ERSTER VORTRAG
Bern, 1. September 1910
Es
ist jetzt das dritte Mal, daß mir hier in der Schweis die
Möglichkeit geboten ist, von einer gewissen Seite her das
größte Ereignis der Erd- und Menschheitsgeschichte zu
besprechen. Das erste Mal war es, als in Basel gesprochen
werden durfte über dieses Ereignis von jener Seite her, zu
der das Johannes-Evangelium die Veranlassung bietet; das zweite
Mal, als jene Charakteristik dieses Ereignisses gegeben werden
durfte, zu welcher das Lukas-Evangelium die Unterlage bietet;
und dieses Mal, als zum dritten Mal, soll der Impuls zu
dieser Schilderung ausgehen vom Matthäus-Evangelium.
Es ist von mir des öftern angedeutet worden,
daß gerade darin etwas Bedeutungsvolles liegt, daß
uns dieses Ereignis in vier, scheinbar in einer gewissen Weise
sich unterscheidenden Urkunden aufbewahrt ist. Was
gewissermaßen der heutigen äußeren
materialistischen Gesinnung Veranlassung gibt, mit einer
negativen, zersetzenden Kritik einzugreifen, das ist gerade
das, was uns nach unserer anthroposophischen Überzeugung
als bedeutungsvoll erscheint. Niemand sollte sich
vermessen, irgendein Wesen oder eine Tatsache zu
charakterisieren, wenn er sie nur von einer Seite
ansieht. Jener Vergleich wurde von mir öfter
gebraucht: Wenn man einen Baum von einer Seite aus
photographiert, so darf niemand behaupten, daß er in
dieser Photographie eine wirkliche Wiedergabe dessen hat, was
der Baum in seinem Anblick nach außen darbietet; wenn man
dagegen den Baum von vier Seiten photographieren würde,
und wenn man auch vier verschiedene Bilder bekäme, die
sich untereinander wenig gleichen könnten, so
würde man aus dem Zusammenschauen dieser vier Bilder
auch eine geschlossene Ansicht von dem Baum erhalten
können. Wenn das in solch äußerlicher Weise
schon der Fall ist für ein jegliches Ding, wie sollte man
nicht vermuten können, daß ein Ereignis,
welches die größte Fülle des Geschehens, die
größte Fülle des Wesentlichen alles
Daseins für uns Menschen in sich schließt, gar nicht
umfaßt werden könnte, wenn man es nur von einer Seite
aus schildert? Daher sind es nicht Widersprüche, welche
uns in den vier Evangelien zutage treten. Es ist hier vielmehr
die Tatsache zugrunde liegend, daß die Schilderer sich
bewußt waren, daß ein jeglicher von ihnen dieses
gewaltige Ereignis nur von einer Seite aus zu schildern vermag,
und daß es der Menschheit gelingen kann, durch das
Zusammenschauen dieser verschiedenen Schilderungen nach und
nach ein Gesamtbild zu gewinnen. Und so wollen auch wir
geduldig sein und versuchen, uns dieser größten
Tatsache des Erdenwerdens nach und nach dadurch zu nähern,
daß wir uns anlehnen an diese vier Schilderungen und
selbst das, was wir wissen können, entwickeln mit
Anlehnung an diese Dokumente, die wir als das Neue
Testament bezeichnen.
Aus
einigem, was früher gesagt worden ist, können Sie
schon ermessen, wie etwa die vier verschiedenen
Ausgangspunkte oder Gesichtspunkte der Evangelien sich
darstellen lassen. Vorerst aber, bevor ich auch nur eine
äußerliche Charakteristik dieser vier Gesichtspunkte
gebe, möchte ich darauf aufmerksam machen, daß ich im
Beginne dieses Vortragszyklus nicht das tun will, womit
man heute die Darstellung der oder eines der Evangelien
beginnt. Man beginnt gewöhnlich damit, daß man
ihre geschichtliche Entstehung darstellt. Es wird sich uns das
am besten ergeben, wenn wir am Schlüsse unseres Zyklus
erst sagen werden, was über die Geschichte der
Entstehung des MatthäusEvangeliums zum Beispiel zu
sagen ist. Denn es ist doch nur natürlich und könnte
an dem Beispiel anderer Wissenschaften gezeigt werden, daß
man die Geschichte irgendeiner Sache erst dann verstehen kann,
wenn man die Sache selber begriffen hat. Niemand wird zum
Beispiel mit Nutzen an eine Geschichte der Arithmetik
herangehen können, der nichts weiß von Arithmetik.
Überall sonst wird die geschichtliche Darstellung ans Ende
gelegt, und wo das nicht getan wird, da widerspricht die
Einteilung den natürlichen Bedürfnissen des
menschlichen Erkennens. Und so werden wir auch diesen
Bedürfnissen des menschlichen Erkennens
entgegenkommen und versuchen, den Gehalt des Evangeliums, das
wir besprechen wollen, zu prüfen und dann auf eine
Darstellung des geschichtlichen Werdens gerade bei diesem
Evangelium etwas eingehen.
Wenn man von außen die Evangelien auf sich wirken
läßt, kann man schon einen gewissen Unterschied
fühlen in der Art, wie diese Evangelien darstellen, wie
sie sprechen. Wenn Sie auf sich wirken lassen, was in
meinen Vorträgen über das Johannes-Evangelium und
über das Lukas-Evangelium gesagt worden ist, dann werden
Sie gerade in bezug auf diese zwei Evangelien die
entsprechende Empfindung noch genauer haben. Wenn man sich
einläßt auf das Johannes-Evangelium, dann
muß man sagen, daß einen überall, wo man
versucht in die gewaltigen Mitteilungen einzudringen, eine
Empfindung von geistiger Größe überkommt,
zu der man ahnend hinaufblickt, und daß man im
Johannes-Evangelium finden kann, wie es uns das Höchste
verrät, wozu menschliche Weisheit hinaufblicken kann, das
Höchste, was menschlichem Erkennen nach und nach
zugänglich werden kann. Der Mensch steht da gleichsam
unten und blickt hinauf zu einem Gipfel des Weltendaseins und
sagt sich: So klein du auch sein magst alsMensch, das
Johannes-Evangelium läßt dich ahnen, daß in
deine Seele etwas hineintaucht, mit dem du verwandt bist und
das dich überkommt wie mit einem Gefühl des
Unendlichen. So ist es vorzugsweise die mit dem Menschen
verwandte geistige Größe der Weltenwesen, welche in
unsere Seele hineintaucht, wenn wir vom
Johannes-Evangelium sprechen.
Erinnern wir uns nun einmal an das Gefühl, das uns
überkommen konnte bei der Darstellung des
Lukas-Evangeliums. Alles, was diese Darstellung des
Lukas-Evangeliums damals durchdringen mußte, war anders.
