HERMES
Berlin, 16. Februar 1911
Wenn es schon für die Geisteswissenschaft an sich
eine große Bedeutung hat, zu sehen, wie das geistige Leben
der Menschheit von Epoche zu Epoche fortschreitet, langsam
sozusagen aus dunklen Tiefen sich an die Oberfläche
drängt, so hat die Betrachtung der
altägyptischen Kultur und des
altägyptischen Geisteslebens, man möchte
sagen, noch in ganz hervorragenderem Maße eine solche
Bedeutung. In einer doppelten Weise wird diese Bedeutung
empfunden, wenn man sich in dieses altägyptische
Geistesleben hineinzuleben versucht.
Zunächst erscheint dasjenige, was zu uns aus grauen
Vorzeiten herübertönt, so geheimnisvoll
wie das Antlitz der Sphinxe selbst, die wir ja als
Denkmäler dieser altägyptischen
Kultur haben. Dieses Geheimnisvolle wird dadurch noch
erhöht, daß selbst die äußere
Forschung in den letzten Zeiten mehr und mehr in immer
ältere und ältere Zeiten
zurückschreiten mußte, um das Dasein der
späteren ägyptischen Kultur,
für welche bedeutsamere Dokumente vorhanden sind,
erklären zu können. Weite Jahrtausende
vor unsere Zeitrechnung hinauf bis ins siebente
Jahrtausend mindestens — aber auch noch weiter hinauf
— datiert für die äußere
Forschung das, was in dem ägyptischen Kulturleben
gearbeitet hat. Ist das der eine Grund, warum wir gerade dieser
Kultur ein besonderes Interesse zuwenden, so dürfen
wir sagen: der andere Grund ist der, daß — man mag
wollen oder nicht — für den Menschen der
Gegenwart diese Kultur etwas Merkwürdiges
dadurch hat, daß dieser Mensch der Gegenwart —
ich meine jetzt unsere größere, breitere
Gegenwart — das Gefühl hat, diese Kultur habe
doch etwas Verwandtes, etwas geheimnisvoll Verwandtes mit dem,
was dieser Mensch der Gegenwart selbst will und sich als Ziel
setzen mag. Daher erscheint es auch bedeutsam, daß ein so
großer Geist, der in der Morgenröte der
neueren naturwissenschaftlichen Entwickelung steht, wie
Kepler, sein Gefühl über das, was
die NaturWissenschaft bis zu ihm und er selbst der Welt
zu geben hatte, nicht anders auszudrücken vermochte
als in Worten, die etwa so lauten: Mit alledem, was ich zu
enthüllen versuchte über den Gang
der Planeten um ihre Sonne, habe ich hineinzuschauen versucht
in die Geheimnisse des Weltenraumes. Es ist mir oft, als
ob ich mit den Ideen von diesen Geheimnissen die heiligen
Gefäße der Ägypter in ihren
geheimnisvollen Tempelstätten aufgesucht und
hinübergetragen hätte in die neuere
Zeit. Und daraus entstammt das Gefühl, daß die
Nachwelt erst einsehen wird, was mit dem gemeint ist, was ich
ihr zu geben habe. — So verwandt fühlte sich
einer der größten Geister der modernen Zeit mit
der altägyptischen Kultur, daß er den Grundton
dessen, was er der Welt geben wollte, nicht besser zu
bezeichnen wußte, als daß er ihn als eine
Erneuerung dessen darstellte, was — freilich mit
anderen Worten und in anderer Art — in den geheimen Lehr-
und Kultstätten des alten Ägyptens an
die Bekenner und Anhänger geflossen ist. Daher
muß es uns im besonderen interessieren, wie diese
Ägypter selber das Wesen und die ganze Art ihrer
Kultur empfunden haben.
Es
gibt ein bedeutungsvolles Wort, welches uns aus der alten
griechischen Ãœberlieferung erhalten ist und das
bedeutsam zum Ausdruck bringt, wie nicht nur die
Ägypter selber, sondern wie das Altertum diese
ägyptische Kultur empfunden hat. Da wird uns
überliefert, daß ein ägyptischer
Weiser zu Solon gesagt habe: Ihr Griechen bleibt doch ewig
Kinder; was ihr wißt, ist entsprungen aus eurem eigenen
menschlichen Sinnen und Schauen. Ihr habt nicht alte
Ãœberlieferungen. Ihr bleibt Kinder, ihr werdet nicht
erwachsen, denn ihr habt keine altersgraue Lehre! — Eine
«altersgraue Lehre»: was das bedeutet,
erfahren wir erst, wenn geisteswissenschaftlich versucht wird
hineinzuleuchten in die ganze Art und Weise des
ägyptischen Denkens und Fühlens. Da
muß man sich an das erinneren, was schon öfter
hier gesagt worden ist: daß die Menschheit in den
aufeinanderfolgenden Zeiträumen ihrer Entwickelung
eine Entfaltung verschiedener Bewußtseinsformen
durchgemacht hat. Das Bewußtsein, in dem wir jetzt
leben, diese ganze Art und Weise der Aneignung der
Außenwelt durch die Sinne, der Kombination durch den
Intellekt und Verstand, diese Art des
alltäglichen, auch des Wissenschaftlichen
Denkens war nicht immer vorhanden, sondern das menschliche
Bewußtsein unterliegt erst recht dem, was man mit dem
Worte Entwickelung bezeichnet. Es unterliegt dieser
Entwickelung nicht nur die äußere Formenwelt,
sondern auch die Seelenverfassung des Menschen und das
menschliche Bewußtsein selbst. Darauf ist hingewiesen
worden, daß wir die alten Kulturstätten der
Menschheit nur verstehen können, wenn wir
voraussetzen, was die Geisteswissenschaft aus ihren Quellen
heraus zu sagen hat: daß in alten Zeiten statt des
heutigen intellektuellen Bewußtseins ein altes
hellseherisches Bewußtsein vorhanden war, das weder
unserem Tagesbewußtsein gleich war, das vom Aufwachen bis
zum Einschlafen dauert, noch auch unserer Bewußtlosigkeit
im Schlafe vom Einschlafen bis zum Aufwachen. Sondern dieses
uralte Bewußtsein der Vormenschheit bestand in einem
Zwischenzustand, der nur, man möchte sagen,
atavistisch wie in einem verkümmerten
Erbstück in der Bilderwelt unserer Träume
erhalten ist. Während aber unsere Träume
chaotisch sind und so, wie sie im gewöhnlichen Leben
sind, nichts zu bedeuten haben, war das alte Bewußtsein,
das in Bildern wirkte, aber doch in einer gewissen Weise einen
dumpfen, träumhaften Charakter hatte, ein
hellseherisches Bewußtsein, dessen Bilder nun nicht auf
unsere physische Welt, sondern auf das, was hinter dieser als
eine geistige Welt liegt, hindeuteten. Man darf sagen,
daß im Grunde genommen alles hellseherische
Bewußtsein — sowohl das traumhafte der Vormenschheit
wie auch das, welches der Mensch heute durch jene Schulung
erreicht, von der hier schon gesprochen worden ist — in
Bildern wirkt, nicht in Begriffen und Ideen wie das
äußere physische Bewußtsein; und daß
die Bilder in der richtigen Weise durch den Träger
des Bewußtseins auf die geistigen, spirituellen
Realitäten, die hinter den physisch-sinnlichen
Erscheinungen stehen, bezogen werden müssen.
So
blicken wir im Grunde genommen auf alle alte Volksentwickelung
zurück und sagen uns: Was uns da
herübertönt in so
merkwürdigen Bildern, das ist nicht bloß
— wie heute ein materialistisches Bewußtsein im
weitesten Kreise glaubt — eine kindliche Ausgestaltung
phantastischer Naturanschauungen, sondern eine Summe von
Bildern, die zwar in Bildform uns vor die Seele treten, aber in
dieser Bildform auf ein wirkliches Anschauen einer geistigen
Welt hinweisen. Wer nicht mit einem modernen materialistischen
Bewußtsein, sondern mit einem Sinn für
MenschenSchöpfungen und geistige Menschenwerke
sich in die alten Mythologien und Legenden vertieft,
für den gewinnen die eigentümlichen
Erzählungen dieser Mythologien einen
Zusammenhang, der in einer wundersamen Weise mit
denjenigen Gesetzen der Welt zusammenstimmt, die
höher sind als unsere physikalischen, diemischen,
biologischen Gesetze. So durchklingt ein Ton von geistiger
Realität die alten Mythologien, die alten
Religionssysteme. Sie erhalten dadurch einen Sinn.
