GEIST UND STOFF, LEBEN UND TOD
Berlin, 15. Februar 1917
Der
Untertitel des heutigen Vortrages bezieht sich
hauptsächlich auf die Wahl seines Gegenstandes. In einer
Zeit, in der wir von solchem Ernst umgeben sind, in einer Zeit,
die so vieles von dem, was die Zukunft der Menschheit bringen
muß, in ihrem Schöße trägt, schien mir das
Richtige zu sein, die Vortragsreihe dieses Winters damit zu
beginnen, die Betrachtung hinzulenken auf große Fragen der
menschlichen Seele, ihres Wesens, ihres Schicksals, auf
diejenigen Quellen in der menschlichen Seele, wo ihre
stärksten inneren Kräfte liegen. Und das, was dem
heutigen Vortrage zugrunde gelegt werden soll: eine Betrachtung
im geisteswissenschaftlichen Sinne über Geist und Stoff,
Leben und Tod — gehört zweifellos zu dem, wovon
schon der große griechische Philosoph Plato sagte,
daß ohne seine Erforschung das Leben für den Menschen
eigentlich nicht wertvoll sei.
Ich
möchte ausgehen davon, Ihren Blick zunächst zu lenken
auf einige Geister, die im Laufe des 19. Jahrhunderts und bis
in unsere Zeit herein nach einer Lösung gerade derjenigen
Rätsel, die uns heute beschäftigen sollen, gerungen
haben aus der ganzen naturwissenschaftlichen Erkenntnis des 19.
Jahrhunderts heraus, die gerungen haben aus alledem, was das
tiefste Denken der neueren Zeit der Seele als Stütze gab,
um zu einer Anschauung zu kommen über das Verhältnis,
in dem der Mensch als Geist zum Stoffe steht, über das
Verhältnis, in dem der Mensch steht als der im physischen
Leben Seiende zu dem Rätsel des Todes. Denn Fragen wie die
nach Stoff und Geist, sie haben zu allen Zeiten je nach den
entsprechenden Erkenntnissen dieser Zeiten die Menschen in der
verschiedensten Weise berührt. Und man kommt eigentlich
solchen Fragen nicht nahe, wenn man nur im allgemeinen
über sie redet, sondern nur, wenn man den Geistesblick
wirft auf die ringende Menschenseele. Denn dann tritt einem
erst so recht vor die Seele die Bedeutung, die die Erforschung
dieser Dinge für das unmittelbare Leben des Tages,
für das ganze tiefere Schicksal des Menschen hat. Und da
möchte ich denn zunächst Ihren Blick lenken auf einen
Geist, der, obwohl er bereits in den achtziger Jahren
verstorben ist, in seiner Anschauungsweise und in seinem Ringen
noch unmittelbar wie aus unserer Gegenwart heraus spricht,
einen Geist, der durch die eigentümliche Artung seiner
Seele in intensivster Weise zu den in Rede stehenden Fragen
getrieben worden ist, indem sein Denken geradezu ein Ringen war
mit dem, was die so bewundernswürdige Naturwissenschaft
über die stofflichen Vorgänge zu sagen hat, ein
Ringen im Hinblick darauf, wie der Geist, in dem der Mensch als
Seele sich verankert weiß, sich in ein Verhältnis zu
setzen hat zu dem, was ihn als stoffliche Vorgänge umgibt.
Ihren Blick möchte ich lenken auf Gustav Theodor
Techner, der im Grunde die ganze Bildung des 19.
Jahrhunderts in seiner empfänglichen Seele mit
durchgerungen hat; der bis in die achtziger Jahre in Leipzig
Professor war; der mitgearbeitet hat an den Erkenntnisfragen
des 19. Jahrhunderts in der umfassendsten Weise. Doch soll das
uns heute nicht beschäftigen. Beschäftigen soll uns
vielmehr eine Situation seines Lebens, die er selbst in einer
wunderbar zarten Weise gleich im Anfang desjenigen Buches
schildert, das so manche Tiefen des Strebens der neueren Zeit
enthält-über die Tages- und Nachtansicht der
menschliehen Weltanschauung. Er schildert, wie er, da seine
Augen bereits an Sehkraft abgenommen hatten, sich eines Tages,
um sich zu erholen, auf eine Bank hinsetzte im Rosental in
Leipzig, wie er vor sich hatte einen Heckenzaun, der ein Loch,
einen Ausschnitt hatte, durch den er gerade auf eine Wiese
sehen konnte. Er konnte das Grün der Wiese sehen —
so erzählt er —, und sein Auge, sein schwaches Auge
erlabte sich an dem Grün der Wiese. Er konnte die
mancherlei bunten Blumen sehen, hervorragend aus dem Grün,
die Schmetterlinge in allen Farben, die sich über dem
Grün und der Blumenpracht tummelten: er konnte ein
Morgenkonzert hören. Und er, der sinnige Gelehrte, konnte
nicht umhin, die Gedanken spielen zu lassen innerhalb dieser
Wahrnehmungen, Gedanken, die befruchtet waren aus der
ganzen naturwissenschaftlichen Bildung seiner Zeit.
Nun
muß man, um zu den bezeichnenden Gedanken dieses sinnigen
Geistes den Zugang zu gewinnen, ein wenig sich vor Augen treten
lassen, was aus dem naturwissenschaftlichen Denken der Zeit
heraus Gustav Theodor Fech-ner besonders nahelag, was ihn auf
besondere Art dazu gebracht hatte, gerade in einer solchen
Lebenslage mit dem Rätsel des Stoffes innerlich-seelisch
zu ringen. Ich habe ja öfter aufmerksam gemacht auf
diejenige Weltanschauungs-Richtung des 19. Jahrhunderts, die
ich in meinem Buche «Die Rätsel der Philosophie»
als die Weltanschauung des Illusionismus bezeichnet habe. Ich
habe darauf aufmerksam gemacht, wie gewisse Erwägungen der
Physiologie, der Erkenntnistheorie, gewisse Arten, sich zu den
naturwissenschaftlichen Erscheinungen zu stellen, gerade die
hervorragendsten Denker des 19. Jahrhunderts dazu gebracht
haben, sich zu sagen: Dasjenige, was der Mensch als die
Farbenwelt, die ihn umgibt, als die Töne, die ihn umgeben,
wahrnimmt, das ist eigentlich nicht in der Außenwelt. In
der Außenwelt sind schwingende, sich bewegende, in einer
gewissen Weise zueinander im Verhältnis stehende Atome,
Moleküle, rein räumliche Wesenheiten, die in der Zeit
sich bewegen. So daß ja schon Schopenhauer und andere dazu
kamen, zu sagen: Die farbenbunte Welt um uns herum, die
tönende Welt um uns herum, sie ist eigentlich nur so lange
da, als ein menschliches Auge sich öffnen kann, sie
wahrzunehmen, ein menschliches Ohr sie hören kann. An
sich, wenn dieser Außenwelt nicht gegenübersteht ein
menschliches Auge, ein menschliches Ohr, ist diese
Außenwelt finster und stumm, Bewegung finster-farbloser,
lichtloser, tonloser Wesenheiten. Man war, ich möchte
sagen, dazu gekommen, hereinzunehmen in das menschliche Ich, in
die menschliche Seele alles das, was den Menschen erfreut, was
ihn erhebt, was ihn umgibt in der Welt um ihn herum, und dieser
Welt draußen nur die stumme und finstere Ursache des
reinen Stoffes zu lassen. Ein solcher Geist wie Fechner nimmt
eine solche Anschauung nicht bloß auf wie eine Theorie,
sondern er nimmt sie auf im Hinblicke auf die Frage: Wie
läßt sich mit einer solchen Anschauung leben? Wie
vermag die Seele sich, wenn sie sich auf eine solche Anschauung
stellen muß, in ein Verhältnis zur Welt zu bringen?
— Und deshalb sagte sich Fechner in der Lage, in der er
da war wahrend seines Erholungssitzens auf der Bank am
Heckenzaun: Da schaue ich durch diese Öffnung im
Heckenzaun. Ich glaube das Grün der Wiese, die
buntspielenden Farben der Schmetterlinge wahrzunehmen. Das
alles aber lügt mir nur der farblose, lichtlose Stoff vor.