Ist es beim Johannes-Evangelium vorzugsweise die geistige
Größe, zu der wir ahnend hinaufblicken, die wie ein
Zauberhauch unsere Seele durchdringt, wenn wir uns den
Mitteilungen dieses Evangeliums hingeben, so ist es beim
Lukas-Evangelium die Innigkeit, das Seelenhafte selber, das uns
entgegentritt, man möchte sagen, die Intensität
alles dessen, was Liebeskräfte der Welt vermögen, was
Opferkräfte in der Welt zuwege bringen, wenn wir
ihrer teilhaftig sein können. Schildert uns das
Johannes-Evangelium die Wesenheit des Christus Jesus in
ihrer geistigen Größe, so zeigt uns das
Lukas-Evangelium diese Wesenheit in ihrer
unermeßlichen Opferfähigkeit, und es läßt
uns ahnen, was durch solches Liebesopfer, das wie eine Kraft
gleich anderen Kräften die Welt durchpulst und durchwebt,
in der Gesamtevolution der Welt und der Menschheit
geschehen ist. So ist es vorzugsweise das Element des
Gefühls, in dem wir weben und leben, wenn wir das
Lukas-Evangelium auf uns wirken lassen, und so ist es das
Element der Erkenntnis, das uns etwas sagt über die
letzten Gründe und letzten Ziele dieser Erkenntnis, was
uns aus dem JohannesEvangelium entgegentritt. Das
Johannes-Evangelium spricht mehr zu unserer Erkenntnis, das
Lukas-Evangelium mehr zu unserem Herzen. Das kann man
fühlen an den einzelnen Evangelien selbst; es war aber
auch unser Bestreben, das, was wir als geisteswissenschaftliche
Darstellungen an diese beiden Urkunden anknüpften, von
dieserGrund- stimmung gleichsam durchwehen zu lassen. Wer nur
Worte hören wollte beim Zyklus über das
Johannes-Evangelium oder über das Lukas-Evangelium,
der hat wahrhaftig nicht alles gehört. Die Art und Weise
des Sprechens war bei den Vortragszyklen eine
grundverschiedene. Ganz anders wird wiederum alles sein
müssen, wenn wir an das Matthäus-Evangelium
herantreten.
Beim Lukas-Evangelium war es so, daß wir alles, was wir
Menschenliebe nennen, wie es einmal in der
Menschheitsentwickelung da war, hineinfließen sahen in die
Wesenheit, welche als der Christus Jesus im Beginne unserer
neutestamentlichen Zeitrechnung lebte. Wenn man das
Matthäus-Evangelium nur äußerlich auf sich
wirken läßt, dann muß man sagen, daß es
zunächst eine Urkunde ist, welche eigentlich vielseitiger
ist als die beiden anderen, ja sogar in einer gewissen
Beziehung vielseitiger als alle drei anderen
Evangelien.
Und
wenn wir einmal das Markus-Evangelium darstellen werden, dann
werden wir sehen, daß auch dieses in einer gewissen Weise
einseitig ist. Zeigt uns das Johannes-Evangelium die
Weisheitsgröße des Christus Jesus, zeigt das
Lukas-Evangelium die Liebesmacht, so wird uns bei einer
Schilderung des Markus-Evangeliums entgegentreten, was vor
allen Dingen als Kraft, als Schaffensmächte, man
möchte sagen, als Herrlichkeit der Welt durch alle
Weltenräume hindurchgeht. Aber es ist beim
Markus-Evangelium etwas Überwältigendes in dem
Ausleben der Intensität der Weltenkraft. Es ist, wie wenn
die Weltenkraft von allen Seiten des Raumes rauschend an
uns herankäme, wenn wir das Markus-Evangelium wirklich uns
zum Verständnis bringen!
So
ist es etwas, das sich uns innig warm in die Seele drängt,
was uns beim Lukas-Evangelium entgegentritt, etwas, das uns
Hoffnung für die Seele gibt, was uns beim
Johannes-Evangelium überkommt; und es ist etwas wie
Schauer vor der Gewalt und Herrlichkeit der
Weltenkräfte, denen gegenüber wir fast
zusammensinken könnten, wenn wir das Markus-Evangelium auf
uns wirken lassen.
Anders das Matthäus-Evangelium. Alle die drei Elemente,
das hoffnungsvolle, aussichtsreiche Erkenntniselement,
das warme Gefühlsund Liebeselement und auch die
majestätische Weltengröße, sie alle sind,
möchte man sagen, in dem Matthäus-Evangelium
darinnen. Aber sie sind in einer gewissen Weise so
abgeschwächt darinnen, daß sie in ihrer
Abschwächung uns menschlich viel verwandter erscheinen als
in den drei anderen Evangelien. Vor der Erkenntnis-, vor der
Liebesund der Herrlichkeitsgröße möchten
wir bei den drei anderen Evangelien, wenn wir sie auf uns
wirken lassen, so recht zusammensinken. Das alles ist im
Matthäus-Evangelium darinnen, nur ist es so darinnen,
daß wir uns ihm gegenüber aufrecht zu erhalten
vermögen. Es ist uns alles menschlich verwandter, so
daß wir uns nicht darunter, sondern in gewissem Sinne
daneben stellen können. Wir werden vom
MatthäusEvangelium nirgends zerschmettert, obwohl es
auch von dem etwas bringt, was in den drei anderen Evangelien
zerschmetternd wirken kann. Daher ist das
Matthäus-Evangelium die allgemein-menschlichste dieser
vier Urkunden. Es schildert uns den Christus Jesus am
meisten als Menschen, so daß er uns, wenn wir ihn
als Matthäus-Christus Jesus auf uns wirken lassen, in
allen seinen Gliedern, in allen seinen Taten menschlich nahe
steht. Es ist das Matthäus-Evangelium in gewisser
Beziehung etwas wie ein Kommentar für die drei
übrigen Evangelien. Was uns in den drei anderen
zuweilen zu groß ist, als daß wir es überschauen
könnten, es wird uns im kleineren Maßstabe durch das
Matthäus-Evangelium klar. Und wenn wir dieses begreifen,
wird uns ein bedeutungsvolles Licht auf die drei anderen
Evangelien fallen können. Das ist uns aus
Einzelheiten leicht verständlich.
Nehmen wir das, was jetzt gesagt werden soll, zunächst
einmal rein stilistisch. Damit uns im Lukas-Evangelium
geschildert werden kann, wie der höchste Grad von Liebes-
und Opferfahigkeit von diesem Wesen, das wir den Christus
Jesus nennen, ausfließt in die Menschheit und in die Welt,
dazu wird zu Hilfe genommen eine Menschlieitsströ- mung,
die herunterkommt aus den urältesten Zeiten des
Erdenwerdens. Und Lukas selber schildert uns diese
Strömung bis hinauf zum Menschheitsanfang. - Damit uns
gezeigt werden kann, wo der Mensch mit seiner Erkenntnis und
seiner Weisheit einsetzen kann und einen Anfang nimmt nach dem
Ziel, zu dem diese Erkenntnis hinkommen kann, dazu wird uns im
Johannes-Evangelium gleich im Anfange dargestellt, wie
die Schilderung des Christus Jesus sich anlehnt an den
schöpferischen Logos selber. Das Geistigste, was wir mit
unserer Erkenntnis erreichen können, wird gleich in
den ersten Sätzen des Johannes-Evangeliums
angeschlagen. Wir werden gleich hingeführt zu einem
Höchsten des Erkenntnisstrebens, zu einem Höchsten,
das in der menschlichen Brust vergegenwärtigt werden kann.
