DAS WESEN DER GEISTESWISSENSCHAFT UND IHRE BEDEUTUNG
FÜR DIE GEGENWART
Berlin, 20. Oktober 1910
Schon seit mehreren Jahren wird hier von diesem Orte aus die
Wintermonate hindurch von mir der Versuch gemacht,
Vorträge über ein Gebiet zu halten, welches ich mir
gestatte mit dem Namen der Geisteswissenschaft zu
bezeichnen. Auch in diesem Winter soll von diesem
Gesichtspunkte aus in der Reihe der Ihnen angekündigten
Vorträge wiederum ein Bild gegeben werden von
Tatsachen der geistigen Welt. Es soll betrachtet werden, was zu
den großen Fragen des Daseins gehört: das
Verhältnis von Leben und Tod, von Schlaf und Wachen, von
Menschenseele und Tierseele, Menschengeist und Tiergeist und
Geist im Pflanzenreich. Es soll dann betrachtet werden das
Wesen der menschlichen Entwickelung durch die verschiedenen
Lebensalter, durch Kindheit, Jugend und die späteren
Lebensjahre, der Anteil der Erziehung an dem Hauptcharakter des
Menschen. Es soll das Geistesleben beleuchtet werden, indem der
Blick hingewendet wird zu großen Individualitäten der
Menschheitsentwickelung, zu Zarathustra, Moses, Galilei,
Goethe. Es soll versucht werden an einzelnen Beispielen zu
zeigen, welches Verhältnis das, was hier
Geisteswissenschaft genannt wird, zur Naturwissenschaft
hat: an dem Beispiel der Astronomie und der Geologie. Und dann
soll versucht werden zu sagen, was aus den Quellen der
Geisteswissenschaft selbst über die Rätsel des
Lebens zu sagen ist. Diesen Betrachtungen ging ín jedem
Jahre eine Art orientierender, allgemeiner Betrachtung voraus.
Dieser Gepflogenheit soll auch in diesem Jahre gefolgt werden,
indem heute gesprochen wird über die Bedeutung der
Geisteswissenschaft, ihr Wesen und ihr Verhältnis oder
— man könnte auch sagen — ihre Aufgabe
innerhalb der verschiedenen geistigen Bedürfnisse
der Gegenwart.
In
dem Sinne, wie hier von Geisteswissenschaft gesprochen wird,
darf man wohl sagen, daß Geisteswissenschaft heute noch in
den weiten Kreisen unserer Menschheit eine recht unbeliebte
Sache ist. Zwar spricht man wohl auch außerhalb derjenigen
Gesichtspunkte, die hier eingenommen werden sollen, von
«Geisteswissenschaft». Man versteht zum
Beispiel unter Geschichte etwas, was man mit dem Namen
Geisteswissenschaft belegt, und wohl auch unter noch anderen
Wissensgebieten der Gegenwart. In anderem Sinne als
gewöhnlich von Geisteswissenschaft gesprochen wird,
soll das hier geschehen. Wenn man heute von
«Geisteswissenschaft» spricht und den Namen etwa auf
Geschichte anwendet, so wird man im äußersten Falle
zugeben, daß neben dem, was der menschlichen Beobachtung,
der Sinnes- und Verstandeserfahrung vorliegt, für die
Geschichte noch gewisse große Tendenzen in Betracht
kommen, die sich wie Kräfte im Strom des Weltgeschehens
hindurch wirksam zeigen und gleichsam die Geschicke der
einzelnen Völkerschaften und der einzelnen Staaten
bewirken. Man spricht wohl auch von allgemeinen Ideen in
der Geschichte und im menschlichen Leben. Wer sich besinnt, was
in solchem Falle gemeint ist, der wird bald darauf kommen,
daß abstrakte Ideen gemeint sind, an was man appelliert,
wenn man von den Kräften, von dem Wesenhaften
spricht, von dem, was die menschlichen Geschicke leitet. Es
sind in gewisser Beziehung allgemeine Ideen, zu welchen die
menschliche Verstandesfähigkeit ein
Erkenntnisverhältnis gewinnen kann.
In
anderem Sinne wird hier von Geisteswissenschaft gesprochen,
indem als geistige Welt vorausgesetzt wird eine Welt, welche
wesenhaft ist, wie die Menschenwelt innerhalb des
physischen Daseins wesenhaft ist. Es wird gezeigt werden:
wenn man hinausgeht mit dem menschlichen
Erkenntnisvermögen über das, was der
äußeren Sinnesbeobachtung, der
Verstandeserfahrung sich darbietet, und zu den leitenden
Kräften des Menschen- und Weltendaseins überhaupt
geht, daß man nicht zu Abstraktionen, zu saft- und
kraftlosen Begriffen bloß kommt, sondern zu etwas
Wesenhaftem, zu etwas, was lebendig, inhaltsvoll, geistig mit
Dasein durchtränkt ist wie das Wesen des Menschen selber.
Also von einer geistigen Welt mit realem Dasein wird hier
gesprochen. Und eben das macht es, daß die
Geisteswissenschaft für die Standpunkte der
weitesten Kreise unseres gegenwärtigen Geistesstrebens
keine beliebte Sache ist. Es ist ja noch das Geringste, wenn
man diejenigen, die sich auf solche geisteswissenschaftlichen
Forschungswege begeben, als Schwätzer, als Träumer
oder Phantasten bezeichnet. Und es ist heute noch etwas
Gewöhnliches, zu sagen, daß alles, was als strenge
Methode, was als wirkliche Wissenschaftlichkeit auf
diesem Boden auftritt oder sich dafür ausgeben will, eine
ziemlich zweifelhafte Sache ist.
Große, gewaltige Fortschritte haben ja auf die
Menschheit immer, zu allen Zeiten, eine große
suggestive Wirkung auch in bezug auf alles Denken, Fühlen
und Empfinden ausgeübt. Und wenn wir auf die großen
Fortschritte im allgemeinen Menschenleben in den letzten Zeiten
— wir können fast sagen in den letzten Jahrhunderten
— hinblicken, so liegen sie nicht auf dem
geisteswissenschaftlichen
Gebiet, von dem hier gesprochen werden soll, sondern vielmehr
auf demjenigen Gebiet, auf das die Menschheit heute — und
zwar wie gleich betont werden soll — mit vollem Recht so
stolz ist und auf das sie noch große Hoffnungen
für die Fortentwickelung der Menschheit in der Zukunft
setzt. Es liegen diese Fortschritte der letzten
Jahrhunderte bis in unsere Tage hinein auf dem Gebiet,
das aus den Naturwissenschaften herauswächst. Wenn man
denkt, wie gewaltig alles ist, was heute nicht nur theoretisch
auf naturwissenschaftlichem Gebiet für die menschliche
Erkenntnis gewonnen ist und was verspricht aus dem
naturwissenschaftlichen Boden noch gewonnen zu werden,
und wenn man außerdem in die Waagschale legt, welche
große Bedeutung diese naturwissenschaftlichen
Errungenschaften für das äußere Leben haben, so
muß man sagen: der Segen, das Bedeutungsvolle dieses
naturwissenschaftlichen Fortschrittes konnte und
mußte eine suggestive Macht auf das menschliche Gemüt
in unserer Zeit ausüben. So ist es denn gekommen, daß
diese suggestive Wirkung auch nach einer andern Seite sich
geäußert hat. Hätte sie sich nur dahin
geäußert, daß das Menschengemüt vor allen
Dingen etwas empfand wie eine Art weltlichen Kultus
gegenüber diesen gewaltigen Fortschritten, wer könnte
auch nur ein Sterbenswörtchen dagegen sprechen? Aber
es hat sich diese suggestive Macht auch nach jener
Richtung geäußert, daß nicht nur anerkannt wird,
was die naturwissenschaftliche Forschung und der daraus
folgende Fortschritt für unsere Zeit bedeutet, sondern es
hat sich nach der Richtung ausgelebt, daß in den weitesten
Kreisen der Glaube entstanden ist, daß alle Erkenntnis,
alles Wissen der Menschheit nur auf demjenigen Boden gewonnen
werden kann, der heute eben als der naturwissenschaftliche
anerkannt wird. Und weil man von diesem Glauben aus zu dem
Schlüsse sich berechtigt glaubt, daß mit diesen
naturwissenschaftlichen Methoden die
geisteswissenschaftlichen in Widerspruch stehen, daß es
unmöglich sei für den, der auf
naturwissenschaftlichem Boden steht, überhaupt von
der Erforschung einer geistigen Welt zu sprechen, so ist in den
weitesten Kreisen das Vorurteil verbreitet, daß
Geisteswissenschaft gegenüber den berechtigten
Anforderungen der Naturwissenschaft; abgelehnt werden
müsse. Bei dieser Ablehnung kann es vor allen Dingen
auffallen, daß man etwas außerordentlich schwer in
die Waagschale Fallendes geltend macht.