Nun
müssen wir uns aber klarmachen, daß die
verschiedenen Völker in einer
verschiedenartigen Weise je nach Anlage und Temperament, Rasse
und Volkscharakter diese Bilderwelt ausbildeten, in welcher sie
die höheren, geistigen Kräfte sich
vorstellten, die hinter den bloßen
Naturkräften stehen. Wir müssen uns
auch klar sein, daß in der allmählichen
Entwickelung alle möglichen
Übergänge vorkommen von diesem
alten hellseherischen Bewußtsein bis zu unserem
gegenwärtigen Gegenstandsbewußtsein,
unserem intellektuellen alltäglichen
Bewußtsein. Wir müssen uns ein Abglimmen, ein
allmähliches Zurücktreten des alten
hellseherischen Bewußtseins denken, müssen uns
bei den verschiedenen Völkern denken, wie die
Kräfte des alten Hellsehens nach und nach abnehmen,
wie sozusagen in den Bildern, die vor die Seelen traten, welche
noch hineinschauen konnten in die geistige Welt, immer
geringere und geringere geistige Kräfte enthalten
waren; wie die höheren Welten allmählich
ihre Tore schlössen, bis nur mehr die alleruntersten
Stufen des geistigen Wirkens im niederen Hellsehen wahrnehmbar
waren. Wir müssen uns auch vorstellen,
daß dann für die allgemeine Menschheit das alte
Hellsehen überhaupt erlosch, und der Tagesblick auf
die um uns liegende physische Welt und auf unsere
Vorstellungen von den physischen Dingen
beschränkt blieb, was dann, indem wir die physischen
Dinge kombinieren, zu unserer heutigen Wissenschaft
führte. So entwickelte sich nach und nach, indem das
alte Hellsehen allmählich erlosch, in uns das
Gegenwartsbewußtsein, und zwar bei den verschiedenen
Völkern in einer verschiedenen Weise. Eine ganz
besondere war dabei die Mission des ägyptisehen
Volkes.
Alles, was wir aus älteren Zeiten auch
äußerlich wissen, was in unserer Zeit aus
neueren Forschungen hinzugekommen ist, zeigt uns, wenn
wir sie richtig verstehen, daß es wahr ist, was die
Geisteswissenschaft zu behaupten hat: daß es gerade in der
Mission des ägyptischen Volkes lag, auf alte Zeiten
zurückzublicken, wo die führenden
Individualitäten und Persönlichkeiten
dieses ägyptischen Volkes durch starke
hellseherische Kräfte noch tief hineinschauten in
die geistigen Welten. Innerhalb des ägyptischen
Volkes war es, wo sich eine gewisse schwächere
hellseherische Kraft und eine schwächere Kraft der
Seelenverfassung, die mit diesem Hellsehen zusammenhing, bis in
späte Zeiten erhalten hat. Daher müssen
wir sagen: Die späteren Ägypter —
bis herein in die letzten Jahrtausende vor der christlichen
Zeitrechnung — wußten aus eigener Erfahrung,
daß es ein anderes Anschauen als das des
gewöhnlichen Tageslebens gibt, wo man nur die Augen
aufmacht und den Verstand zu Hilfe nimmt, und daß dieses
andere Anschauen den Menschen in die geistige Welt
hineinblicken läßt. Aber sie kannten nur die
niedrigsten bildhaften Vorstellungen eines Reiches, das man da
wahrnehmen konnte, und sie erinnerten sich ihrer alten Zeiten,
in welchen ihre Priesterweisen wie in einem goldenen Zeitalter
der ägyptischen Kultur tief hineinschauen
konnten in die geistige Welt.
Was
damals als die Geheimnisse der geistigen Welten geschaut worden
war, das war insbesondere bei den älteren
Ägyptern mit der denkbar größten
Pietät, mit der tiefsten Religiosität und
alleräußersten Sorgfalt durch die Jahrtausende
hindurch aufbewahrt worden, so daß diejenigen,
welche in dem spateren ägyptischen Zeitalter
lebten, wenn sie auch noch hineinzuschauen vermochten in
die geistigen Welten, sich etwa folgendes sagen konnten: Wir
sehen jetzt noch eine niedrige geistige Welt, wir wissen,
daß es ein solches Anschauen einer geistigen Welt gibt;
das zu bezweifeln wäre ebenso klug, als zu
bezweifeln, daß es ein äußeres Anschauen
mit den Augen gibt. — Das konnte sich der
Ägypter der späteren Zeit sagen. Er
hatte zwar nur noch schwache Nachklänge niedriger
geistiger Welten, doch er fühlte und ahnte dabei,
daß es eine alte Zeit gegeben hat, in welcher man tiefer
in das, was hinter dem PhysischSinnlichen liegt,
hineinschauen konnte. Und eine altersgraue Lehre, von
welcher eben der ägyptische Weise zu Solon sprach,
in wundersamen Tempelinschriften und
Säulenaufschriften erhalten, gab Kunde von den
hellseherischen Kräften in der alten Zeit. Den aber,
in welchem die Ägypter sozusagen alle
ursprüngliche Größe jener alten
hellseherischen Weisheit sahen, nannten sie ihren großen
Weisen, den alten Hermes. Als dann in einer
späteren Zeit wieder ein Erneuerer der
altägyptischen Weisheit kam, nannte er sich —
wie im Grunde genommen so viele nach einem alten Brauch der
ägyptischen Weisen — wieder Hermes. Und seine
Bekenner, weil sie sagten, daß des in urferner
Vergangenheit lebenden Hermes Weisheit wieder auflebte, nannten
jetzt diesen ersten Hermes den Dreimal Großen: Hermes
Trismegistos. Doch im Grunde genommen nannte ihn nur der
Grieche Hermes, bei den Ägyptern hatte er den Namen
Thoth. Verstehen aber kann man diesen Weisen nur, wenn
man begreift, was die Ägypter gerade unter dem
Einfluß der Uberlieferungen von Hermes oder Thoth
als die eigentlichen Weltengeheimnisse betrachteten.
Es
mutet uns ganz sonderbar an, was sozusagen
äußerlich als ägyptische
Glaubensvorstellungen überliefert erscheint.
Einzelne Götter, von denen die bedeutsamsten
Osiris und Isis sind, erscheinen, wo sie
dargestellt werden, nicht einmal in der bildhaften Darstellung
völlig menschlich ausgebildet, sondern oft mit
menschlichem Leib und Tierkopf und in der mannigfaltigsten
Weise aus Menschengestalt und Tiergestalt
zusammengefügt. Merkwürdige
religiöse Legenden sind uns von dieser
Götterwelt überliefert. Ferner ist jener
Tierdienst der Ägypter etwas höchst
Eigenartiges, die Verehrung der Tiere, der Katzen und
anderer, der so weit ging, daß man heilige Tiere
anerkannte, die eine tiefe Verehrung genossen, in denen man
etwas erblickte wie höhere Wesenheiten. Es
wird sogar erzählt, daß diese Verehrung der
Tiere bei den Ägyptern so weit gegangen ist,
daß Wehklagen angestimmt wurden, wenn zum Beispiel
eine Katze, die lange in einem Hause gelebt hatte, gestorben
war. Oder wenn ein Ägypter von ferne sah: dort
liegt ein totes Tier, so ging er nicht in die Nähe,
weil man sonst sagen könnte, er habe das Tier
getötet, denn es stand eine harte Strafe darauf. Ja,
es ist uns sogar überliefert, daß ein
Römer in der Zeit, als Ägypten schon
unter der Herrschaft der Römer stand, wegen der
Tötung einer Katze geradezu sein Leben
gefährdete, weil er dadurch einen Aufruhr unter den
Ägyptern hervorgerufen hatte. Dieser Tier dienst
erscheint als etwas besonders Rätselhaftes in dem
ganzen Zusammenhange des ägyptischen Denkens
und Empfindens. Und weiter: Wie sonderbar mutet den modernen
Menschen die ragende Pyramide an in ihrer viereckigen Grundform
und den dreieckigen Seitenflächen! Wie sonderbar
muten die Sphinxe an und alles, was mit immer
größerer und größerer
Deutlichkeit selbst durch die moderne Forschung aus den Tiefen
der ägyptischen Kultur an die Oberfläche
unseres Wissens heraufbefördert wird! So fragen wir
uns jetzt: Welche Stellung nahm die Vorstellungswelt von all
diesem in der Seele des alten Ägypters ein? Was
sagte der alte Ägypter, daß ihn Hermes gelehrt
habe? Wie kam er zu all diesen Vorstellungen?
