MENSCHENGEIST UND TIERGEIST
Berlin, 17. November 1910
Es
wird mir gestattet sein, heute mit ein paar Worten an einige
Ausführungen des letzten Vortrags zu erinnern.
Besonders wichtig sind uns ja die Anschauungen gewesen,
die wir uns aus der unmittelbaren Beobachtung heraus über
den Unterschied des menschlichen und tierischen Seelenlebens
haben bilden können. Diesen Unterschied haben wir dahin
angegeben, daß wir uns klar waren, daß das tierische
Seelenleben nicht so von dem menschlichen unterschieden
werden dürfe, daß man sagt: Der Mensch ist so und so
weit vor dem Tier voraus in bezug auf diese oder jene geistigen
Eigenschaften. Denn um eine solche Anschauung zu
widerlegen, braucht man nur darauf hinzuweisen, wie
gewisse Verrichtungen, die beim Menschen zweifellos nur durch
Erringung einer gewissen Intelligenzstufe zu erreichen
sind, objektiv innerhalb der tierischen Welt im Bau der
tierischen Wohnungen, im ganzen tierischen Leben
ausgeführt werden, so daß sozusagen in den
Produkten, in der Hervorbringung dessen, was das Tier
tut, genau dieselbe intelligente Tätigkeit steckt
wie in dem, was der Mensch als seine Werkzeuge, als seine
Produkte hervorzubringen vermag. Man könnte wirklich
sagen: In dem, was das Tier vollbringt, fließt
hinein, erstarrt darinnen dieselbe Intelligenz, die wir dann
auch beim Menschen finden. Deshalb dürfen wir nicht
einfach in der Art von Tierseele und Menschenseele
sprechen, daß wir sagen, das Tier wäre so und so weit
hinter dem Menschen zurück — der Mensch so und so
weit vor dem Tier voraus.
Insoweit wir von Seele gesprochen haben — wir
bezeichnen im Gegensatz zu dem Geistesleben, das wir
Vorzugsweise in der Formung, in der Ausgestaltung sehen,
das seelische Leben als das Leben der Innerlichkeit haben wir
uns darauf berufen, daß wir in dem tierischen Seelenleben
ein enges Gebundensein an die Organisation des Tieres
gesehen haben, und daß das, was das Tier in seinem
Seelischen erleben kann, uns vorherbestimmt erscheint durch den
ganzen Bau und die ganze Fügung seiner Organe. Deshalb
mußten wir sagen: Dieses tierische Seelenleben ist durch
die Art und Weise bestimmt, wie das Tier organisiert ist, und
das Tier lebt in seinem Seelenleben gleichsam in sich selbst
hinein. Das aber ist das Wesentliche des menschlichen
Seelenlebens, daß die Seele des Menschen sich von
dem unmittelbaren Organismus bis zu einem hohen Grade
emanzipiert und gewissermaßen — bitte das
nicht mißzuverstehen, es ist nur relativ gemeint —
unabhängig von der leiblichen Organisation den Geist als
solchen, wie wir ihn verstanden haben, erlebt, das heißt
unmittelbar in der Lage ist, sich dem Geist hinzugeben.
Wenn wir nun aufsteigen zur Betrachtung des menschlichen
und tierischen Geistes, so müssen wir vor allen
Dingen von diesen Begriffen und Ideen ausgehen, die wir
an der Betrachtung der menschlichen und tierischen Seele
entwickelt haben und uns ein wenig intimer mit einer
Erscheinung befassen, die aus alledem hervorgeht, was das
vorige Mal gesagt worden ist. Das Tier hat alle seine geistigen
Verrichtungen, die ja unmittelbar an seine Organe
gebunden sind und in seiner Seele erlebt werden,
hineingelegt, gebunden an das, was sich im Tier
gattungsmäßig vererbt. Wir können also sagen: In
dem tierischen Seelenleben lebt sich das
Gattungsmäßige aus, und weil dies vererbbar ist,
tritt sozusagen das Tier mit der Geburt so in die
Erscheinung, daß alle durch den Geist bedingten
Verrichtungen, die durch das Seelische erlebt werden
können, veranlagt sind. Dadurch tritt das Tier
gewissermaßen fertig ins Dasein und vererbt die
Merkmale, die wir als einen Ausfluß des tierischen Geistes
bezeichnen können, auch wieder
gattungsmäßig auf die Nachkommen. Anders ist es
beim Menschen, der sich in bezug auf das seelische Leben von
der leiblichen Organisation emanzipiert. Weil diese aber
natürlich in die Vererbungslinie übergeht, so tritt
er in einer gewissen Beziehung hilflos ins Dasein hinein
gegenüber denjenigen Verrichtungen, die ihm im Leben
dienen sollen. Auf der andern Seite aber macht diese
Hilflosigkeit erst möglich, was man seelisch-geistige
Entwicklung nennen kann. So finden wir als das Gewichtigste
für den Menschen, wenn er durch die Geburt ins Dasein
tritt, daß offen stehen bleibt, was von außen
bestimmt ist. Damit haben wir darauf hingewiesen, wie wir
uns überhaupt die Beziehung des Geistes zu der
Leiblichkeit — zwischen Geist und Leiblichkeit steht das
Seelische darinnen — bei Tier und Mensch zu denken haben.
In dem, wie uns das Tier gattungsmäßig vor Augen
tritt und seine Instinkte nach und nach im Leben auslebt, haben
wir eine unmittelbare Betätigung des Geistes in der
organischen Leiblichkeit zu sehen. Es ist gleichsam der
organische Leib, in dem sich das Tier seelisch erlebt,
der in die Wirklichkeit getretene Geist. Ein unmittelbares
Verhältnis zwischen Geist und Leib ist beim Tier
vorhanden. Wenn wir den Blick auf das Tier richten, es
studieren, ob nun oberflächlich mit der Laienbeobachtung
oder genauer mit dem, was uns die vergleichende Anatomie und
Physiologie oder andere Wissenschaften bieten können:
überall sehen wir sozusagen den in den tierischen Formen,
in den tierischen Lebensverhältnissen geronnenen Geist,
der sich auslebt in dieser Weise in der einzelnen
Tiergattung. Die äußere Form und das äußere
Leben ebenso ist uns unmittelbar ein Abdruck dessen, was wir
den dem Tiere zugrunde liegenden Geist nennen, so
daß wir die engste Beziehung zwischen dem Geiste und der
Leiblichkeit beim Tiere zu suchen haben.
Das
ist ganz anders beim Menschen. Es ist außerordentlich
wichtig, wenn man auf das Wichtige im Unterschiede zwischen
Mensch und Tier aufmerksam zu machen hat, daß man
sozusagen nicht die Dinge weit herholt. Das Wichtigste
liegt nahe genug, wenn es sich darum handelt, die Dinge in der
richtigen Weise anzusehen, als daß man mit allen
möglichen intimen Einzelheiten der Forschung zu kommen
brauchte. Wenn wir den Menschen betrachten, finden wir,
daß sich zwischen den Geist und die Leiblichkeit etwas
hineinstellt, das beim Tier nicht hineingestellt gedacht
werden darf. Und das ist das Wesentliche. Gleichsam unmittelbar
wirkt sich der Geist in der tierischen Form und Organisation
aus. Beim Menschen wirkt er sich nicht unmittelbar aus, sondern
es schiebt sich ein Zwischenglied hinein, das wir im
unmittelbaren Leben sehr genau beobachten können.
Wie uns der Mensch rein in der Beobachtung entgegentritt,
drückt sich dieses Zwischenglied, das gleichsam die
losere Beziehung zwischen Geist und Leiblichkeit vermittelt, in
dem aus, was wir beim Menschen das selbstbewußte Ich
nennen. Ich will jetzt noch nicht darauf Rücksieht
nehmen, wie sich dieses selbstbewußte Ich wieder in der
Leiblichkeit gestaltet, sondern ich will nur sagen: Wie uns der
Mensch in der Beobachtung entgegentritt, wie uns seine
seelischen Erscheinungen entgegentreten, steht zwischen Geist
und Leiblichkeit dieses selbstbewußte Ich.