Die
naturwissenschaftliche Methode, so wird gesagt, sei eine
solche, deren Forschungsresultate, deren Erkenntnisse von jedem
Menschen in jedem beliebigen Zeitpunkt nachgeprüft
werden können, und daß bei der Gewinnung dieser
Erkenntnisse, dieser Forschungsresultate nichts mitspielen darf
von dem, was im subjektiven Menschen als Empfinden,
Sympathie oder Antipathie, Sehnsucht oder Begierden
waltet. Daß nichts sich einmischen darf von der
Voraussetzung: man möchte dieses Resultat so oder so
haben; ausschließen müsse sich das menschliche
Element von der Forschung und rein die Objektivität der
Dinge sprechen lassen, wenn es sich um Ergebnisse
naturwissenschaftlicher Forschung handele.
So
ohne weiteres kann die Geisteswissenschaft diese
Forderung nicht aufstellen. Für denjenigen, der sich
rasch ein Urteil über das Allgemeingültige dieser
Forderung bildet, wird einfach schon der Grund hinlänglich
sein, die Geisteswissenschaft abzulehnen, daß sie dieser
Forderung nicht genügen kann. Warum ist das so? Die
Naturwissenschaft hat die Gegenstände ihrer Forschung, von
denen sie spricht, um den Menschen herum. Sie geht von
demjenigen aus, was vor jeden Menschen hingestellt werden kann,
worüber jeder Mensch mit den naturwissenschaftlichen
Methoden nachdenken kann, wenn er vor die Sache geführt
wird. Und es ist scheinbar ganz gleichgültig, mit welchen
Voraussetzungen der Mensch an das herantritt, was da in
seiner Umgebung dem Blickfelde sich darbietet. Es ist gerade
das, was sich in der allgemeinen Forderung ausspricht:
Naturwissenschaftliche Erkenntnis muß für jeden
Menschen in jedem beliebigen Zeitpunkte nachgeprüft werden
können.
Wie
die Naturwissenschaft ihre Resultate gewinnt, in der Art, in
welcher sie vorgeht, kann auch die wahre Geisteswissenschaft
gar nicht vorgehen. Sie kann zunächst nicht sagen: Es ist
notwendig, daß ihre Ergebnisse von jedem Menschen in jeder
Zeit nachgeprüft werden können. Denn sie muß
voraussetzen, daß diese Ergebnisse, diese
Forschungsresultate dadurch gewonnen werden, daß der
Mensch gerade sein Inneres nicht als ein Festes, als ein
Abgeschlossenes betrachtet, daß er seine subjektive
Wesenheit nicht als etwas Fertiges ansieht, sondern sich
sagt: Meine subjektive Wesenheit, diese ganze Summe meines
Seelendaseins, wie ich sie der Welt entgegensetzen kann, ist
nichts Abgeschlossenes, nichts Fertiges, sie kann
entwickelt werden, das Seelenleben kann vertieft werden.
Das Seelenleben kann so verlaufen, daß dasjenige, was man
findet, wenn man die Sinne auf die äußere Welt
richtet und den Verstand auf das anwendet, was die Sinne sagen,
nur gleichsam eine Unterlage ist für weitere
Seelenerfahrungen. Weitere Seelenerfahrungen ergeben sich
dann, wenn sich die Seele in sich selber vertieft, an sich
selber arbeitet, wenn sie die unmittelbare Lebenserfassung nur
als einen Ausgangspunkt betrachtet und dann durch Kräfte,
die zunächst in ihr schlummern, die aber
herausgeholt werden können, sich durch Stufen des Daseins
ringt, die nicht so angeschaut werden können, daß man
sie durch ein äußeres Auge nachprüfen
könnte.
Was
also der Geistesforscher zur Vorbereitung für seine
Studien durchmachen muß, ist ein innerliches Ringen der
Seele, das ganz und gar unabhängig ist von dem, was der
Mensch selber in sich hat. Wenn man also von Wissenschaft
überhaupt verlangt, daß der Mensch nichts
hinzubringen soll zu den Ergebnissen, die sich ihm
äußerlich vorstellen, so könnte von
Geisteswissenschaft gar nicht die Rede sein. Wer sich aber ein
wenig besinnt und sich fragt: Welches 1st denn der wichtigste
Teil der Forderungen, welche da für die
Geisteswissenschaft geltend gemacht werden, — könnte
sich sagen, daß ihre Ergebnisse für jeden Menschen
Gültigkeit haben, daß sie nicht der persönlichen
Willkür dieser oder jener Menschenindividualität
unterliegen, und nicht bloß eine Bedeutung haben für
das Innenleben dieses oder jenes Menschen, sondern eine
Bedeutung für alle Menschen haben.
Das
ist ja das Bedeutsame bei allem Wissenschaftlichen, daß es
nicht bloß bei dem gilt, dem sich die Gegenstände der
Wissenschaft vor Augen stellen, sondern daß, wenn die
Gegenstände erforscht sind, dies zu Erkenntnissen
führen kann, die für alle Menschen
Gültigkeit haben können.
Wenn es nun wahr wäre, daß das, was so als
Entwickelung des Menschen charakterisiert worden ist, nur
subjektiv wäre, nur für den einen oder andern
Menschen Geltung habe, und daß ihm so auch nur ein
persönlicher Glaube zukäme, so könnte von
Geisteswissenschaft auch wirklich nicht gesprochen werden. Es
wird sich uns aber in diesem Winter auch noch zeigen, daß
dieses Innenleben des Menschen, das Ringen der Seele aus
Kräften heraus, die zunächst schlummern, die aber
erwachen können, sich entfalten und entwickeln und dann
den Menschen von Erlebnis zu Erlebnis führen kann,
und daß dieses Seelenleben noch aufsteigen kann zu
einer Stufe, wo seine Erlebnisse eine ganz bestimmte
Eigentümlichkeit haben.
