Die Kernpunkte der sozialen Frage
Die Kernpunkte der sozialen Frage: Vorrede und Einleitung
Vorrede und Einleitung zum 41. bis 80. Tausend dieser Schrift
Die Aufgaben, welche das soziale Leben der Gegenwart stellt, muß
derjenige verkennen, der an sie mit dem Gedanken an irgendeine Utopie
herantritt. Man kann aus gewissen Anschauungen und Empfindungen den
Glauben haben, diese oder jene Einrichtungen, die man sich in seinen
Ideen zurechtgelegt hat, müsse die Menschen beglücken; dieser Glaube
kann überwältigende Überzeugungskraft annehmen; an dem, was
gegenwärtig die «soziale Frage» bedeutet, kann man doch völlig
vorbeireden, wenn man einen solchen Glauben geltend machen will. Man
kann heute diese Behauptung in der folgenden Art bis in das scheinbar
Unsinnige treiben, und man wird doch das Richtige treffen. Man kann
annehmen, irgend jemand wäre im Besitze einer vollkommenen
theoretischen «Lösung» der sozialen Frage, und er könnte dennoch etwas
ganz Unpraktisches glauben, wenn er der Menschheit diese von ihm
ausgedachte «Lösung» anbieten wollte. Denn wir leben nicht mehr in der
Zeit, in welcher man glauben soll, auf diese Art im öffentlichen Leben
wirken zu können. Die Seelenverfassung der Menschen ist nicht so,
daß sie für das öffentliche Leben etwa einmal sagen könnten: Da
seht einen, der versteht, welche sozialen Einrichtungen nötig sind;
wie er es meint, so wollen wir es machen.
In dieser Art wollen die Menschen Ideen über das soziale Leben gar
nicht an sich herankommen lassen. Diese Schrift, die nun doch schon
eine ziemlich weite Verbreitung gefunden hat, rechnet mit dieser
Tatsache. Diejenigen haben die ihr zugrunde liegenden Absichten ganz
verkannt, die ihr einen utopistischen Charakter beigelegt haben. Am
stärksten haben dies diejenigen getan, die selbst nur utopistisch
denken wollen. Sie sehen bei dem andern, was der wesentlichste Zug
ihrer eigenen Denkgewohnheiten ist.
Für den praktisch Denkenden gehört es heute schon zu den Erfahrungen
des öffentlichen Lebens, daß man mit einer noch so überzeugend
erscheinenden utopistischen Idee nichts anfangen kann. Dennoch haben
viele die Empfindung, daß sie zum Beispiele auf wirtschaftlichem
Gebiete mit einer solchen an ihre Mitmenschen herantreten sollen. Sie
müssen sich davon überzeugen, daß sie nur unnötig reden. Ihre
Mitmenschen können nichts anfangen mit dem, was sie vorbringen.
Man sollte dies als Erfahrung behandeln. Denn es weist auf eine
wichtige Tatsache des gegenwärtigen öffentlichen Lebens hin. Es ist
die Tatsache der Lebensfremdheit dessen, was man denkt gegenüber dem,
was zum Beispiel die wirtschaftliche Wirklichkeit fordert. Kann man
denn hoffen, die verworrenen Zustände des öffentlichen Lebens zu
bewältigen, wenn man an sie mit einem lebensfremden Denken herantritt?
Diese Frage kann nicht gerade beliebt sein. Denn sie veranlaßt
das Geständnis, daß man lebensfremd denkt. Und doch wird man
ohne dieses Geständnis der «sozialen Frage» auch fern bleiben. Denn
nur, wenn man diese Frage als eine ernste Angelegenheit der ganzen
gegenwärtigen Zivilisation behandelt, wird man Klarheit darüber
erlangen, was dem sozialen Leben nötig ist.
Auf die Gestaltung des gegenwärtigen Geisteslebens weist diese Frage
hin. Die neuere Menschheit hat ein Geistesleben entwickelt, das von
staatlichen Einrichtungen und von wirtschaftlichen Kräften in einem
hohen Grade abhängig ist. Der Mensch wird noch als Kind in die
Erziehung und den Unterricht des Staates aufgenommen. Er kann nur so
erzogen werden, wie die wirtschaftlichen Zustände der Umgebung es
gestatten, aus denen er herauswächst.