Da
müssen wir uns nun daran gewöhnen, in
Legenden, namentlich in den bedeutungsvolleren,
überall sozusagen eine tiefere Weisheit auch
anzuerkennen. Wir müssen voraussetzen,
daß Ã¼ber gewisse Gesetze des geistigen Lebens
— also Gesetze, die höher sind als die
äußeren Naturgesetzediese Legenden in Bildern
berichten wollen. Da spricht zum Beispiel die
ägyptische Legende von dem Götterpaare
Osiris und Isis, und die ägyptische Legende nennt
Hermes den weisen Ratgeber des Osiris. In Osiris sieht die
Legende ein Wesen, das in grauer Vorzeit auf dem Gebiete gelebt
habe, auf dem nunmehr die Menschen leben. Dieser Osiris, der
von der Legende dargestellt wird als der Wohltäter
der Menschheit, unter dessen weisem Einfluß Hermes oder
Thoth den Ägyptern ihre alte Kultur gegeben hat bis
in das materielle Wesen dieser Kultur hinein, dieser Osiris
hatte einen Feind. Denselben nannte der Grieche dann
Typhon. Dieser Feind stellte dem Osiris nach,
tötete ihn, zerstückelte den Leichnam,
verbarg ihn in einem Sarg und warf ihn ins Meer. Die Schwester
und Gattin Isis suchte den Osiris, suchte lange nach dem
Gatten, der ihr durch Typhon oder Seth entrissen worden war,
und als sie ihn endlich fand, sammelte sie die
Stücke, in die ihn Typhon oder Seth
zerstückelt hatte, begrub ihn an verschiedenen Orten
des Landes, wo dann Tempel errichtet wurden und gebar wie ein
nachgeborenes höheres Wesen den Horns, der
also erst entstanden war nach dem Tode des Osiris — nur
durch einen geistigen Einfluß, der von dem mittlerweile in
eine andere Welt gegangenen Osiris auf die Isis
übergegangen war. Und Horus ist nun dazu
berufen, Typhon zu besiegen und in einer gewissen Weise die
Herrschaft jenes Lebens wieder einzuführen, das
— von Osiris ausgehend — in die Menschheit
einströmen sollte.
Eine solche Legende muß man nicht bloß allegorisch
und symbolisch auslegen, sondern sich ein wenig in die ganze
Gefühls- und Empfindungswelt der alten
Ägypter hineinbegeben können; denn
daraus wird — was wichtiger ist als alle abstrakten
Vorstellungen — das Gefühl und die
Empfindung gegenüber solchen Gestalten wie
Osiris und Isis zunächst lebendig. Es ist nicht gut,
wenn man solche Gestalten wie Osiris und Isis dahin
auslegen will, daß man in Osiris von vornherein die Sonne,
in Isis von vornherein den Mond und dergleichen sieht und so
eine astronomische Auslegung gibt, wie das Wort heute von der
äußeren Wissenschaft gebraucht wird, wobei man
glaubt, es wären bloß gewisse
Vorgänge am Himmel durch eine solche Legende
versinnlicht. Das ist nicht der Fa 11. Sondern wir
müssen auf uralte Gefühle der
Ägypter zurückgehen und uns aus diesen
Gefühlen heraus die ganz eigenartige Natur des
Aufblickens zu übersinnlichen, unsichtbaren
Mächten vorstellen, zu solchen
übersinnlichen, unsichtbaren
Mächten, welche der Sinneswelt zugrunde liegen
und die in ihren gegenseitigen Verhältnissen
zunächst in Osiris und Isis charakterisiert sind.
Bei diesen beiden Namen empfand der alte Ägypter
ungefähr folgendes.
Der
Menschheit Hegt, sagte er sich, ein Höheres,
Geistiges zugrunde. Das ist nicht vom materiellen Dasein
ausgegangen, in welchem sie jetzt lebt, sondern sie hat
sich zu dem jetzigen physischen Menschendasein sozusagen erst
hereinverdichtet, nach und nach hereinentwickelt. Von einem
andern Menschendasein mehr geistigerer Art ging die eigentliche
Menschheitsentwickelung aus. Blicke ich nun in die eigene
Seele, so werde ich mir bewußt, daß in mir etwas
liegt, was Sehnsucht nach einem Geistigen, Sehnsucht zugleich
nach dem Ursprünge, aus dem ich selber aus dieser
geistigen Welt herabgestiegen bin, bedeutet. Die
Kräfte, von denen ich herstamme, leben noch in mir
selber. Was ich als meine besten übersinnlichen,
unsichtbaren Kräfte in mir trage, das ist innig
diesen ursprünglichen übersinnlichen
Kräften verwandt. Daher fühle ich in mir
eineOsiris-Kraft. Sie stellt mir ein übersinnliches
Menschenwesen dar, das einstmals in anderen,
übersinnlichen Regionen gelebt hat. Wenn es auch
dort dumpf, instinktiv gelebt hat, wenn es auch erst mit dem
physischen Leib und seinen Werkzeugen hat umkleidet werden
müssen, um die physische Welt anzuschauen, so
lebte es doch gegenüber diesem physisch-sinnlichen
Leben ehedem in einem geistigen Leben.
Die
Kräfte, welche der Menschheitsentwickelung
ursprünglich zugrunde liegen,
müssen nach altägyptischer Anschauung in
einer Zweiheit erfaßt werden, in einer solchen
Zweiheit, daß man das eine Element derselben mit dem Namen
Osiris und das andere mit dem Namen Isis belegt: Osiris-Isis.
Wenn wir in uns selber blicken und dabei die Empfindungen, das
Gefühl des alten Ägypters gebrauchen, so
können wir uns sagen: Wir haben in uns
zunächst das aktive Denken. Man braucht sich nur zu
erinnern, wie gedacht werden muß, wenn ein Gedanke
zuletzt entsteht, wenn wir zum Beispiel den Gedanken eines
Dreieckes in uns haben. Da muß das aktive, das
tätige Denken vorangehen, um den Gedanken eines
Dreieckes zu bilden. Nachdem wir in der Seele tätig
waren, können wir uns passiv zu dem Ergebnis unseres
Denkens, zu unseren Gedanken und Vorstellungen wenden.
Wir sehen zuletzt in unserer Seele die Gebilde unseres aktiven
Denkens. Wie nun das Denken zu den Gedanken, wie das Vorstellen
zu den Vorstellungen, wie das Tätige zu dem, was aus
dem Tätigen wird und zuletzt vor uns steht, so
verhält sich Osiris zu Isis. Man möchte
auch sagen: Das Tätige erscheint uns wie ein
Väterliches, wie ein männliches
Prinzip: das Osiris-Prinzip, wie ein
Kämpfendes, das dann unsere Seele
erfüllt, anfüllt mit Gedanken und
Empfindungen. Und wie der Mensch hier steht, sagte sich
der alte Ägypter, wie die Stoffe, die in seinem
Blut leben oder seine Knochen bilden, nicht immer in seinem
Blut und in seinen Knochen waren, sondern draußen im
Weltenraume zerstreut vorhanden waren, wie dieser ganze
physische Leib ein Zusammenschluß von physisch
verfolgbaren Stoffen ist, die hereinwandern in die
menschliche Form, während sie vorher
draußen im Universum ausgebreitet waren, so ist es mit
unserer Denkkraft: sie ist in uns Vorstellungskraft. So
wie die Stoffe in unserem Blut einmal drinnen sind in der
Menschenform und das andere Mal draußen ausgebreitet sind,
so ist die Osiris-Kraft als Denkkraft in uns tätig
und ausgebreitet im geistigen Weltall als Osiris, als die das
ganze Weltall durchlebende und durchwebende Osiris-Kraft, die
ebenso einzieht in den Menschen wie die Stoffe, die dann das
Blut und die Knochen im Körperhaften des Menschen
zusammensetzen. Und in die Gedanken und Vorstellungen und
Begriffe fließen ein die um das Universum webenden
und lebenden Isis-Kräfte. So müssen wir
uns zunächst den Aufblick in der Seele des alten
Ägypters zu Osiris und Isis vorstellen.