- Anders ist es im Matthäus-Evangelium. Das beginnt damit,
daß es uns zeigt die Vererbungsverhältnisse des
Menschen Jesus von Nazareth in ihrer Herkunft, sozusagen
von einem historischen Moment aus. Es zeigt uns die
VererbungsVerhältnisse innerhalb eines einzelnen Volkes:
wie gewissermaßen alle die Eigenschaften, die wir in
dem Jesus von Nazareth vereinigt finden, sich summiert
haben durch die Vererbung seit Abraham herunter, wie gleichsam
ein Volk, durch dreimal vierzehn Generationen hindurch, das
Beste, was es gehabt hat, in das Blut hineinfließen
ließ, um in einer vollkommenen Weise in einer
menschlichen Individualität höchste menschliche
Kräfte darzustellen. - In die Unendlichkeit des Logos
führt uns das Johannes-Evangelium. In das
Unermeßliche der Menschheitsevolution bis zum Anfang
hinauf steigt das Lukas-Evangelium. Ein überschaubares
Volk, heruntervererbend seine Eigenschaften vom
Stammvater Abraham durch dreimal vierzehn Generationen, das
zeigt uns das Matthäus-Evangelium, so zeigt es uns den
Menschen Jesus von Nazareth.
Es
kann hier nur angedeutet werden, daß es für den,
welcher das Markus-Evangelium wirklich verstehen will,
notwendig ist, daß er in einer gewissen Beziehung die
kosmologischen Kräfte kennt, die unser ganzes Weltenwerden
durchströmen. Denn so, wie der Christus Jesus im
Markus-Evangelium dargestellt wird, wird uns gezeigt, wie in
einer menschlichen Wirksamkeit ein Auszug, eine Essenz
aus dem Kosmos gegeben ist, eine Essenz von dem, was
sonst in dem Unermeßlichen det Weltenweiten als
Weltenkräfte lebt. Es wird uns gezeigt, wie die Taten des
Christus Jesus gleichsam Extrakte sind von kosmischen
Wirksamkeiten. Wie der Menschengott Christus Jesus, so wie er
auf der Erde steht, gleichsam als ein Extrakt der
Sonnenwirksamkeit mit all ihren Unermeßlichkeiten vor uns
steht, das will uns das MarkusEvangelium schildern. Also
wie die Sternenwirksamkeit durch Menschenkraft wirkt, das
schildert Markus.
Das
Matthäus-Evangelium knüpft in einer gewissen Weise
auch an Sternenwirksamkeit an. Es führt uns deshalb,
gleich da, wo es uns die Geburt des Jesus von Nazareth
schildert, zu einem Punkt, von dem aus wir das große
Weltenereignis so ansehen sollen, daß kosmische
Tatsachen in einem gewissen Zusammenhang mit dem
Menschheitswerden stehen, indem es den Stern zeigt, der
die drei Magier hinführt zur Geburtsstätte des Jesus.
Aber es schildert uns nicht eine kosmische Wirkung, wie es das
Markus-Evangelium tut; es fordert nicht von uns, daß wir
unseren Blick erheben zu dieser kosmischen Wirkung: es zeigt
uns drei Menschen, drei Magier und die Wirkung, welche das
Kosmische auf diese drei Menschen ausübt. Und wir
können uns zu den drei Menschen wenden, um zu
verspüren, was sie fühlen. Also zum Menschen
werden wir selbst dann gewiesen, wenn wir uns zum
Kosmischen aufschwingen sollen. Der Reflex des Kosmischen
im Menschenherzen wird gezeigt. Der Blick wird nicht
hinausgetragen in unermeßliche Weiten, sondern die
Wirkung des Kosmischen im menschlichen Herzen wird uns
gezeigt.
Ich
bitte noch einmal, diese Andeutungen nur stilistisch
aufzufassen. Denn so ist der Grundcharakter der Evangelien,
daß sie von verschiedenen Seiten schildern. Die Art
und Weise, wie sie schildern, ist durchaus
charakteristisch für das, was sie uns sagen wollen
über das größte Ereignis der Menschheits- und
Erdenevolution.
Das
ist auch zunächst das Allerbedeutsamste im Eingange des
Matthäus-Evangeliums, daß wir hingewiesen
werden auf die nächste Blutsverwandtschaft des Jesus
von Nazareth. Es wird uns darin gleichsam die Frage
beantwortet: Wie war die physische Persönlichkeit dieses
Jesus von Nazareth beschaffen? Wie summierten sich alle
Eigenschaften eines Volkes seit dem Stammvater Abraham in
dieser einen Persönlichkeit, damit in ihr jene
Wesenheit sich offenbaren konnte, welche wir die
Christus-Wesenheit nennen? Diese Frage wird uns
beantwortet. Es wird uns gesagt: Damit die
Christus-Wesenheit sich in einem physischen Leibe
inkarnieren konnte, dazu mußte dieser physische Leib
Eigenschaften haben, wie er sie nur haben konnte, wenn alle
Eigenschaften des Blutes jenes Volkes, das von Abraham
abstammte, summiert in einem Extrakt dargestellt wurden in der
einen Persönlichkeit: Jesus von Nazareth. Es soll
daher gezeigt werden: Dieses Blut in Jesus von Nazareth
führt wirklich zurück generationenweise bis zum
Stammvater des hebräischen Volkes. Daher ist die Wesenheit
dieses Volkes, das, was dieses Volk besonders für die
Weltgeschichte, für die Menschheits- und Erdenentwickelung
ist, insbesondere in der physischen Persönlichkeit
des Jesus von Nazareth zusammengedrängt. Was muß man
also zunächst kennen, wenn man die Absicht des Schilderers
des Matthäus-Evangeliums treffen will in bezug auf diese
Einleitung? Man muß das Wesen des hebräischen Volkes
kennen! Man muß sich die Frage beantworten können:
Welches konnte der Anteil sein, den das hebräische Volk
gerade durch seine Eigentümlichkeit der Menschheit
zu geben hatte?