Ich glaube die Töne des Morgenkonzertes zu hören; sie
sind nicht draußen, sie ertönen erst, wenn die
Schwingungen der Luft, die von den Instrumenten, den Geigen und
Flöten hervorgerufen werden, auf mein Ohr wirken. Da
draußen ist alles tonlos, alles finster und stumm. Und in
Wahrheit müßte man sich bewußt sein, daß
man, indem man hinausblickt in die Welt des Stoffes, in eine
tonlose, in eine finstere Welt blickt. — Diese Ansicht
von der Welt des Stoffes nannte Fechner die
«Nachtansicht». Und er wies wiederholt darauf hin,
daß alles dasjenige, was die durchaus nicht anzufechtende,
sondern bewundernswerte Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts
zutage gefördert hat, mit Notwendigkeit zu dieser
Nachtansicht geführt hat. Und dieser feinsinnige Geist
wußte sich keineswegs alleinstehend in der Anschauung:
«Wenn du da hinaussiehst, so siehst du in ewige Nacht
hinaus!», sondern er sagte — und ich möchte
Ihnen da seine eigenen Worte vorlesen:
«Sind es doch die Gedanken der ganzen denkenden Welt um
mich.»
«Wie sehr und um was sie zanken mag, darin reichen sich
Philosophen und Physiker, Materialisten und Idealisten,
Darwinianer und Antidarwinianer, Orthodoxe und Rationalisten
die Hände. Es ist nicht ein Baustein, sondern ein
Grundstein der heutigen Weltansicht...»
Und
nun sagt sich Fechner weiter: Also erst wenn an den
Eiweißknäuel — so drückt er sich aus
— des menschlichen Gehirns dieser stumme, finstere Stoff
heranschlägt, dann entwickelt sich durch das, was im
Gehirn sich abspielt, die farbenbunte, prächtige Welt;
dann entwickelt sich erst die «Tagesansicht», die
aber unter dem Einfluß dieser Voraussetzungen im Grunde zu
einer großen Illusion für die Menschheit wird.
Fechner fand durchaus niemals, daß man, weil sie zu dieser
Nachtansicht als einem Durchgangspunkte des
Weltanschauungsstrebens geführt hat, die
naturwissenschaftliche Entwicklung bekämpfen müsse.
Er, der selber ein feinsinniger Naturforscher war,
unterschätzte gewiß die Bedeutung der
naturwissenschaftlichen Erkenntnisse nicht, aber er richtete
den geistigen Blick auf eine Menschheits-Zukunft, die er, wie
man glauben darf, in naher Ferne vermutete, und von der er
meinte, daß jene Nachtansicht wiederum weichen und eine
andere, vergeistigte Anschauung an ihre Stelle treten
müsse, die in der Lage sei, nicht in so abfälliger
Weise dem zu widersprechen, was der gesunde Menschenverstand
annimmt, sondern die aufbaut auf alledem, was uns in der
zunächst von dem naiven Menschen «wirklich»
genannten Welt umgibt, aber aufsteigt von dem zu einer Welt, in
der sich die Seele als Geist wissen muß, wenn sie
sich nicht selber in eine wesenlose Hingabe an den Stoff
verlieren will. Und so sagt Fechner, aufblickend von dieser
Gegenwart in eine Zukunft, die er vorausahnt:
«In der Tat ist mein Glaube, daß, so sicher als auf
die Nacht der Tag, auf jene Nachtansicht der Welt dereinst eine
Tagesansicht folgen wird, die, statt sich in Widerspruch mit
der natürlichen Ansicht der Dinge zu stellen, vielmehr
damit unterbauen, und darin den Grund zu einer neuen
Entwicklung finden wird. Denn, schwindet jene Illusion, welche
den Tag in Nacht verkehrt, so wird natürlicherweise alles
Verkehrte, was damit zusammenhängt, und es ist viel, mit
schwinden müssen, und die Welt in neuem Zusammenhange, in
neuem Lichte, unter neuen positiven Gesichtspunkten
erscheinen.»
Fechner hat dann selber versucht, aus der Welt, auf die, wie er
meint, die Tagesansicht gerichtet ist, aufzusteigen zu einer
Welt, in der sich die Seele als Geist erkennen kann. Aber man
muß sagen, insbesondere wenn man die Voraussetzungen der
Geisteswissenschaft zu den seinigen macht, daß ihm nicht
mehr gelungen ist, als aus den Begriffen und Vorstellungen
heraus, die er sich über die gewöhnliche Welt und aus
der gewöhnlichen Wissenschaft machte, zu gewissen, man
möchte sagen, Vermutungen, vermutungsweisen Ideen und
Vorstellungen über eine geistige Welt zu kommen.
Wenn man gelehrt sprechen möchte, so könnte man
sagen: Er versuchte, sich die geistige Welt nach Analogien zu
denken. Die Erde mit ihrer Lufthülle wurde ihm zu einem
großen Organismus; das Laufen der Sonnenstrahlen wurde ihm
zu einem Analogon für die Nerven Wirkungen; das ganze
Sternensystem der Sonne wurde ihm wiederum ein großer
Organismus, der ebenso wie der menschliche Organismus Seele in
sich hat. Aber alle diese Vorstellungen über eine geistige
Welt baut sich Fechner auf den Vorstellungen des Alltags, den
Vorstellungen der auf die äußere stoffliche Welt
gerichteten Wissenschaft auf. Man kann sagen: Nur sein dem
Geistigen zugewandtes Grundgefühl der Seele zwang ihn,
derlei Annahmen zu machen, nicht stehenzubleiben bei der Welt
des Stoffes, sondern sich zu erheben zu einer von ihm
hypothetisch konstruierten geistigen Welt. Wenn man sich nun
fragt: Auf welchem Punkte stand dieser sinnige Geist, der in
seiner eigenen Entwicklung die Entwickelung der geistigen
Bildung des 19. Jahrhunderts in besonderer Art
widerspiegelte?, so kann man sagen: Er stand gerade am
Ausgangspunkte zu dem, was für ihn vermutungsweise, nun
aber, nachdem wiederum eine Reihe von Jahren seit seinem Wirken
verflossen ist, mit größerer Gewißheit gerade
aus der naturwissenschaftlichen Weltauffassung hervorgehen
kann, er stand vor dem Tore desjenigen, was hier als
Geisteswissenschaft gemeint ist. — Diese
Geisteswissenschaft muß ausgehen von dem, bis zu dem die
äußere, auf den Stoff gerichtete Wissenschaft in der
Regel kommt. Von dem Punkte muß sie ausgehen, diese
Geisteswissenschaft, bis zum dem auch das gewöhnliche
alltägliche Leben vordringt. Diese Wissenschaft und dieses
Leben dringen vor bis zu den Vorstellungen, Begriffen und
Ideen, die sich der Mensch über die Außenwelt machen
kann. Festgehalten, wenigstens wie festgehalten wurde Fechner
an dem tonlosen und finsteren Stoffe, der sich ihm in der
Vorstellung aufgedrängt hatte; festgehalten an dieser
Nacht-ansicht, aber hinstrebend zur Tagesansicht. Diese
Tages-ansicht aber, sie kann nicht gewonnen werden, wenn nicht
gerade scharf ins Seelenauge gefaßt wird, wohin die
äußere Wissenschaft, das gewöhnliche Leben des
Tages kommt wie zu einem Schlußpunkte — wenn nicht
scharf ins Auge gefaßt wird das, was man das menschliche
Denken und das menschliche Vorstellen nennt. Gerade dort, wo
die gewöhnliche Wissenschaft aufhört, muß
Geisteswissenschaft ihren Anfang nehmen. Daher muß sie
sich auseinandersetzen mit der Frage: Was ist denn eigentlich
seinem Wesen nach dieses Denken, das in uns lebt, das uns
treibt, uns über alle Erscheinungen, über alle
Eindrücke der äußeren Welt, seien es freudvolle
oder leidvolle, seien es mehr oder weniger gleichgültige,
oder die großen Schicksalsfragen enthaltend, Vorstellungen
zu machen?
Man
kommt zu einer Beantwortung dieser Frage nur, wenn man in jener
Ruhe, welche dem heutigen wissenschaftlichen Leben so oftmals
nicht gegeben ist, und in der inneren Kraft der geistigen
Entfaltung des Seelenlebens versucht, sich dem Denken
gegenüberzustellen. Dann kommt man zu jener Anschauung
dieses Denkens, die da sagt: Dieses Denken selber, in dem sich
geistig die äußere Welt spiegelt, ist nicht mehr
irgend etwas, das an den Stoff gebunden ist.