Für solche Vorstellungen konnte das alte
Bewußtsein keinen Ausdruck finden innerhalb derjenigen
Welt, die uns hier auf der Erde in unserer Sinnlichkeit umgibt.
Denn alles, was uns hier zunächst umgibt, galt eben
als sinnliche Welt, die keine äußeren
Sinnbilder darbieten konnte für die
übersinnliche Welt. Um nun etwas wie eine Art von
Sprache, von schriftlichem Ausdruck für solche
Vorstellungen zu gewinnen, welche die Seele
mächtig bewegten, wenn sie sich sagte: die
Osiris-Isis-Kraft wirkt in mir — griff man hinauf zu der
Schrift, welche die Himmelskörper im Weltenraume
schreiben. Man sagte: Was man an übersinnlicher
Kraft als Osiris empfindet, das kann man sich versinnlicht
denken in dem, was als Sonnenlicht von der Sonne ausgeht und
den Raum durchwebt und durchlebt als die tätige
Lichtkraft. Und in dem, was man als Isis empfindet, kann man
das sehen, was uns als reflektiertes,
zurückgeworfenes Sonnenlicht vom Monde kommt, der an
sich dunkel ist — wie die Seele, wenn nicht das
tätige Denken in sie fällt — und
auf das Licht der Sonne wartet, um es
zurückzuwerfen, wie die Seele auf die Osiris-Kraft
wartet, um sie als IsisKraft zurückzuwerfen.
Wenn so der alte Ägypter empfand:
Draußen sagen mir die Sonne und der Mond, wie ich am
besten sinnbildlich denken kann über das, was meine
Seele empfindet, — dann wußte er zugleich: Es ist
doch kein zufälliger Zusammenhang zwischen dem, was
da geheimnisvoll im Räume erscheint als die
lichtverbreitende Sonne und der das Sonnenlicht
zurückwerfende Mond, sondern was ich da als den Raum
durchleuchtend, Licht verbreitend und Licht
zurückwerfend sehe, das muß etwas mit den
Kräften zu tun haben, die ich als
übersinnliche in mir empfinde. — Wie wir
in der Uhr nicht etwas sehen, was durch kleine
Dämonen seine Zeiger treibt, sondern etwas
Mechanisches, so wissen wir doch auch, daß der
ganzen Zusammenfügung der Uhr der Gedanke des
Uhr-Erfinders zugrunde liegt, der aus der Seele des Menschen
gekommene Gedanke, so daß also ein Geistiges den
Mechanismus der Uhr geformt hat. So wie die Zeiger einer Uhr
zueinander stehen, abhängig voneinander freilich,
— und wenn wir in den Raum hinausblicken, durch
mechanische Gesetze beherrscht, aber zuletzt doch
abhängig von den Gesetzen, die der Mensch in seiner
Seele empfindet, wenn er von der Osiris- und Isis-Kraft spricht
so erschien als Ausdrucksmittel einer gewaltigen
Weltenuhr Sonne und Mond. Und der Ägypter sagte
sich nicht nur: Sonne und Mond versinnlichen mir die Beziehung
zwischen Osiris und Isis, sondern er empfand: Was in mir
lebt, das liegt ursprünglich jenem geheimnisvollen
Kräfteverhältnis zugrunde, welches das
Licht trägt zu Sonne und Mond.
So
wie es in bezug auf Osiris und Isis gegenüber Sonne
und Mond war, so war es in bezug auf andere Gestirne und
Planeten bei den andern Göttern. Die
Ägypter sahen in der Stellung der
Himmelskörper zunächst Sinnbilder
für das, was sie als Ubersinnliches erlebten oder
was ihnen überliefert war als Erlebnisse der
ältesten Hellseher. Sie sahen aber in diesem
Ausdruck einer Weltenuhr die DarStellungen derselben
Kräfte, die sie zuletzt in der menschlichen
Seele empfanden. So wurde die große Weltenuhr mit der
Bewegung ihrer Sterne und dem Verhältnis der
bewegten Sterne zu den ruhenden Sternen eine Offenbarung
der geistigen, übersinnlichen Kräfte, die
dahinterstanden, die diese Stellungen hervorgerufen haben
und sich in einer universellen Schrift, die man zu verstehen
hat, ein Ausdrucksmittel für ihre
übersinnlichen Mächte und
Kräfte verschafften.
Das
sind die Gefühle und Empfindungen
gegenüber dieser höheren Welt,
welche die alten Ägypter durch Hellseher
über jene geistige Welt überliefert
erhielten, von der sie wußten, daß sie besteht, weil
sie die letzten Nachklänge des alten Hellsehens
selbst noch hatten. Nun aber sagten sie sich: Wir Menschen
stammen aus dieser geistigen Welt. Aber wir sind hereingestellt
in eine Welt der Sinnlichkeit, die uns in den
sinnlich-physischen Dingen und Ãm
sinnlichphysischen Geschehen gegeben ist. Wir stammen aus
der
Welt von Osiris und Isis. Was als der beste Teil in uns strebt
und höhere Vollkommenheitsstufen erreichen kann als
die, welche wir jetzt haben, ist ausgeflossen von Osiris und
Isis. Diese leben unsichtbar in uns als Kraft. Was der
physische Mensch ist, stammt aus äußeren
Verhältnissen, ist der äußeren Welt
entnommen, darinnen ist der Osiris-Isis-Teil nur
eingekleidet.
Eine solche Vorstellung uralter Weisheiten wurde aber in der
Seele des alten Ägypters eine diese Seele ganz
beherrsdiende Empfindung, ein ganz umfassendes
Gefühl des ägyptischen Seelenlebens. Man
kann abstrakte Vorstellungen in die Seele aufnehmen, ohne
daß das Moralisch-Ethisehe des Seelenlebens, oder auch das
Schicksalsmäßige, das Glückhafte des
Seelenlebens berührt wird; ja, besonders
mathematisch-abstrakte Vorstellungen der
Naturwissenschaft kann man so aufnehmen, kann
über Elektrizität und ähnliche
Kräfte debattieren, ohne daß die Seele die
Frage nach dem Schicksal an den Menschen stellen muß. Aber
man kann nicht die eben charakterisierten Gefühle
und Empfindüngen über das Hineinschauen
in die geistigen Welten und das Sich-verwandt-Denken der
tiefsten Seeleneigenschaften mit Osiris und Isis als
Gedanken und Ideen fassen, ohne daß die Glücks-
und Schicksalsgedanken aufgerührt würden,
die moralischen Impulse des Menschen. Ja, die werden
aufgerüttelt! Denn da sagt sich der Mensch: Ich
trage ein besseres Selbst in mir, aber durch das, was ich im
physischen Leibe bin, tritt zunächst dieses bessere
Selbst zurück, wird zunächst nicht ganz
offenbar. Mir liegt eine Osiris-, eine Isis-Natur zugrunde,
aber die gehört den Ursprungswelten, den alten
goldenen, heiligen Zeiten an. Für den
gegenwärtigen Menschen ist sie durch die
Kräfte überwunden worden, die das
äußere Physische zum Menschenleib geballt
haben und die Osiris- und Isis-Kräfte in den Leib
eingekerkert haben, der verweslich ist und der
Zerstörung unterliegt wie die
äußeren Naturkräfte.
So
sehen wir die Legende yon Osiris und Isis in
Empfindüngen umgesetzt. Osiris, des Menschen
höhere Kraft, die im Weltenraume ausgebreitet ist,
wird von denjenigen Kräften
überwunden, welche der Zerstörung in der
Menschennatur unterliegen. Von Typhon wird eingekerkert,
was als Osiris-Kraft im Menschen lebt. Typhon hängt
sogar sprachlich mit dem Worte
«auflösen, verwesen» zusammen.
Sie wird eingekerkert in das, was wie ein Sarg des geistigen
Menschenteiles geformt wird, in welchem — unsichtbar
für die äußere Welt — der
Osiris-Teil des Menschen verschwindet. Aber es bleibt als
ein Geheimnisvolles für die Vorstellungen des
alten Ägypters die Seelennatur darin, die
für den Menschen die geheimnisvolle Isis-Natur ist.
Sie bleibt, um in der Zukunft — und zwar mit
Durchdringung der intellektuellen Kraft — das wieder zu
erreichen, aus dem der Mensch hervorgegangen ist. So strebt
also etwas in dem Menschen Verborgenes darnach, den Osiris
wieder zu beleben. Die Isis-Kraft ist in der menschlichen
Seele, um den Menschen aus dem, was er gegenwärtig
ist, nach und nach wieder zum Osiris hinzuführen.