Gewiß, es ist wieder kinderleicht, vom Standpunkt
einer Wissenschaft, die glaubt, auf dem festen Boden der
Naturwissenschaft zu stehen, bloß gegen den Ausdruck
«selbstbewußtes Ich» etwas einzuwenden.
Aber wir wollen jetzt die Art verfolgen, wie sich dieses
selbstbewußte Ich zwischen Geist und Leiblichkeit
hineinstellt.
Da
finden wir vor allen Dingen — wir haben schon das letzte
Mal darauf aufmerksam gemacht —, daß der Mensch
angewiesen ist auf das Leben in seiner Umgebung, in der
Außenwelt in bezug auf die Aneignung der Sprache, die
Aneignung der Denkweise und auch in bezug auf die
Aneignung eines gewissen Selbstbewußtseins. Das ist
ja eine allbekannte Tatsache, daß der Mensch, wenn er,
ausgeschlossen von jeder menschlichen Gemeinschaft, einsam sich
entwickeln müßte, weder zur Sprache, noch zu einer
gewissen Denkart, noch zu einem gewissen
Selbstbewußtsein kommen würde und in jener
Hilflosigkeit verbleiben müßte, in der er geboren
ist. Wir sehen also, daß beim Tier alle die
Betätigungen, die für das tierische Leben, für
die tierische Existenz notwendig sind, von vornherein in die
Vererbungslinie hineingeboren sind. Wir sehen die
Betätigungen beim Menschen so auftreten, daß sie
ebensowenig innerhalb der Vererbungslinie gesucht werden
dürfen wie etwa die Wärme, die beim Bebrüten
eines Hühnereies notwendig ist, innerhalb des
Hühnereies gesucht werden darf, denn sie muß von
außen an dasselbe herankommen. Da sieht man schon,
daß es der Mensch nötig hat, sich Dinge, die zu
seiner Entwickelung gehören, durch etwas anzueignen,
was in ihm ist, während sie dem Tier sozusagen
direkt geistig eingeprägt sind. Beim Menschen
bleiben also bestimmte Entwickelungsmöglichkeiten offen,
in die er durch sein selbstbewußtes Ich gewisse
Organisationskräfte aufnimmt. Denn niemand wird
natürlich daran zweifeln, daß mit dem
Hineinwachsen des Menschen in Sprache, in Denkweisen, in
das Selbstbewußtsein und durch die damit verbundenen
Betätigungen Veränderungen der Organisation verbunden
sind; so daß sozusagen dasselbe, was sich beim Tier durch
Tätigkeiten veranlagt vorfindet, die vererbbar sind, beim
Menschen hereingenommen wird von der Umgebung, wie die
Wärme vom bebrüteten Hühnerei aufgenommen wird,
das heißt von außen hineinorganisiert wird. So
bleiben beim Menschen Entwickelungsmöglichkeiten offen
gegenüber den Einwirkungen der Umgebung, denn
natürlich steht die Geisteswissenschaft nicht auf dem
Standpunkt, daß der Mensch irgend etwas ohne Organe
verrichten könne.
So
müssen wir uns klar sein, daß alles, was auf den
Menschen hereinwirkt, ihn umorganisiert. Das ist auch der Fall,
wenn man recht genau auf die menschliche Organisation
eingeht, daß der Mensch tatsächlich durch die von
außen an ihn herantretenden Kräfte umorganisiert
wird, die auf dem Umwege durch sein Ich an ihn erst
herantreten müssen. Dabei sehen wir noch etwas: Wenn
wir den Menschen betrachten, wie er sich in die Welt
hineinstellt, um das zu werden, was er durch Sprache, Denkart
und Selbstbewußtsein werden kann, dann fassen wir ihn
gleichsam an dem einen Pol, an dem einen Ende an. Wir
müssen ihn aber auch an dem andern Ende anfassen. Das ist,
wenn man es mit dem Gedanken durchdringen will, nicht so ganz
leicht. Aber es ist tatsächlich notwendig, daß man
den Menschen auch am andern Ende anfaßt.
Der
Mensch kommt tatsächlich hilflos auf die Welt. Es ist ja
kinderleicht zu finden, um was es sich handelt, aber nicht so
leicht, es in die Betrachtung hineinzustellen. Der Mensch
muß im Laufe seines Lebens etwas herstellen, was dem Tier
herzustellen erspart bleibt. Dieses stellt der Mensch her,
während er gehen lernt, oder, noch besser gesagt,
während er stehen lernt. Hinter dem Stehenlernen
verbirgt sich sehr viel im menschlichen Leben: nämlich die
Überwindung dessen, was man das Gleichgewicht der
Leiblichkeit nennen kann. Wenn man genau auf den
Organisationsplan eingeht, auf die Organisation des Baues
der Tiere, so findet man, daß in der Tat das Tier so
organisiert ist, daß ihm ein gewisses Gleichgewicht
eingeprägt ist, durch das es sich in die Lage zu bringen
vermag, in der es sein Leben fortbringen kann. Es ist so
gebaut, daß ein festes Gleichgewicht seiner
Körperlichkeit mitgegeben ist. Das ist auf der einen Seite
die Hilflosigkeit, auf der andern Seite der Vorzug des Menschen
gegenüber dem Tier, daß er darauf angewiesen
ist, mit Hilfe seines Ich sich dieses Gleichgewicht erst zu
erringen. Hier geht es auch nicht, daß man den Menschen
mit den nächststehenden Tieren vergleicht. Wenn man
eingeht auf die vergleichende Anatomie, auf alle
einzelnen Organe, so würde es kindisch sein von der
Geisteswissenschaft, wenn sie eine Kluft annehmen
würde zwischen dem Menschen und den nächststehenden
Tieren. Aber in dem Organisationsplan des Tieres liegt ein
vorbestimmtes Gleichgewicht. Beim Menschen liegt die
Möglichkeit offen, nach der Geburt dieses Gleichgewicht
erst herzustellen. Es liegt aber noch mehr an
Möglichkeiten offen. Beim Tier ist durch die
eingeprägte — wenn man das Wort gebrauchen
will — vorbestimmte Organisation die Richtung der
Eigenbewegung angegeben. Beim Menschen bleibt wieder die
Möglichkeit offen, sozusagen innerhalb eines
gewissen Spielraumes seinen Eigenbewegungssinn zu
entwickeln. Noch mehr bleibt beim Menschen offen — wir
werden darauf noch zurückkommen, wie das sich anders
äußert —: eine gewisse Möglichkeit, in die
Organisation selbst das Leben hineinzuprägen.