Man kann nun leicht glauben, dadurch müsse der Mensch gut an die
Lebensverhältnisse der Gegenwart angepaßt sein. Denn der Staat
habe die Möglichkeit, die Einrichtungen des Erziehungs- und
Unterrichtswesens und damit des wesentlichen Teiles des öffentlichen
Geisteslebens so zu gestalten, daß dadurch der
Menschengemeinschaft am besten gedient werde. Und auch das kann man
leicht glauben, daß der Mensch dadurch das bestmögliche Mitglied
der menschlichen Gemeinschaft werde, wenn er im Sinne der
wirtschaftlichen Möglichkeiten erzogen wird, aus denen er
herauswächst, und wenn er durch diese Erziehung an denjenigen Platz
gestellt wird, den ihm diese wirtschaftlichen Möglichkeiten anweisen.
Diese Schrift muß die heute wenig beliebte Aufgabe übernehmen,
zu zeigen, daß die Verworrenheit unseres öffentlichen Lebens von
der Abhängigkeit des Geisteslebens vom Staate und der Wirtschaft
herrührt. Und sie muß zeigen, daß die Befreiung des
Geisteslebens aus dieser Abhängigkeit den einen Teil der so brennenden
sozialen Frage bildet.
Damit wendet sich diese Schrift gegen weitverbreitete Irrtümer. In der
Übernahme des Erziehungswesens durch den Staat sieht man seit lange
etwas dem Fortschritt der Menschheit Heilsames. Und sozialistisch
Denkende können sich kaum etwas anderes vorstellen, als daß die
Gesellschaft den einzelnen zu ihrem Dienste nach ihren Maßnahmen
erziehe.
Man will sich nicht leicht zu einer Einsicht bequemen, die auf diesem
Gebiete heute unbedingt notwendig ist. Es ist die, daß in der
geschichtlichen Entwickelung der Menschheit in einer späteren Zeit zum
Irrtum werden kann, was in einer früheren richtig ist. Es' war für das
Heraufkommen der neuzeitlichen Menschheitsverhältnisse notwendig,
daß das Erziehungswesen und damit das öffentliche Geistesleben
den Kreisen, die es im Mittelalter innehatten, abgenommen und dem
Staate überantwortet wurde. Die weitere Beibehaltung dieses Zustandes
ist aber ein schwerer sozialer Irrtum.
Das will diese Schrift in ihrem ersten Teile zeigen. Innerhalb des
Staatsgefüges ist das Geistesleben zur Freiheit herangewachsen; es
kann in dieser Freiheit nicht richtig leben, wenn ihm nicht die volle
Selbstverwaltung gegeben wird. Das Geistesleben fordert durch das
Wesen, das es angenommen hat, daß es ein völlig selbständiges
Glied des sozialen Organismus bilde. Das Erziehungs- und
Unterrichtswesen, aus dem ja doch alles geistige Leben herauswächst,
muß in die Verwaltung derer gestellt werden, die erziehen und
unterrichten. In diese Verwaltung soll nichts hineinreden oder
hineinregieren, was im Staate oder in der Wirtschaft tätig ist. Jeder
Unterrichtende hat für das Unterrichten nur so viel Zeit aufzuwenden,
daß er auch noch ein Verwaltender auf seinem Gebiete sein kann.
Er wird dadurch die Verwaltung so besorgen, wie er die Erziehung und
den Unterricht selbst besorgt. Niemand gibt Vorschriften, der nicht
gleichzeitig selbst im lebendigen Unterrichten und Erziehen drinnen
steht. Kein Parlament, keine Persönlichkeit, die vielleicht einmal
unterrichtet hat, aber dies nicht mehr selbst tut, sprechen mit. Was
im Unterricht ganz unmittelbar erfahren wird, das fließt auch in
die Verwaltung ein. Es ist naturgemäß, daß innerhalb einer
solchen Einrichtung Sachlichkeit und Fachtüchtigkeit in dem
höchstmöglichen Maße wirken.
Man kann natürlich einwenden, daß auch in einer solchen
Selbstverwaltung des Geisteslebens nicht alles vollkommen sein werde.
Doch das wird im wirklichen Leben auch gar nicht zu fordern sein.