Unsere äußere Geschichte, die äußeren
materialistischen Geschichtsschilderungen nehmen wenig
auf das Rücksicht, was hiermit angeführt wird. In der
äußeren Geschichte schildert man die
äußeren Tatsachen. Und da steht eigentlich so
ziemlich ein Volk neben dem anderen, weil man ganz abstrakt
schildert. Dabei tritt diejenige Tatsache, welche eine
fundamentale Tatsache ist für den, der die
Menschheitsentwickelung verstehen will, ganz zurück: jene
Tatsache nämlich, daß kein Volk in der
Menschheitsentwickelung dieselbe Aufgabe hat wie ein anderes,
sondern daß ein jedes Volk seine besondere Mission und
seine besonderen Aufgaben hat. Ein jedes Volk hat zu dem
Gesamtschatz, welcher der Erde durch die
Menschheitsentwickelung geliefert werden soll, einen Teil
beizutragen. Und jeder dieser Teile ist ein anderer, ein ganz
bestimmter. Ein jedes Volk hat seine bestimmte Mission. Nun
aber ist bis in die Details der physischen Verhältnisse
hinein ein jedes Volk so beschaffen, daß es diesen Anteil,
den es der gesamten Menschheit zu bringen hat, auch richtig
bringen kann. Mit anderen Worten, die Leiber der
Menschen, die zu einem Volke gehören, zeigen uns eine
solche Ausgestaltung sowohl des physischen Leibes wie auch des
Ätherleibes und des astralischen Leibes und eine solche
Zusammenfügung dieser Leiber, daß sie das rechte
Werkzeug werden können, damit jener Anteil zustande
komme, den ein jedes Volk für die gesamte Menschheit zu
leisten hat. - Welchen Anteil hatte nun insbesondere das
hebräische Volk zu leisten, und wie bildete sich dann die
Essenz dieses Anteiles des hebräischen Volkes zu dem Leibe
des Jesus von Nazareth?
Wenn man die Mission des hebräischen Volkes verstehen
will, muß man schon etwas tiefer hineinschauen in die
Gesamtentwickelung der Menschheit. Es wird notwendig sein,
einiges von dem, was Sie skizzenhaft in meiner
«Geheimwissenschaft im Umriß» und in
Vorträgen angedeutet finden können, hier etwas
genauer zu charakterisieren. Wir verstehen wohl am besten
den Anteil des hebräischen Volkes an der
Gesamtentwickelung der Menschheit, wenn wir wenigstens
mit einigen kurzen charakteristischen Strichen den
Ausgangspunkt nehmen von jener großen Katastrophe in
der Menschheitsentwickelung, welche wir die atlantische
Katastrophe nennen.
Als
die atlantische Katastrophe nach und nach über die
Erdenverhältnisse hereinbrach, zogen die Menschen,
welche damals auf dem alten atlantischen Kontinente wohnten,
von dem Westen nach dem Osten. Im wesentlichen waren bei diesem
Zuge zwei Strömungen vorhanden : eine Strömung,
welche sich mehr im Norden bewegte, und eine andere, die mehr
einen südlichen Weg nahm. Daher haben wir eine große
Menschheitsströmung von atlantischer Bevölkerung,
welche durch Europa hindurch bis nach Asien hinüberging;
und wenn man das Gebiet um den Kaspisee herum in Betracht
zieht, hat man ungefähr die Art, wie sich dieser
Völkerzug der atlantischen Bevölkerung
allmählich ausbreitete. Ein anderer Strom ging dagegen
durch das heutige Afrika hindurch. Und in Asien
drüben entstand dann eine Art von Zusammenströmen
dieser beiden Züge, wie wenn sich gleichsam zwei
Ströme treffen und einen Wirbel bilden.
Was
uns nun vorzugsweise interessieren soll, das ist, wie die
Anschauungsweise, die ganze Seelenform dieser Völker
oder wenigstens ihrer Hauptmassen war, welche da von der alten
Atlantis nach dem Osten hinübergeworfen wurden. Es war
tatsächlich so, daß in der ersten
nachatlantischen Zeit die ganze Seelenverfassung eine andere
war, als sie später geworden ist, und namentlich als sie
heute ist. Es war bei all diesen Völkermassen noch eine
mehr hellseherische Wahrnehmung der Umgebung vorhanden. Die
Menschen konnten damals Geistiges gewissermaßen noch
sehen, und auch das, was heute physisch gesehen wird, wurde auf
eine mehr geistige Art gesehen. Also eine mehr
hellseherische Lebens- und Seelenform war damals
vorhanden. Besonders wichtig ist es aber, daß dieses
Hellsehen der ursprünglichen nachatlantischen
Bevölkerung wieder in einer gewissen Beziehung anders war
als zum Beispiel das Hellsehen der atlantischen
Bevölkerung selbst in der eigentlichen Blütezeit der
atlantischen Entwickelung. In der Blütezeit der
atlantischen Entwickelung war das in einem hohen Grade
vorhandene hellseherische Vermögen der Menschen so,
daß sie hineinschauten auf reine Art in eine
geistige Welt, und daß die Offenbarungen der
geistigen Welt in der Menschenseele Impulse zum Guten
bewirkten. Und man könnte sogar sagen: Wer mehr
fähig war, in die geistige Welt hineinzuschauen, der
bekam in dieser Blütezeit atlantischer Entwickelung einen
größeren Impuls des Guten; und wer weniger
sehen konnte, bekam einen weniger hohen Impuls des
Guten.
Die
Veränderungen, die dann auf der Erde vor sich gingen,
waren allerdings so geartet, daß schon gegen das letzte
Drittel der atlantischen Zeit, besonders aber in der
nachatlantischen Zeit, gerade die guten Seiten des alten
Hellsehens immer mehr und mehr dahingeschwunden waren. Nur
diejenigen, welche in den Einweihungsstätten eine
besondere Schulung durchmachten, hatten die guten Seiten
des atlantischen Hellsehens bewahrt. Was dagegen auf
natürliche Art von dem atlantischen Hellsehen
geblieben war, nahm im Laufe der Zeit immer mehr einen solchen
Charakter an, daß man sagen kann: Was die Menschen da
sahen, führte sehr leicht zum Schauen gerade der
schlimmen, der verführerischen und versuchenden
Mächte des Daseins. Der hellseherische Menschenblick
war nach und nach kaum mehr stark genug, die guten Kräfte
zu schauen. Dagegen war es der Menschheit geblieben, Schlimmes
zu schauen, dasjenige, was Versuchung, Verführung für
die Menschen sein konnte. Und über bestimmte Gebiete der
nachatlantischen Bevölkerung war eine gar nicht gute
Form des Hellsehens verbreitet, ein Hellsehen, das eigentlich
selbst schon eine Art von Versucher war.