Man
kann ganz gewiß von einer gewissen Prägung des Lebens
in einem Lebewesen sprechen. Oder wer würde mit einigem
plastischen Sinn nicht merken, daß sich die
Organisation einer Ente an den plastischen Formen zum
Ausdruck bringt? Oder daß sich die Organisation des
Elefanten an den plastischen Formen zum Ausdruck bringt? Und
daß vorzugsweise das Skelett, wenn wir es anschauen, im
Unterschiede zu den einzelnen Tierarten uns Rätsel
über Rätsel enthüllt, wie sozusagen das Leben in
die Form hineinschießt, in der Form sich
verfängt und uns wie erstarrt erscheint? Auch da
bleibt dem Menschen ein Spielraum, das Leben in einer ganz
gewissen Weise in die Form hineinzugießen, so
daß wir nur vorauszuschicken brauchten, daß wir, wenn
wir eine tierische Form mit unserm plastischen Sinn studieren,
uns viel mehr für das Allgemeine, für das
Gattungsmäßige, Generelle interessieren und die
individuellen Formen sehr vernachlässigen. Beim
Menschen interessiert uns das edelste Organ — als
das Organ des Skelettes — der Schädelbau, ganz
besonders in seiner Plastik. Und er ist bei jedem Menschen ein
anderer, weil er offen bleibt für das, was dem Menschen in
dem Ich zugrunde liegt, für das Individuelle, während
er beim Tier das Gattungsmäßige zum Ausdruck
bringt. Wenn wir also den Menschen beim anderen Ende anfassen,
dann finden wir, daß er während gewisser Zeiten des
Lebens freien Spielräum innerhalb der
Ausprägung des Gleichgewichtssinnes, des
Eigenbewegungssinnes und des ganzen Lebenssinnes hat. Das
Interessante ist, daß wir sozusagen diese Arbeit des
Geistes am Menschen, diese Ausprägung des Geistes in Form
und Bewegung im Beginne des menschlichen Lebens sehen
können: wie in der Erringung des aufrechten Ganges, in der
Erringung des Eigenbewegungssinnes und in der Ausprägung
der Körperformen sich diese Kräfte wirklich
betätigen und zum Ausdruck bringen. Dann aber hört in
einem gewissen Lebensalter die Möglichkeit auf, daß
die Kräfte, die in der Kindheit frei spielen, weiter
einwirken. Mit einem bestimmten Lebensalter sind diese
Kräfte in bezug auf die Wirkung, die wir
charakterisiert haben, abgeschlossen. Wenn sie aber wirklich in
dem Menschen als Individualität darinnen sind, können
sie nicht auf einmal verschwinden, wenn sie ihre Arbeit in
bezug auf ein gewisses Gebiet getan haben, sondern sie
müssen uns in einer späteren Lebenszeit wieder
entgegentreten. Wir müßten für das spätere
Leben nachweisen können, daß diese Kräfte da
sind, Realitäten im menschlichen Leben sind.
Wir
finden nun in der Tat diese Kräfte wieder in einer ganz
charakteristischen Weise für den Fortschritt des
Geistes am Menschen deutlich hervortreten. Was der Mensch
in der Ausbildung des Gleichgewichtssinnes leistet, das
finden wir im späteren Leben wieder, wenn er
dieselbe Kraft für die Ausbildung seiner Gebärden
anwendet. Die Gebärde ist etwas, was uns
tatsächlich in das tiefere Gefüge der menschlichen
Organisation, insofern der Geist im Menschen lebt,
hineinführt. Und indem der Mensch sein Inneres in der
Gebärde zum Ausdruck bringt, verwendet er dieselbe
Kraft, die er erst verwendet, um den Gleichgewichtssinn
zur Herstellung einer gewissen Gleichgewichtslage zu erringen.
Was der Mensch beim Gehenlernen, beim Stehenlernen
handgreiflich entwickelt, das erscheint uns also
verfeinert, vertieft, verinnerlicht im späteren
Leben, wenn es, statt körperlich zur Darstellung zu
kommen, mehr seelisch zur Darstellung kommt in der
Gebärde. Daher fühlen wir uns erst so recht intim in
das menschliche Innere hinein, wenn wir einem Menschen
gegenüberstehen und seine Gebärden, die ganze
Art und Weise, wie sich in seinen äußeren Bewegungen
das Innere ausdrückt, auf uns wirken lassen können.
In dieser Beziehung ist eigentlich jeder Mensch mehr oder
weniger ein feiner Künstler gegenüber seinen
Mitmenschen. Wenn man eingehen würde auf feine
psychologische Wirkungen, die von einem Menschen zum
anderen gehen, so würde man sehen, daß unendlich viel
davon abhängt — ohne daß es sich die
Menschen zum Bewußtsein bringen —, wie die
Gebärde als Ganzes genommen auf einen Menschen wirkt. Das
braucht nicht in das grobe äußere Bewußtsein
einzutreten, es tritt aber darum doch in die Seele ein und
äußert sich dann besonders in Wirkungen, wo das
äußere Bewußtsein unzählige
Intimitäten, die sich unter der Schwelle des
Bewußtseins abspielen, einfach grob in Worten
zusammenfaßt wie: er gefällt mir, er gefällt mir
nicht, oder sie gefällt mir, sie gefällt mir
nicht.
Wir
können aber auch sehen, wie die Kräfte, die in der
Eigenbewegung organisierend wirken, im späteren Leben
weiterwirken, wenn wir von der Gebärde, die sich in der
Bewegung ausdrückt, mehr übergehen zu dem, wo das
Innere des Menschen sozusagen in die äußere Form
— aber in Beweglichkeit — sich hineinergießt
in der Mimik und in der Physiognomie. Da wirkt in der Tat
dasjenige weiter, was erst als Eigenbewegungssinn wirkt und
sozusagen der Hilflosigkeit des Menschen Spielraum
läßt, sich weiterzuentwickeln, und dann diese
Hilflosigkeit in Zucht nimmt. Wenn wir sehen, wie der Mensch
sein Äußeres durch sein Inneres sozusagen in
fortwährendem Gange hält mit seiner Miene, auch mit
dem Spiel seiner Physiognomie, so finden wir, wie in der Tat
das, was erst in der Organisation mehr als ein bloßer
Ausdruck der Wirkung in die Leiblichkeit erscheint, mehr in das
Seelische umgegossen und dadurch verinnerlicht erscheint. Was
in der ersten Lebenszeit des Menschen mehr direkt wirkt, wird
gleichsam in die Innerlichkeit eingefangen, in das
selbstbewußte Ich, um dann von innen nach außen sich
in die leibliche Sphäre hineinzuergießen,
während es anfangs eine Auseinandersetzung des
selbstbewußten Ich mit dem Geist war.
Wenn wir nun beim Menschen sehen, wie uns an ihm
berechtigterweise die besondere Schädelform interessiert,
so müssen wir sagen: In dieser besonderen Schädelform
drückt sich in der Tat auch etwas von seinem innersten
Wesen aus. Jeder Mensch weiß, daß dies schon im
groben der Fall ist und daß man immer Unterschiede
zwischen dem menschlichen Innern bei diesem oder jenem Menschen
in der Stirnform, in der Schädelform finden wird.
Selbstverständlich darf man nicht auf gewisse
Gebiete des geistigen Lebens dabei blicken, die sich wieder von
der an den Leib gebundenen Seele emanzipieren. Aber als eine
gewisse Grundlage ist doch das vorhanden, was man als Ausdruck
des zur Seele gewordenen Geistes bezeichnen kann und mit so
großem Unrecht ausgestaltete in dem, was man Phrenologie,
Schädelbeobachtung und dergleichen nennt. Denn das
Wesentliche ist gerade, sich klarzumachen, daß jene
Formen, die im menschlichen Schädel zum Ausdruck kommen,
für den Menschen als solchen, wie er als
moralisches, intellektuelles Wesen vor uns steht,
individuelle und nicht generelle sind. Wo wir aber darangehen,
zu generalisieren, da verkennen wir überhaupt den
ganzen Zusammenhang. In dieser Art ist die ganze
Phrenologie, wenn sie so getrieben wird, ein materialistischer
Unfug. Man sollte sie überhaupt zu keiner Wissenschaft
machen im rechten Sinne des Wortes, denn das kann sie nicht
sein. Was uns in der menschlichen Schädelbildung
entgegentritt, ist ein Individuelles, das von Mensch zu Mensch
verschieden ist. Die Art und Weise, wie wir dann den
Menschen gerade nach diesen Merkmalen beurteilen wollen,
muß ebenso eine individuelle sein, wie es das
Verhältnis des Menschen zu einem Kunstwerk ist. Wie es da
keine allgemeinen, festgestellten Regeln gibt, sondern
wie man ein Verhältnis zu einem jeden Kunstwerk gewinnen
muß, wenn es wirklich eines ist, so wird man, wenn man
nach allgemeinen Regeln an das geht, was an künstlerischem
Sinn in dem Menschen steckt, schon zu einigen Urteilen kommen
können. Nur werden sich diese Urteile ganz anders
ergeben, als sie gewöhnlich ausgesprochen werden. Aber
gerade das wird sich uns ergeben: Betrachten wir einen
menschlichen Schädel, so werden wir sehen, wie der Geist
in der Form in unmittelbarer Beziehung arbeitet, wie die
Kräfte des Geistigen — des Ich — von innen
heraus die Schädelkapsel förmlich entgegenschieben
dem, was von außen nach innen arbeitet. Nur wenn man ein
Gefühl für dieses Arbeiten von außen nach innen
und von innen nach außen hat, kann man sich auf das
einlassen, was in der menschlichen Schädelform, die das
Gehirn umschließt, uns entgegentritt.