Daß das Bestmögliche zustande komme, das allein kann angestrebt
werden. Die Fähigkeiten, die in dem Menschenkinde heranwachsen, werden
der Gemeinschaft wirklich übermittelt werden, wenn über ihre
Ausbildung nur zu sorgen hat, wer aus geistigen Bestimmungsgründen
heraus sein maßgebendes Urteil fällen kann. Wie weit ein Kind
nach der einen oder der andern Richtung zu bringen ist, darüber wird
ein Urteil nur in einer freien Geistgemeinschaft entstehen können. Und
was zu tun ist, um einem solchen Urteil zu seinem Recht zu verhelfen,
das kann nur aus einer solchen Gemeinschaft heraus bestimmt werden.
Aus ihr können das Staats- und das Wirtschaftsleben die Kräfte
empfangen, die sie sich nicht geben können, wenn sie von ihren
Gesichtspunkten aus das Geistesleben gestalten.
Es liegt in der Richtung des in dieser Schrift Dargestellten,
daß auch die Einrichtungen und der Unterrichtsinhalt derjenigen
Anstalten, die dem Staate oder dem Wirtschaftsleben dienen, von den
Verwaltern des freien Geisteslebens besorgt werden. Juristenschulen,
Handelsschulen, landwirtschaftliche und industrielle
Unterrichtsanstalten werden ihre Gestaltung aus dem freien
Geistesleben heraus erhalten. Diese Schrift muß notwendig viele
Vorurteile gegen sich erwecken, wenn man diese - richtige - Folgerung
aus ihren Darlegungen zieht. Allein woraus fließen diese
Vorurteile? Man wird ihren antisozialen Geist erkennen, wenn man
durchschaut, daß sie im Grunde aus dem unbewußten Glauben
hervorgehen, die Erziehenden müssen lebensfremde, unpraktische
Menschen sein. Man könne ihnen gar nicht zumuten, daß sie
Einrichtungen von sich aus treffen, welche den praktischen Gebieten
des Lebens richtig dienen. Solche Einrichtungen müssen von denjenigen
gestaltet werden, die im praktischen Leben drinnen stehen, und die
Erziehenden müssen gemäß den Richtlinien wirken, die ihnen
gegeben werden.
Wer so denkt, der sieht nicht, daß Erziehende, die sich nicht
bis ins Kleinste hinein und bis zum Größten hinauf die
Richtlinien selber geben können, erst dadurch lebensfremd und
unpraktisch werden. Ihnen können dann Grundsätze gegeben werden, die
von scheinbar noch so praktischen Menschen herrühren; sie werden keine
rechten Praktiker in das Leben hineinerziehen. Die antisozialen
Zustände sind dadurch herbeigeführt, daß in das soziale Leben
nicht Menschen hineingestellt werden, die von ihrer Erziehung her
sozial empfinden. Sozial empfindende Menschen können nur aus einer
Erziehungsart hervorgehen, die von sozial Empfindenden geleitet und
verwaltet wird. Man wird der sozialen Frage niemals beikommen, wenn
man nicht die Erziehungs- und Geistesfrage als einen ihrer
wesentlichen Teile behandelt. Man schafft Antisoziales nicht
bloß durch wirtschaftliche Einrichtungen, sondern auch dadurch,
daß sich die Menschen in diesen Einrichtungen antisozial
verhalten. Und es ist antisozial, wenn man die Jugend von Menschen
erziehen und unterrichten läßt, die man dadurch lebensfremd
werden läßt, daß man ihnen von außen her Richtung
und Inhalt ihres Tuns vorschreibt.
Der Staat richtet juristische Lehranstalten ein. Er verlangt von
ihnen, daß derjenige Inhalt einer Jurisprudenz gelehrt werde,
den er, nach seinen Gesichtspunkten, in seiner Verfassung und
Verwaltung niedergelegt hat. Anstalten, die ganz aus einem freien
Geistesleben hervorgegangen sind, werden den Inhalt der Jurisprudenz
aus diesem Geistesleben selbst schöpfen. Der Staat wird zu warten
haben auf dasjenige, was ihm von diesem freien Geistesleben aus
überantwortet wird. Er wird befruchtet werden von den lebendigen
Ideen, die nur aus einem solchen Geistesleben erstehen können.
