefunden können die übersinnlichen Wahrheiten nur werden von der Seele, die
sich in das Übersinnliche stellt. Sind sie da gefunden, so können sie von dem
gewöhnlichen Bewußtsein voll begriffen werden. Denn sie schließen sich an die
Erkenntnisse ganz notwendig an, die für die sinnliche Welt gewonnen werden
können.
Es ist
nicht zu leugnen, daß im Laufe der Weltanschauungs-entwickelung Gesichtspunkte
wiederholt auftreten, die denen ähnlich sind, welche in diesem Schlußkapitel an
die Betrachtung des Fortganges der philosophischen Bestrebungen geknüpft sind.
Doch erscheinen sie in vorangehenden Zeitaltern wie Nebenwege des
philosophischen Suchens. Dieses mußte erst alles das durchringen, was als
Fortsetzung des Aufleuchtens der Gedankenerlebnisse im Griechenturn gelten
kann, um aus seinen eigenen Impulsen heraus, aus dem Erfühlen dessen, was es
selbst erreichen und nicht erreichen kann, auf den Weg des übersinnlichen
Bewußtseins hinzuweisen. In vergangenen Zeiten war der Weg eines solchen
Bewußtseins gewissermaßen ohne philosophische Rechtfertigung; er wurde nicht
von der Philosophie selbst gefordert. Die Philosophie der Gegenwart fordert ihn
aber durch das, was sie als Fortsetzung der vorangehenden philosophischen
Entwickelung ohne ihn durchgemacht hat. Sie hat es ohne ihn dazu
gebracht, das geistige Forschen in Richtungen zu denken, die, naturgemäß
verfolgt, in die Anerkennung des übersinnlichen Bewußtseins einmünden. Deshalb
wurde im Anfang dieses Schlußkapitels nicht gezeigt, wie die Seele über das
Übersinnliche spricht, wenn sie sich ohne weitere Voraussetzung auf dessen
Boden stellt, sondern es wurden die Richtungen philosophisch zu
verfolgen versucht, die aus den neueren Weltanschauungen sich ergeben. Und es
wurde angedeutet, wie das Verfolgen dieser Richtungen durch die in ihnen
selbst lebende Seele diese zur Anerkennung der übersinnlichen Wesenheit des
Seelischen führt.