So
zeigt uns die Beobachtung, wie in der Tat der Geist im Tiere
unmittelbar sich auslebt in den Formen. Da das seelische Leben
des Tieres wieder unmittelbar an die Organisation gebunden ist
und das instinktive Leben ein Ausdruck der Organisation ist, so
wird man immer finden können, warum diese oder jene
Instinkte oder Impulse gefühlsmäßig beim
Tier auftreten müssen. Dagegen kann man vom Menschen
sagen: Bei ihm sehen wir ebenso den Geist von innen an seiner
Organisation arbeiten. Wir sehen aber auch, wie das, was dem
selbstbewußten Ich zugrunde liegt, sich
entgegenstellt und sich hineinschiebt in die Organisation
— und damit in die Arbeit des Geistes.
Nun
betrachten wir aber den Menschen einmal etwas anders. Da haben
wir — was offen am Tage liegt — die Fähigkeit
der Sprache, eine gewisse Denkungsart und ein gewisses
Selbstbewußtsein durch die Erziehung bei ihm vorliegend.
Diese Fähigkeiten entstehen durch die Berührung des
Menschen mit der Außenwelt. Aber man tut nicht genug, wenn
man diese Dinge einfach hinnimmt. Denn man muß sich klar
sein, daß etwas viel Tieferes, viel Intimeres sowohl
der Sprache, der Denkart wie auch dem Selbstbewußtsein
zugrunde liegt, das durch die Umgebung ausgelöst wird. Es
liegt dem zugrunde, daß der Mensch in der Tat
gewissermaßen drei Sinne hat, die wir beim Tier nicht
finden. Man darf dabei das Wort Sinn nicht nur
vergleichsweise nehmen; aber halten wir uns an Tatsachen
und nicht an Worte. Das Tier zeigt sich im weitesten Umfange
unfähig, auf dem Gebiete des Lautes, des Begriffes und
dem, was wir Ich-Wesenheit nennen, sich so aufnahmefähig
zu erweisen wie der Mensch. Das Tier geht, wenn wir die Sinne
durchgehen, bis zum Tonsinn hinauf. — Das liegt für
die äußere Wahrnehmung dem Tier als eine Art
Höchstes zugrunde. — Bis zum Ton geht es mit seiner
Sinnfähigkeit, dann aber lösen sich aus seiner
allgemeinen Organisation nicht die Möglichkeiten heraus,
ein Verständnis zu haben für Laut, Begriff und
für die Ich-Wesenheit, die in einem anderen Wesen ist. Das
Tier sieht die Gattung: der Hund den Hund, der Elefant den
Elefanten und so weiter. Aber kein Geistesforscher würde
dem Tier die Wahrnehmung für eine Ich-Wesenheit
zuschreiben. Es wird der materialistischen Forschung nicht
gelingen, für die Wahrnehmung einer Ich-Wesenheit in der
tierischen Organisation etwas nachzuweisen; also die
Naturforschung sollte es nicht bezweifeln, und die
Geistesforschung wird es nicht bezweifeln. So haben wir
Entwickelungsmöglichkeiten beim Menschen offen für
die Wahrnehmung der Innerlichkeit des Lautes, für
die Innerlichkeit von Begriff und Vorstellung und
für die Innerlichkeit des Ich-Wesens selbst. Hätte
der Mensch für diese drei Betätigungen nicht
Entwickelungsmöglichkeiten offen, so würden die
andern Kräfte, die ich genannt habe, keine von innen sich
ergießende Nahrung haben und sich auch nicht
ausdrücken können. Das Tier hat für diese drei
Entwickelungsmöglichkeiten nicht die Organe. Denn in
alledem, was der Mensch in seinem Hinausgehen über das
Tier darlegt, zeigt sich der Abdruck dessen, was in seinem
Innern ist, als Möglichkeit des Ausdruckes der
Lautauffassung, der Begriffsauffassung und der Ich-Auffassung,
des Ich-Bewußtseins, währenddessen haben wir
beim Tier ausgedrückt, wie der Geist in die Form gegossen
ist, und es zeigt uns daher eine durch das
Gattungsmäßige gegebene Gebärde und eine durch
das Gattungsmäßige bedingte Physiognomie. Das alles
drückt sozusagen aus, wie sich der Geist unmittelbar in
die Form hineingerinnend betätigen kann. Beim Menschen
sehen wir, wie ein jeder seine spezielle Gebärde hat,
seine spezielle Physiognomie und Mimik, und wie sich gerade
darin ganz besonders ausdrückt, was er auf der anderen
Seite an Entwickelungsmöglichkeiten für den Laut,
für Begriff oder Vorstellung und für das
Selbstbewußtsein hat. In der Tat ergießt sich in die
Gebärde, in die Physiognomie und Mimik und in das
ganze Auftreten des Selbstbewußtseins dasjenige, was der
Mensch in bezug auf Entwickelungsmöglichkeiten für
Laut, Begriff und Ich-Wesenheit hat. Da sehen wir von innen
nach außen rinnen das, was erst durch den unmittelbaren
Verkehr des selbstbewußten Ich mit dem Geist erlebt wird,
und sehen es sich am Menschen ausdrücken.
Wenn wir dies so erleben, dürfen wir uns sagen: Also sehen
wir am Menschen, wenn wir nur nicht mit abstrakten, trockenen,
nüchternen Begriffen an ihn herantreten, sondern mit
lebendiger, lebensvoller Anschauung, wie Ich-Wesen,
Vorstellungs-Wesen und Laut-Wesen unmittelbar an der
äußeren Gestaltung und Bewegung arbeiten. Es ist
förmlich so, wie wenn wir als Kristallographen die
Formkräfte eines Kristalls studieren würden und
uns dann eine Vorstellung bilden, wie wir im Steinsalz einen
Würfel, im Schwefel ein Oktaeder, im Granat ein
Rhombendodekaeder und so weiter vor uns haben. Wie wir da
sehen, wie innere Kraftwirkungen sich in die Form
ergießen, so sehen wir beim Menschen nach außen
unmittelbar leben vor der lebendigen Anschauung alles, was der
Mensch uns eigentlich ist, was gerade starken Eindruck in bezug
auf seine Wesenheit auf uns macht, und was uns wie
geronnene Ich-Vorstellung, wie geronnene Begriffe oder
Vorstellungen und wie geronnener Lautsinn entgegentritt. Ja,
das Letzte, was uns im Ton oder Laut entgegentritt, können
wir ganz besonders anschaulich uns vor Augen führen.
Denn jenen Verkehr mit dem Geist, den der Mensch vielleicht auf
die intimste Art pflegt, den jeder Mensch, ob Künstler
oder nicht, mit dem Geiste pflegen kann, der sozusagen ganz in
die feinsten Seelenverwebungen seines Wesens hineinwirkt,
erlebt der Mensch in jener Eigentümlichkeit, die doch
nicht in ihrer ganzen Bedeutung für das menschliche Leben
übersehen werden soll, übersehen werden darf in
dem Gehalt, in der Innigkeit — ich sage jetzt nicht des
Wortinhaltes, sondern in der Innigkeit des Wie im
Wortinhalt, in der Innigkeit des Lautcharakters, der
Seele der Sprache. Die Sprache hat nicht nur den Geist, der
sich äußert im Inhalt der Worte, die Sprache hat auch
eine Seele. Und viel mehr als wir denken, wirkt gerade in dem
Lautcharakter eine Sprache auf uns. Ganz anders wirkt in
unserer Seele eine Sprache, welche viel a hat, ganz anders eine
solche, die im Wortcharakter mehr i oder u hat.