Innerhalb dieses Geisteslebens selbst aber werden diejenigen Menschen
sein, die von ihren Gesichtspunkten aus in die Lebenspraxis
hineinwachsen. Nicht das kann Lebenspraxis werden, was aus
Erziehungseinrichtungen stammt, die von bloßen «Praktikern»
gestaltet und in denen von lebensfremden Menschen gelehrt wird,
sondern allein das, was von Erziehern kommt, die von ihren
Gesichtspunkten aus das Leben und die Praxis verstehen. Wie im
einzelnen die Verwaltung eines freien Geisteslebens sich gestalten
muß, das wird in dieser Schrift wenigstens andeutungsweise
dargestellt.
Utopistisch Gesinnte werden an die Schrift mit allerlei Fragen
heranrücken. Besorgte Künstler und andere Geistesarbeiter werden
sagen: Ja, wird denn die Begabung in einem freien Geistesleben besser
gedeihen als in dem gegenwärtigen vom Staat und den Wirtschaftsmächten
besorgten? Solche Frager sollten bedenken, daß diese Schrift
eben in keiner Beziehung utopistisch gemeint wird. In ihr wird deshalb
durchaus nicht theoretisch festgesetzt: Dies soll so oder so sein.
Sondern es wird zu Menschengemeinschaften angeregt, die aus ihrem
Zusammenleben das sozial Wünschenswerte herbeiführen können. Wer das
Leben nicht nach theoretischen Vorurteilen, sondern nach Erfahrungen
beurteilt, der wird sich sagen: Der aus seiner freien Begabung heraus
Schaffende wird Aussicht auf eine rechte Beurteilung seiner Leistungen
haben, wenn es eine freie Geistesgemeinschaft gibt, die ganz aus ihren
Gesichtspunkten heraus in das Leben eingreifen kann.
Die «soziale Frage» ist nicht etwas, was in dieser Zeit in das
Menschenleben heraufgestiegen ist, was jetzt durch ein paar Menschen
oder durch Parlamente gelöst werden kann und dann gelöst sein wird.
Sie ist ein Bestandteil des ganzen neueren Zivilisationslebens, und
wird es, da sie einmal entstanden ist, bleiben. Sie wird für jeden
Augenblick der weltgeschichtlichen Entwickelung neu gelöst werden
müssen. Denn das Menschenleben ist mit der neuesten Zeit in einen
Zustand eingetreten, der aus dem sozial Eingerichteten immer wieder
das Antisoziale hervorgehen läßt. Dieses muß stets neu
bewältigt werden. Wie ein Organismus einige Zeit nach der Sattigung
immer wieder in den Zustand des Hungers eintritt, so der soziale
Organismus aus einer Ordnung der Verhältnisse in die Unordnung. Eine
Universalarznei zur Ordnung der sozialen Verhältnisse gibt es so wenig
wie ein Nahrungsmittel, das für alle Zeiten sättigt. Aber die Menschen
können in solche Gemeinschaften eintreten, daß durch ihr
lebendiges Zusammenwirken dem Dasein immer wieder die Richtung zum
Sozialen gegeben wird. Eine solche Gemeinschaft ist das sich selbst
verwaltende geistige Glied des sozialen Organismus.
Wie sich für das Geistesleben aus den Erfahrungen der Gegenwart die
freie Selbstverwaltung als soziale Forderung ergibt, so für das
Wirtschaftsleben die assoziative Arbeit. Die Wirtschaft setzt sich im
neueren Menschenleben zusammen aus Warenproduktion, Warenzirkulation
und Warenkonsum. Durch sie werden die menschlichen Bedürfnisse
befriedigt; innerhalb ihrer stehen die Menschen mit ihrer Tätigkeit.
Jeder hat innerhalb ihrer seine Teilinteressen; jeder muß mit
dem ihm möglichen Anteil von Tätigkeit in sie eingreifen. Was einer
wirklich braucht, kann nur er wissen und empfinden; was er leisten
soll, will er aus seiner Einsicht in die Lebensverhältnisse des Ganzen
beurteilen. Es ist nicht immer so gewesen, und ist heute noch nicht
überall so auf der Erde; innerhalb des gegenwärtig zivilisierten
Teiles der Erdbevölkerung ist es im wesentlichen so.