Und diese Isis-Kraft macht es, daß der Mensch, allerdings
nicht, solange er physischer Mensch bleibt, sich von der
physisch-sinnlichen Natur absondern kann, aber sie macht
es, daß der Mensch, ob er zwar ein
äußerer, physischer Mensch bleibt und voll in
der äußeren, physischen Welt steht, doch in
seinem Inneren immerfort den Aufblick hat zu einem
höheren Ich, das nach der Anschauung aller
bedeutendsten Geister der Menschheit tief verborgen allen
menschlichen Kräften zugrunde liegt. Dieser Mensch,
der nicht der äußere, physische Mensch ist,
sondern der Mensch, der zum geistigen Licht auf zustreben
immerfort den Ansporn hat, immer von den verborgenen
Isis-Kräften getrieben wird, ist es, der wie der
irdische Sohn des nicht in der irdischen Welt aufgegangenen,
sondern in den geistigen Welten verborgen gebliebenen Osiris
erscheint. Dieser unsichtbare Mensch, der Mensch des Strebens
nach dem höheren Selbst, wurde von der
ägyptisehen Seele als Horus empfunden, als der
nachgeborene Sohn des Osiris.
So
blickte mit einer gewissen Wehmut der alte Ägypter
hin zu dem Osiris-Ursprung, den der Mensch hat, blickte aber
zugleich hinein in die Seele und sagte: Die Seele hat noch
etwas von der Isis-Kraft erhalten, die selbst den Horus
gebiert, der immer den Ansporn hat, hinaufzustreben zu den
geistigen Höhen. Und in diesen geistigen
Höhen findet der Mensch wieder den Osiris. —
Aber in zweifacher Weise ist für den
gegenwärtigen Menschen der Osiris wieder zu
erreichen. Der Ägypter sagte sich: Ich bin
ausgegangen von dem Osiris und wieder kommen soll ich zu dem
Osiris. In bezug auf meinen geistigen Ursprung ist Osiris in
mir, und Horus leitet mich an, wieder zum Osiris, zu seinem
Vater zu kommen. Osiris ist aber nur in der geistigen Welt zu
erreichen. Er konnte nicht eingehen in die physische
Menschennatur. Dort ist er überwunden worden
von den Typhon-Kräften, die der
Zerstörung unterliegen, weil sie
äußere Naturkräfte sind.
Daher ist der Osiris nur auf zwei Wegen zu erreichen. Der eine
Weg ist der, welcher durch die Pforte des Todes geht. Der
andere ist der, welcher durch die Pforte desjenigen Todes
geht, der nicht zum physischen Sterben führt,
sondern zur Initiation, zur Einweihung geht. Daher stellte sich
der Ägypter vor, was auch noch weiter
ausgeführt ist in meiner Schrift «Das
Christentum als mystische Tatsache»: Wenn der
Mensch durch die Pforte des Todes schreitet, kommt er nach den
nötigen vorbereitenden Stadien zum Osiris. Es
erwacht in ihm, wenn er von der irdischen
Leibeshülle befreit ist und in der geistigen Welt
steht, das Bewußtsein seiner Verwandtschaft mit Osiris.
Der Tote selber fühlt sich so, daß er in der
geistigen Welt nach dem Tode angesprochen werden kann als
«Osiris». Jeder wird sozusagen nach dem
Tode als Osiris angesprochen. Der andere Weg zum Osiris
zurück — der andere Weg in die geistige Welt
also — ist der Weg der Einweihung oder Initiation. Diesen
stellte sich der Ägypter so vor, daß durch ihn
der Mensch das kennenlernt, was zunächst
unsichtbar, übersinnlich in der menschlichen
Natur vorhanden ist. Das ist Isis oder die Isis-Kraft. Im
alltäglichen Erkennen, in dem Wissen, das wir
im Alltagsleben haben, dringen wir nickt bis zu den Tiefen
unserer Seele, bis zur Isis-Kraft vor. Aber es gibt einen Weg,
um bis zur Isis-Kraft vorzudringen, um herunterzusteigen
bis zum eigenen Ich, um zu sehen, wie dieses Ich von der
physischen Materie umhüllt ist. Geht man diesen Weg,
so kommt man dort hinunter, wo das Ich in seiner eigentlichen
geistigen Heimat ist. Deshalb sagte sich der alte
Ägypter: Du mußt also in dein eigenes Inneres
hinuntersteigen. Dort findest du zunächst die
physische Menschennatur, insofern sie der Ausdruck des
eigentlichen Menschen selbst ist, des Ich. Durch diese
physische Menschennatur mußt du hindurchdringen. Die
Außenwelt, insofern sie die Schöpfung der
geistigen, übersinnlichen Mächte
ist, erblickst du in den drei Reichen der Natur: wenn du auf
die Steine siehst und auf ihre mathematischen Formen,
wenn du auf die Pflanzen siehst und auf ihre
merkwürdigen Formen, die von innerem Leben belebt
sind, in dem göttlich-geistige Kräfte
wirken, und endlich auch im dritten Reich, im Tierreich. Beim
Menschen aber darfst du nicht an der äußeren
Form stehenbleiben, sondern mußt in das, wo seine
Seelenkräfte als Isis-Kräfte leben,
untertauchen. — Daher war mit der Einweihung in die
Isis-Mysterien das verbunden, was zunächst dem
Menschen sich selbst zeigen sollte, wo er schauen sollte, wie
er in Stoff eingekleidet ist. Was da geschah, wenn so der
Mensch in seine eigene Natur untertauchte, das war
dasselbe, was im Grunde genommen im Tode geschieht, nur
auf eine andere Weise. Der Mensch mußte durch die Pforte
des Todes bei lebendigem Leibe gehen, mußte jenen
Ãœbergang vom physischen Schauen zum
überphysischen Schauen, von der physischen Welt in
die geistige Welt kennenlernen, — jenen
Ãœbergang, den der Mensch beim Durchgehen durch den
wirklichen Tod durchmacht. Der einzuweihende Mensch mußte
diesen Weg im Hinuntersteigen in das eigene Innere durchmachen,
mußte kennenlernen, was nur beim Hinuntersteigen in
das eigene Innere zu erleben ist. Da kam er zunächst
in das körperliche Innere, in die Art und Weise, wie
aus der Natur das herausgeformt wird, was physisches Werkzeug
ist für das Ich: das Blut.
Wir
haben es öfter angeführt:
während für das Fühlen, Wollen
und Denken das Nervensystem die Werkzeuge bildet,
müssen wir das Werkzeug des Ich in dem Blut sehen.
Will der Mensch in seine Werkzeuge hinuntersteigen, so muß
er — wie der alte Ägypter es sich dachte
— hinuntersteigen in seine
physisch-ätherische Hülle, in das
Ätherisch-Seelenhafte, muß lernen,
unabhängig zu werden von der Kraft, von der sonst
der Mensch in seinem Blute abhängig ist, und
muß sich — nachdem er sich von ihr abgesondert hat
— in die merkwürdigen Gänge des
Blutes selbst hineinbegeben. Der Mensch muß erst
seine höhere Natur physisch kennenlernen. Das kann
er nur, wenn er sich so kennenlernen kann, daß er
sich wie einen Gegenstand anschaut. Der Mensch kann einen
Gegenstand als Objekt nur erkennen, wenn er
außerhalb desselben ist. So muß er außer sich
sein, um sich zu erkennen. Daher führt die
Einweihung zu solchen Kräften, durch welche die
Seelenkräite etwas erleben können, ohne
die physischen Werkzeuge zu gebrauchen, so daß der Mensch
die physischen Werkzeuge — in ähnlicher Weise
wie nach dem Tode der geistige Teil des Menschen auf den
physischen Leib herunterschaut — als Objekt vor sich hat.
So sollte in den Isis-Mysterien der Mensch
zunächst sein Blut kennenlernen.