Ich
weiß: indem dieser Satz ausgesprochen wird,
stößt er sogleich an unzählige Vorurteile
unserer Zeit. Ich würde viele Stunden brauchen, wenn ich
alle Einzelheiten hier anführen wollte, welche es
völlig erhärten, daß, indem wir denken, wir
nicht mehr weben im Stoffe, sondern uns bereits mit unserer
Seele herausgehoben haben aus dem stofflichen Wirken, in dem
die Seele ja dadurch steht, daß sie für ihre
alltägliche Betätigung den physischen Leib als ihr
Werkzeug zu benützen hat. Es gehört zu den
schwerwiegendsten Vorurteilen der neueren Weltanschauung,
daß man die geistige Natur des Denkens selbst nicht
erkennt, indem man dieses Denken geistig ins Auge faßt.
Wer nicht nur in flüchtigem Rückblick auf den
Erkenntnisakt, auf das Denken hinschaut, sondern sich in die
Lage versetzt, gewissermaßen von dem Denkakt
zurückzutreten, aber so, daß das Denken, das er im
Erkennen pflegt, wie eine Art Erinnerungsvorstellung so,
daß sie genau beobachtet werden kann, vor der Seele steht;
wer also nicht verharrt im Denken, wo man es nicht erkennen
kann, sondern wer gewissermaßen vom Denken
zurücktritt, der erkennt, daß er, indem er denkt, so
in diesem Denken lebt, wie-um diesen Vergleich, den ich hier
schon öfter brauchte, noch einmal zu brauchen— man
in sich lebt, wenn man vor einer Spiegelfläche steht. Die
spiegelnde Fläche gibt einem ein Bild des eigenen Wesens
zurück, man weiß aber ganz genau: Dieses eigene Wesen
ist nicht im Spiegel drinnen, der Spiegel ist nur die;
Veranlassung, daß es mir zurückgeworfen wird. Indem
ich mich spiegele, erfühle ich mein Wesen, und ich
weiß, daß das Bild meines Wesens nur
zurückgespiegelt wird. Ich würde dieses Bild nicht
wahrnehmen, wenn der Spiegel nicht da wäre. Aber ich
weiß, der Spiegel hat nichts zu tun mit diesem meinem
Wesen, als daß er mir mein Bild zurückwirft.
Eine genaue, vorurteilslose Betrachtung des Denkens zeigt,
daß dieses Denken so zu dem Gehirn als dem Leibeswerkzeug
steht, daß dieses Gehirn, dieses Leibeswerkzeug, wie der
Spiegel ist; allerdings nicht wie ein toter Spiegel, sondern
wie ein lebendiger Spiegel, wie wir gleich hören werden.
Denn dasjenige, was als Denken lebt und webt, vollzieht sich
nicht da drinnen durch die Vorgänge des Spiegeins, sondern
es vollzieht sich in dem seelischen Eigenwesen außerhalb
des Leibes, und der Leib ist nur die Gelegenheit, daß mir
das zum Bewußtsein kommen kann, was mir sonst nicht als
Bild des Denkens zum Bewußtsein kommen würde. Und
eine unbefangene Betrachtung dieses Denkens zeigt, daß der
Mensch sehr in die Irre geht, wenn er dieses Denken selber als
ein Produkt irgendwelcher Vorgänge im Leibe auffaßt.
Auf diesen Irrtum soll hier zunächst durch einen Vergleich
aufmerksam gemacht werden.
Wenn wir über einen Weg schreiten, der, sagen wir,
erweichten Boden hat, so bleiben die Spuren unserer Tritte in
diesem Boden zurück. Wir könnten nicht gehen, wenn
der Boden uns nicht seinen Widerstand entgegensetzte, wenn wir
nicht auf ihn treten könnten. Wir prägen dem Boden
die Spuren unseres Gehens ein. Aber es wäre unsinnig zu
glauben für den, der da hinterherkommt, daß die
Trittspuren, die sich da eingeprägt haben in den Boden,
durch Kräfte in der Erde selbst bewirkt worden wären.
Nur derjenige weiß Bescheid über die Sache, der
weiß: Es ist ein Wesen, das nichts mit der Erde zu tun
hat, über die Erde hingeschritten, aber all das, was
dieses Wesen vollbracht hat, drückt sich in der Erde
ab.
So
ungefähr stellt sich für den Betrachter, der sich
erheben kann in die Selbstwahrnehmung des Denkens, das
Verhältnis des Denkens in der Seele zu dem Nervenapparat
dar. Der Nervenapparat muß da sein; die ganze
Leibesorganisation muß da sein; die Seele könnte das
Denken hier im Leben zwischen Geburt und Tod nicht entfalten,
gerade so wenig, wie wir über einen Abgrund schreiten
könnten, ohne einen Boden zu haben unter den
Füßen. Die Seele würde dieses Weben im Gedanken
nicht wahrnehmen, wenn ihr nicht gegenüberstände wie
ein Boden dasjenige, worin sie einprägt, einwebt, was in
ihr seelisch-geistig lebt. Dann kann der Physiologe, der
Biologe kommen und kann nachforschen, wie alles dasjenige, was
die Seele gewoben, was sie geprägt hat, was Vorgänge
in ihr sind, wie das auch sich abprägt, abbildet in den
Leibeswerkzeugen; dann kann er für alles Einzelne die
richtige Anschauung entwickeln: daß alles das, was in der
Seele lebt, nachweisbar ist im menschlichen Gehirn, im
menschlichen Nervenapparat. Aber in die Irre würde man
gehen, wenn man alles das, was im Denken lebt und webt, so
erklären würde, als ob es gleichsam aufschießen
würde aus den inneren Vorgängen des Gehirns, des
Nervenapparates.
Die
Wahrheiten, die ich also entwickele, können nicht im
gewöhnlichen Sinne, wie man das heute will, durch eine
leichtgeschürzte Logik belegt werden. Sie können
sogar sehr leicht durch eine solche leichtgeschürzte Logik
angegriffen, kritisiert werden. Aber derjenige, welcher sich
hingibt den Methoden, die hier öfter geschildert worden
sind als die Methoden der Geistesforschung, das heißt
derjenige, der sich herbeiläßt, in seiner Seele
völlig ruhig zu werden, so daß er dieses
Zurücktreten vom Denken wirklich erleben kann, der kommt
genau so, wie der Wissenschaftler der äußeren Welt zu
seinen Ergebnissen kommt, durch die Betrachtung der Seele, die
also auf das Weben und Wesen des Denkens gerichtet ist, zu
diesen Wahrheiten als unmittelbar in der Erfahrung gegebenen.
Diese Wahrheiten müssen erfahren, müssen erlebt
werden, aber sie können erlebt werden dadurch, daß
der Geistesforscher eben erst diejenigen inneren Methoden des
Forschens entwickelt, die ich hier öfter dargestellt habe,
die Sie auch dargestellt finden können in meinem Buche
«Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren
Welten?» und in meiner «Geheimwissenschaft im
Umriß» und nunmehr im Verhältnis zu der
äußeren Wissenschaft in meinem letzten Buche
«Vom Menschenrätsel». Wenn der Geistesforscher
also dahin gelangt ist, die geistige Natur des Denkens wirklich
zu durchschauen, dann kann er auch aufsteigen zu weiteren
Stufen des Erforschens der geistigen Welt. Denn dann kann er
dasjenige, was sonst im Denken lebt und nicht erkannt wird,
weiter ausbilden, so daß er sich gewissermaßen durch
Entfaltung eines besonderen Innenlebens, das in jenen
Büchern geschildert ist, ergeht in dem Denken, das
unabhängig lebt von der physischen Welt. Es ist ein
weiteres Ausbilden jener Unabhängigkeit des Denkens,
welche man in seiner Wesenheit erkennen kann. Es ist
gewissermaßen ein Hinnehmen desjenigen, was uns die Welt
als erstes wirklich Geistiges gibt: des Denkens wie eine
Grundlage, wie eine Wurzel, aus der man nun herauswachsen
läßt all dasjenige, was durch weitere Meditation und
Konzentration des Denkens, durch weitere in jenen Büchern
geschilderte Methoden der Geistesforschung entwickelt werden
kann. Dadurch aber, daß man nun nicht bloß das Denken
anschaut als etwas, das uns gewissermaßen vom Stoffe
losreißt, das unserer stofflichen Welt als unabhängig
Geistiges gegenübersteht, sondern es weiterbildet in
innerer Seelenarbeit, dadurch kommt man dazu, nun in einem
intensiveren Sinne dasjenige zu erleben, was geradenwegs
genannt werden kann das Leben im geistigen Menschen,
unabhängig vom materiellen Menschen, das
Sichlosreißen von alledem, was der Mensch als
physisch-stoffliches Wesen ist. Dieses Heraustreten des
Geistig-Seelischen aus dem physischen Leibe, das wird zur
Wirklichkeit, indem der Mensch in der angedeuteten Weise das
Denken weiter ausbildet.