Die Wirtschaftskreise haben sich im Laufe der Menschheitsentwickelung
erweitert. Aus der geschlossenen Hauswirtschaft hat sich die
Stadtwirtschaft, aus dieser die Staatswirtschaft entwickelt. Heute
steht man vor der Weltwirtschaft. Es bleibt zwar von dem alten noch
ein erheblicher Teil im Neuen bestehen; es lebte in dem alten
andeutungsweise schon vieles von dem Neuen. Aber die Schicksale der
Menschheit sind davon abhängig, daß die obige Entwickelungsreihe
innerhalb gewisser Lebensverhältnisse vorherrschend wirksam geworden
ist.
Es ist ein Ungedanke, die Wirtschaftskräfte in einer abstrakten
Weltgemeinschaft organisieren zu wollen. Die Einzelwirtschaften sind
im Laufe der Entwickelung in die Staatswirtschaften in weitern Umfange
eingelaufen. Doch die Staatsgemeinschaften sind aus anderen als
bloß wirtschaftlichen Kräften entsprungen. Daß man sie zu
Wirtschaftsgemeinschaften umwandeln wollte, bewirkte das soziale Chaos
der neuesten Zeit. Das Wirtschaftsleben strebt darnach, sich aus
seinen eigenen Kräften heraus unabhängig von Staatseinrichtungen, aber
auch von staatlicher Denkweise zu gestalten. Es wird dies nur können,
wenn sich, nach rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten, Assoziationen
bilden, die aus Kreisen von Konsumenten, von Handeltreibenden und
Produzenten sich zusammenschließen. Durch die Verhältnisse des
Lebens wird der Umfang solcher Assoziationen sich von selbst regeln.
Zu kleine Assoziationen würden zu kostspielig, zu große
wirtschaftlich zu unübersichtlich arbeiten. Jede Assoziation wird zu
der andern aus den Lebensbedürfnissen heraus den Weg zum geregelten
Verkehr finden. Man braucht nicht besorgt zu sein, daß
derjenige, der sein Leben in reger Ortsveränderung zuzubringen hat,
durch solche Assoziationen eingeengt sein werde. Er wird den Übergang
von der einen in die andere leicht finden, wenn nicht staatliche
Organisation, sondern wirtschaftliche Interessen den Übergang bewirken
werden. Es sind Einrichtungen innerhalb eines solchen assoziativen
Wesens denkbar, die mit der Leichtigkeit des Geldverkehrs wirken.
Innerhalb einer Assoziation kann aus Fachkenntnis und Sachlichkeit
eine weitgehende Harmonie der Interessen herrschen. Nicht Gesetze
regeln die Erzeugung, die Zirkulation und den Verbrauch der Güter,
sondern die Menschen aus ihrer unmittelbaren Einsicht und ihrem
Interesse heraus. Durch ihr Drinnenstehen im assoziativen Leben können
die Menschen diese notwendige Einsicht haben; dadurch, daß
Interesse mit Interesse sich vertragsmäßig ausgleichen
muß, werden die Güter in ihren entsprechenden Werten
zirkulieren. Ein solches Zusammenschließen nach wirtschaftlichen
Gesichtspunkten ist etwas anderes als zum Beispiele das in den
modernen Gewerkschaften. Diese wirken sich im wirtschaftlichen Leben
aus; aber sie kommen nicht nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten
zustande. Sie sind den Grundsätzen nachgebildet, die sich in der
neueren Zeit aus der Handhabung der staatlichen, der politischen
Gesichtspunkte heraus gestaltet haben. Man parlamentarisiert in ihnen;
man kommt nicht nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten überein, was der
eine dem andern zu leisten hat. In den Assoziationen werden nicht
«Lohnarbeiter» sitzen, die durch ihre Macht von einem
Arbeit-Unternehmer möglichst hohen Lohn fordern, sondern es werden
Handarbeiter mit den geistigen Leitern der Produktion und mit den
konsumierenden Interessenten des Produzierten zusammenwirken, um durch
Preisregulierungen Leistungen entsprechend den Gegenleistungen zu
gestalten. Das kann nicht durch Parlamentieren in Versammlungen
geschehen. Vor solchen müßte man besorgt sein. Denn, wer sollte
arbeiten, wenn unzählige Menschen ihre Zeit mit Verhandlungen über die
Arbeit verbringen müßten? In Abmachungen von Mensch zu Mensch,
von Assoziation zu Assoziation vollzieht sich alles neben der Arbeit.
Dazu ist nur notwendig, daß der Zusammenschluß den
Einsichten der Arbeitenden und den Interessen der Konsumierenden
entspricht.