Da
machte der Mensch zunächst etwas durch, was man
nicht besser bezeichnen kann als: das Herankommen bis an die
Schwelle des Todes. Das war die erste Stufe der
Einweihung in die Isis-Mysterien: der Mensch mußte
sein Blut, sich selber anschauen als Objekt, mußte
untertauchen in die Hülle, die das Werkzeug ist
für seine Isis-Natur. Da wurde er in den
Einweihungsstätten an zwei Tore geführt,
wo in Bildern, die er am eigenen Leibe erlebte, ihm gezeigt
wurde: So sieht es aus, wenn du dir das einmal vor die Seele
malst, was in deinem Inneren vorgeht. — Zwei Tore zeigten
sich ihm da, ein geschlossenes Tor und ein offenes Tor. Und wir
müssen sagen: Merkwürdig, diese Lehren,
die da aus Jahrtausenden zu uns
herüberklingen, wie sie wieder stimmen zu dem, was
der Mensch heute auch glaubt, nur daß er es sich heute
materialistisch interpretiert. Ich konnte schon bei Gelegenheit
des Zarathustra-Vortrages darauf hindeuten. Zwei Tore
trifft der Mensch, so sagte der alte ägyptische
Hellseher, wenn er in der Unterwelt ist. Durch zwei Tore
trittst du in dein Blut und in dein Inneres ein. Der Anatom
kann sagen: durch die zwei Eingänge, die in den
beidseitigen Klappen des Herzens liegen. Wenn er eindringen
wollte durch seinen Leib, so würde er durch das
«offene Tor» eindringen. Durch das
«geschlossene Tor» wird verhindert,
daß der Blutstrom einen unrichtigen Weg nimmt. In dem, was
uns anatomisch entgegentritt, sind die Sinnbilder enthalten
für das, was — allerdings in
hellseherischen Formen und Gebilden ×™ die
alten Weisen erlebten, die zwar nicht so unmittelbar wie der
moderne Anatom die anatomischen Gebilde vor sich hatten, wohl
aber das, was das hellseherische Bewußtsein sieht, wenn es
selber auf das Innere von außen hinsieht.
Die
nächste Stufe der Isis-Einweihung bestand in dem,
was dadurch ausgedrückt wird, daß man sagt: Der
Mensch wird geführt durch die Feuer-, Luft- und
Wasser-Probe. Das heißt, er lernt ganz kennen die
Hüllen-Natur seines Isis-Wesens; er lernt kennen das
Feuer, wie es in seinem Blute als Werkzeug durch den Leib
fließt und wie es zur Flüssigkeit wird; er
lernt weiter kennen, wie die Luft eindringt als
Sauerstoff. Feuer, Luft und Wasser: Wärme des
Atemlaufes, Flüssigkeit des Blutes lernt der Mensch
kennen. Und geläutert wird der Mensch, indem er so
seine HüllenNatur kennenlernt durch die
Elemente von Feuer, Luft und Wasser; und wenn er so seine
Hüllen durchschaut hat, ist er bei seiner Isis-Natur
angekommen. Das wird wieder technisch
ausgedrückt dadurch, daß man sagt: Nun
fühlt sich der Mensch erst zu sich gekommen,
daß er sich jetzt als geistige Wesenheit weiß und
sich nicht mehr beschränkt weiß auf die
Menschheit der äußeren Welt, sondern in die
geistige Welt hineinschaut. Denn es ist ein Gesetz, daß
wir die physische Sonne nur bei Tage schauen, weil sie uns bei
Nacht zugedeckt ist durch die Materie. In der geistigen Welt
aber gibt es kein solches Zudecken. Da sieht man die geistigen
Mächte gerade dann, wenn die physischen Augen
unwirksam sind. Das bezeichnet symbolisch die
Isis-Einweihung damit, daß sie sagt: Der Mensch
gelangt, wenn er geläutert ist, dazu, die geistigen
Wesen von Angesicht zu Angesicht zu schauen: die Sonne um
Mitternacht zu schauen. Das heißt: wenn es dunkel und
finster ist, ist dennoch das, was als geistiges Leben und als
geistige Urkraft der Sonne zugrunde liegt, für den
in die Isis-Mysterien Eingeweihten sichtbar.
So
wird uns der Weg zu den Isis-Kräften der Seele
beschrieben, wie er von denjenigen gegangen werden
konnte, die noch im Leben die tiefsten Kräfte der
Seele aufsuchten. Dann gab es noch höhere Mysterien,
welche die eigentlichen Osiris-Mysterien waren. Da wurde
tatsächlich dem Menschen klar, wie man durch die
Isis-Kraft sich bei jener Urkraft geistiger,
übersinnlicher Art fand, aus welcher der Mensch
hervorgegangen ist: bei Osiris — wie Osiris der
Menschenseele aufgeht.
Wenn nun der Ägypter in einer besonderen Schrift
zum Ausdruck bringen wollte, auf seine Weise hinmalen wollte
die Art, wie sich Isis zum Osiris verhält, so
drückte er es aus durch das Wandeln von Sonne und
Mond am Himmel, und die anderen geistigen Mächte
durch die Verhältnisse der andern Sterne. Vor allem
kam dabei in Betracht der Tierkreis mit seiner
verhältnismäßigen Ruhe und was sich
an Planeten bewegt über die Tierkreisbilder hin. In
allem, was sich darin enthüllte, sah der alte
Ägypter die Art, wie er am besten in einer
geistigen Schrift zum Ausdruck bringen konnte, was seine
Seele bewegte. Er wußte: Von dem, was auf der Erde ist,
kann ich nichts nehmen, um auszudrücken, wozu
der Mensch berufen ist, wenn er der IsisKraft zum Osiris
folgt; das muß, wenn es beschrieben werden soll, aus
der Konstellation der Sterne hergeholt werden. —
Das führte dazu, daß der große Weise, der
in grauer Vorzeit existierend gedacht werden muß, nach
Anschauung der Ägypter vor allen Dingen den
tiefsten hellseherischen Einblick hatte in dieses eben nur
skizzenhaft dargestellte Verhältnis der Menschheit
zum Universum, und daß er zum höchsten Ausdruck
gebracht hat, was die Konstellation der Sterne war in bezug auf
diese geistigen Kräfte und ihr Geschehen und die
zwischen ihnen spielenden Tatsachen. In Sternensprache
drückte er aus, was geschah. Sollte so zum Beispiel
ausgedrückt werden, wie sich Osiris zu Isis
verhält, so konnte man es in Form der Legende
— exoterisch — dem Volke sagen. Für die,
welche dann in die Einweihung geführt wurden,
drückte man das genauere Verhältnis
aus in dem Verhältnis des von der Sonne
ausgehenden, vom Monde zurückgeworfenen und in
merkwürdigen Verhältnissen vom Neumonde
durch die Viertel zum Vollmonde gehenden Lichtes. Man
erblickte darin mit Recht etwas, was ähnlich war dem
Verhältnis der Isis-Krafl der menschlichen Seele zu
Osiris. Und dann wurde von diesen Verhältnissen am
Himmel und ihren Formen hergenommen, was man wirklich als
die Urformen der Schrift ansehen kann. Denn so wenig, wie
die Menschen dies in der Schrift noch erkennen, so sehr
muß man sagen: In den Konsonanten hat man Nachbildungen
der Tierkreiszeichen zu erblicken, des
verhältnismäßig Ruhenden. Und in dem
Verhältnis der Vokale zu den Konsonanten hat man
Nachbildungen des Verhältnisses der Planeten
und ihrer beweglichen Kräfte zum Tierkreis.
Vom Himmel heruntergeholt, muß man sagen, sind die
Schriftzeichen.
So
empfanden die alten Ägypter gegenüber
dem Hermes, dessen Lehrer wiederum waren die
Kräfte, die vom Himmel herunter sprachen und das
kündeten, was in den Menschenseelen sich auslebt.
Ja, mehr noch: Was in den menschlichen Taten, selbst in aller
Alltagstätigkeit des Lebens sich auslebt, was in
Verrichtungen wie Feldmeßkunst sich auslebt, zu
denen notwendig waren mathematische Wissenschaften,
Geometrie — die dann Pythagoras von den
Ägyptern gelernt hat —, das wurde
zurückgeführt von den alten
Ägyptern auf die Weisheit des Hermes, der
sozusagen in allen irdisch-räumlichen
Verhältnissen etwas wie Abbilder der himmlischen
Verhältnisse gesehen hat und die himmlischen
Verhältnisse in der Sternenschrift dargestellt hat.