Mit
diesem Niedergehen der alten hellseherischen Kraft war nun
verbunden ein Aufblühen, eine allmähliche
Entwickelung jener Sinneswahrnehmung, die wir als die
normale für die heutige Menschheit erkennen. Die
Dinge, welche die Menschen in der ersten nachatlantischen Zeit
mit ihren Augen sahen und die der Mensch heute mit seinen
gewöhnlichen Augen sieht, waren damals gar nicht
verführerisch, weil die versuchenden Seelenkräfte
dafür noch nicht vorhanden waren. Durch ein
Äußeres, wodurch heute der Mensch so sehr zum
Genüß- ling werden kann, und wenn ein solcher Anblick
auch für den heutigen Menschen der verführerischste
wäre, fühlte sich der nachatlantische Mensch nicht
besonders verführt. Dagegen stachelte es ihn, wenn er
Erbstücke des alten Hellsehens entwickelte. Die gute Seite
der geistigen Welt sah er kaum mehr, aber das
Luziferische und das Ahrimani- sche wirkte da mit starker
Gewalt auf ihn, so daß er die Kräfte'und Mächte
sah, die Versucher und Täuscher sein konnten. Die
luziferi- schen und ahrimanischen Kräfte nahm also der
Mensch wahr mit seinen alten, vererbten Kräften des
Hellsehens. Worauf es nun ankam, das war, daß die
Führer und Lenker der Menschheitsevolution, die ihre
Weisheit zur Führung der Menschheit aus den Mysterien
erhielten, Anstalten trafen, daß die Menschen trotz dieses
Tatbestandes dennoch immer mehr und mehr zum Guten und zur
Klarheit kamen.
Nun
waren die Menschen, welche nach der atlantischen
Katastrophe sich nach dem Osten hinüber ausgebreitet
hatten, von sehr verschiedenen Entwickelungsstufen. Man
kann sagen, je weiter man nach dem Osten hinüberkam, desto
moralischer und geistig höher war die Entwickelungsstufe
der Menschen. In gewissem Sinne wirkte das, was sich als
äußeres Wahrnehmen wie eine neue Welt heranbildete,
mit immer größerer Klarheit; es wirkte immer mehr so,
daß es die Größe und Herrlichkeit der
äußeren Sinneswelt auf die Menschen wirken ließ.
Das war der Fall, je weiter man nach dem Osten hinüberkam.
Starke Anlagen nach dieser Seite hin hatten namentlich jene
Menschen, welche zum Beispiel in den Gegenden nördlich vom
heutigen Indien wohnten, bis zum Kaspischen Meer hin, bis zum
Oxus und Jaxartes. In diesem mittleren Gebiete Asiens war ein
Völkergemenge angesiedelt, das wirklich das Material
hergeben konnte zu mancherlei Volksströmungen, die
sich dann nach verschiedenen Seiten hin ausbreiteten, auch zu
jenem Volke, das wir in bezug auf seine spirituelle
Weltauffassung oft charakterisiert haben, zu dem
altindischen Volke.
Inmitten Asiens, bei diesem Völkergemenge, war bald nach
der atlantischen Katastrophe, zum Teil schon während
dieser Zeit, der Sinn für die äußere
Wirklichkeit schon sehr stark entwickelt. Dabei war aber bei
den Menschen, die auf diesem Gebiet inkarniert waren, noch eine
lebendige Erinnerung, eine Art Erinnerungserkenntnis an das
vorhanden, was sie in der atlantischen Welt erlebt hatten. Am
stärksten war dies bei jener Volksmasse der Fall, welche
dann nach Indien herunterzog. Sie hatte zwar ein
großes Verständnis für die Herrlichkeit der
äußeren Welt, sie war am weitesten fortgeschritten im
Beobachten der äußeren Sinneswahrnehmungen, aber
gleichzeitig war bei ihr am stärksten entwickelt die
Erinnerung an die alten spirituellen Wahrnehmungen der
atlantischen Zeit. Daher entwickelte sich bei diesem Volk ein
starker Drang nach der geistigen Welt hinauf, an die man sich
erinnerte, und eine Leichtigkeit, wieder hineinzublicken in die
spirituelle Welt - daneben aber ein Gefühl, daß
das, was die äußeren Sinne darboten, Maja oder
Illusion sei. Daher entsprang auch bei diesem Volke der Impuls,
nicht besonders auf die äußere Sinneswelt zu schauen,
sondern alles zu tun, damit die Seele - jetzt durch
künstliche Entwicklung, durch Joga - sich hinauferheben
könne zu dem, was während der alten atlantischen Zeit
der Mensch unmittelbar aus der spirituellen Welt haben
konnte.
Weniger stark war diese Eigenart, die Außenwelt zu
unterschätzen und als Maja oder Illusion anzuschauen und
dafür nur jene Impulse zu entwickeln, welche zum
Spirituellen hindrängen, bei dem im Norden von Indien
gebliebenen Volksteil ausgebildet. Das war aber ein
Volksgemenge, das in der tragischsten Situation war. In
der ganzen Art der Begabung des alten indischen Volkes lag es,
daß der Mensch mit einer gewissen Leichtigkeit eine
bestimmte Jogaentwickelung durchmachen konnte, durch die
er wieder hinaufgelangte in die Regionen, in welchen er in der
atlantischen Zeit gelebt hatte. Leicht war es für ihn, was
er als Illusion ansehen mußte, zu überwinden. Er
überwand es in der Erkenntnis. Es war für ihn ein
Höchstes die Erkenntnis: Diese Sinnenwelt ist eine
Illusion, ist Maja; aber wenn du deine Seele entwickelst,
wenn du dir Mühe gibst, dann gelangst du zu der Welt, die
hinter der Sinneswelt liegt! Also durch einen inneren Vorgang
überwand der Inder, was er als Maja oder Illusion
ansah, und was er auch überwinden wollte.
Anders war es bei den nördlichen Völkern, welche in
der Geschichte dann die Arier im engeren Sinne genannt werden:
bei den Persern, Me- dern, Bakterern und so weiter. Da war auch
stark der Sinn entwickelt für äußere Anschauung,
für den äußeren Intellekt. Aber es war der
innere Drang, der Impuls, dasselbe durch innere Entwickelung,
durch eine Art von Joga erreichen zu wollen, was der
atlantische Mensch auf naturgemäße Weise hatte, nicht
besonders stark vorhanden. Es war die lebendige Erinnerung bei
den nördlichen Völkern nicht so vorhanden,
daß sie sie umsetzten in ein Streben, die Illusion der
äußeren Welt in der Erkenntnis zu überwinden.