Und
dann kommt der Mensch dazu, nunmehr auch dasjenige für
seine Erkenntnis — nicht für das Leben — in
die Nacht hinuntersinken zu sehen, was Fechner die Tagesansicht
nennt. Dadurch, daß der Mensch sich ganz einlebt
innerlich-seelisch in das Leben und Weben des reinen
sinnlichkeitsfreien Gedankens, verschwindet wirklich die
äußere Welt der stofflichen Wirkungen, die uns
zunächst umgibt. Dafür aber ist der Geistesblick des
Menschen auf dessen eigene Wesenheit gerichtet, und der Mensch
hat sich, während er sich sonst immer als Subjekt
weiß, als das, in dem er lebt, nunmehr vor sich; er wird
— wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf — sich
selber Objekt, er tritt von sich zurück. Indem ich dieses
ausspreche, darf ich hinweisen auf einen zweiten Geist des 19.
Jahrhunderts, der, weil er nicht nur ein theoretisierender,
sondern ein empfindender Denker und Wissenschaftler war,
empfunden hat die eigentümliche Art des Denkens, und den
dieses Denken dadurch getrieben hat, wirklich zu erfassen die
stoff-freie Wesenheit dieses eigenen Denkens. Ich weise da
Ihren Blick hin auf den ja weniger bekannten, aber wirklich,
ich möchte sagen, die ganze Kraft des deutschen Denkens im
19. Jahrhundert in sich tragenden Karl Rosenkranz, der
bis in die siebziger Jahre der Nachfolger, der spätere
Nachfolger Kants auf dem Lehrstuhl der Philosophie in
Königsberg war. Kants und Hegels Schüler war Karl
Rosenkranz, aber ein Schüler, der in seinem ebenfalls
sinnigen Geiste Erkenntnisfragen wirklich zu Lebensfragen, zu
Schicksalsfragen zu machen wußte, und der es dahin
gebracht hat, sich zu sagen: Du mußt in deinem Denken
einen Punkt erreichen, wo du unabhängig bist von all der
äußeren sinnlichen Welt, zu der du ja denkend erst
den Zugang gewinnen willst. Und da kam Karl Rosenkranz der
Gedanke eben des von der Außenwelt, von der Stoffeswelt
unabhängigen Denkens. Und an der Art und Weise, wie Karl
Rosenkranz über das Denken spricht, wenn es sich
unabhängig weiß von der äußeren Welt, die
sonst im Leben den Menschen hegt und trägt und
stützt, aus dieser Art und Weise, wie Karl Rosenkranz von
diesem Denken spricht, da sieht man, wie er gefühlt hat,
was es heißt, einen Übergang zu machen aus der
äußeren physischen Stoffeswelt zur geistigen Welt,
was es heißt, deshalb, damit man erkennt, was der Geist
ist, einmal wirklich abzusehen von all dem, was uns stofflich
als Welt umgibt, und sich zurückzuziehen auf den reinen
Gedanken von der Welt. Da findet sich dieser Gedanke, wenn er
nicht jene Entwickelung durchmachen kann, die ich eben
angedeutet habe, zunächst in seiner furchtbaren Leerheit.
Denn im gewöhnlichen Leben sind wir gewöhnt, unsere
Gedanken auf die Außendinge zu richten, die
Außendinge, die durch die Sinne auf uns wirken, in unseren
Gedanken abzubilden. Lassen wir nun die Außenwelt
unberücksichtigt, wie das Karl Rosenkranz wollte, und
ziehen wir uns dann in das Denken zurück, ohne daß
wir auf Grund der Erkenntnis, daß dieses Denken leibfrei
ist, es weiter entwickeln und aufsteigen zu einem Heraustreten
aus dem Leibe, dann bleibt das Denken leer. Die
äußere Welt ist aus ihm herausgeworfen; das Denken
selber ist leer. Es hegt der Mensch einen Gedanken, der
gleichsam in völliger Einsamkeit in seiner Seele nistet,
als wenn die Welt nicht wäre. Von diesem Gedanken
theoretisch zu sprechen, ist verhältnismäßig
bedeutungslos. Aber für einen Erkenner, der das Erkennen
als ein großes Lebensrätsel nimmt, als ein
Lebensschicksal, ist dieser Gedanke nicht unbeträchtlich.
Er wird zur inneren Qual der Seele, zum Fühlen der
Einsamkeit, zum Fühlen der Verlassenheit der Seele
gegenüber der äußeren Welt. Und Karl Rosenkranz
spricht dieses Gefühl eines echten, nach lebendigem
Erkennen trachtenden Denkers mit folgenden, ich möchte
sagen, zu Herzen gehenden Worten aus: «Die
zerschmetterndste Vorstellung, die ich kaum auszudenken wage,
und kaum auszudrücken vermag, ist die, daß
überhaupt etwas ist. Es gähnt mich aus diesem
Gedanken der absolute, der gestaltenleere Abgrund der Welt
an.
Es
wispert mir zu, wie der Verrat des Gottes. Es ergreift mich ein
Bangen, wie in meiner Kindheit, wenn ich die Offenbarung
Johannis las und Himmel und Erde darin zusammenbrachen. Da um
mich herum dehnt sich die Welt in aller Breite, mit allem Trotz
sinnlicher Virtualität» — das heißt
Kräftewirkung — «und scheint meiner Vorstellung
zu spotten. Sie zwingt mich in ihre Kreise, zwingt mich, ihren
Ordnungen zu gehorchen, lacht meines Gedankens ihres Nichts als
eines Hirngespinstes. Und doch ist dieser Gedanke, dieser
widersinnig scheinende Gedanke, was nun sein würde, wenn
diese Welt nicht wäre, ein Riese, der mit dem ganzen
empirischen Dasein spielt.»
So
fühlt wie vor einem Abgrund sich der Denker, der sozusagen
vor dem Tore der Geisteswissenschaft steht, das heißt
gerade hingelangt bis zu dem Gedanken, der die Sinnenwelt
abgeworfen hat, aber vor dem Tore stehen bleibt und nicht
eintritt in die Stätte der Geisteswissenschaft, wo der
Gedanke nun wie eine Wurzel behandelt wird, aus der heraus
durch die Entwicklung geistesforscherischer Methoden die ganze
Pflanze jener Erkenntniskräfte entwickelt wird, die nun
hineinschauen können in die geistige Welt. Man muß,
um die Bedeutung der Geisteswissenschaft für das heutige
Leben einzusehen, an solche Denker sich erinnern, die den
Eingang in die Geisteswissenschaft noch nicht finden konnten,
aber gerade aus dem naturwissenschaftlichen Zeitalter heraus
empfanden, was in der Seele vorgeht, wenn sie sich
aufschließen will die Pforte, wenn sie anlangt bei dem
Denken, das für das äußere Leben und für
die äußere Wissenschaft ein Schlußpunkt ist, das
aber der Anfangs- und Ausgangspunkt ist für das wirkliche
Erkennen der geistigen Welt.
Und
zu diesen Denkern — ich wähle als Beispiele für
die Vorläufer der Geisteswissenschaft, die ich hier meine,
solche Denker aus, welche nicht abstrakte Theoretiker waren,
sondern denen das Streben nach der Erforschung der Rätsel
des menschlichen Lebens tiefe Schicksalsangelegenheit ihrer
Seele war — zähle ich auch Gideon Spicker,
der so lange an der Hochschule in Münster Philosophie
gelehrt hat, und der schon durch den Verlauf seines
äußeren Lebens zeigte, wie ihm die Erkenntnis ein
Lebensschicksal, eine Lebensangelegenheit war. Mit einer
inbrünstigen Seele, die nach dem Erleben des Geistes
trachtete, war Gideon Spicker — er beschrieb das selber
in seinem schönen Buche, das 1908 erschienen ist:
«Vom Kloster zum akademischen Lehramt» —
Kapuziner geworden, Priester geworden; dann trieb ihn der Weg,
den seine Erkenntnis nehmen mußte, dazu, aus dem Kloster
fortzugehen und in die Philosophie sich zu vertiefen, um den
Weg zu finden, der zum Einlaß in die geistige Welt
führt. Da kam auch Gideon Spicker zu jenem Punkte, wo das
Denken sich selbst überlassen ist, wo es vereinsamt
dasteht, wenn es sich nicht so zu betätigen versteht, wie
ich das angedeutet habe. Deshalb sagt Spicker von diesem
Denken:
«Alle (Philosophien) ohne Ausnahme gehen von einem
unbewiesenen und unbeweisbaren Satz aus, nämlich von der
Notwendigkeit des Denkens. Hinter diese Notwendigkeit kommt
keine Untersuchung, so tief sie auch schürfen mag,
zurück. Sie muß unbedingt angenommen werden und
läßt sich durch nichts begründen. Jeder Versuch,
ihre Richtigkeit beweisen zu wollen, setzt sie immer schon
voraus.» Und nun kommt jenes Wort, wo man sieht, wie in
den Erkenntnissen seiner Seele er unmittelbar rührt an die
Kräfte des Herzens. Gideon Spicker sagt weiter:
«Unter ihr gähnt ein bodenloser Abgrund, eine
schauerliche, von keinem Lichtstrahl erhellte Finsternis. Wir
wissen also nicht, woher sie kommt, noch auch, wohin sie
führt. Ob ein gnädiger Gott oder ein böser
Dämon sie in die Vernunft gelegt, ist
ungewiß.»