Die Sternenschrift hat Hermes heruntergetragen in die
Mathematik und Geometrie, hat die Ägypter gelehrt,
in den Sternen etwas zu finden, was auf der Erde vorgeht. Wir
wissen, daß das ganze ägyptische Leben
zusammenhing mit den Ãœberschwemmungen des
Nils, mit dem, was der Nil aus den Gebirgsgegenden absetzte,
die südlich von Ägypten lagen. Wir
können aber auch daraus ermessen, wie
nötig es war, in einer gewissen Weise
vorauszuwissen, wann diese Ãœberschwemmungen des Nils
eintreten können, wann die Umgestaltung der
natürlichen Verhältnisse im Laufe eines
Jahres sich richtig ergeben kann. Ihre Zeitrechnung
nahmen die Ägypter auch noch von der
Sternenschrift am Himmel. Wenn der Sirius, der
Hundsstern, sichtbar wurde in dem Zeichen des Krebses, dann
wußten sie: es kommt bald die Sonne in jenes Zeichen, von
dem herabgehend ihre Strahlen sozusagen hervorzaubern, was auf
dem Erdboden der Nil mit seinen Ãœberschwemmungen
bringt. So wußten sie: Sirius ist der Wachsame, er
kündigt an, was wir zu erwarten haben. Das war ein
Teil ihrer Sternen-Weltenuhr. Um in richtiger Weise das Land zu
bebauen und zu beherrschen, was für das
äußere Leben nötig war, blickte man
dankbar hinauf zum Hundsstern. Und man blickte weiter hinauf,
wo in altersgrauen Zeiten die Lehre ihnen gegeben worden ist,
daß die Bewegung der Sterne der Ausdruck ist der
Weltenuhr.
Für solche und ähnliche
Verhältnisse haben sich die Ägypter Rat
geholt in der Sternenschrift. In Thoth oder Hermes sahen sie
denjenigen Geist, der nach den alten Ãœberlieferungen
die urältesten Aufzeichnungen der
Weltenweisheit gemacht hat, und der nach dem, was er als
Inspiration aus der Sternenschrift heraus empfangen hat, die
physischen Buchstaben gebildet hat, der den Menschen den
Ackerbau gelehrt, die Geometrie, die Feldmeßkunst gegeben
hat — kurz, alles das gelehrt hat, was die Menschen zum
physischen Leben brauchen. Alles physische Leben aber ist
nichts anderes als der Leib eines geistigen Lebens. Das
geistige Leben aber hängt zusammen mit dem ganzen
Weltall, und aus diesem heraus war Hermes inspiriert. So
erschien bald die ganze Kultur verbunden mit Hermes. Ja, die
Ägypter fühlten sich in noch innigerer
Weise mit ihm verbunden. Nehmen wir zum Beispiel an, daß
ein Ägypter im Jahre 1322 vor unserer Zeitrechnung
zum Himmel hinaufsah, so sah er eine ganz besondere
Sternkonstellation. Denn die alten Ägypter hatten
eine Zeitrechnung, die für die menschlichen
Verhältnisse — besonders für das
menschliche rechnerische Denken —
zunächst bequem war: zwölf Monate zu
dreißig Tagen, das gibt — mit fünf
Erganzungstagen — für das Jahr 365 Tage. So
hatten sie gerechnet durch die Jahrhunderte hindurch, denn das
war sozusagen mathematisch, rechnerisch bequem: ein Jahr war
abgelaufen, wenn 365 Tage abgelaufen waren. Da blieb, wie
wir aus der gegenwärtigen Astronomie wissen, ein
viertel Tag jedesmal unberücksichtigt; das
heißt, wenn das ägyptische Jahr zu Ende
gerechnet war, so war es um einen viertel Tag zu
früh. Wenn Sie es sich ausrechnen, können
Sie darauf kommen, daß mit jedem Male das Jahr
früher begann: es rückte das Jahr
monateweise herein und rückte dann wieder an den
Anfang. Das war der Fall nach vier mal 365 Jahren. Nach 1460
Jahren also war jedesmal die Tatsache eingetreten, daß die
Himmelsverhältnisse sich wiederum mit der irdischen
Rechnung ausgeglichen hatten, indem durch 1460 Jahre hindurch
das gesamte Jahr zurückgegangen war. Wenn Sie
das dreimal zurückredmen, von dem Jahre 1322 vor
unserer Zeitrechnung angefangen, so kommen Sie hinauf zu der
Periode, bis zu welcher die Ägypter ihre uralte
heilige Weisheit zurückschrieben, so daß sie
sagten: In den alten Zeiten war noch hellstes Hellsehen
vorhanden. Mit jedem solchen großen Sonnenjahr, das einen
Ausgleich der irdischen Zeitrechnung herbeiführte,
hatte die alte hellseherische Kraft um eine Stufe
abgenommen. Wir leben jetzt in die vierte Stufe hinein.
Unsere Kultur geht schon da hinein, wo wir nur mehr
Ãœberlieferungen einer altersgrauen Lehre haben
können. Aber wir blicken hinauf durch drei
Weltenjahre hindurch zu einer großen Vorzeit, in welcher
unser größter Weiser seine Schüler
und Nachfolger gelehrt hat, was wir heute —
vielfach umgewandelt — in der Schrift haben, in der
Mathematik, Geometrie, Feldmeßkunst, in allen
übrigen gebräuchlichen Handhabungen
unseres Lebens, auch in der Astronomie. Gleichsam sagte sich
der alte Ägypter: Uns zeigt unsere menschliche
Berechnung, die sich an die bequemen Zahlen von
zwölf mal dreißig plus fünf
Ergänzungstagen hält, wie uns die
göttlich-geistige Welt korrigieren muß.
Denn durch das, was wir in unserem Verstände haben,
sind wir selbst dem Osiris und der Isis fremd geworden.
Wir können nicht genau das Jahr berechnen. Aber wir
blicken hinauf in eine verborgene Welt, da korrigieren uns die
Mächte, weiche die Sterne lenken.
So
blickte der alte Ägypter selbst für
seine Chronologie als von seiner menschlichen schwachen Kraft
aus, die an den Verstand gebunden ist, zu den geistigen
Kräften und Wesenheiten auf, die im Verborgenen
leben und nach tieferen Gesetzen dasjenige korrigieren,
beschützen und bewachen, was die Menschen auf der
Erde zu durchleben haben. Und als denjenigen, der von diesen
wachsamen Himmelskräften inspiriert wurde, verehrte
der alte Ägypter seinen Thoth, seinen Hermes.
Daher war diese Individualität für
die Seele des alten Ägypters nicht etwa bloß
ein großer Lehrer, sondern eine solche Wesenheit, zu der
er mit tiefsten Dankgefühlen, tiefster Verehrung
hinaufblickte, indem er sich sagte: Alles, was ich habe, habe
ich von dir. Du stehst oben in einer altersgrauen Zeit und
schicktest durch die, welche die Träger deiner
Ãœberlieferungen waren, das herunter, was in die
äußere Menschenkultur einfließt und den
Menschen zur größten Wohltat wird. Dadurch
fühlte sich die Seele des alten Ägypters
— sowohl in bezug auf den eigentlichen Urheber der
Kräfte wie in bezug auf den Hüter
derselben, sowohl für Osiris wie für
Hermes oder Thoth — nicht bloß durchzogen von einem
Wissen, das in Weisheit beschlossen war, sondern von einem
Gefühl, das im tiefsten Sinne ein moralisches war,
das ein in tiefste Verehrung, Dankbarkeit gehülltes
Gefühl war. Daher zeigen uns die alten
Schilderungen, daß alles, was die Ägypter an
Weisheit hatten, besonders in den alten Zeiten,
später dann immer weniger und weniger, durchzogen
war mit einem religiösen Charakter. Es war sogar
alles menschliche Wissen mit einem heiligen Gefühl,
alle Weisheit stets mit Frömmigkeit, alle
Wissenschaft mit Religion verbunden im Sinne der alten
Ägypter. Das alles zeigte sich in den
späteren Zeiten mehr oder weniger nicht mehr
in seiner reinen Gestalt. Denn so wahr es ist, daß die
einzelnen Völker in den aufeinanderfolgenden Epochen
die Mission haben, das allgemeine Geistige in speziellen
Gestalten zur Ausgestaltung zu bringen, so wahr ist es,
daß die einzelnen Kulturen, wenn sie ihre Höhe
erreicht haben, einer Dekadenz entgegengehen. Und das
meiste sogar, was aus der altägyptisehen Kultur
erhalten ist, stammt schon aus der Verfallszeit, und es kann
nur geahnt werden, was dahintersteckt: was uns zum Beispiel an
den Pyramiden merkwürdig anmutet, oder was mit dem
grotesk erscheinenden Tierdienst gemeint ist. Denn da sagten
sich die Ägypter: Der Zeit, in welcher die Weisheit
gewirkt hat — nicht in der Zeit, in welcher sie dieselbe
überkommen hatten — geht eine andere voran, wo
alle Wesen, nicht nur der Mensch, aus
göttlich-geistigen Höhen
heruntergestiegen sind. Wenn wir des Menschen Innerstes
kennenlernen wollen, dürfen wir nicht auf seine
äußere Gestalt sehen, sondern da
müssen wir hineindringen in das Innere. Was uns
außen entgegentritt, sind wie stehengebliebene
Stufen der Uroffenbarung. Das zeigt sich wie verdichtet in
mächtigen Bildern alter
Gesetzmäßigkeit in den drei Reichen der Natur;
zunächst in der Welt der Gesteine. Was sich
uns da zeigt, sind Gestaltverhältnisse, die wir
wieder zum Ausdruck bringen in der Pyramide. Was wir sehen in
den Pflanzen an inneren Kräften, das ist etwas, was
wir wieder ausgedrückt sehen in der Lotusblume. Und
endlich auf dem Wege zum Menschen sehen wir, wie
kristallisiert, wie nicht bis zum Menschen heraufgelangt
göttliche Kräfte in
äußere Formen gegossen, herumgestreut in den
einzelnen Tiergestalten.