Die Seelenverfassung der Inder war nicht bei diesen
nördlichen Völkern vorhanden. Bei ihnen war eine
Seelenverfassung vorhanden, in der ein jeder bei dem
iranischen, persischen oder medischen Volke so etwas
fühlte, was, wenn wir es mit unseren heutigen Worten
aussprechen wollten, sich in folgender Weise ausnehmen
würde: Wenn wir als Menschen einstmals in der spirituellen
Welt darinnen waren und Geistiges, Seelisches erlebt und
gesehen haben, und jetzt in die physische Welt hinausversetzt
sind und vor einer Welt stehen, die wir mit unseren Augen
sehen, mit dem Intellekt begreifen, welcher an das Gehirn
gebunden ist, dann liegt der Grund dazu nicht bloß im
Menschen, und man kann das, was da zu überwinden ist,
nicht bloß im Inneren des Menschen überwinden, es ist
nichts Besonderes dadurch getan! - Es hätte der Iranier
gesagt: Es muß nicht nur mit dem Menschen eine
Veränderung vorgegangen sein, es muß sich die Natur
und alles, was auf der Erde ist, verändert haben, wenn der
Mensch heruntergestiegen ist. Daher kann es nicht genügen,
daß wir Menschen dasjenige, was um uns herum ist, lassen
wie es ist, und einfach sagen: Es ist alles Illusion, Maja, und
wir selber steigen hinauf in die geistige Welt! Dann
ändern wir zwar uns, aber nicht das, was sich in der
ganzen umliegenden Welt geändert hat. - Daher sagte
er nicht: Draußen breitet sich die Maja aus, ich selbst
werde diese Maja überschreiten, in mir selbst die
Überwindung der Maja und damit die spirituelle Welt
erreichen! - Nein, er sagte: Der Mensch gehört mit der
übrigen umliegenden Welt zusammen, er ist nur ein Glied
davon. Wenn also das, was göttlich im Menschen ist, und
was aus göttlich-geistigen Höhen heruntergestiegen
ist, umgewandelt werden soll, so darf nicht bloß das
zurückverwandelt werden, was im Menschen ist, sondern es
muß auch dasjenige zurückverwandelt werden, was
in unserer Umgebung ist. - Das gab diesen Völkern
besonders den Impuls, tatkräftig einzugreifen in die
Umgestaltung und Umschaffung der Welt.
Während man in Indien sagte: Die Welt ist
heruntergestiegen; was sie jetzt bietet, ist Maja -, sagte man
nördlich davon: Gewiß, die Welt ist
heruntergeschritten; aber wir müssen sie so
verändern, daß wieder ein Geistiges aus ihr wird! -
Sinnen, Erkenntnis-Sinnen war der Grundcharakter des indischen
Volkes. Mit der Welt wurde dieses Volk dadurch fertig, daß
es die Sinnes Wahrnehmung Illusion oder Maja nannte. Tatkraft,
äußere Energie, Wille zum Umarbeiten dessen, was in
der äußeren Natur ist, das war der Grundcharakter des
iranischen Volkes und der übrigen nördlichen
Völker. Sie sagten: Was um uns herum ist, das ist aus
Göttlichem heruntergestiegen; aber der Mensch ist dazu
berufen, es zum Göttlichen wieder
zurückzuführen! - Was im Grunde genommen schon im
Volkscharakter lag bei den Iraniern, das wurde auf ein
Höchstes gehoben und mit der größten Energie
durchsetzt bei den geistigen Führern, die aus den
Mysterien hervorgingen.
Vollständig verstehen, auch äußerlich, kann man
das, was ostwärts und südwärts vom Kaspisee sich
abspielte, nur dann, wenn man es vergleicht mit dem, was
mehr nördlich davon vorging, also in Gegenden, die an das
heutige Sibirien, an das heutige Rußland angrenzen, sogar
bis nach Europa hinein sich erstrecken. Da waren Menschen,
welche sich in hohem Grade das alte Hellsehen bewahrt hatten,
und bei denen sich in gewisser Beziehung die Waage hielten die
Möglichkeit des alten geistigen Wahrnehmens und die des
sinnlichen Anschauens, des neuen Verstandesdenkens. Bei ihnen
war in weitesten Kreisen noch ein Hineinschauen in die
geistige Welt vorhanden. Wenn man den Charakter dieses
Hineinschauens in die geistige Welt, das allerdings schon auf
eine niedere Stufe heruntergestiegen war und bei diesen
Völkerschaften im wesentlichen - wie wir heute sagen
würden - ein niederes astra- lisches Hellsehen war, in
Betracht zieht, so ergibt sich für die
Gesamtentwickelung der Menschheit eine bestimmte Folge
daraus. Wer mit dieser Art von Hellsehen begabt ist, wird ein
ganz bestimmter Mensch. Der Mensch erhält da eine gewisse
Charakteranlage. Das zeigt sich besonders bei diesen
Völkermassen, die im Volkscharakter dieses niedere
Hellsehen hatten. Ein solcher Mensch hat im wesentlichen den
Drang, von der Naturumgebung zu fordern, was er zu seinem
Lebensunterhalt braucht, und möglichst wenig zu tun,
um es der Natur zu entreißen. Schließlich
weiß er ja, so wahr wie der heutige Sinnenmensch
weiß, daß es Pflanzen, Tiere und so weiter gibt,
daß es göttlich-geistige Wesenheiten gibt, die in
alledem darinnenstecken; denn er sieht sie. Er weiß auch,
daß sie die mächtigen Wesen sind, die hinter den
physischen Wesenheiten stehen. Aber er kennt sie auch so genau,
daß er von ihnen fordert, sie sollen ihm ohne viel Arbeit
das Dasein fristen, in das sie ihn hineingestellt haben. Man
könnte vieles anführen, was äußerlicher
Ausdruck ist für die Stimmung und Gesinnung dieser
astralisch hellsehenden Menschen. Nur eines soll jetzt
dafür angeführt werden.
In
dieser Zeit, die jetzt für uns zu betrachten wichtig ist,
waren alle diese Völkerschaften, die mit einem in der
Dekadenz begriffenen Hellsehen begabt waren,
Nomadenvölker, die, ohne seßhaft zu sein, ohne feste
Wohnsitze zu gründen, als Hirten herumstreiften, keinen
Fleck besonders lieb hatten, auch das, was die Erde ihnen bot,
nicht besonders pflegten, und auch gern bereit waren zu
zerstören, was um sie herum war, wenn sie etwas
brauchten zu ihrem Lebensunterhalt. Aber etwas zu leisten, um
das Kulturniveau zu erhöhen, um die Erde
umzugestalten, dazu waren diese Völker nicht
aufgelegt.
So
entstand der große, der wichtige Gegensatz, der vielleicht
zu dem Allerwichtigsten der nachatlantischen Entwickelung
gehört: der Gegensatz zwischen diesen mehr nördlichen
Völkern und den iranischen Völkern. Bei den
Iraniern entwickelte sich die Sehnsucht, einzugreifen in
das Geschehen rings um sie herum, seßhaft zu werden, was
man als Mensch und als Menschheit hat, durch Arbeit sich zu
erringen, das heißt also wirklich durch die menschlichen
Geisteskräfte die Natur umzugestalten. Das war gerade in
diesem Winkel der größte Drang der Menschen. Und
unmittelbar daran stieß nach Norden jenes Volk, das
hineinschaute in die geistige Welt, das sozusagen auf «du
und du» war mit den geistigen Wesenheiten, das aber nicht
gern arbeitete, das nicht seßhaft war und gar kein
Interesse daran hatte, die Kulturarbeit in der physischen Welt
vorwärts zu bringen.