Wenn wir das Menschenleben betrachten, wie es sich im Innern
der Menschenseele abspielt, so ist es zunächst ein ganz
persönliches, für den einen so, für den andern
anders. Wer eine gesunde Selbstbesinnung hat, wird bei diesem
oder jenem, was in seiner Seele an Sympathie oder Antipathie
aufsteigt, was gleichsam nur eine persönliche Note hat,
sich klar sein können, daß dieses und
wie es der Fall ist. Aber das innere Erleben führt
zu einem gewissen Punkt, wo gerade eine methodisch getriebene
Selbsterkenntnis, ein reines, von Persönlichem
unbeeinflußtes Selbsterkennen sich sagen muß: das
Persönliche ist eben abgestreift, bildet ein besonderes
Gebiet, aber man kommt dann an einen bestimmten Punkt, wo
für das innere Erleben, für das
übersinnliche Erleben geradeso die Willkür
aufhört, wie sie aufhört, wenn man diesen oder jenen
sinnenfälligen Erscheinungen gegenübertritt,
und wo man auch nicht denken kann, wie man will, sondern in
Gemäßheit des Gegenstandes denken muß. So
kommt der Mensch auch innerlich, seelisch in eine gewisse
Sphäre, auf ein gewisses Gebiet, wo er sich deutlich
bewußt wird, daß nicht mehr seine persönliche
Subjektivität spricht, sondern daß jetzt nicht
sinnlich anschaubare, aber übersinnliche Wesenheiten
und Kräfte sprechen, für die seine
Individualität ebensowenig Bedeutung hat, wie sie
Bedeutung hat für das, was die äußeren
Sinnesgegenstände sagen. Diese Erkenntnis muß
allerdings gewonnen werden, wenn von dem Rechte gesprochen
werden soll, daß dasjenige, was über die
geistige Welt gesagt wird, überhaupt den Namen
Wissenschaft trägt. Es sollen auch in diesem Winter diese
Vorträge wieder ein Beweis dafür sein, daß die
Betrachtungen über die Erforschung der geistigen Welt eine
Wissenschaft genannt werden darf.
So
muß man sagen, Geisteswissenschaft ist ihrem Wesen nach
auf dem begründet, was durch die menschliche Seele
erforscht werden kann, wenn diese in ihrem innerlichen Ringen
und Erleben zu einem Punkte gekommen ist, an dem das
Persönliche nicht mehr bei den Betrachtungen der
geistigen Welt mitspricht, sondern wo sie sich von der
geistigen Welt selber ihre Eigentümlichkeiten sagen
läßt. Wenn man die Geisteswissenschaft dann einmal
vergleichen wird mit der Naturwissenschaft, so wird mancher
vielleicht sagen: Dann fehlt aber doch der Geisteswissenschaft
das wichtige Kennzeichen, daß sie auf alle Menschen einen
überzeugenden Eindruck machen kann, welches bei der
Naturwissenschaft aus dem Grunde vorhanden ist, daß
man überall, wo naturwissenschaftliche Resultate
auftreten, das Bewußtsein hat: Wenn du das auch
nicht selber erforscht und gesehen hast, so könntest du
doch, wenn du auf die Sternwarte oder in das Laboratorium
gingest und dich des Fernrohres und des Mikroskopes
bedientest, das in derselben Weise erkennen wie der, welcher
dir die Mitteilung gemacht hat. Und es könnte weiter
gesagt werden: Wenn auf dem Wege der Geisteswissenschaft der
Beweis ein rein innerlicher ist, und die Seele mit sich ringt,
bis sie sagt: jetzt gibst du nichts mit von deiner
Persönlichkeit zu dem, was dir die Gegenstände sagen,
— es bleibt doch ein einzelnes Ringen. Und dem, der auf
diesem Wege zu gewissen Ergebnissen gelangt ist, oder wem
der geisteswissenschaftliche Forscher diese Ergebnisse
mitteilt, dem müßte man sagen: Für mich bleiben
diese Ergebnisse ein unbekanntes Land, bis ich selber aufsteige
zu demselben Punkte!
Auch dieses — das soll sich uns noch zeigen —
ergibt sich uns als ein unrichtiger Einwand. Gewiß, es
gehört dieses einsame Ringen der Menschenseele, dieses
Bloßlegen von in der Menschenseele schlummernden
Kräften dazu, um in die geistige Welt, wo sie objektiv zu
uns spricht, hinaufzudringen. Aber die geistige Welt ist
so: Wenn die geisteswissenschaftlichen Resultate
mitgeteilt werden, dann bleiben die Ergebnisse nicht etwa
wirkungslos. Was aus einer durch die geisteswissenschaftliche
Forschung geprüften Menschenseele als Mitteilungen
zu andern Seelen tritt, kann von jeder Seele wieder, in einem
gewissen Sinne allerdings, nachgeprüft werden, nicht so,
daß man im Laboratorium sehen kann, was der andere
gefunden hat, sondern so, daß man es einsehen kann. Denn
in jeder Seele lebt ein unbefangener Wahrheitssinn, eine
gesunde Logik, eine gesunde Vernünftigkeit. Und wenn die
Ergebnisse der Geistesforschung in gesunde Logik
gekleidet werden, in das, was zu unserem gesunden Wahrheitssinn
spricht, dann klingt in jeder Seele oder kann wenigstens in
jeder unbefangenen Menschenseele eine Saite mitklingen mit der
mitteilenden Seele. Man kann sagen: Jede Seele ist in sich
selber veranlagt, wenn sie sich auch noch nicht dem
gekennzeichneten einsamen Ringen hingegeben hat, durch eine
unbefangene Logik und durch einen gesunden Wahrheitssinn in
sich aufzunehmen, was von der Geisteswissenschaft
mitgeteilt wird. Wenn auch ganz gewiß zugegeben werden
muß, daß im weitesten Umkreis, in dem heute dieses
oder jenes von der Geisteswissenschaft getrieben wird, bei der
Aufnahme der Mitteilungen der Geistesforschung nicht
überall dieser gesunde Wahrheitssinn und diese
gesunde Logik herrschen, so ist das ein Mangel einer jeden
Geistesbewegung. Im Prinzip ist es aber durchaus richtig, was
gesagt ist. Ja, im Prinzip sollte sogar beachtet werden,
daß es zu Irrtümern über Irrtümern
führen muß, wenn leichten Herzens und mit einem
blinden Glauben das entgegengenommen wird, was so oft heute als
Geisteswissenschaft an die Menschheit herangebracht wird. Wer
wirklich auf dem Boden der Geisteswissenschaft steht,
fühlt sich in strenger Art verpflichtet, logisch und
vernunftgemäß das mitzuteilen, was er zu sagen hat,
so daß es wirklich von einem gesunden Wahrheitssinn und
von aller Logik geprüft werden kann. — So haben wir
also von einer Seite das Wesen der Geisteswissenschaft dadurch
bezeichnet, daß wir gezeigt haben, wie ihre Resultate
gefunden werden müssen.