Spicker richtet also den Seelenblick auf dieses Denken. Er
findet: Wenn wir nicht voraussetzen, daß das Denken in
richtiger Weise uns über die Angelegenheiten der Welt
aufklärt, wenn wir also nicht die Notwendigkeit des
Denkens anerkennen in seiner Eigenart, dann können wir
überhaupt in der Welt uns nicht zurechtfinden. Aber hinter
dieser Notwendigkeit, meint Spicker, liegt der bodenlose
Abgrund. Damit erweist auch Spicker, wie er vor dem Tore der
Geisteswissenschaft steht, aber nicht hinein kann. Und
unmöglich ist es nach seiner Anschauung, zu entscheiden,
was eigentlich die von uns notwendig vorauszusetzende
Richtigkeit in unsere Vernunft gelegt hat, ob ein gnädiger
Gott oder ein böser Dämon.
Man
muß das Denken schon so ernst nehmen, wenn man die ganze
Bedeutung der Erkenntnis für das Leben ins Auge fassen
will. Was kann ein solcher Denker, der so zu sprechen sich
genötigt fühlt wie Gideon Spicker, was kann er nicht?
Er kann nicht dahin gelangen, dieses Zurücktreten vor dem
Denken zu bewirken, um dieses Denken anzuschauen, um dadurch
die Überzeugung zu gewinnen, daß dieses Denken
geistiger Natur ist. Denn dann stellt es sich, weil eben die
Dinge, wenn man sie betrachtet, ihre Eigenart ergeben, in
seiner Eigenart dar, wie es ist, und läßt uns nicht
die Wahl zwischen dem gnädigen Gott und dem bösen
Dämon, der es etwa in die Vernunft gelegt haben
könnte.
Auf
dem geisteswissenschaftlichen Erkenntnisweg kommt alles darauf
an, sich bekannt zu machen mit der Natur des Denkens, dieses
Denken nicht wie ein Letztes hinzunehmen, sondern es wie ein
Erstes anzusehen, das uns weiterbringen soll.
Ich
möchte hinweisen darauf, wie aus dem gewöhnlichen
Leben heraus der Mensch, wenn er nur eine intime Aufmerksamkeit
auf gewisse feinere Erscheinungen des Lebens wendet, die
Oberzeugung gewinnen kann davon, daß das Denken nicht
bloß in unserem Ich, in unserer Seele oder gar in unserem
Gehirn lebt, sondern daß es ein wesentliches Dasein in der
äußeren Welt hat, daß das Denken unter den
schaffenden Kräften ein Mitwirkendes ist, daß es die
Welt durch webt und durchlebt; daß es nicht das Denken in
uns ist, sondern daß wir mit unserer Seele in der von
Gedanken durchwobenen Welt leben. Es bedarf noch gar nicht der
Anwendung der Methoden der Geisteswissenschaft, gar noch nicht
des lebendigen Eintretens in die geisteswissenschaftliche
Forschung selber, um zu dieser Überzeugung zu kommen,
sondern nur eines intimen Beobachtern gewisser Vorgänge.
Da kann der Mensch, wenn er unter den diesen Dingen
günstigen Verhältnissen einmal aufwacht, etwas wie
eine dunkle Erinnerung an dasjenige bewahren, was, eben bevor
er aufgewacht ist, vorgegangen ist. Da können, wie
herüberfließend aus dem Schlafzustand in den
Wachzustand, Gedanken sich hereindrängen in den
Wachzustand, von denen der Mensch einsehen kann, daß er
sie nie im Wachzustand würde gedacht haben, daß sie
mit nichts zusammenhängen, was im Wachzustand gedacht
werden kann. Ich kann auf diese Dinge nur hinweisen;
würden wir mehr Zeit haben, so würden wir sehen,
daß alle Einwände von Reminiszenzen, Erinnerungen und
so weiter, die solche Vorstellungen sein könnten,
wegfallen, wenn man die Untersuchung genauer anstellen
würde. Dann aber, wenn man so findet wie eine innere
Erfahrungswahrheit: «Du tauchst eigentlich auf mit deiner
Seele aus dem webenden, lebendigen Denken», dann weiß
man zugleich, wenn die Augenblicke günstig sind, ich
möchte sagen, wenn die Seele gerade begnadet ist, so etwas
wahrzunehmen: das, was da wie Gedankenwesenheit selber ist, das
webt mit an dem eigenen und zwar jetzt leiblichen Wesen. Denn
man wird gewahr: Womit man eigentlich im Schlafe gelebt hat,
das sind die Vorgänge des Inneren, des Leibes selber.
Diese Vorgänge — Sie können darüber
nachlesen in meinem letzten Buche «Vom
Menschenrätsel» —, die man im Schlafe erlebt,
und die sich zuweilen in das Träumen hinaufheben, diese
Vorgänge sind Bilder des inneren Erlebens des Leibes.
— Hat man diese beiden Erkenntnisse: die Erkenntnis des
selbständigen Webens der Gedanken in der Welt, der
lebendigen Gedanken in der Welt, und des Webens der Gedanken an
unserer eigenen Leiblichkeit, dann hat man auch einen in der
Empfindung gegründeten Ausgangspunkt für ein inneres
meditatives Arbeiten in seiner Seele, um nun aufzusteigen zu
der Erkenntnis der geistigen Welt.
Die
Erkenntnis der geistigen Natur des Denkens selber, die man im
Wachzustand gewinnen kann, eine genauere, intimere Erkenntnis
des Denkens, die man auf die zuletzt angedeutete Weise in
besonders günstigen Lebensmomenten gewinnen kann, die
unterstützt einen, nun wirklich die innere Seelenarbeit zu
unternehmen, die der Geistesforscher zu unternehmen hat: Dieses
Denken — um es noch einmal zu sagen — wie eine
Wurzel zu betrachten, die nun entfaltet wird durch innere
Seelenarbeit, auf die ich heute nur hinweisen kann, eine
Wurzel, die endlich den Menschen dahin bringt, aus seinem Leibe
mit seinem Geistig-Seelischen wirklich heraustreten zu
können, und sich selber nun, wie er im Alltage ist,
gegenüber zu haben, wie man sonst in der sinnlichen
Anschauung die äußeren Dinge sich gegenüber hat.
Dieses Heraustreten aus dem Leibe ist durchaus eine
Wirklichkeit, die an den Menschen herankommt, wenn er gewisse
Seelenübungen macht. Dann aber ist der Mensch nicht nur in
der Lage, durch die Werkzeuge des Leibes die ihn umgebende Welt
anzuschauen; eine andere Welt ist da, die nicht die Welt der
Sinne ist, eine Welt des Geistes tritt nun auf. Indem der
Mensch in diese andere Welt des Geistes eintritt, wird er nicht
— das habe ich schon öfter erwähnt, es ist aber
notwendig, es immer wieder und wieder zu sagen, weil gerade von
dieser Seite her die meisten Angriffe kommen — ein Gegner
der Naturwissenschaft, sondern im Gegenteil, alles dasjenige,
was berechtigterweise die so bewundernswürdige neuere
Naturwissenschaft hervorgebracht hat, das wird gerade, und
intensiver, als die Naturwissenschaft es kann, bewiesen durch
dasjenige, was geistiges Anschauen in der Welt findet.