Damit wird nicht eine Utopie gezeichnet. Denn es wird gar nicht
gesagt: Dies soll so oder so eingerichtet werden. Es wird nur darauf
hingedeutet, wie die Menschen sich selbst die Dinge einrichten werden,
wenn sie in Gemeinschaften wirken wollen, die ihren Einsichten und
ihren Interessen entsprechen.
Daß sie sich zu solchen Gemeinschaften zusammenschließen,
dafür sorgt einerseits die menschliche Natur, wenn sie durch
staatliche Dazwischenkunft nicht gehindert wird; denn die Natur
erzeugt die Bedürfnisse. Andrerseits kann dafür das freie Geistesleben
sorgen, denn dieses bringt die Einsichten zustande, die in der
Gemeinschaft wirken sollen. Wer aus der Erfahrung heraus denkt,
muß zugeben, das solche assoziative Gemeinschaften in jedem
Augenblick entstehen können, daß sie nichts von Utopie in sich
schließen. Ihrer Entstehung steht nichts anderes im Wege, als
daß der Mensch der Gegenwart das wirtschaftliche Leben von
außen «organisieren» will in dem Sinne, wie für ihn der Gedanke
der «Organisation» zu einer Suggestion geworden ist. Diesem
Organisieren, das die Menschen zur Produktion von außen
zusammenschließen will, steht diejenige wirtschaftliche
Organisation, die auf dem freien Assoziieren beruht, als sein
Gegenbild gegenüber. Durch das Assoziieren verbindet sich der Mensch
mit einem andern; und das Planmäßige des Ganzen entsteht durch
die Vernunft des einzelnen. - Man kann ja sagen: Was nützt es, wenn
der Besitzlose mit dem Besitzenden sich assoziiert? Man kann es besser
finden, wenn alle Produktion und Konsumtion von außen her
«gerecht» geregelt wird. Aber diese organisatorische Regelung
unterbindet die freie Schaffenskraft des einzelnen, und sie bringt das
Wirtschaftsleben um die Zufuhr dessen, was nur aus dieser freien
Schaffenskraft entspringen kann. Und man versuche es nur einmal, trotz
aller Vorurteile, sogar mit der Assoziation des heute Besitzlosen mit
dem Besitzenden. Greifen nicht andere als wirtschaftliche Kräfte ein,
dann wird der Besitzende dem Besitzlosen die Leistung notwendig mit
der Gegenleistung ausgleichen müssen. Heute spricht man über solche
Dinge nicht aus den Lebensinstinkten heraus, die aus der Erfahrung
stammen; sondern aus den Stimmungen, die sich nicht aus
wirtschaftlichen, sondern aus Klassen- und anderen Interessen heraus
entwickelt haben. Sie konnten sich entwickeln, weil man in der neueren
Zeit, in welcher gerade das wirtschaftliche Leben immer komplizierter
geworden ist, diesem nicht mit rein wirtschaftlichen Ideen nachkommen
konnte. Das unfreie Geistesleben hat dies verhindert. Die
wirtschaftenden Menschen stehen in der Lebensroutine drinnen; die in
der Wirtschaft wirkenden Gestaltungskräfte sind ihnen nicht
durchsichtig. Sie arbeiten ohne Einsicht in das Ganze des
Menschenlebens. In den Assoziationen wird der eine durch den andern
erfahren, was er notwendig wissen muß. Es wird eine
wirtschaftliche Erfahrung über das Mögliche sich bilden, weil die
Menschen, von denen jeder auf seinem Teilgebiete Einsicht und
Erfahrung hat, zusammenurteilen werden.
Wie in dem freien Geistesleben nur die Kräfte wirksam sind, die in ihm
selbst liegen, so im assoziativ gestalteten Wirtschaftssystem nur die
wirtschaftlichen Werte, die sich durch die Assoziationen herausbilden.
Was in dem Wirtschaftsleben der einzelne zu tun hat, das ergibt sich
ihm aus dem Zusammenleben mit denen, mit denen er wirtschaftlich
assoziiert ist. Dadurch wird er genau so viel Einfluß auf die
allgemeine Wirtschaft haben, als seiner Leistung entspricht. Wie
Nicht-Leistungsfähige sich dem Wirtschaftsleben eingliedern, das wird
in dieser Schrift auseinandergesetzt. Den Schwachen gegenüber dem
Starken schützen, kann ein Wirtschaftsleben, das nur aus seinen
eigenen Kräften heraus gestaltet ist.