Daß es nun eine solche objektive Tatsache des Geistes
gibt, kann ja nur diese Wissenschaft selber belegen. Darauf
aber soll jetzt schon aufmerksam gemacht werden, daß diese
Wissenschaft eben zu dem führt, was wir den realen, den
wirklichen Inhalt der geistigen Welt nennen, einen Inhalt, der
lebendig erfüllt ist von solcher Wesenhaftigkeit, wie etwa
ein Menschenwesen selber von Wesenhaftigkeit erfüllt
ist. Von diesem Gesichtspunkte aus ist sich die
Geisteswissenschaft darüber klar, daß allem
äußeren, physischsinnlichen Dasein, allem
Dasein, von dem uns die Sinne sprechen und die
verstandesmäßige Erfahrung, zuletzt eine geistige
Welt zugrunde liegt, daß der Mensch so wie alle anderen
Dinge aus dieser geistigen Welt herausgeboren ist, sich
herausentwickelt hat, so daß also hinter der
sinnenfälligen Welt, hinter dem, was man
gewöhnlich das physische äußere Dasein
nennt, das Gebiet der geistigen Welt sich ausdehnt. Wenn nun
die Geisteswissenschaft allmählich dazu übergeht, aus
ihren Beobachtungen heraus zu zeigen, wie es sich in dieser
geistigen Welt ausnimmt, wie die geistige Welt unserer
sinnenfälligen zugrunde liegt, dann fängt eben in
vielen Kreisen unserer Gegenwart die Abneigung, die Antipathie
an, was im Eingange der heutigen Betrachtung damit
bezeichnet wurde: In weiten Kreisen der Gegenwart ist die
Geisteswissenschaft eine ziemlich unbeliebte Sache. Und es ist
keineswegs schwer zu begreifen, daß dieser
Geisteswissenschaft heute noch ein gewaltiger Widerstand
entgegengebracht wird. Es ist durchaus
selbstverständlich und nicht nur
selbstverständlich aus dem Grunde, weil dasjenige, was in
einer gewissen Beziehung, wie die Geisteswissenschaft, neu dem
menschlichen Kulturleben sich einverleibt, immer mit einer
gewissen Zurückdrängung behandelt worden ist
wie alle kleinen und großen Errungenschaften der
Menschheit; sondern weil es in der Tat recht vieles gibt im
Umkreis der Vorstellungen, die der Mensch heute zum Beispiel
aus der naturwissenschaftlichen Beobachtung gewinnt, was
gerade die Notwendigkeit hervorruft, daß sich der,
der glaubt, ganz auf dem Boden der Naturwissenschaft zu
stehen, in lauter Widersprüche verwickelt findet, wenn er
von dem hört, was die Geisteswissenschaft sagt. Wer selbst
auf dem Boden der Geisteswissenschaft steht, zweifelt gar
nicht, daß mit einem gewissen Rechte Hundert und aber
Hundert von sogenannten Widerlegungen dieser
Geisteswissenschaft aufgebracht werden können. Nur wie in
Parenthese möchte ich einfügen, daß ich selber
in der nächsten Zeit an verschiedenen Orten und auch hier
einmal, damit Klarheit in die angeregte Frage gebracht wird,
zwei Vorträge halten werde, wovon der erste lauten wird:
«Wie widerlegt man Theosophie?» und der andere:
«Wie begründet man Theosophie?» Probeweise soll
das geschehen, damit einmal gezeigt wird, wie der, der
auf dem Boden der Geisteswissenschaft steht, wirklich alles
zusammentragen kann, was an Widerlegungen gegenüber
der Geisteswissenschaft aufgebracht werden kann. Ja, ich
möchte sagen mehr noch als das, was schon angeführt
worden ist, ist dies der Fall, daß die Widerlegungen der
Geisteswissenschaft, wie man gewöhnlich heute von
Widerlegungen spricht, in bezug auf ihre verschiedenen
Resultate gar nicht so sonderlich schwierig sind. Es ist
leicht, die geisteswissenschaftlichen Forschungen zu
widerlegen.
Ich
möchte diese Widerlegungen nicht direkt vergleichen, aber
um zu verdeutlichen, was ich sagen will, anknüpfen an
etwas, was einem oft auffällt, wenn man Werke von gewissen
Philosophen über die Hegelschen Philosophie liest. —
Ich will hier nicht über das sprechen, was an der
Hegelschen Philosophie bedeutungsvoll ist, was wahr ist und was
Irrtum ist; das wollen wir dahingestellt sein lassen.
— Es wird unter den Kennern Hegels doch wenige geben, die
nicht anerkennen, daß sie es in Hegel mit einem
bedeutenden Geist zu tun haben. Nun findet sich in Hegels
Schriften ein merkwürdiger Satz, der sozusagen einen
tiefen Eindruck auf die machen kann, welche leichten
Herzens Hegel widerlegen wollen. Und dieser Satz lautet:
«Alles Wirkliche 1st verünftig!» Nun denken wir
einmal, man möchte sagen, welch innerliches Lachen ein
solcher Satz hervorrufen muß bei dem, der gern
widerlegt! Ein Philosoph soll groß sein, der solchen
Unsinn spricht: «Alles Wirkliche ist
vernünftig!» Man braucht nur einen einzigen Blick in
die Welt zu lenken und wird sehen, wie unvernünftig dieser
Satz ist! Es gibt eine einfache Methode, um die
Richtigkeit dieses Satzes zu widerlegen, und die besteht
darin, daß man selbst eine knüppeldicke Dummheit
macht. Denn davon kann man behaupten, es sei ganz gewiß
nicht vernünftig. Soll die Tatsache, daß eine
Widerlegung leicht wird, denn auch dazu führen, daß
sie einfach leicht genommen und leicht als bedeutungsvoll
genommen werde? Das ist eine ganz andere Frage, die sich
vielleicht dadurch beantwortet, daß man sich folgendes
überlegt: Sollte denn wirklich Hegel — man mag sich
zu Hegel stellen wie man will — so dumm gewesen sein,
daß er nicht eingesehen hätte, was es gegen diesen
Satz als Widerlegung gibt? Sollte er wirklich geglaubt haben,
daß kein Mensch eine knüppeldicke Dummheit
machen kann? Sollte man nicht selbst veranlaßt sein,
einmal darauf einzugehen, in welchem Sinne Hegel diesen Satz
gemeint haben kann, und daß man mit einer solchen
Widerlegung gar nicht das trifft, was gemeint ist?
So
könnte es auch bei vielen Dingen der Geisteswissenschaft
sein. Um an etwas Konkretes anzuknüpfen: Die
Geisteswissenschaft muß voraussetzen — das kann
heute nur angeführt werden daß das, was wir im
Menschen als das Werkzeug des Denkens, des Vorstellens, des
Fühlens und des Wollens anerkennen, nämlich das
Nervensystem mit dem Gehirn, herausgebaut ist aus einem
Geistigen, daß Gehirn und Nervensystem Werkzeug sind
eines Wesenhaften, das man nicht in der Sinneswelt aufzeigen
kann, sondern das durch die charakterisierten Methoden
der Geisteswissenschaft erforscht werden muß. Die
Geisteswissenschaft muß also zurückgehen von dem, was
die äußere, auf die sinnenfälligen Erscheinungen
sich stützende Wissenschaft über Gehirn und
Nervensystem zu sagen weiß, auf etwas, was im Menschen als
Seelisch-Geistiges selbst arbeitet, was nicht mehr mit
den Sinnen erforscht werden kann, was nur auf den inneren Wegen
der Seele erforscht werden kann. Es 1st nun wirklich
kinderleicht zu widerlegen, was die Geistesforschung über
ein Übersinnliches erzählt, das dem menschlichen
Gehirn zugrunde liegt. Man kann sagen: Alles, was du da redest,
ist selbst nur ein Produkt des Gehirns. Wenn du das nicht
einsiehst, dann betrachte einmal, wie die geistigen
Fähigkeiten in der Entwickelungsreihe steigen. Bei den
niederen Tieren sind die geistigen Fähigkeiten noch ganz
unvollkommen, bei den höheren Tieren und besonders bei den
höheren Säugetieren sind sie schon bedeutender und
vollkommener, und beim Menschen sind sie deshalb am
vollkommensten erscheinend, weil sein Gehirn die
größte Vollkommenheit erlangt hat. Das zeigt,
daß aus dem Gehirn herauswächst, was als Geistesleben
erscheint. Und wenn du das noch nicht glaubst, so wende dich
einmal an den, der dir zeigen kann, wie in gewissen
Krankheitsfällen gewisse Gehirnpartien unwirksam
werden und gewisse Fähigkeiten vom Menschen nicht
mehr ausgeübt werden können, so daß gleichsam
gewisse Gehirnpartien abgetragen werden und das geistige
Leben ausgeschaltet wird. Da siehst du also, wie Stück
für Stück dein Geistesleben abgetragen werden kann
durch das, was sinnenfälliges Organ ist! Warum sprichst du
also da noch von geistigen Wesenheiten, die hinter den
sinnenfälligen Dingen stehen sollen?
Dieser Einwand ist wirklich kinderleicht zu machen. Daß er
aber nicht aus den naturwissenschaftlichen Ergebnissen
heraus, sondern aus der Suggestion getan wird, die für
viele aus gewissen naturwissenschaftlichen Theorien heraus
gebildet wird, das muß uns als selbstverständlich in
der Gegenwart erscheinen. Das alles hängt damit
zusammen, daß unsere Zeit unter der suggestiven
Gewalt dessen steht, daß man Wahrheit, Erkenntnis nur
gewinnen könne, wenn man die Sinne nach außen richtet
und den Verstand an dem Gewonnenen entzündet. Wenn nun
auch — das muß in bezug auf die Geisteswissenschaft
gesagt werden — diese Ergebnisse Widerlegungen der
geisteswissenschaftlichen Resultate von allen Punkten nur
so hervorquellen lassen müssen, so kann man doch
sagen, daß auf der andern Seite in unserer Gegenwart ein
tiefes Bedürfnis, eine tiefe Sehnsucht vorhanden
ist, aus jenen Landen etwas zu hören, von denen
Geisteswissenschaft zu berichten weiß. Eine tiefe
Sehnsucht darnach hat sich zugleich herausgebildet und ist bei
einer Gruppe von Menschen lebendig und bewußt vorhanden.