Denn in dem, was im Timbre des Lautcharakters liegt,
ergießt sich wie im Unbewußten die Seele, die
über die ganze Menschheit ausgegossen ist, über
uns herüber. Das baut und wirkt an uns, und das kommt im
Leben wieder als eine besondere Art von Gebärde zum
Ausdruck. Denn eine besondere Art von Gebärde ist auch die
Sprache des Menschen, aber nicht insofern sie Ausdruck
der Worte ist, sondern insofern sie Seele hat, wie der Mensch
mit seiner Seele in der Sprache lebt und sich ausdrückt.
Da können wir sogar ganz wichtige Unterschiede
angeben.
Jeder weiß, daß zu jenen eigentümlichen
Imponderabilien, die von Mensch zu Mensch spielen, die
Innigkeit gehört, wie ein Mensch spricht,
ganz abgesehen davon, was er sagt. Wenn wir dieses
berücksichtigen, werden wir uns sagen: Wir lernen viel,
viel von dem Intimsten eines Menschen gerade dadurch kennen,
wenn wir beobachten, wie ein Mensch spricht. Wir müssen im
Leben oftmals darüber hinwegsehen, denn höhere
Gesichtspunkte können es in den Hintergrund treten lassen.
Dennoch ist aber etwas in uns, was sehr rechnet mit dem
Krächzen oder dem Wohllaut einer Stimme. Wer ein
wirklicher Seelenbeobachter ist, der weiß, daß eine
krächzende Stimme bei einem Mann viel unangenehmer ist als
bei einer Frau — aus dem einfachen Grunde, weil diese
Gebiete ganz intim mit unserer Organisation
zusammenhängen und beim Manne eine viel intimere
Beziehung, eine viel innigere Verbindung des Seelenlebens
mit der ganzen Behandlung der Stimme, dem Timbre und so weiter
besteht, als es bei der Frau der Fall ist. Wahr ist es, aber
beweisen kann man es nicht. Man kann nur darauf hinweisen. Wenn
Sie darauf achtgeben, werden Sie es schon bemerken. Wer auf
solche Dinge einzugehen vermag, wird daher gerade das
Bedürfnis haben, wenn er besonders wichtige Dinge
aussprechen will, in die Sprache nicht bloß Inhalt
hineinzulegen, sondern auch dasjenige, was jetzt gerade
angedeutet worden ist. Und wahrhaftig nicht aus
Unbescheidenheit, sondern um ein Beispiel anzuführen
für das, was gemeint ist, will ich dabei hinweisen auf das
von mir verfaßte Rosenkreuzermysterium «Die Pforte
der Einweihung». Da tritt an den gewichtigsten Stellen
überall hervor, daß das, was überdies nicht in
dem Inhalt gesagt werden kann, in der Behandlung der Sprache
bis auf den Vokalklang gegeben ist; Sie werden nicht dort, wo
ein u klingt auf ein a, ein i auf ein
a folgen lassen können.
Es
ist außerordentlich wichtig, daß wir dieses Gebiet
als die «Gebärde der Sprache» ins Auge fassen
und sehen, wie der Geist in seiner Macht auf die Organisation
wirkt, und daß wir die unmittelbare Wirkung des Geistes
auf die Seele, die das selbstbewußte Ich in sich
enthält, beachten. Dann sehen wir wieder zurück, wie
die menschliche Seele in die Leiblichkeit sich
hineinergießt. Jetzt komme ich allerdings zu einer Sache,
welche für viele von Ihnen selbstverständlich eine
Hypothese sein muß, und die auszusprechen für den
einen gewagt, für den andern sogar ärgerlich
erscheinen kann. Aber darauf kommt es nicht an.
Wir
sehen am Menschen die Ich-Wesenheit, was der Vorstellungssinn
ergibt und erleben kann und was der Lautsinn erleben kann, in
die Gebärde, in die Physiognomie und Mimik sich
hineinergießen und auch in die Form innerhalb jener
Grenzen, die ich angedeutet habe, so daß wir im Menschen
eine unmittelbare Wirksamkeit des Geistes sehen in jenem
Lebensalter zwischen Geburt und Tod, wo das Ich sich
hineinstellt zwischen Geist und Leiblichkeit. Nun denken wir
uns jetzt einmal folgendes: ich rede, weil die Dinge mehr oder
weniger subtil sind, in Gleichnissen. Denken wir uns das, was
der Mensch vollbringt mit IchWesenheit,
Begriffsvermögen und Lautsinn, so wie es sich
hineinergießt wirklich zunächst mehr oder weniger in
das Gleichgewicht, in die Eigenbewegung und in das
Selbstbewußtsein, später in die freie
Gebärde, in die freie Mimik und in die das Innerliche
verratende Physiognomie, von vornherein mit einer Notwendigkeit
zusammenwirken, so daß sich zwischen diese zwei,
beziehungsweise drei Seiten kein Ich hineinstellt. Denken wir
uns also das Ich ausgeschaltet und so die beiden Seiten
der menschlichen Natur aufeinanderwirken, daß gleichsam
durch einen nicht zum Bewußtsein gekommenen Lautsinn, der
das tiefste Innere auslebt, von vornherein in seinen
Erlebnissen eine ohne das Dazwischentreten des Ich bewirkte
Herstellung des Gleichgewichtes zustande kommt, so haben
Sie etwas, was beim Menschen offen bleibt, ohne ein
Dazwischentreten eines Ich hergestellt: das ist das, was dem
Tier sein Gleichgewicht von vornherein bestimmt. Und denken Sie
sich die Vorstellung, wodurch der Mensch seine Gesetze und die
tierische Gattung erfaßt, das heißt, die ganze
Organisation insofern sie Eigenbewegung ist, und wo sie
Physiognomie und Mimik ist, in der ganzen Bewegung des Tieres
ausgedrückt — was ausgedrückt wird in den
tierischen Instinkten, Leidenschaften und so weiter
—, so haben Sie wieder dasjenige, durch eine
naturgesetzliche Notwendigkeit im Tier verbunden, was der
Mensch in seinem Leben so hat, daß sein Ich
verbindend dazwischen tritt. Wieder haben wir beim Tier
durch naturgesetzliche Notwendigkeit verbunden, was im Menschen
der unmittelbare Ausdruck des Lebens ist. Beim Menschen
arbeitet die Lebensgestaltung noch hinein in die Form. Denken
Sie es sich aber nicht mehr aufgespart für das Leben,
sondern unmittelbar durch die Naturwirksamkeit gestaltet,
dann haben Sie es gattungsmäßig, wie es uns in der
Plastik der verschiedenen Tiergattungen
entgegentritt.
So
sehen wir im Menschen ein Wesen, das seine Sinnenweit in
der Mitte hat zwischen zwei Polen. Er hat seine Sinnen weit:
die Wahrnehmungswelt, die Ton weit, die Geschmackswelt, die
Geruchswelt und so weiter. Diese liegen zwischen dem, wie
er sich selber wahrnimmt, sich Beziehungen gibt in den
verschiedenen Richtungen des Raumes im
Gleichgewichtssinn, wie er sich im eigenen Leib befindlich
fühlt, und zwischen dem Lautsinn, dem
Begriffsverständnis und der Ich-Vorstellung auf der
anderen Seite. Wie sich nun mit innerer Notwendigkeit das
innere Leben für die dazwischen liegenden Sinne
verhält, so verhält es sich für das Tier,
notwendig gestaltend die ganze Leibesorganisation. Lassen
Sie beim Menschen die beiden Seiten zusammengehörig sein
ohne ein Dazwischenkommen eines Ich, so haben Sie das
unmittelbare, ohne das Dazwischentreten seiner Seele
vorhandene Einwirken der Geistigkeit auf die Leiblichkeit. Beim
Menschen haben wir das, was wir nennen können: er ist nach
der geistigen und physischen Seite eine Auslegung in Raum,
Gebärde und so weiter, die offen bleibt für die
Wirkung des Geistes nach der einen Seite und nach der andern
Seite. Damit müssen wir uns befreunden, daß in der
Tat gewissermaßen dadurch die Grundlage für das ganze
Verständnis des Menschen und des menschlichen
Geisteslebens überhaupt geschaffen ist, insofern es sich
in der Geistesgeschichte abspielt.