Ich
habe in meinem Buche «Vom Menschenrätsel» diese
Anschauung, die der Mensch dadurch erringt, daß er sich
bereit macht, sich von den Bedingungen der stofflichen
Vorgänge loszureißen, das «schauende
Bewußtsein» genannt, aus dem Grunde, weil ich
anknüpfen wollte, wie in allen meinen
geisteswissenschaftlichen Bestrebungen, an die Weltanschauung
Goethes. In seinem schönen Aufsatz über
«anschauende Urteilskraft» hat er hingewiesen darauf,
wie der Mensch, wenn er zu einer das Geistige stützenden
Erkenntnis streben will, dazu kommen muß, nicht bloß
passiv die äußere stoffliche Welt aufzunehmen,
sondern sich innerlich zu erkraften, um
erkenntnismäßig dieses Geistige innerlich so zu
erfassen, wie man von außen her die äußere
sinnliche Welt durch die Sinne erfaßt. Und ich habe
genannt dieses Leben im schauenden Bewußtsein ein
Aufwachen aus dem gewöhnlichen Bewußtsein des
Alltages und der gewöhnlichen Wissenschaft, das man
vorstellen kann ähnlich dem Aufwachen aus der Traumeswelt
in die Welt des gewöhnlichen wachen Bewußtseins. Und
so wäre denn, um dasjenige auszudrücken, was er
eigentlich sagen will, der Geistesforscher genötigt, auf
drei Bewußtseins-zustände hinzuweisen: Auf das
träumende Bewußtsein, wo der Mensch ganz hingerichtet
ist auf die Vorgänge seines eigenen Leibes, die ihm
teilweise, möchte man sagen, entgegentreten, aber nicht
wie sie sind, sondern in den webenden und lebenden Gedanken,
die wie in einem imaginativen Leben offenbaren, was eigentlich
innere Leibesvorgänge sind. Die Vorstellungen während
des Traumlebens sind durchaus auf das leibliche Innere des
Menschen gerichtet. Der Mensch ist gewissermaßen da in
seine Haut eingeschlossen, und, wenn ich mich noch genauer
aussprechen sollte, so könnte ich sagen: Es ist nicht
beteiligt das eigentliche Bewußtsein des menschlichen
Gehirns an den Bildern der Traumvorstellungen, sondern es ist
die Seele zugewendet im Traume demjenigen, was, abgesehen von
den Vorgängen des Gehirns, im Leibe vorgeht. Aber das
prägt sich aus in den Bildern, die manchmal so farbenbunt
und prächtig, manchmal so chaotisch vor die Seele treten.
Wer nun auf diese Welt der Traumesvorstellungen sein
forschendes Seelenauge richtet, der findet, daß im Grunde
genommen die Vorstellungen selbst, wie sie im Traume auf- und
abfluten — allerdings nur als Offenbarung des Innenlebens
—, sich in ihrem Inhalte, in ihrer Wesenheit nicht
unterscheiden von den Vorstellungen, die wir im Alltag
haben.
Das
Aufwachen ist etwas ganz anderes, ist eine Tat des Willens. Es
ändert nicht die Natur der Vorstellungen, sondern der
Mensch erkraftet sich in seinem Willen, setzt sich durch seinen
Willen wirklich in ein Verhältnis zur äußeren
Welt, die uns die Sinne offenbaren. Und dadurch bezieht er das,
was sonst nur seinem Inneren zugewendet wäre, auf die
äußere Welt. Er legt gleichsam über die
Fläche des Außendaseins sein Denken, sein Vorstellen
hinüber, weil er sich im Willen erkraftet hat, weil er
sich eingeordnet hat in die äußere Welt mit seinem
Vorstellen. Und Wachsein heißt: durch den Willen das
Vorstellungsleben mit dem ganzen Menschen einzuordnen in die
Verhältnisse der äußeren Welt.
Im
schauenden Bewußtsein wird bis zu einem gewissen Grade das
wirklich zu einer Wahrheit, die man nur nicht mißverstehen
darf, daß nun durchschaut wird, wie von einem höheren
Gesichtspunkte aus diese äußere Sinneswelt wiederum
nur eine Bilderwelt ist; wir nehmen sie in einer
grob-stofflichen, derben Weise als eine letzte Wirklichkeit im
gewöhnlichen Leben hin, wie wir im Traume unsere
Traumeswelt als eine Wirklichkeit fühlen. Aber indem wir
aus dem Traume erwachen, wird uns die Traumeswelt zu einer
Bilderwelt. Und vom Gesichtspunkte des wachen Bewußtseins
aus verstehen wir erst, die Traumeswelt in der richtigen Weise
einzuordnen in die Gesamtwelt.
Tiefere Denker haben nun, indem sie in ihrer Seele eine Kraft
nach der geistigen Welt hin fühlten, vergleichsweise,
nicht um in irgendeiner falschen Asketik
mißverständliche Vorstellungen aufzustellen, die Welt
der Sinne in ihrer grob-stofflichen Wirklichkeit eine Welt der
Bilder genannt, und sie mit dem Traume — nicht
gleichgestellt, aber verglichen. Vor allen Dingen der
große deutsche Denker Fichte hat in seiner Schrift
über die Bestimmung des Menschen eine wunderbare Stelle,
wo er sich ausspricht über das Leben und Weben desjenigen,
was durch die Sinne gesehen wird. Da sagt Fichte:
«Bilder sind: sie sind das einzige, was da ist, und
sie wissen von sich, nach Weise der Bilder; — Bilder, die
vorüberschweben, ohne daß etwas sei, dem sie
vorüberschweben: die durch Bilder von den Bildern
zusammenhängen... Alle Realität verwandelt sich in
einen wunderbaren Traum ohne ein Leben, von welchem
geträumt wird, und ohne einen Geist, dem da träumt;
in einem Traum, der in einem Traume von sich
zusammenhängt.»
Nicht soll durch diese Worte der Mensch angewiesen
werden, in mißverständlicher Weise die wirkliche Welt
gering zu achten, in der seine Pflichten liegen, in der sein
Leben zwischen Geburt und Tod sich abspielen muß, nicht
soll der Mensch von dieser Welt hinweggelenkt, sondern darauf
aufmerksam gemacht werden, daß man erwachen kann aus dem
gewöhnlichen Bewußtsein — wie man aus dem
träumenden Bewußtsein erwacht — zu einem
höheren Bewußtsein in dem schauenden Bewußtsein.
Und im schauenden Bewußtsein ordnet man die Bilder der
Sinneswelt, die einen sonst umgeben, ein in die geistige Welt,
die einem in der Weise nun erschlossen ist, wie das
angeführt worden ist. Dann aber, wenn man also die
geistige Welt in der Seele unmittelbar erlebt, dann erhält
man einen neuen Gesichtspunkt über das Verhältnis des
Geistes zum Stoff. Denn dann gelangt man dazu, an dem Menschen
selbst, an sich selbst, dieses Verhältnis des Geistes zum
Stoff zu schauen. Das erwachte schauende Bewußtsein, das
gewissermaßen zurückgetreten ist von dem Menschen,
und das, was der Mensch im gewöhnlichen Erkennen tut, von
außen anschaut, dieses Bewußtsein stellt sich anders
zu der Welt als die von Fechner genannte Nachtansicht. Dieses
schauende Bewußtsein sagt sich: Gewiß, für all
dasjenige, was der Mensch denkt und fühlt, worüber er
sich freut, was er erleidet, gibt es zwischen Geburt und Tod im
gewöhnlichen physischen Leben physische Vorgänge im
Menschen. Der Mensch erlebt all dasjenige, was er seelisch
erlebt, durch den Leib, der es ihm wie ein Spiegel
zurückwirft, sonst würde er davon nichts wissen. Dazu
ist der Leib da, daß der Mensch von ihnen ein
Bewußtsein entwickeln kann. Aber indem der Mensch also
zurücktritt und sich in wirklicher, nicht erträumter
Selbstbeobachtung wirklich erkennt, da gelangt er schauend zu
einer anderen Ansicht, als die Nachtansicht ist. Da kommt er
dazu, sich zu sagen: Ja, damit ich die Farben der Welt sehe,
müssen in meinem Nervenapparat, in meinem Leibes Werkzeug
gewisse Vorgänge vorgehen; aber indem ich das Blau, das
Rot sehe, indem ich den Ton C oder Cis höre, da sind die
Vorgänge, auf die es ankommt, schon vor sich gegangen. Die
Seele selbst in ihrem geistigen Weben und Leben, sie prägt
dasjenige, was sie tut, in das, sagen wir, Gehirn ein; das
Gehirn strahlt in die Seele, die innerhalb des Leibes ist,
dasjenige zurück, was die Seele selbst eingeprägt
hat. Und nachdem die Seele eine Prägung gemacht hat ins
Gehirn, verwandelt sich das Gehirn in ein spiegelndes Wesen,
strahlt zurück die Prägung. Und die Seele, indem sie
nur sich selbst lebt, empfindet dieses Prägen als Rot und
Blau, oder C oder Cis. Die Seele ist es, die schon am Gehirn
gearbeitet hat, bevor sie wahrnimmt. Die ganze Wahrnehmung ist
eine Spiegelung, die dadurch zustande kommt, daß die
Seele, bevor die Wahrnehmung zustande kommt, bereits am Leibe
arbeitete.