So
ungefähr können wir uns die Empfindungen
des alten Ägypters denken, wenn er in den Tieren
auf die stehengebliebenen Formen uralter
Götterkräfte hinsah. Denn der alte
Ägypter sah auf uralte Zeiten zurück, wo
aus göttlichübersinnlichen
Kräften alles hervorsproßte, und er
vermutete, daß in den Wesen der drei Reiche der
Natur göttliche Kräfte stehengeblieben
sind, die dann in ihm selbst zur Menschlichkeit sich
heraufgestaltet haben. Immer zu dem Gefühl, zu der
Empfindung und zu jener Notwendigkeit müssen wir
blicken, die uns zeigt, daß solche Weisheit, wie sie bei
den alten Ägyptern vorhanden war, durchaus eine
Weisheit war, welche die Seelen moralisch ergriff, sie gar
nicht ohne Moral lassen konnte. Und durch die Art, wie die
gesamte Welt zusammengebracht wurde mit
übersinnlichen Kräften, mußte ein
moralisches Verhältnis zur Tierweit entstehen,
das sich nur in der ägyptischen Verfallszeit grotesk
und sonderbar zum Ausdruck gebracht hat. Denn wenn man auf die
spätere ägyptische Kultur sieht, so zeigt
sich gerade, daß das Unvollkommene nicht am
Ausgangspunkte steht, sondern daß am Ausgangspunkte
der ägyptischen Kultur geistige Offenbarungen,
Höhen der Kultur stehen. Wir dürfen-was
man heute so gern zum Ausgangspunkt der Kulturen nimmt
— die primitiven einfachen Zustände
nicht den Urzuständen zuschreiben, sondern im
Gegenteil den Verfallszeiten, in welchen das große
geistige Gut bereits hinuntergesunken, verfallen war. Wenn wir
irgendwo Kulturen der Barbarei finden, so sind dies nicht
Urkulturen, sondern Verfallskulturen, die von der geistigen
Höhe heruntergestiegen sind.
Das
ist allerdings wieder etwas, was zum Ärgernis jener
Wissenschaft dienen kann, die alle Kulturen so beschreiben
möchte, als wenn sie von den urprimitivsten
Zuständen ausgegangen wären, von solchen
primitivsten Zuständen, wie man sie heute noch bei
den Wilden sieht. Aber in den heutigen primitivsten Kulturen
hat man Verfallskulturen, und am Beginne der Menschheit stehend
hat man Urkulturen, welche unmittelbar aus der geistigen
Welt heraus von den führenden geistigen Wesenheiten
inspiriert sind, die hinter der äußeren
Geschichte stehen. Das sagt die Geisteswissenschaft aus dem,
was sie wissen kann. Wiederum können wir
fragen: Kommt mit der Wissenschaft von heute, die auf der
Höhe der Zeit steht, die GeistesWissenschaft
dabei in Kollision, wenn sie behauptet, daß wir, indem wir
in der Zeit zurückgehen, nicht zu
Verfallskulturen, sondern zu hohen Kulturen kommen, die
dann heruntergefallen sind?
Wir
haben bei dem Vortrag «Was hat die Geologie
über Weltentstehung zu sagen?» gezeigt,
daß dies in bezug auf die Geologie nicht der Fall ist.
Für das, was heute gesagt worden ist, kann ein
gleiches behauptet werden. Sie hat lange gedauert, die Zeit, in
der man glaubte, daß man von unserer Zeit zu kindlichen,
primitiven Zuständen zurückzusehen
hat, wie sie heute noch bei den Wilden vorhanden sind, und
nicht zu erhabenen Theorien. Wenn wir aber auf die
äußeren Forschungen sehen, die klar und ohne
Vorurteil den Tatsachen zuleibe gehen, was finden wir da? Ich
möchte Ihnen einiges wörtlich mitteilen
aus einem neueren Werke «Der Einfluß
Babyloniens auf das Verständnis des Alten
Testamentes» von Alfred Jeremias, was uns
zeigen wird, wie allmählich auch die
äußere Forschung zurückgelangt zu
einer geistig hochstehenden und von weitsichtigen Theorien
durchzogenen Urkultur, und wie man das, was man
barbarische Kulturen nennt, als Verfallskulturen ansehen
muß. Das sei hier bei diesem neueren Werke besonders
hervorgehoben.
«Die ältesten Urkunden sowie das gesamte
euphratensische Kulturleben setzen eine wissenschaftliche und
zugleich religiöse Theorie voraus, die nicht etwa
nur in den Geheimlehren der Tempel ihr Dasein fristet, sondern
nach der die staatlichen Organisationen geregelt sind,
nach der Recht gesprochen, das Eigentum verwaltet und
geschützt wird. Je höher das Altertum
ist, in das wir blicken können, um so
ausschließlicher herrscht die Theorie; erst mit dem
Verfall der alten euphratensischen Kultur kommen andere
Mächte zur Geltung.»
Das
ist der erste Anfang der äußeren Wissenschaft,
die auch hier — wie wir es das letzte Mal für
die Geologie zeigen konnten — Wege
einschlägt, die mit dem
zusammenführen können, was die
Geisteswissenschaft in die gegenwärtige Kultur
hineinzuführen hat. Wird man auf diesen Wegen weiter
fortschreiten, dann wird man immer mehr und mehr von jenem
toten Gebilde abkommen, das man an den Ausgangspunkt der
menschlichen Kulturen hinstellen mochte als ein primitives,
kindliches, und wird zu den großen
Individualitäten kommen, die uns um so
überragender erscheinen, weil sie einer noch
hellseherischen Kultur aus ihren Inspirationen dasjenige zu
überliefern hatten, was wir in aller
Kulturbetätigung drinnen haben als die großten
Wohltaten, deren wir teilhaftig sind. So blicken wir gerade zu
denjenigen Geistern der Menschheit hin, die uns — wie
Zarathustra, so auch Hermes — deshalb so groß
erscheinen, weil sie zuerst die größten
Impulse der Menschheit in jener altersgrauen Zeit gegeben
haben, von welcher der Weise zu Solon sprach. Wir schauen
hinauf zu Hermes oder Thoth und sagen uns: Wie Zarathustra, so
steht auch Hermes da als eine derjenigen führenden
Individualitäten der Menschheit,
gegenüber denen wir, sie anblickend, in uns selber
eine Steigerung unserer Kräfte fühlen,
wissend, daß der Geist nicht nur in der Welt ist, sondern
immerzu hereinströmt in Weltentaten, in
Menschheitsentwickelung! Wir fühlen uns so recht in
unserem Dasein bekräftigt, in unserem Wirken
beglaubigt, in unserer Hoffnung versichert, in unserer
Bestimmung als Menschen verstärkt durch den
Zusammenhang mit solchen Geistern, von denen wir immer
sagen werden: Zu ihnen blicken Nachgeborene und suchen ihr
eigenes Dasein in den Gaben ihrer Seelenkräfte und
erkennen das eigene Wirken in den ewigen Geisteswerken der
durch die Menschheit hin mit mächtigem Impuls
wirkenden Geistesführer!
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