Wir
sehen, daß wir nicht zusammenwerfen dürfen, was der
Mensch im Begriff erlebt, mit dem, was er erlebt, indem er den
Begriff selber verwirklicht und selber ausgestaltet. In einer
gewissen Beziehung ist der Mensch in bezug auf die
Ausgestaltung des Begriffes in einer ganz anderen Lage als in
bezug auf das Verständnis des Begriffes. Die
Ausgestaltung des Begriffes steht auf einem ganz anderen
Blatt als die Mittel zum Verständnis des Begriffes. Ich
möchte dabei auf eine Tatsache hinweisen.
Im
Jahre 1894 hielt ein großer Verehrer Galileis in Wien, als
er das Rektorat der Wiener Universität antrat, Laurenz
Müllner, eine Rektoratsrede und machte dabei auf eine
eigentümliche Tatsache aufmerksam, die ja zunächst
sehr interessant ist. Er machte darauf aufmerksam, daß in
Galilei derjenige Geist der Menschheit gegeben worden ist, der
in Begriffe fassen konnte die mechanisch-physikalischen Gesetze
— die Gesetze der Pendelbewegung, der Wurfbewegung,
der Fallgeschwindigkeit, des Gleichgewichtes —, die in
der grandiosesten Weise vielleicht zum Ausdruck kommen —
so sagte Professor Müllner — in der
himmelansteigenden Kuppel der Peterskirche in Rom, in dem
wunderbaren Werke Michelangelos. Das ist wahr, das
muß jeder sagen, auf den das betreffende Kunstwerk einen
Eindruck macht. Und so können wir sagen, meinte
Laurenz Müllner: In Galileis Verständnis treten jene
Gesetze zuerst in Begriffe gefaßt auf, die wir in dem
Gleichmaße und den Gleichgewichtsverhältnissen der
gigantischen Kuppel der Peterskirche zu Rom zum Himmel aufragen
sehen. Der Mensch hat sozusagen in Galilei in Begriffe zu
fassen verstanden, was sich in der Peterskirche in Rom
als Kunstschöpfung Michelangelos darstellt. Nur
tritt dazu jetzt die eine Tatsache: daß der Geburtstag
Galileis und der Todestag Michelangelos in dasselbe Jahr
fallen: 1564 stirbt Michelangelo am 18. Februar, und in
demselben Jahr, fast auf den Tag genau, am 15. Februar, wird
Galilei geboren, der die mechanisch-physikalischen Gesetze
für die Menschheit entdeckte!
Das
ist in der Tat eine außerordentlich interessante
Tatsache, denn sie weist darauf hin, daß der Mensch
jenen Verkehr mit dem Geist, durch den er in die Lage kommt,
die Gesetze, die nachher gefunden werden, selber den
Dingen einzuprägen, in unmittelbarer Weise vollzieht
und nicht durch den Verstand, nicht durch den Begriff,
überhaupt nicht durch die Intelligenz. Das weist uns
aber auf etwas anderes hin, nämlich darauf, daß der
Mensch in seiner Organisation in einem Verkehr mit dem Geiste
ist, bevor innerlich, seelisch, die Intelligenz ihn auch
verarbeitet hat. Daher können wir gewissermaßen
sagen: Der Mensch ist so beschaffen, daß er selber der
Materie einverleiben kann, was in ihm lebt als Ausfluß des
Geistes, was auf ihn gewirkt hat, bevor er es in die
Intelligenz fassen konnte. Und das ist ja so bei allem
künstlerischen Schaffen. Diese Tatsache interessiert uns
deshalb, weil wir daran sehen, daß der Mensch im
physischen Leben mit Bezug auf alles, was er lebt und was
offenbar in einem Organ seinen Ausdruck hat, vor dem
Verständnis für die Gesetze jener Organe etwas an
sich hat, was die Gesetze plastisch durchführt, sie
plastisch gestaltet. So daß es also, wenn wir den Gedanken
durchdenken, ganz klar ist, daß der Sinn für
jene Gesetze des Geistes, die sich zum Beispiel in einem
Kunstwerk ausdrücken, vor dem Einverleiben der
Gesetze in die Seele da ist und da sein muß. Daher haben
wir also sozusagen an dem geistigen Ende des Menschen auch das
Umgekehrte, wenn wir nur das Wort nicht unedel anwenden,
sondern entsprechend ins Geistige hinaufgehoben. Dann zeigt
sich uns in der Tat: durch einen ins Geistige her auf gehobenen
und geläuterten Instinkt schafft der Mensch dasjenige, was
er erst später entdeckt. Wie das Tier instinktiv schafft,
wie zum Beispiel die Bienengenossenschaft ihren wunderbar
eingerichteten Bienenstaat zustande bringt, so schafft der
Mensch unmittelbar aus der geistigen Welt heraus, bevor sich
die geistige Welt in seiner Intelligenz spiegelt.
So
sehen wir, daß auch nach dieser Richtung hin alles auf das
Gegenübertreten des selbstbewußten Ich gegenüber
dem Wirken des Geistes hinweist. Das Tier kommt mit seinem
Instinkt eben seelisch dazu, in seiner Intelligenz zu spiegeln,
was es hineinbaut in seine Baue und dergleichen. Nehmen wir als
Beispiel den Biber und seinen Bau: Unter den Bibern wird es
immer <Michelangelos> geben, aber niemals einen
<Galilei>, der in derselben Weise die Gesetze versteht,
die der <Biber-Mid1elangelo> in den Biberbau hineinbaut.
Beim Menschen gibt es das, was dem selbstbewußten
Ich gegenübertritt, was der Geist schafft, wenn er in die
Organisation hineintritt.
So
haben wir bei der Betrachtung der menschlichen
Entwickelung klar gesehen, daß sich zwischen Geist
und Leibesorganisation dasjenige hineinstellt, was der
Ausdruck des selbstbewußten Ich beim Menschen ist,
daß beim Menschen die veredelte Organisation den Geist
unmittelbar erlebt, wie wir es im künstlerischen
Phantasieschaffen erblicken, und daß dann noch die
selbstbewußte Wesenheit in ihm lebt, die sich der
Einordnung des Geistes in den Leib entgegenstellen kann.
Also es kommt nicht darauf an, ob wir dem Menschen einen Vorzug
geben vor dem Tier oder nicht, das wäre der verkehrte Weg;
sondern wir haben darauf zu sehen, daß beim Tier der Geist
unmittelbar an die Leibesorganisation heranrückt und die
Seele gemäß dieser Leibesorganisation das Leben
hinbringt, während beim Menschen sich zwischen Geist und
Leibesorganisation das in der Seele befindliche lebendige Ich
hineinstellt, die Vermittlung herstellt und arbeitet zwischen
Geist und Leibesorganisation. Damit aber hat das Ich des
Menschen einen unmittelbaren Verkehr mit dem, was in der
geistigen Welt lebt. Es lebt zunächst diesen unmittelbaren
Verkehr dadurch aus, daß es sich durchringt, geistige
Verhältnisse in seiner Umgebung zu begründen, welche
das Tier nur aus seinen Instinkten begründen kann. Wir
sehen ein gewisses Rechtsleben, ein moralisches Leben beim Tier
schon ausgeprägt. Wir verstehen aber das
Rechtsleben, das moralische Leben, das Staatsleben, den
ganzen Gang der Weltgeschickte nur, wenn wir beim
Menschen die Emanzipation des Geistes von der Leiblichkeit
sehen, indem sich das Ich hineinstellt zwischen Geist und
Leiblichkeit und dadurch in unmittelbaren Verkehr mit der
geistigen Welt tritt.