Bei dem großen Teil der Menschen schlummert sie sozusagen
unter der Oberfläche des Bewußtseins, wird aber immer
mehr und mehr zur Erscheinung kommen. Immer größer
und größer wird das Bedürfnis nach
geisteswissenschaftlichen Resultaten werden. Diese
Sehnsucht, dieses Bedürfnis nach
geisteswissenschaftlichen Resultaten tritt —
können wir sagen — als eine Nebenerscheinung neben
der Bewunderung, der Hingabe gegenüber den
naturwissenschaftlichen Errungenschaften auf. Gerade weil die
naturwissenschaftlichen Errungenschaften notwendigerweise
den Blick des Menschen nach außen wenden müssen,
erwacht wie ein Gegenpol die Sehnsucht nach
geisteswissenschaftlichen Resultaten. In bezug darauf
sind wir innerhalb der Entwickelung, wie sie sich im
neunzehnten und in unserem Jahrhundert ergeben hat, auf einem
ganz anderen Gesichtspunkte angelangt, als die Menschheit ihn
noch vor einem Jahrhundert hatte. Wenn man von dem Wert der
geisteswissenschaftlichen Forschungen für die Gegenwart
sprechen will, so ist es bedeutungsvoll, sich einmal vor die
Seele zu rufen, daß selbst größere Geister vor
einem Jahrhundert noch nicht das Bedürfnis gefühlt
haben, von geisteswissenschaftlichen Ergebnissen in der Art zu
sprechen, wie das heute im Sinne dieser Vortragsreihe geschehen
soll. Und da die großen Individualitäten
für die Menschheit nur tonangebend sind, in
gewissem Sinne nur ausdrücken, was das Bedürfnis der
gesamten Zeit ist, also auch der kleinen Individualitäten,
so kann sich uns eine solche Sache anschaulich darstellen, wenn
wir auf die größeren Individualitäten einmal
hinblicken.
Da
kann mit Recht gesagt werden: ein solcher Mensch wie
Goethe hat vor einem Jahrhundert keineswegs das
Bedürfnis gefühlt, sich über
geisteswissenschaftliche Resultate auszusprechen, wie das heute
etwa auf dem Boden der Geisteswissenschaft geschieht. Wo die
Frage darauf kam, über etwas zu sprechen, was über
dem äußerlich Sinnenfälligen liegt, hat
sich auch Goethe wie so viele Menschen oft darauf berufen,
daß das eine Sache des Glaubens, aber nicht einer strengen
Wissenschaft sein könne. Und daß im Grunde genommen
die Mitteilung von allgemein gültigen Resultaten auf
diesem Boden kaum sehr fruchtbar sein könne, wenn sie von
dem einen Menschen zu dem anderen gemacht werden, hat auch
Goethe öfter geäußert. Wir sind im Laufe eines
Jahrhunderts in bezug auf die Gesamtentwickelung der
Menschheit nicht nur so fortgeschritten, daß Goethe in
einem Zeitalter gelebt hat, welches keine Telegrafen,
Telefone, Eisenbahnen und keine solche Aussichten gehabt
hat, wie sie sich der Luftschiffahrt bieten; wir stehen auch in
bezug auf die geistige Entwickelung vor Ergebnissen, die
andere sind, als sie zur Zeit Goethes waren. Das können
Sie an einem konkreten Fall sehen. Es gibt ein schönes
Gespräch, das Goethe mit einem gewissen Falk geführt
hat bei Gelegenheit des Todes Wielands. Da hat er sich
über die Gebiete ausgesprochen, aus denen heraus eine
gewisse Erkenntnis über das beim Menschen geschöpft
werden soll, was über Geburt und Tod hinüberlebt, was
nicht hinfällig ist mit der sinnlichen Hülle, was
unsterblich ist gegenüber dem sterblichen Teil des
Menschen. Der unmittelbare Anlaß des Todes des von ihm so
geschätzten Wieland hatte Goethe dazu gedrängt, sich
gegenüber einem Menschen wie Falk, der ihm
Verständnis dafür entgegenbrachte, in
populärer Weise auszudrücken. Und was er da sagte,
ist höchst bezeichnend, wenn wir auf die Frage der
Bedeutung der Geisteswissenschaft für die Gegenwart
eingehen.
«... Sie wissen längst, daß Ideen, die eines
festen Fundamentes in der Sinneswelt entbehren, bei allem
ihrem übrigen Wert für mich keine Überzeugung
mit sich führen, weil ich der Natur gegenüber
wissen, nicht aber bloß vermuten und glauben
will. Was nun die persönliche Fortdauer unserer Seele nach
dem Tode betrifft, so ist es damit auf meinem Wege also
beschaffen: Sie steht keineswegs mit den vieljährigen
Beobachtungen, die ich über die Beschaffenheit
unserer und aller Wesen in der Natur angestellt, im
Widerspruch; im Gegenteil, sie geht sogar aus denselben mit
neuer Beweiskraft hervor. Wie viel aber, oder wie wenig von
dieser Persönlichkeit übrigens verdient,
daß es fortdauere, ist eine andere Frage und ein Punkt,
den wir Gott überlassen müssen. Vorläufig will
ich nur dies zuerst bemerken: Ich nehme verschiedene Klassen
und Rangordnungen der letzten Urbestandteile aller Wesen an,
gleichsam der Anfangspunkte aller Erscheinungen in der Natur,
die ich Seelen nennen möchte, weil von diesen
die Beseelung des Ganzen ausgeht, oder noch lieber
Monaden — lassen Sie uns immer diesen
Leibnizischen Ausdruck beibehalten! Die Einfachheit des
einfachsten Wesens auszudrücken, möchte es kaum einen
besseren geben. Nun sind einige von diesen Monaden oder
Anfangspunkten, wie uns die Erfahrung zeigt, so klein, so
geringfügig, daß sie sich höchstens nur zu einem
untergeordneten Dienst und Dasein eignen; andere dagegen sind
gar stark und gewaltig. Die letzten pflegen daher alles,
was sich ihnen naht, in ihren Kreis zu reißen und in ein
ihnen Angehöriges, das heißt in einen Leib, in
eine Pflanze, in ein Tier, oder noch höher hinauf, in
einen Stern zu verwandeln. Sie setzen dies solange fort, bis
die kleine oder große Welt, deren Intention geistig in
ihnen liegt, auch nach außen leiblich zum Vorschein kommt.
Nur die letzten möchte ich eigentlich Seelen nennen. Es
folgt hieraus, daß es Weltmonaden, Weltseelen, wie
Ameisenmonaden, Ameisenseelen gibt, und daß beide in
ihrem Ursprung, wo nicht völlig eins, doch im Urwesen
verwandt sind. Jede Sonne, jeder Planet trägt in sich eine
höhere Intention, einen höheren Auftrag, vermöge
dessen seine Entwickelungen ebenso regelmäßig
und nach demselben Gesetze wie die Entwickelungen eines
Rosenstockes durch Blatt, Stiel und Krone, zustande kommen
müssen. Mögen Sie dies eine Idee oder eine
Monade nennen, wie Sie wollen, ich habe auch nichts
dawider; genug, daß diese Intention unsichtbar und
früher, als die sichtbare Entwickelung aus ihr in der
Natur, vorhanden ist... »
In
gewissem Sinne spricht also Goethe in der damaligen Zeit von
dem, wovon wir in diesen Vorträgen hier öfter
sprechen werden: über Wieder Verkörperung der
Menschenseele. Und er macht die Bemerkung: nach allem,
was er sich selbst als Anschauung über die Menschenwelt,
Tierweit und so weiter gebildet habe, widerspräche
eine solche Anschauung nicht dem, was er als Wissenschaft da
aufgebaut habe.