Das
ist der größte Gegensatz vielleicht, der sich
äußerlich in der Geschichte der nachatlantischen
Zeiten gebildet hat, und der rein eine Folge ist der
verschiedenen Arten der Seelenentwickelung. Es ist der
Gegensatz, den man in der äußeren Geschichte auch
kennt: der große Gegensatz zwischen Iran und Turan. Aber
man kennt nicht die Ursachen. Hier haben wir jetzt die
Gründe.
Im
Norden, nach Sibirien hinein: Turan, jenes Völkergemenge,
das in hohem Grade mit den Erbstücken eines niederen
astralischen Hellsehens begabt war, das infolge dieses
Lebens in der geistigen Welt keine Neigung und keinen Sinn
hatte, eine äußere Kultur zu begründen,
sondern - weil diese Menschen mehr passiver Art waren und sogar
zu ihren Priestern vielfach niedere Magier und Zauberer hatten
- sich namentlich da, wo es auf das Geistige ankam, mit
niederer Zauberei, ja zum Teil sogar mit schwarzer Magie
beschäftigte. Im Süden davon: Iran, jene Gegenden, in
denen frühzeitig der Drang entstand, mit den primitivsten
Mitteln dasjenige, was in der Sinnes weit uns gegeben ist,
durch menschliche Geisteskraft umzugestalten, so daß auf
diese Weise äußere Kulturen entstehen
können.
Das
ist der große Gegensatz zwischen Iran und Turan. In einer
schönen Weise wird mythisch, legendenhaft angedeutet, wie
der nach dieser Kulturseite vorgeschrittenste Teil der Menschen
von Norden herunterzog bis in die Gegend, die wir als die
iranische angesprochen haben. Und wenn uns in der Legende von
Dschemshid, jenem Könige, der seine Völker von Norden
heruntergeführt hat nach Iran, erzählt wird: er bekam
von jenem Gotte, der nach und nach anerkannt werden wird,
den er Ahura Mazdao nannte, einen goldenen Dolch, mit dem er
seine Mission auf der Erde erfüllen sollte - dann
müssen wir uns klar sein, daß mit dem goldenen Dolch
des Königs Dschemshid, der seine Völker
herausentwickelte aus der trägen Masse der Turanier,
dasjenige gegeben war, was das an die äußeren
Menschenkräfte gebundene Weisheitsstreben ist, jenes
Weisheitsstreben, welches die vorher in Dekadenz
gekommenen Kräfte wieder heraufentwickelt und sie
durchdringt und durchwebt mit dem, was der Mensch auf dem
physischen Plan an Geisteskraft erringen kann. Dieser
goldene Dolch hat als Pflug die Erde umgegraben, hat aus der
Erde Ackerland gemacht, hat die ersten primitivsten Erfindungen
der Menschheit gebracht. Er hat fortgewirkt und wirkt bis heute
in alledem, auf das die Menschen als ihre
Kulturerrungenschaften stolz sind. Das ist etwas Bedeutsames,
daß der König Dschemshid, der herunterzog aus Turan
in die iranischen Gebiete, von Ahura Mazdao diesen goldenen
Dolch erhielt, der den Menschen die Kraft gibt, sich die
äußere sinnliche Welt zu erarbeiten.
Dieselbe Wesenheit, von der dieser goldene Dolch stammt, ist
auch der große Inspirator jenes Führers der
iranischen Bevölkerung, den wir als Zarathustra oder
Zoroaster, Zerdutsch kennen. Und Zarathu- stra war es, der in
uralten Zeiten - bald nach der atlantischen Katastrophe -
mit den Gütern, die er aus den heiligen Mysterien
heraustragen konnte, jenes Volk durchdrang, das den Drang
hatte, die äußere Kultur mit menschlicher
Geisteskraft zu durchweben. Dazu sollte Zarathustra
diesen Völkern, die nicht mehr die alte atlantische
Fähigkeit hatten, hineinzuschauen in die geistige Welt,
neue Aussichten und neue Hoffnungen auf die geistige Welt
geben. So eröffnete Zarathustra jenen Weg, den wir
öfter besprochen haben, auf dem die Völker einsehen
sollten, daß in dem äußeren Sonnenlichtleib nur
gegeben ist der äußere Leib eines hohen geistigen
Wesens, welches er, im Gegensatz zu der kleinen menschlichen
Aura, die «Große Aura», Ahura Mazdao nannte. Er
wollte damit andeuten, daß dieses zwar jetzt noch weit
entfernte Wesen einstmals heruntersteigen würde auf
die Erde, um innerhalb der Menschheitsgeschichte sich
substantiell mit der Erde zu vereinigen und im
Menschheitswerden weiter zu wirken. Damit wurde für diese
Menschen von Zarathustra auf dieselbe Wesenheit
hingewiesen, die später in der Geschichte als der Christus
lebte.
Damit hatte Zarathustra oder Zoroaster etwas Großes, etwas
Gewaltiges vollbracht. Er hatte der neuen
nachatlantischen Menschheit, der entgötterten Menschheit,
wieder den Aufstieg gebracht zu einem Geistigen und die
Hoffnung, daß die Menschen mit den Kräften, die
heruntergestiegen waren auf den physischen Plan, dennoch zum
Geistigen kommen können. Der alte Inder erreichte
das alte Geistige wieder in einer gewissen Weise durch
die Jogaschulung. Ein neuer Weg aber sollte den Menschen
eröffnet werden durch das, was Zarathustra brachte.
Zarathustra hatte nun einen bedeutsamen Beschützer. - Ich
möchte ausdrücklich betonen, daß ich von
Zarathustra als von einem Wesen spreche, welches schon die
Griechen in die Zeit fünftausend Jahre vor dem
Trojanischen Krieg versetzten, das also nichts zu tun hat mit
dem, was die äußere Geschichte als Zarathustra
bezeichnet, und auch nichts mit dem, was in der Zeit des Darius
als Zarathustra erwähnt wird. - Der Zarathustra dieser
alten Zeiten hatte einen Beschützer, welcher mit dem
später üblich gewordenen Namen Guschtasb bezeichnet
werden kann. Wir haben also in Zarathustra eine
mächtige priesterhafte Natur, welche auf den großen
Sonnengeist, auf Ahura Mazdao, hinweist, auf jene
Wesenheit, welche der Führer sein soll für die
Menschen aus dem äußeren Physischen zurück
zum Geistigen. Und in Guschtasb haben wir die königliche
Natur dessen, der geneigt war, alles zu tun auf dem
äußeren Gebiete, was die großen Inspirationen
Zarathustras in der Welt verbreiten konnte. Daher konnte es
nicht ausbleiben, daß diese Inspirationen und diese
Intentionen, welche in dem alten Iran durch Zarathustra, durch
Guschtasb sich geltend machten, zusammenstießen mit
dem, was unmittelbar nördlich dieses Gebietes war.