So kann der soziale Organismus in zwei selbständige Glieder zerfallen,
die sich gerade dadurch gegenseitig tragen, daß jeder seine
eigenartige Verwaltung hat, die aus seinen besonderen Kräften
hervorgeht. Zwischen beiden aber muß sich ein Drittes ausleben.
Es ist das eigentliche staatliche Glied des sozialen Organismus. In
ihm macht sich alles das geltend, was von dem Urteil und der
Empfindung eines jeden mündig gewordenen Menschen abhängig sein
muß. In dem freien Geistesleben betätigt sich jeder nach seinen
besonderen Fähigkeiten; im Wirtschaftsleben füllt jeder seinen Platz
so aus, wie sich das aus seinem assoziativen Zusammenhang ergibt. Im
politisch-rechtlichen Staatsleben kommt er zu seiner rein menschlichen
Geltung, insoferne diese unabhängig ist von den Fähigkeiten, durch die
er im freien Geistesleben wirken kann, und unabhängig davon, welchen
Wert die von ihm erzeugten Güter durch das assoziative
Wirtschaftsleben erhalten.
In diesem Buche wird gezeigt, wie Arbeit nach Zeit und Art eine
Angelegenheit ist dieses politisch-rechtlichen Staatslebens. In diesem
steht jeder dem andern als ein gleicher gegenüber, weil in ihm nur
verhandelt und verwaltet wird auf den Gebieten, auf denen jeder Mensch
gleich urteilsfähig ist. Rechte und Pflichten der Menschen finden in
diesem Gliede des sozialen Organismus ihre Regelung.
Die Einheit des ganzen sozialen Organismus wird entstehen aus der
selbständigen Entfaltung seiner drei Glieder. Das Buch wird zeigen,
wie die Wirksamkeit des beweglichen Kapitales, der Produktionsmittel,
die Nutzung des Grundes und Bodens sich durch das Zusammenwirken der
drei Glieder gestalten kann. Wer die soziale Frage «lösen» will durch
eine ausgedachte oder sonstwie entstandene Wirtschaftsweise, der wird
diese Schrift nicht praktisch finden; wer aus den Erfahrungen des
Lebens heraus die Menschen zu solchen Arten des Zusammenschlusses
anregen will, in denen sie die sozialen Aufgaben am besten erkennen
und sich ihnen widmen können, der wird dem Verfasser des Buches das
Streben nach wahrer Lebenspraxis vielleicht doch nicht absprechen.
Das Buch ist im April 1919 zuerst veröffentlicht worden. Ergänzungen
zu dem damals Ausgesprochenen habe ich in den Beiträgen gegeben, die
in der Zeitschrift «Dreigliederung des sozialen Organismus» enthalten
waren und die soeben gesammelt als die Schrift «In Ausführung der
Dreigliederung des sozialen Organismus» erschienen sind.
Man wird finden können, daß in den beiden Schriften weniger von
den «Zielen» der sozialen Bewegung als vielmehr von den Wegen
gesprochen wird, die im sozialen Leben beschritten werden sollten. Wer
aus der Lebenspraxis heraus denkt, der weiß, daß
namentlich einzelne Ziele in verschiedener Gestalt auftreten können.
Nur wer in abstrakten Gedanken lebt, dem erscheint alles in
eindeutigen Umrissen. Ein solcher tadelt das Lebenspraktische oft,
weil er es nicht bestimmt, nicht «klar» genug dargestellt findet.
Viele, die sich Praktiker dünken, sind gerade solche Abstraktlinge.
Sie bedenken nicht, daß das Leben die mannigfaltigsten
Gestaltungen annehmen kann. Es ist ein fließendes Element. Und
wer mit ihm gehen will, der muß sich auch in seinen Gedanken und
Empfindungen diesem fließenden Grundzug anpassen. Die sozialen
Aufgaben werden nur mit einem solchen Denken ergriffen werden können.
Aus der Beobachtung des Lebens heraus sind die Ideen dieser Schrift
erkämpft; aus dieser heraus möchten sie auch verstanden sein.
Zuletzt aktualisiert: 24-Mar-2024
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