Da
blickt man nun hinein in ein Wesen des Menschen, das man nicht
erkennen kann mit dem gewöhnlichen Bewußtsein, das
durchschaut werden kann nur mit dem schauenden Bewußtsein.
Denn dem gewöhnlichen Bewußtsein enthüllt sich
nur die Welt der Sinneswahrnehmung. Aber die gewöhnlichen
Gedanken sind ja von der Sinneswahrnehmung abgezogen. Jetzt
aber sieht man unter die Oberfläche der Sinnes
Wahrnehmung; jetzt sieht man auf die Tätigkeit, die sonst
unbewußt bleibt. Jetzt schaut man, wie die Seele in ein
Verhältnis zum Stoffe tritt, wie Geist und Stoff
zusammenwirken. Da allerdings stellt sich dieses Zusammenwirken
von Geist und Stoff dem Schauenden in einer Weise dar, die
zunächst frappierend, vielleicht sogar schockierend ist,
es stellt sich so dar: Während der Mensch das durchlebt,
was er durch die gewöhnliche physische Vererbung von Vater
und Mutter erhält, lebt er in etwas, das sprießt und
sproßt, das gewissermaßen in sich entfaltender
Naturwirkung verläuft, das wie Entwicklung ist desjenigen,
was aus irgendeinem Keim herausfließt und immer
vollkommener und vollkommener werden will. Indem der Mensch
beginnt, sein Seelisches zu entwickeln, das heißt, indem
auf die geschilderte Weise die Seele als Geist in Beziehung, in
Wechselwirkung tritt zum Stoff, der ihren Leib bildet, da
vollführt die Seele im Vorstellen, im Empfinden, in dem
ganzen gewöhnlichen seelischen Erleben fortwährend
dasjenige, was ich nennen möchte Abbau. Wir können
keine Empfindung, keine Vorstellung hegen, ohne daß
dasjenige, was sonst sprießt und sproßt,
bekämpft wird, zurückgedrängt wird, zerfallen
gemacht wird von der Seele. Indem gewissermaßen die Seele
das sprießende und sprossende Leben der Nerven
zurückdrängt, bewirkt sie dasjenige, was dann
spiegelt. Sagen wir, um vielleicht ein Unnötiges
auszusprechen: Wenn die Seele Blau sieht, vollführt sie
einen Prozeß, der aber eigentlich ein Zerstörungs-,
ein Zerfallprozeß ist, in den Nerven. Dieser Prozeß
bildet gleichsam die spiegelnde Fläche, die das Blau
zurückstrahlt. So muß die Seele
fortwährend das Stoffliche auflösen, zerfallen
machen, das sich dann aber wieder herstellt entweder im
gewöhnlichen Schlafe oder in dem Schlafe, der immer
vorhanden ist, der auch das wache Leben begleitet, und wo das
immer wieder hergestellt wird. Aber dasjenige, was sich
enthüllt dem schauenden Bewußtsein in bezug auf das
Verhältnis des Menschen zu Geist und Stoff, das zeigt uns,
daß der Geist sich entwickelt, daß er zum Beispiel
für den Menschen das geistige Bewußtsein entfaltet,
indem eigentlich der Stoff fortwährend bekämpft wird,
indem er fortwährend — wir können es geradezu
aussprechen — zerstört wird.
So
sieht man auf einen Prozeß, der sonst unter der Schwelle
des Bewußtseins bleibt, einen Prozeß, den diejenigen,
die auch in der älteren Form der Geisteswissenschaft sich
genaht haben, wohl gekannt haben; daher haben sie das Treten an
die Pforte der geistigen Erkenntnis ein «Treten an die
Pforte des Todes» genannt. Man sieht, was man den Tod
nennt, das ist nicht bloß der einmalige Vorgang, den der
Mensch am Ende seines Lebens durchmacht, sondern der Tod ist
dasjenige, was fortwährend wirksam ist im Menschen, so
wirksam, daß fortwährend das Lebendige bekämpft
wird, daß der Tod immer sich vollzieht, in kleinen
Teilwirkungen sich vollzieht. Und gerade indem der Tod von der
Geburt oder sagen wir der Empfängnis des Menschen an
arbeitet, so aber, daß seine Wirkung immer wieder
ausgeglichen werden kann, arbeitet Leben und Tod in dem
Menschen fortwährend ineinander. Und indem das Physische
in seinem Wachstum in dieser Weise bekämpft wird von dem
Seelischen, entwickelt sich das Geistige.
Dies ist eine Wahrheit, die allerdings überraschend ist,
wenn man sie in ihrer ganzen Bedeutung erkennt. Das Physische
entwickelt sich, indem es sprießt und sproßt; aber
alles Sprießende und Sprossende ist auch unterworfen einer
rückläufigen Entwicklung, einem Verfall. Dieser
Verfall zeigt sich immer — nur im beschleunigten
Prozeß im Tode —, wenn Bewußtsein,
Selbstbewußtsein, kurz, wenn Geistigkeit sich entwickeln
soll, was sich immer durchsetzend zeigen muß das
Stoffliche. — So blickt eigentlich das schauende
Bewußtsein fortwährend auf die Mitwirkung des Todes.
Und der Tod ist die Grundlage, aus der sich gerade das Geistige
der menschlichen Seele entwickelt; indem das Seelische dem
Leben entgegentritt, muß es, um zum Geiste zu kommen, mit
dem Tod im Leben tätig sein.
Dann, wenn das schauende Bewußtsein diese innere
Entdeckung gemacht hat, dann kann es, wenn die in den genannten
Büchern geschilderten inneren Seelenmethoden fortgesetzt
werden, weiter gelangen; dann kann es dahin gelangen, nicht nur
im Geiste so sich zu wissen, daß es schaut, wie eigentlich
die stofflichen Erscheinungen, die stofflichen Offenbarungen
zustande kommen können, wie gewissermaßen der Tod
wirkt in seinen Teilerscheinungen von Stunde zu Stunde, von
Augenblick zu Augenblick, sondern es lernt die aus dem Leibe
frei gewordene Seele nunmehr auch — und das liegt in
geradem Fortschreiten in denjenigen Methoden, die angedeutet
worden sind —, es lernt die Seele überblicken wie
mit einem Blick dasjenige, was sich, nun nicht im Räume,
sondern in der Zeit abspielt: Die Entfaltung des ganzen Lebens,
wie da die Seele im Leiblichen arbeitet zwischen der Geburt
oder Empfängnis und dem Tode. Natürlich nicht in den
Einzelheiten — wie man nicht das Wetter überschaut
für den kommenden Tag, wohl aber überschauen kann,
daß die Sonne nach dem Untergehen am kommenden Tag wieder
erscheinen wird. Dann wird die Seele so frei, daß sie sich
nicht nur unabhängig weiß von der Leiblichkeit,
sondern daß sie allmählich aufsteigt dazu, sich auch
unabhängig zu wissen von dem gewöhnlichen physischen
Leben, das zwischen Geburt beziehungsweise Empfängnis und
dem Tode verläuft. Sie weiß sich dannin demjenigen
Zustand, in dem sie war, bevor sie durch die Geburt oder durch
die Empfängnis eingetreten ist in dieses physische Leben.
So wie der Mensch im physischen Leben den Raum überwindet,
so überwindet dann die Seele die Zeit; sie lernt von einem
Punkte, der vor der Geburt und Empfängnis liegt, in dem
sie sich wissend fühlt, das Leben überschauen; sie
lernt dieses Leben als eine Einheit schauen, gewissermaßen
das ganze Leben auf dem Hintergrund aber nun des dieses Leben
abschließenden Todes. So wie der Mensch mit dem schauenden
Bewußtsein dasjenige, was er in seinen Sinnen erlebt, auf
der Grundlage von Zerfall- und Abbauprozessen in seinem Leibe
sieht, wie ich es geschildert habe, so sieht nunmehr dieses
anschauende Bewußtsein, indem es sich nicht nur vom Leibe
entfernt, sondern auch vom Leibesleben freigemacht hat, das
Leben wie auf dem Hintergrund des Todes. Aber dieser Tod
erscheint nun nicht bloß mit seiner Oberfläche, wie
er dem äußeren physischen Leben erscheint, sondern
diese Oberfläche erscheint wie durchsichtig, und hinter
dem Tode erscheint das geistige Leben. So wie hinter dem
Zerstörungsprozeß des Leibes das Leben und Weben der
Seele im Leibe erscheint, so erscheint der Geist des
Universums, in den der Mensch aufgenommen wird, wenn er durch
die Pforte des Todes tritt, hinter der Oberfläche des
Todes. Dieser Tod ist gleichsam die Oberfläche. Dieser Tod
hat ein Inneres. Durch den Tod sieht der Mensch hinein in das
Leben und Weben des Geistes im Universum.