Man
kann sich nun leicht überlegen, was ein solcher Ausspruch
im Munde Goethes besagt, wenn man sich darauf besinnt,
daß Goethe 1784 eine Entdeckung gemacht hatte, die allein
genügt haben würde, seinen Namen bis in die weitesten
Zeiten zu erhalten, selbst wenn er sonst gar nichts geleistet
hätte: die Entdeckung des sogenannten
Zwischenkieferknochens in der oberen Kinnlade des Menschen. Man
hat in der oberen Kinnlade des Menschen — wie bei den
Tieren auch — einen Zwischenknochen. Das leugnete man
gerade damals, als Goethe in die Naturwissenschaft hineinging.
Man suchte, wo es sich um die Unterscheidung von Mensch und
Tier handelte, nur nach äußeren unterscheidenden
Merkmalen und meinte, die Tiere hätten im Oberkiefer einen
Zwischenknochen, und der wäre beim Menschen nicht
vorhanden. Das unterscheide die menschliche von der
tierischen Organisation. Goethe wollte es nicht zugeben, konnte
es nicht glauben, daß in dieser untergeordneten
Beschaffenheit der Unterschied zwischen Mensch und Tier
anzugeben sei, und ging mit allen Mitteln daran, zu
zeigen, daß das, was man Zwischenkieferknochen
nennt, beim Menschen zwar schon kurz nach der Geburt verwachse,
aber doch in der Anlage vorhanden sei und nicht beim Menschen
fehle. Daß nicht in so etwas Äußerem der
Unterschied zwischen Mensch und Tier liege, war ihm wirklich
gelungen zu beweisen.
Von
diesem Ausgangspunkt aus hat Goethe auf allen Gebieten der
Naturwissenschaft sich umgetan und war also wohl bekannt mit
der wissenschaftlichen Denkweise seiner Zeit. Ja, er war seiner
Zeit so weit voraus, daß Darwinianer, welche Goethe im
Sinne Darwins umdeuten wollten, heute behaupten
können: Goethe wäre ein Vorläufer Darwins.
Obwohl Goethe so in der Wissenschaftlichkeit seiner Zeit
wurzelt und darüber hinausgeht, kann er trotzdem
sagen, was er sich als Ansicht über des Menschen
unsterbliches Teil gebildet habe, was anklingt an die
Wiederverkörperung, das sei durchaus mit seinen
Wissenschaftlichen Vorstellungen vereinbar. Und was
Goethe damals sagen konnte, könnte sich im Grunde genommen
jeder Mensch sagen. Auch andere Forscher, die sich in
wissenschaftlicher Weise die Erkenntnisbedürfnisse
für das Leben zu erringen suchten, waren in derselben
Lage. Charakteristisch dafür ist, daß man sich
auf Haeckelschem Boden auf eine große Tat Kants
beruft, auf die Begründung der mechanischen Weltanschauung
durch Kant, und auf die im Jahre 1775 geschriebene
«Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder
Versuch von der Verfassung und dem mechanischen
Ursprünge des ganzen Weltgebäudes» von
Kant hinweist. Sie brauchen sich nur das Reclamheft zu nehmen,
den Schluß sich anzuschauen und dann zu fragen: Wie
stellen sich die, welche auf dem Boden des bloßen
Haeckelismus stehen, zu Kant, wenn er von der Unsterblichkeit
der menschlichen Seele spricht, wo er über die großen
Geheimnisse der Menschenseele spricht, über die Aussicht,
die sich in der Bewohnbarkeit anderer Himmelskörper bietet
und in dem Weiterleben der menschlichen Seele auf andern
Planeten? Wie stellen sich solche Anhänger Haeckels zu der
Möglichkeit einer Wiederverkörperung des
Menschen, wie sie in dieser 1775 erschienenen Schrift
Kants auftaucht? Man beruft sich heute auf Dinge so, daß
man erstaunt sein müßte, wenn dieselben, die sich auf
Kant berufen, diese Dinge wirklich gelesen hätten!
Es
liegen die Dinge in der Gegenwart schon anders, als sie vor
einem oder anderthalb Jahrhunderten lagen. Es lag im
Zeitbedürfnis, daß man in einer gewissen Weise, die
mit Wissenschaft nichts zu tun haben wollte, über die
Dinge des geistigen Lebens sprach, weil man empfand, man
spricht da von etwas, was in keinem Widerspruch steht zu dem,
was von der Wissenschaft behauptet werden kann. Jeder,
der die Wissenschaft von der Wende des achtzehnten und
neunzehnten Jahrhunderts auf sich wirken läßt,
fühlt, wenn er nur durch die populären
Schilderungen Wissenschaftliches aufnimmt, daß er so
sprechen könnte wie Goethe: Die Überzeugungen, die
ich mir von einem geistigen Leben gebildet habe, seien sie auch
nur wie ein persönlicher Glaube, werden in keinem Punkte
dem widersprechen, was als Wissenschaft heute geboten wird.
Die
Dinge sind anders geworden und werden heute gegenüber der
Wissenschaft sehr schwierig. Man muß bedenken,
daß nach dem Tode Goethes die großen Entdeckungen von
Schleiden und Schwann über die Menschen- und Tierzelle
eingetreten sind, und daß sich da erst sinnenfällig
ein Elementar-Organismus dargeboten hat. Was braucht man zu
reden von einem «Leben auf andern
Himmelskörpern» und so weiter, wenn man sehen kann,
wie bei einem Tier oder einer Pflanze durch Zusammenwirken der
rein materiellen, sinnenfälligen Zellen die Körper
sich aufbauen!
Dann kamen die andern gewaltigen Errungenschaften. Wir brauchen
nur nachzudenken, was für einen Eindruck es auf das
menschliche Nachsinnen machen konnte, als Kirchhoff und Bunsen
die Spektralanalyse brachten, die des Menschen Blick erweiterte
über ferne Welten, und wo der Schluß gezogen werden
durfte, daß das materielle Dasein, das wir auf der
Erde finden, auch auf den fernsten Weltenkörpern dasselbe
ist, so daß von einer Einheit des Stoffes in dem ganzen
Weltendasein gesprochen werden durfte. Und jeder Tag vermehrt
heute das, was uns auf diesem Gebiet entgegentreten kann. Ich
könnte auf Hunderte und Hunderte von solchen Dingen
hinweisen, die umwälzend gewirkt haben — nicht auf
die Tatsachenwelt, sondern auf die Vorstellungsart der
Menschen, so daß die Überzeugung entstehen
mußte, daß man gegenüber dem, was die
naturwissenschaftliche Methode bietet, kein Recht habe anders
als so zu sprechen: Wartet ab, was die
naturwissenschaftliche Forschung euch zu sagen hat
über die Gründe des Lebens, über die Entstehung
des Geisteslebens aus der Gehirntätigkeit, und redet nicht
in phantastischer Art von einer geistigen Welt, welche dem
allen zugrunde liegen soll! — Das ist alles nur zu leicht
zu begreifen.