Wie
dieses Ich mit der geistigen Welt in einen unmittelbaren
Verkehr tritt, ist es der normale Menschheitszustand. Wie aber
ein Fortschritt gegenüber der Tierentwickelung das
Hineinstellen eines selbstbewußten Ich zwischen Geist und
Leiblichkeit bedeutet, so ist es auch möglich, daß
der Mensch weiterschreitet auf dieser Bahn, indem er den Geist
wieder, den er emanzipiert hat von der Leiblichkeit, in sich
selber weiterentwickelt, wie er sich im freien Verkehr mit ihm
erlebt. Dessen Möglichkeiten werden wir sehen in dem
Vortrag über das «Wesen des Schlafes», und
dessen volle Bedeutung wird sich uns zeigen in dem Vortrag
«Wie erlangt man Erkenntnis der geistigen
Welt?». Da werden wir sehen, wie das Emanzipieren des
Geistes von der Leiblichkeit für den normalen
Menschen bis zu einer gewissen Stufe eingetreten ist, aber
weitergeführt werden kann, indem schlummernde, keimhafte
Kräfte in dem Menschen veranlagt sind, durch deren
Entfaltung er zu einem unmittelbaren Hineinschauen in die
geistige Welt geführt werden kann.
Wir
mußten erst einen Unterbau schaffen für das, was wir
als die eigentliche Betrachtung der geistigen Welt werden
pflegen können. Wir haben damit gewonnen, daß wir die
eigentliche Bedeutung des menschlichen Wesens darin zu suchen
haben, daß das menschliche Ich hineintritt zwischen Geist
und Leiblichkeit. Das aber ist auch wieder äußerlich
leiblich gegeben, indem uns sozusagen das
selbstbewußte Ich, wie es uns im Leben
entgegentritt, in der menschlichen Innerlichkeit schon
durchaus, man möchte sagen, physiognomisch und auch der
Geste nach entgegentritt. Einige von Ihnen werden sich
erinnern, daß ich nicht nur ausgesprochen, sondern auch
belegt habe, daß dem alten Satz «Blut ist ein ganz
besonderer Saft» eine tiefe Wahrheit zugrunde liegt. Das
ist in der Tat so. Und in dem, was sich einfach als eine
unmittelbare Wirkung der Seele auf die Blutzirkulation
ausdrückt, kann man schon etwas erraten von jenem
Hineinwirken des selbstbewußten Ich in die Leiblichkeit,
in die Organisation. Das ist sozusagen die nächste Pforte,
wo das vom Geist befruchtete Ich in die Leiblichkeit
hineinwirkt. Wir sehen es, wenn wir das Seelische in
seiner Wirkung auf die Blutzirkulation betrachten. Ich habe
schon öfter darauf hingewiesen, daß wir in den ganz
groben Erscheinungen der Schamröte und der Angstbleichheit
eine unmittelbare Wirkung sehen von etwas, was in der Seele vor
sich geht und im Leib sich ausdrückt, denn es sind in der
Tat Furcht und Schamgefühl seelische Vorgänge.
Man müßte, wollte man das bestreiten, unbewußter
Materialist sein, was zum Beispiel William James
tatsächlich ist, obwohl er Spiritualist sein will,
indem er in der Tat den Satz verfechten will: «Der Mensch
weint nicht, weil er traurig ist, sondern er ist traurig, weil
er weint.» Man müßte sich demnach vorstellen,
daß der Mensch dadurch in seiner Seele Traurigkeit
erlebt, daß irgendwelche, wenn auch noch so feine,
materielle Einflüsse auf den Organismus ausgeübt
werden, welche die Tränen herauspressen, und wenn
der Mensch dies merkt — so meint William James —
dann werde er traurig. Wenn wir diesen Schluß in seiner
ganzen Unhaltbarkeit nicht erkennen, werden wir nicht einsehen
können, daß wir es in Dingen wie Lachen und Weinen,
aber auch in der Schamröte, wo eine Umlagerung des Blutes
vom Zentrum nach der Peripherie stattfindet, mit
materiellen Vorgängen zu tun haben, welche unmittelbar
unter seelisch-geistigen Einflüssen stehen.
Wenn wir das bedenken, werden wir sagen können: In der Tat
drückt sich beim Menschen das Seelische in der
Blutzirkulation aus. Was wir aber so vom Menschen sagen,
daß das selbstbewußte Ich im Blut und in der
Blutzirkulation sich auslebt, können wir nicht
unmittelbar auf das Tier anwenden, weil da ein
selbstbewußtes Ich nicht in die Blutzirkulation
hineinwirken kann. Das aber ist das Wesentliche, weil das
Tier sich nicht unmittelbar dem Einfluß der geistigen Welt
Öffnet, die mit Notwendigkeit hereinwirkt.
Während wir in der tierischen Blutzirkulation wieder etwas
vor uns haben, wo sich unmittelbar auslebt, wie das tierische
Seelenleben zum Ausdruck kommt, haben wir in der menschlichen
Blutzirkulation etwas von der Art zu sehen, wie der Geist auf
das Ich wirkt.
Wenn die Menschen dereinst anfangen werden, ein wenig die Dinge
zu studieren, auf die es ankommt, nämlich daß das,
was ich heute im Anfang sagte, wesentlich ist für das
menschliche Leben, daß der Mensch nicht von vornherein
organisiert ist für eine bestimmte Ausprägung von
Gleichgewichts-, Eigenbewegungs- und Lebenssinn, sondern
sie sich erst erringen muß, — wenn man
dahinterkommen wird, daß mit den Richtungen im Räume
Realitäten gegeben sind, daß es nicht
gleichgültig ist, ob ein Rückgrat horizontal
oder vertikal zu den Raumverhältnissen steht oder ob eine
Blutzirkulation in dieser oder jener Richtung fließt, dann
wird man vor allen Dingen in der Art und Weise, wie sich solche
Organisationen in den ganzen Weltenzusammenhang
hineinstellen, das Wesentliche sehen. Man wird zum Beispiel in
der Tat in den Richtungen nach einer bestimmten Linie im Raum
hin etwas Wesentliches sehen müssen. Wenn man das
einsieht, wird man die große Bedeutung gerade der Lage und
der ganzen Blutvorgänge im menschlichen Blutsystem
beurteilen können. Heute glaubt man, daß die Lehre
von der Blutzirkulation etwas einigermaßen Abgeschlossenes
ist. Das ist es gar nicht. Wir sind erst im Beginn, etwas von
den Geheimnissen der Blutzirkulation kennenzulernen.
Damit ich diese Dinge nicht so hinstelle, als ob sie bloße
Behauptungen wären, will ich auf folgendes hinweisen.
Es
ist höchstens fünfundzwanzig Jahre her, daß ein
auf diesem Gebiete sehr bedeutender Naturforscher, weil er die
nötige mathematische Vorbildung dafür hatte,
nämlich der Kriminalanthropologe Moriz
Benedikts erst auf die sehr erhebliche
Tatsache aufmerksam machte, die ja heute wieder vielfach
ignoriert wird, daß die gleichartigen Schläge in der
Pulsader rechts und links verschieden sind, was
außerordentlich wichtig ist für die Erkenntnis der
Zusammenhänge im Menschenwesen. Und besonders ist
wichtig, was kein berühmter Mann auf diesem Gebiete
gefunden hat, sondern ein sehr einfacher Mann, Dr. Karl
Schmid, und was er 1892 veröffentlichte in der
«Wiener Medizinischen Wochenschrift» in seiner
Abhandlung «Herzstoß und Pulskurven». Da wird
hingewiesen auf ganz wichtige Beobachtungen. Erst wenn
man diese Dinge, die jetzt erst im Anfang sind,
einigermaßen studieren wird, wird man einen Anfang gemacht
haben in der Erkenntnis des Zusammenhanges zwischen
selbstbewußtem Ich und Blutzirkulation auf der einen
Seite und auf der andern Seite zwischen dem im Tier wirkenden
tierischen Geist und der tierischen Blutzirkulation.