Dann weiß sich der Mensch im Geiste stehend, und er
weiß, wie er, nachdem er dieses Erdenleben zwischen
Geburt und Tod durchlebt hat, wie er durch die Pforte des Todes
schreitet, wie er aufgenommen wird von der geistigen Welt, so
wie er bei dem gewöhnlichen Erwachen aufgenommen wird in
seiner Seele von dem physischen Leibe. Er weiß, daß,
wenn dieses Leibesleben von ihm abfällt, hinter der Pforte
des Todes sich erhebt die geistige Welt. Er weiß, daß
der Tod die Oberflächen-Erscheinung ist. Hinter dem Tod
erscheint die geistige Welt; in der weiß sich der Mensch
nun drinnen. Damit weiß der Mensch aber auch, daß
dieses Leben, das er im Stoffe durchlebt, seinen Grund, seine
Bedeutung für das ganze physische und geistige Leben,
für das Gesamtleben des Menschen hat. Denn der Mensch
weiß: Das, was er im Stoffe erlebt, bleibt in seinem
Bewußtsein, und dieses Bewußtsein bleibt ihm —
so wie die Gedanken in der Erinnerung des gewöhnlichen
Lebens bleiben —, wenn er durch die Pforte des Todes
geschritten ist. Das Leben, das er im Leibe durchgemacht hat,
lebt in seiner Seele weiter, und durch diese Rückschau auf
dasjenige, was er sonst in seinem Leibe erlebt hat, bildet er
sich die vorbereitenden Kräfte für nächste
Erdenleben. Und so lernt der Mensch überschauen dasjenige,
was man wiederholte Erdenleben nennen kann — eine
Wahrheit der Geisteswissenschaft, von der dann im nächsten
Vortrag gesprochen werden soll, wo von dem Schicksal der Seele
gesprochen werden soll, und wo von dem, wozu ich heute gelangt
bin, der Ausgangspunkt genommen werden soll. Ich will nur
hinzufügen, daß der Mensch auf diese Weise durchaus
nicht das Erdenleben als wesenlos, als bedeutungslos ansehen
lernt. Sondern weil dasjenige, was er durchmachen muß, was
er in sich aufnimmt in diesem Erdenleben, hineingetragen werden
muß durch die Pforte des Todes in die geistige Welt, wo es
wie eine Gesamterinnerung als Kraft in seiner Seele lebt, um
durch die Ewigkeiten zu gehen, um neue Erdenleben zu zimmern,
so lernt der Mensch durch die Geisteswissenschaft leben in der
geistigen Welt. Und indem er also leben lernt in der geistigen
Welt, zeigt sich, daß diese Erkenntnis noch eine andere
Bedeutung hat:
Gustav Theodor Fechner knüpft an die Betrachtung, die er
über sein Sitzen im Rosental in Leipzig gemacht hat, noch
eine andere an. Er sagt, er habe einmal mit demjenigen Wesen,
das so viele Jahre mit ihm das Leben geteilt hat — er war
damals in Saßnitz auf Rügen — einen Spaziergang
nach Stubbenkammer durch die dort so wunderbaren Waldungen
machen wollen; aber dasjenige Wesen, das mit ihm durch das
Leben gegangen ist, das Leid und Freude mit ihm geteilt hat,
wurde so müde, daß sie nicht mehr gehen konnte, und
sie sagte: Ich muß dich allein gehen lassen, aber es wird
ja bald eine Zeit kommen^ wo du viel wirst ohne mich gehen
müssen. Da sagte Fechner: Ach, vielleicht wird die Zeit
auch so kommen, daß du ohne mich wirst gehen müssen.
Aber denken wir nicht daran! — Und er ging durch die
lauschigen Wälder auf dem Wege von Saßnitz nach
Stubbenkammer, wo die Sonne durch die belaubten Bäume
durchschien, wo alles schön und großartig war. Da bot
sich ihm, wie er nicht dachte an das, was er
«Nachtansicht» nannte, die ganze Schönheit der
äußeren sinnlichen Welt dar. Da sagte er dann zum
Schluß etwas, was so tief zu Herzen gehen kann: Die
Wahrheit zeigt sich da auch in ihrer Schönheit. Und man
ahnt, daß diese Sinneswelt, in der Seele die Seele
kennenlernt, Seele der Seele nahetritt, nicht dazu da ist, um
ausgelöscht zu werden von der finsteren und tonlosen
Stoffeswelt, in die der Mensch verfallen müßte, wenn
all dasjenige, was er als Farbe und Ton erlebt, nur wie ein
Schein herausleuchten würde aus solcher immer-dauernden
Nacht; sondern es ahnt der Mensch, wie diese Sinneswelt zwar
die Schicksale zwischen den Menschen spinnt, aber sie so
spinnt, daß, wenn diese Sinneswelt hinweggenommen wird,
dann der Mensch die letzten Schranken fallen sieht, die Seele
von Seele trennen, so daß er hoffen darf: Wenn die
Leibeshüllen abgeworfen sind, wird Seele mit Seele in
inniger Gemeinschaft leben. — Da erweitert sich das
wissenschaftliche Anschauen bei Fechner zur Vermutung, zur
verstärkten Vermutung von dem Zusammensein der Seelen in
der geistigen Welt, nachdem sie durch die Pforte des Todes
geschritten sind.
Durch die Geisteswissenschaft wird Fechners Vermutung, man darf
sagen, zu einer Gewißheit, die nicht gesucht wird —
denn die Geisteswissenschaft darf nicht nach Gefühlen
gehen —, die aber als objektive Wahrheit sich ergibt. Der
Mensch weiß sich in der geistigen Welt; er weiß,
daß diese leibliche Hülle ihn zwischen Geburt und Tod
umgibt, damit er in die geistige Welt hineinbringen kann, was
er nur in dieser Hülle sich aneignen kann. Er weiß,
daß das Leben in dieser physischen Welt da ist, daß
Seele an Seele gebracht wird, daß aber mit dem Wegfall der
Hülle wirklich Seele zu Seele in ein Verhältnis
tritt, das rein geistig ist. So lernt sich der Mensch mit dem
Menschen kennen, mit allem, was ihn umgibt, in der Sinneswelt
stehend als in einer Vorstufe zur geistigen Welt; er lernt die
Notwendigkeit der physischen Welt kennen, aber er lernt auch
die Wirklichkeit der geistigen Welt kennen. Und das, was
Fechner ahnte, was er vermutete, was er ersehnte, was er mit
den besten Geistern des naturwissenschaftlichen
Zeitalters von der zur Geisteswissenschaft entwickelten
Naturwissenschaft erhofft, das soll die Geisteswissenschaft
erfüllen. Und so möchte man, daß
Geisteswissenschaft wahr machte das Fechnerwort, das aber nicht
bloß aus seiner Seele, das aus vielen hoffenden,
Geisterkenntnis hoffenden Seelen herausgesprochen ist:
«In der Tat ist mein Glaube, daß, so sicher als auf
die Nacht der Tag, auf jene Nachtansicht der Welt dereinst eine
Tagesansicht folgen wird, die, statt sich in Widerspruch mit
der natürlichen Ansicht der Dinge zu stellen, vielmehr
damit unterbauen, und darin den Grund zu einer neuen
Entwickelung der Dinge finden wird. Denn, schwindet jene
Illusion, welche den Tag in Nacht verkehrt, so wird
natürlicherweise alles Verkehrte, was damit
zusammenhängt, und es ist viel, mit schwinden müssen,
und die Welt in neuem Zusammenhange, in neuem Lichte, unter
neuen positiven Gesichtspunkten erscheinen.»
Indem Fechner seinen vermutenden Blick nach dieser Welt
richtet, für die wir Erfüllung erhoffen durch die
Geisteswissenschaft, spricht er davon, wie er sich wirklich am
Ausgangspunkte fühlt, nicht am Ende. Und, ich möchte
sagen, er sagt dann, wie die Geisteswissenschaft vorahnend,
bekräftigend:
«Nun ist Klarheit das Letzte in diesen Dingen, das Letzte
aber wird auch die Klarheit sein.»
Und
die Klarheit für das geistige Leben, und damit die
Sicherheit im Geiste, will Geisteswissenschaft der Menschheit
bringen.
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