So
hat sich für die menschliche Überzeugungskraft der
Anblick des Naturwissenschaftlichen geändert. Goethe ist
in dieser Beziehung wirklich ein Vorgänger Darwins. Aber
trotzdem stieg er auf in Gemäßheit des Geistes seiner
Zeit von seinen naturwissenschaftlichen Forschungen, von der
Entwickelung der Lebewesen vom Unvollkommenen zum
Vollkommenen, zu einer rein geistigen Weltanschauung, die
durchaus das Übersinnliche, das Geistige hinter allem
Sinnlichen sucht. Die Menschen, welche in derselben Weise in
unserer Zeit vorgehen, glauben, daß die
naturwissenschaftlichen Resultate dazu drangen,
haltzumachen vor dem, was diese naturwissenschaftlichen
Resultate sein sollen, und daß alles, was Geistesgebiet
ist, wie hervorquillt aus dem sinnenfälligen
Hintergrunde. Heute konnte eben nicht in derselben Weise wie
vor einem Jahrhundert der Mensch sagen, was er durch seine
persönliche Glaubensüberzeugung weiß oder zu
wissen glaubt oder sich angeeignet hat über die
übersinnliche Welt, stehe nicht in Widerspruch zu den
naturwissenschaftlichen Ergebnissen, sondern es scheint,
daß es gar sehr in Widerspruch dazu stehen müsse. Und
nicht bloß diesem oder jenem ernsten, würdigen
Wahrheitsforscher und strebenden Menschen scheint es so.
Wenn das der Fall ist, so müssen wir sagen: Für
unsere Gegenwart ist diejenige Überzeugungskraft, sind die
Überzeugungsgründe, die herangebracht werden
konnten noch vor einem Jahrhundert oder auch noch später,
ohne daß sie mit den äußeren wissenschaftlichen
Resultaten in Widerspruch standen, nicht mehr unmittelbar
maßgebend. Es bedarf heute gewichtigerer Impulse, um das,
was über die übersinnliche Welt gesagt wird,
gegenüber den strengen wissenschaftlichen Resultaten der
Wissenschaft aufrechtzuerhalten. Was wir über die
geistige Welt zu glauben uns befugt halten, das müssen wir
imstande sein, in derselben Weise einzukleiden, in derselben
objektiven Weise zu gewinnen, wie die
naturwissenschaftlichen Resultate — nur auf anderem Boden
— gewonnen werden können. Nur von einer
Geisteswissenschaft, die mit derselben Logik, mit demselben
gesunden Wahrheitssinn arbeitet wie die Naturwissenschaft, wird
man empfinden können, daß sie sich neben die gewaltig
fortgeschrittene Naturwissenschaft stellen kann. Wenn man dies
bedenkt, begreift man, in welchem Sinne Geisteswissenschaft
heute für unsere Gegenwart eine Notwendigkeit
geworden ist. Man begreift auch, daß diese
Geisteswissenschaft einzig und allein den
Sehnsüchten, von denen gesprochen worden ist,
entgegenkommen kann. Und diese Sehnsüchte sind
deshalb vorhanden, weil unbewußt für viele
Menschenseelen wirkt, was eben charakterisiert worden ist
— gerade bei den besten Wahrheitssuchern und auf
einem Gebiet, wo man es sich gar nicht versieht wenn man
anführt, wie der menschliche Erkenntnisdrang hinausstrebt
aus dem, was immer auf wissenschaftlichem Gebiet früher zu
sagen war.
Gewiß scheint das mathematische Gebiet, das Gebiet der
Geometrie ein solches zu sein, auf welchem das, was man
gewinnt, in seiner Anwendung auf die sinnliche Welt
gesichert erscheint. Wer möchte sozusagen leichten
Herzens glauben, daß irgend jemand behaupten könne,
was die Welt über die Mathematik, über die Geometrie
zu sagen habe, könnte irgendwie erschüttert werden?
Und dennoch ist es charakteristisch, daß es im Verlaufe
des neunzehnten Jahrhunderts Geister gegeben hat, die
sich rein mathematisch, durch strenge mathematische
Untersuchungen dazu aufgeschwungen haben, Geometrien,
Mathematiken auszudenken, die nicht Geltung haben innerhalb
unserer sinnlichen Welt, sondern Geltung haben für ganz
andere Welten. Also denken wir: streng mathematisch denkende
Geister hat es gegeben, die empfanden, sie könnten
über das hinausgehen, was es bisher als Mathematik und
Geometrie über das Gebiet der Sinneswelt gegeben
hat, könnten eine Geometrie erfinden, die für
eine ganz andere Sinneswelt gilt! Und es gibt nicht eine,
sondern mehrere solcher Geometrien. Mathematisch Geschulte
wissen etwas über die Namen Riemann, Lobatschewski,
Bolyai. Wir wollen hier nicht näher darauf eingehen, denn
es kommt uns nur darauf an, daß aus dem menschlichen
Erkennen so etwas werden konnte. — Es gibt zum Beispiel
Geometrien, die nicht den Satz anerkennen: Die drei
Winkel eines Dreiecks betragen zusammen 180 Grad, sondern
für welche die Dreiecke eine ganz andere Eigenschaft
haben, so daß zum Beispiel die drei Winkel eines Dreiecks
stets kleiner sind als 180 Grad. Oder einen andern Fall:
Für unsere euklidische Geometrie kann man durch einen
Punkt zu einer gegebenen Linie nur eine Parallele ziehen.
Geometrien sind ausgedacht worden, wo man unendlich viele
Parallelen durch einen Punkt zu einer andern Linie ziehen kann.
Das heißt also: Geister hat es gegeben, die sich
gedrängt fanden, für andere Welten nicht
bloß zu schwärmen, sondern sogar Geometrien
für sie auszudenken! Das spricht gewaltig dafür,
daß selbst in Mathematikerköpfen eine Sehnsucht
waltete, darüber hinauszugehen, was in der unmittelbar uns
umgebenden Welt ist.
Nur
eines soll noch angeführt werden über die Tatsache,
daß unsere Zeit etwas braucht, was aus der
Geisteswissenschaft gewonnen werden kann. Es wird sich
uns zeigen, daß in der Tat der Mensch in bezug auf das,
was sein eigentliches geistig-seelisches Wesen ist, immer
wieder und wieder in erneuerten Leben auf unserer Erde selbst
erscheint. Daß das, was man Wiederverkörperung
nennt, auf geistig-seelischem Gebiete eine ähnliche
Tatsache ist wie die Entwickelungslehre oder Evolutionstheorie
auf einer untergeordneten Stufe für das Tierreich.
Daß also die menschliche Seele sich hindurchentwickelt
durch Verkörperungen, die sie während ferner
Vergangenheiten erlebt hat, und durch solche sich hindurchleben
wird, die sie in fernen zukünftigen Verkörperungen
erleben wird. Gewiß, gerade gegen solche Dinge wird sich
die Widerlegungskunst gar sehr in der Gegenwart noch
wenden. Aber man kann schon behaupten, daß die Gegenwart
ein tiefes Bedürfnis nach solchen Ergebnissen hat,
die zusammenhängen mit dem, wodurch sich der Mensch
orientieren kann über seine Bestimmung, seine ganze Lage
zur äußeren Welt.
Der
Mensch hat seit kurzer Zeit erst angefangen, sich richtig als
geschichtliches Wesen in die Weltentwickelung hineinzustellen.
Das ist durch die äußeren Bildungsmittel gekommen.
Denken Sie an den eingeschränkten Gesichtskreis der
Menschheit des vierzehnten, fünfzehnten
Jahrhunderts, bevor die Buchdruckerkunst die
Bildungsmittel verbreitet hat. Dadurch traten an das
menschliche Herz noch nicht Fragen heran wie die: Wie kann sich
unsere Seele befriedigt gegenüberstellen dem, was wir als
den geschichtlichen Fortschritt erkennen? Hier liegt der
Ursprung einer Frage, die für viele Menschen heute
schon eine Herzensfrage geworden ist. Der geschichtliche
Fortschritt zeigt uns, daß immer neue
Errungenschaften, die auch für die innere Entwickelung der
Seele selber Wert haben, daß neue und immer neue Tatsachen
eintreten in den Strom der fortschreitenden Menschheit. Da
muß sich der Mensch fragen: Wie verhält es sich nun
mit dem Menschen in seiner innersten Wesenheit selber? Waren
die Menschen der Vergangenheit dazu verurteilt, in einem
dumpfen Dasein ihr Leben erlebt zu haben und nicht Anteil
zu nehmen an Entwickelungsprodukten eines späteren
Fortschrittes? Wie ist denn der Anteil der menschlichen
Wesenheit an den aufeinanderfolgenden Entwickelungen des
Menschengeschlechtes?