Ich
habe das letzte Mal darauf hingewiesen, daß wir in der Tat
vermögen, bis in die Einzelheiten der Organologie und der
einzelnen Funktionen zu gehen, und den Unterschied
nachweisen können, wie der Geist sich im Menschen und wie
der Geist sich im Tier zeigt. Demgegenüber ist es ganz
begreiflich, daß die neueren Forschungen über die
Verwandtschaft von Menschen- und Affenblut weniger besagen,
weil sie auf das Äußere, rein Stoffliche gehen, auf
die chemische Reaktion und so weiter und nicht auf das, worauf
es ankommt. Käme es auf das bloß Stoffliche an, so
müßte es ganz gleichgültig sein, ob ein Rad als
Spielzeug für Kinder, oder bei einer Uhr verwendet
wird. Aber es hängt immer davon ab, wie ein Glied oder
Organ in der Gesamtheit eines Wesens oder Dinges verwendet
wird. Es hängt nicht davon ab, wie Menschenblut sich zu
Affenblut verhält oder dergleichen, sondern wie die
betreffenden Organe in den Dienst der Gesamtorganisation
gestellt sind. Wie sich da wirklich das, was wahr ist,
berührt mit der äußeren Forschung, das zeigt uns
ja am besten das Verhältnis Goethes zur
Naturwissenschaft. In dem Zeitalter Goethes war in bezug
auf die Naturdinge schon ein harter Materialismus im
Schwünge, und gerade die hervorragendsten
Naturforscher, die den Unterschied zwischen Mensch und Tier
festhalten wollten, beriefen sich dabei auf etwas rein
Materielles. Sie meinten, jener Unterschied zeige sich darin,
daß die Tiere in der oberen Kinnlade noch einen
Zwischenknochen haben, der beim Menschen fehle, und sie sagten
etwa: Das ist die Kluft zwischen Mensch und Tier, daß das
Tier noch einen Zwischenknochen für die Aufnahme der
oberen Schneidezähne hat, der Mensch aber keinen! Für
Goethe war das unerträglich. Ihm kam es darauf an, nicht
in den einzelnen Baustücken, sondern in bezug auf die Art,
wie der Geist im Menschen und wie der Geist im Tier sich der
Organe bedient, den Unterschied zwischen Mensch und Tier zu
finden. Nebenbei will ich nur darauf hinweisen, daß
man die Goethesche Metamorphosen-Lehre anwenden kann in
bezug auf alle einzelnen menschlichen Organe. So konnte
sich Goethe niemals, von Anfang an nicht mit dem Gedanken
befreunden, daß in einer materiellen Einzelheit das
Hinausragen des Menschen über die Tiere zu suchen sein
sollte. Deshalb wollte er zunächst nachweisen, daß
jene Behauptung nicht zutrifft und daß diese Kluft nicht
da ist, und er ging nun daran, den
«Zwischenkieferknochen» beim Menschen
aufzuweisen. Wenn Goethe weiter nichts getan hätte als
diese eine einzige Tat, wenn er nichts anderes gefunden
hätte, als daß in der Tat der
Zwischenkieferknochen beim Menschen da ist, nur
verwachsen, so daß man ihn nicht sieht, so würde er
schon dadurch ein gewaltiges Genie in der menschlichen
Entwickelung sein. Goethe sagte sich — nicht weil er es
getan hat, erzähle ich es, sondern weil es in der
Empfindung Goethes zutage tritt —: Ich habe mit Herder
und mit andern, die sich bemühen, den Menschen aus dem
Geist heraus zu begreifen, vor allen Dingen das Augenmerk
darauf gerichtet, daß der Mensch gerade deshalb über
den Tieren steht, weil die Tiere an ihre Organisation gebunden
sind. Der Mensch aber emanzipiert sich davon und tritt in einen
unmittelbaren Verkehr mit dem Geist und kann dadurch wieder
zurückwirken auf die Organe, was Goethe, wie ich auch
schon andeutete, mit den Worten sagte: «Die Tiere werden
durch ihre Organe belehrt, sagten die Alten. Ich setze
hinzu: die Menschen gleichfalls; sie haben jedoch den
Vorzug, ihre Organe wieder zu belehren.» Goethe konnte gar
nicht anders als zugeben: die Organe sind dieselben; nur werden
sie von einer andern Seite her gestaltet. Daher die große
Freude Goethes, als er den Zwischenkieferknochen am Menschen
endlich gefunden hatte. Da schreibt er an Herder:
«… Ich habe gefunden — weder Gold noch Silber,
aber was mir unendliche Freude macht — das os
intermaxillare am Menschen! Ich verglich mit Lodern Menschen-
und Tierschädel, kam auf die Spur und siehe, da ist es.
Nun bitt' ich dich, laß dich nichts merken, denn es
muß geheim behandelt werden. Es soll dich auch recht
herzlich freuen, denn es ist wie der Schlußstein zum
Menschen, fehlt nicht, ist auch da! Aber wie! Ich habe mir's
auch in Verbindung mit deinem Ganzen gedacht, wie
schön es da wird ...»
In
nichts einzelnem kann der Unterschied des Menschen vom Tier
gefunden werden; er muß durchaus in dem gefunden
werden, wie sich der Geist der Dinge bedient. Denn dadurch
blicken wir auf das hin, was der Mensch dem Geist
gegenüber ist, wie er sich von der Leiblichkeit
emanzipiert hat und in einen unmittelbaren Verkehr mit dem
Geiste treten kann. Daher der Unterschied in der Empfindung,
der uns überkommt, wenn wir auf ein Geistiges und wenn wir
auf ein Leiblich-Materielles hinblicken. Wir werden versuchen,
die Worte mit einem ganz andern Sinn zu gebrauchen, ob
wir auf das Geistige hinblicken oder auf das Leibliche.
Zwei Gedichte stehen in Goethes Werken nebeneinander.
Merkwürdige drei Zeilen enthalten sie:
Das
Ewige regt sich fort in allen:
Denn alles muß in nichts zerfallen,
Wenn es im Sein beharren will.
So
schließt das eine Gedicht. Und das andere beginnt:
Kein Wesen kann zu nichts zerfallen!
Das
Ewige regt sich fort in allen,
Am
Sein erhalte dich beglückt!
Ein
vollständiger Widerspruch! Wie können wir ihn
erklären? Goethe hat ihn so grob in zwei Gedichten
hingestellt, die unmittelbar aufeinander folgen. In der
Tat können wir die Empfindung in unserm Herzen
auslösen, wenn wir hinschauen auf den Geist im materiellen
Dasein. Wenn der Geist beharren wollte im materiellen Dasein,
wenn er nicht jede Form zerbrechen wollte, müßte er
in nichts zerfallen. In dem Augenblick, wo wir den Geist
in der Leiblichkeit erblicken, müssen wir sagen: Er
muß in nichts zerfallen! Wo wir aber auf den Geist
sehen, der in jeder Form in dem Geistigen neu erscheint, da
müssen wir sagen: Wir haben es mit dem ewigen,
unsterblichen Sein zu tun, mit dem Geist, mit dem wir uns in
der emanzipierten Menschenseele verbinden können. Da
dürfen wir gerade so sagen. Kein Wesen kann zu nichts
zerfallen!
Das
Ewige regt sich fort in allen,
Am
Sein erhalte dich beglückt!
wenn wir das unsterbliche Ewige eines Wesens ins Auge
fassen.
Sehen wir die Seele, sehen wir den Geist in der
Leiblichkeit an, so müssen wir sagen: Lebte er sich
ganz in der Leiblichkeit aus, wollte er die Leiblichkeit
festhalten: er müßte in nichts zerfallen.
So
führt uns gerade die Betrachtung des Tiergeistes und
Menschengeistes dahin, nach und nach zu einer Ahnung erst
aufzusteigen von dem, was im Grunde genommen Geist
genannt werden darf. Und bevor man dazu vordringen will,
wie man Erkenntnisse über den Geist gewinnen kann,
muß man vor allem erst wissen, wie der Geist
hereinleuchtet in die menschliche Seele, die er emanzipiert von
der Leiblichkeit, um innerhalb ihrer ein von der
leiblichen Organisation unabhängiges und ein in seine
Eigengebiete führendes Leben zu haben.
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