Und es entwickelte sich durch diesen Zusammenstoß
tatsächlich einer der größten Kriege, die
es in der Welt gegeben hat, von dem die äußere
Geschichte nicht viel berichtet, weil er in uralte Zeiten
fällt. Es war ein gewaltiger Zusammenstoß zwischen
Iran und Turan. Und es entwickelte sich aus diesem Kriege, der
nicht Jahrzehnte, der Jahrhunderte dauerte, eine gewisse
Stimmung, die lange Zeit im Inneren Asiens andauerte,
eine Stimmung, die etwa in folgender Weise in Worte gefaßt
werden muß.
Der
Iranier, der Zarathustra-Mensch, sagte sich etwa folgendes:
Überall, wo wir hinschauen, gibt es eine Welt, die zwar
herabgestiegen ist aus dem Göttlich-Geistigen, die sich
aber jetzt darstellt wie ein Abfall von der früheren
Höhe. Wir müssen voraussetzen, daß alles, was um
uns herum ist als die Welt der Tiere, Pflanzen und Mineralien,
früher höher war, und daß alles dies in
Dekadenz gekommen ist. Der Mensch aber hat die Hoffnung, es
wieder hinaufzuführen. - Nehmen wir zum Beispiel ein Tier.
Reden wir so, daß wir das, was in dem Gefühl
eines Iraniers lebte, übersetzen in unsere Sprache, und
reden wir so, wie etwa ein Lehrer in der Schule zu seinen
Schülern reden würde, wenn er eine ähnliche
Gesinnung charakterisieren wollte. Dann könnten wir
sagen: Sieh dir an, was du um dich herum hast. Das war
früher geistiger; jetzt ist es heruntergestiegen, ist in
Dekadenz gekommen. Nehmen wir einmal den Wolf. Das Tier, das im
Wolf ist, das du als sinnliches Wesen siehst, ist
heruntergestiegen, ist in Dekadenz gekommen. Es zeigte
vor allen Dingen früher seine schlechten
Eigenschaften nicht. Du aber, wenn in dir selbst gute
Eigenschaften keimen, wenn du deine guten Eigenschaften und
geistigen Kräfte zusammen nimmst, du kannst das Tier
zähmen. Du kannst ihm einverweben deine eigenen
Eigenschaften. Dann kannst du aus dem Wolf einen zahmen Hund
bilden, der dir dient! Da hast du in Wolf und Hund zwei Wesen,
die gleichsam zwei Weltenströmungen charakterisieren. -
Die Menschen, die ihre geistigen Kräfte verwendeten,
um die Umwelt zu bearbeiten, sie waren imstande, die
Tiere zu zähmen, auf eine höhere Stufe zu bringen,
während die anderen, welche ihre Kräfte nicht dazu
verwendeten, die Tiere so ließen, wie sie waren, so
daß sie immer tiefer und tiefer sinken mußten. Das
sind zwei verschiedene Kräfte. Die eine tritt in der
Stimmung hervor: Wenn ich die Natur so lasse, wie sie ist, dann
sinkt sie immer tiefer und tiefer herunter, dann wird alles
wild. Die andere: Aber ich kann meine geistigen Augen auf eine
gute Macht richten, deren Bekenner ich bin, dann hilft sie mir,
dann kann ich das, was hinuntersinken will, mit ihrer Hilfe
wieder hinaufführen. Diese Macht, zu der ich hinaufblicken
kann, sie kann mir die Hoffnung zu einer Weiterentwickelung
geben! - Diese Macht identifizierte sich für den Iranier
mit Ahura Mazdao, und er sagte sich: Alles, was der Mensch tun
kann, um die Kräfte der Natur zu veredeln, um sie
hinaufzuheben, das kann geschehen, wenn der Mensch sich
verbindet mit Ahura Mazdao, mit der Kraft des Ormuzd. Ormuzd
ist eine aufwärtsgehende Strömung. Wenn der
Mensch aber die Natur so läßt, wie sie ist, dann kann
man sehen, wie alles in die Wildheit hineintreibt. Das kommt
von Ahriman! - Und nun entwickelte sich folgende Stimmung im
iranischen Gebiete: Im Norden von uns gehen viele Menschen
herum. Sie sind im Dienste von Ahriman. Das sind die
Ahrimanleute, die nur in der Welt herumstreifen und nur nehmen,
was ihnen die Natur bietet, die nicht Hand anlegen wollen, um
die Natur zu vergeistigen. Wir aber wollen uns verbünden
dem Ormuzd, dem Ahura Mazdao!
So
fühlte man in der Welt die Zweiheit, die da auftrat. So
fühlten die iranischen Menschen, die Zarathustra-Menschen,
und was sie so fühlten, das brachten sie auch in den
Gesetzen zum Ausdruck. Sie wollten ihr Leben so einrichten,
daß in der äußeren Gesetzgebung der Drang nach
aufwärts zum Ausdruck kommen sollte. Das war die
äußere Folge des Zarathustrismus. So müssen wir
den Gegensatz von Iran und Tu- ran ansprechen. Und jenen Krieg,
von dem die okkulte Geschichte so vieles und so Genaues
berichtet, den Krieg zwischen Ardschasb und Guschtasb, wovon
der eine der König derTuranier war und der andere der
Beschützer des Zarathustra, diesen Krieg als Gegensatz
zwischen Nord und Süd müssen wir als Stimmung
sich fortsetzen sehen auf die beiden Gebiete Iran und Turan.
Wenn wir das begreifen, werden wir fließen sehen
eine gewisse Seelenströmung von Zarathustra aus auf die
ganze Menschheit, auf die er gewirkt hat.
So
mußte zunächst charakterisiert werden, wie das ganze
Milieu, die ganze Umgebung war, in welche Zarathustra
hineingestellt war. Denn wir wissen ja, daß diejenige
Individualität, die in das Blut, das von Abraham durch
dreimal vierzehn Generationen hinunterfloß, sich hin-
eininkarnierte und die im Matthäus-Evangelium als Jesus
von Naza- reth auftritt, die Zarathustra-IndividuaHtät
war. Sie mußten wir zunächst dort aufsuchen, wo
sie uns zuerst in der nachatlantischen Zeit entgegentritt. Und
jetzt entsteht für uns die Frage: Wieso war gerade das
Blut, das von Abraham in Vorderasien durch die Generationen
hinunterrann, dasjenige, welches am besten geeignet sein konnte
für eine spätere Leiblichkeit des Zarathustra? Denn
eine der nachfolgenden Inkarnationen des Zarathustra ist
der Jesus von Nazareth.
Damit diese zweite Frage aufgeworfen werden kann, war es
notwendig, zuerst die Frage nach dem Zentrum aufzuwerfen
und zu beantworten, nach jenem Zentrum, das sich in
diesem Blute zum Ausdruck bringt. Wir haben in der
Zarathustra-Individualität dieses Zentrum, welches sich in
dieses Blut des hebräischen Volkes hineininkarniert. Wir
werden nun morgen zu besprechen haben, warum es gerade dieses
Blut, dieses Volkstum sein mußte, aus dem Zarathustra
seine äußere Leiblichkeit nahm.
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