Mag
das eine Frage sein, gegenüber der mancher Einwand
gemacht werden könnte hier soll nur davon die Rede sein,
daß in der Tat aus einem tiefen Gefühl der
Menschenseele die Frage, das Rätsel entsteht: Ist es denn
möglich, daß heute eine menschliche Seele lebt, die
dadurch, daß ihr Leben eingeschlossen ist zwischen
Geburt und Tod, nicht sich Errungenschaften einverleiben kann,
die erst in der Zukunft dem Strom der
Menschheitsentwickelung eingeprägt werden?
Diese Frage nimmt für die Bekenner des Christentums eine
grundlegende Bedeutung an. Wer auf dem Boden eines
geläuterten Christentums steht, unterscheidet in der
Entwickelung der Menschheit die vorchristliche Epoche von der
nachchristlichen und spricht davon, daß von dem
Christus-Ereignis ein Strom neuen geistigen Lebens
ausgegangen ist, der früher nicht für die
Erdenmenschheit da war. Da muß sich für einen solchen
Menschen besonders die Frage ergeben: Wie ist es mit den
Seelen, die vor dem Christus-Ereignis gelebt haben, vor der
Verkündigung dessen, was vom Christus-Ereignis
ausströmte?
Eine solche Frage kann der Mensch stellen. Die
Geisteswissenschaft beantwortet sie ihm nicht nur theoretisch,
sondern so, daß sie ihm auch befriedigend ist, indem sie
zeigt, daß dieselben Menschen, die in der Zeit vor dem
Christus-Ereignis Errungenschaften der vorchristlichen Zeit
aufgenommen haben, wiederverkörpert werden, nachdem der
Strom der christlichen Entwickelung seinen Anfang genommen hat,
so daß also keiner verlustig gehen kann dessen, was in der
Kultur eintritt. So wächst für die
Geisteswissenschaft aus der Geschichte etwas heraus, was
nicht bloß allgemeine abstrakte Ideen sind, die kalt und
abstrakt wie steife Kräfte den Menschheitsstrom
durchkraften sollen, sondern es spricht die
Geisteswissenschaft von der Geschichte als von etwas, an
dem der Mensch mit seinem innersten Wesen allüberall
beteiligt ist. Und da sich der menschliche Horizont durch die
modernen Bildungsmittel erweitert hat, wird diese Frage jetzt
in einem ganz anderen Sinne gestellt als etwa vor einem
Jahrhundert, wo der Gesichtskreis der Menschen
eingeschränkter war. Ein Verlangen nach Antwort 1st
vorhanden, das nur durch die Geisteswissenschaft gestillt
werden kann.
Wenn wir dies alles in Erwägung ziehen — und wir
konnten stundenlang so fortsprechen und vieles anführen,
was dafür spricht, daß die Geisteswissenschaft
deshalb eine Bedeutung hat für die Gegenwart, weil die
Gegenwart gar sehr nach ihren Resultaten verlangen muß
dann bekommen wir eine Vorstellung von der Bedeutung der
Geisteswissenschaft für die Gegenwart. Und alle
Vorträge, die im Laufe dieses Winters hier gehalten
werden, sollen nur dazu dienen, von den verschiedensten Seiten
Material zusammenzutragen, um zu zeigen die
geisteswissenschaftlichen Resultate und ihre Bedeutung für
das menschliche Leben, wie für die Befriedigung der
höchsten Bedürfnisse des Menschen überhaupt.
Nur
das sei zum Schluß noch gesagt: Einer der
gewöhnlichsten, allerdings nur von einem Schlagworte
hergenommenen Einwürfe gegen die Geisteswissenschaft
ist heute der, daß man sagt, so habe es die
Naturwissenschaft glücklich dahin gebracht aus einem
einheitlichen Prinzip, das gegeben ist durch die
naturwissenschaftlichen Methoden, monistisch die Welt zu
erklären. Und fast schon ist es zu einem Wort geworden,
das bei vielen von selbst Antipathien hervorruft,
daß jetzt die Geisteswissenschaft wieder komme und
einen Dualismus gegenüber diesem
erkenntnistheoretisch so segensreichen Monismus
aufstelle! Mit solchen Schlagworten wird ja viel
gesündigt. Ist denn das Prinzip, das Weltall einheitlich
zu erklären, schon dadurch durchbrochen, daß im
Weltall zwei Ströme zusammenwirken, von denen einer
von außen, der andere von innen in der Seele sich treffen?
Darf denn gar nicht vorausgesetzt werden, daß das,
was so von zwei Seiten an die Seele herandringt —
nämlich von der Sinneserfahrung auf der einen Seite und
von der geisteswissenschaftlichen Forschung auf der
anderen Seite —, dennoch in einem einheitlichen
Dasein begründet ist und sich nur für die
menschliche Auffassung zunächst in zwei
Strömungen zeigt? Muß der Monismus durchaus
oberflächlich genommen werden? Wenn das der Fall
wäre, daß das monistische Prinzip dadurch
durchbrochen würde, dann mag jemand nur gleich behaupten,
daß das monistische Prinzip auch durchbrochen ist, wenn er
zugesteht, daß Wasser aus Wasserstoff und Sauerstoff
besteht. Wasserstoff und Sauerstoff können dennoch
einen einheitlichen Ursprung haben, wenn sie sich auch
vereinigen in dem, was wir Wasser nennen. Ebenso können
sinnliche und übersinnliche Welt einen einheitlichen
Ursprung haben, wenn man auch durch die Tatsachen der
Naturwissenschaft und der Geisteswissenschaft gezwungen
ist zu sagen: In der Seele des Menschen vereinigen sich zwei
Ströme, von denen einer von der Sinnenseite, der andere
von der Geistesseite hereinkommt. Dann kann man zwar das
Einheitliche, das Monon, nicht sogleich aufzeigen, aber es
widerspricht darum nicht der Anschauung von einer monistischen
Welt. Was sich so von zwei Seiten zeigt, das erlangt erst dann
die Kraft der vollen Wirklichkeit, wenn wir es sich
zusammensetzend aus den zwei Strömungen erkennen. Wenden
wir den Blick in die Außenwelt, erblicken wir durch
die Einrichtung unserer Sinne und unseres Verstandes ein
Weltbild, welches uns nicht das zeigt, woraus es
herauswächst: den Geist. Wenn wir die Wege der
geisteswissenschaftlichen Forschung gehen und in der Seele den
Aufschwung durchleben, so finden wir den Geist. Und in der
Seele ist es, wo sich begegnen Geist und Stoff. In der
Zusammenfügung von Geist und Stoff innerhalb unserer Seele
liegt erst die wahre, geist- und stofferfüllte
Wirklichkeit!
So
darf vielleicht das jetzt Gesagte zusammengefaßt werden in
die Worte, die etwa in dichterischer Form dasselbe geben,
was dennoch alle, die sich unbefangen bemüht haben, eine
Anschauung zu gewinnen von Geist und Stoff, zu allen Zeiten
gefühlt haben. Geisteswissenschaft im
Verhältnis zur Naturwissenschaft lehrt uns erkennen,
daß es wahr ist:
Es drängt sich an den Menschensinn
Aus Weltentiefen rätselvoll
Des Stoffes reiche Fülle.
Es strömt in Seelengründe
Aus Weltenhöhen inhaltvoll
Des Geistes klärend Wort.
Sie treffen sich im Menscheninnern
Zu weisheitvoller Wirklichkeit.
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