ERSTER VORTRAG
Dornach, 15. Februar 1919
Unter den Vorträgen, die ich in der letzten Zeit hier gehalten
habe, waren eine Anzahl über die jetzt
drängende, brennende soziale Frage. Daß
das, was man soziale Frage seit langem auch in der
Gegenwart nennt, etwas im sozialen Leben der ganzen Menschheit
Drängendes und Brennendes ist, das kann ja heute
jeder wissen, der nicht wie ein seelisch Schlafender die
Ereignisse, in die sein eigenes Dasein hinein versponnen ist,
beobachtet. Inwiefern in den Lebensnotwendigkeiten der modernen
Menschheit, und inwiefern in der ganzen neueren
Entwickelung der Menschheit die soziale Frage eine
bestimmte Gestaltung — die Gestaltung, die heute so
einschneidend für das Leben ist —
angenommen hat, das kann aus den Vorträgen
ersehen werden, die ich hier gehalten habe, und die ich auch,
wenigstens in ihrem Extrakt, an einzelnen Orten der Schweiz
öffentlich gehalten habe. So ist unter uns, die wir
in die anthroposophische Bewegung hinein verstrickt sind,
gewissermaßen das Bedürfnis gekommen, auch von
unserem Gesichtspunkte aus über die Schicksale
der Menschheit, namentlich auch mit Bezug auf die soziale
Frage, irgendwie zu einem Urteil zu kommen, das durch die uns
mögliche Weise in die Wirklichkeit umgesetzt
werden könnte.
Längere Zeit schon haben sich Mitglieder von uns
bemüht, ihre Kraft in den Dienst unserer so
schwierigen Zeit zu stellen. Mancherlei 1st dabei bedacht,
mancherlei in Aussicht genommen worden.
Selbstverständlich, meine lieben Freunde, kann
ja jeder nur in der Weise in die Ereignisse eingreifen wollen,
in der er durch sein Schicksal, durch sein Karma, durch seine,
sagen wir, Menschheitsposition vorbestimmt ist, die ihm
vorgezeichnet ist. Nun, aus den verschiedenerlei
Aspirationen, die aus unserer Mitte herausgekommen sind,
ergab sich dann das Folgende: die drei Herren, welche es sich
zur besonderen Aufgäbe gesetzt haben, in
Stuttgart zu arbeiten in einem Sinne, der den
Lebensnotwendigkeiten der gegenwärtigen Zeit
angemessen ist, diese drei Herren, die Sie ja gut kennen
— Herr Molt, Herr Dr. Boos, Herr
Kuhn —, erschienen bei mir im Beginne des Februar,
und es entstand die Absicht, dasjenige, was wir aus unserer
Weltauffassung und Lebensanschauung gewinnen
können, so gut es zunächst geht und wie
es zunächst zweckmäßig erscheint,
gewissermaßen praktisch zu machen. Nun, meine lieben
Freunde, wenn es sich nicht um Betrachtungen, sondern wenn es
sich um Wirklichkeiten handelt, dann kann ja immer nur die Rede
davon sein, was in einem ganz bestimmten Zeitpunkte das
Angemessene, das Entsprechende ist; was geeignet ist, in einer
gewissen Beziehung einen Anfang zu machen. Wer nicht einen
Anfang, einen angemessenen Anfang machen will, sondern gleich,
wie man sagt, mit der Tür ins Haus fallen will, wird
in der Regel nichts Besonderes erreichen.
Nach den Antezedenzien, die da vorlagen, handelte es sich uns
darum, zunächst irgend etwas zu tun, was uns im
gegenwärtigen Zeitpunkt richtig scheinen kann
gerade mit Bezug auf das schwergeprüfte deutsche
Volk. Wenn man den Blick auf die gegenwärtigen
Ereignisse wirft, dann stellt sich ja als
zunächst bedeutsamste Erscheinung die heraus —
ich habe sie oftmals hier charakterisiert —, daß
eine Kluft, ein Abgrund ist zwischen den Menschenklassen: auf
der einen Seite alles, was die bisher die Geschicke der
Menschheit mehr oder weniger leitenden Kreise waren — und
auf der anderen Seite das eben gerade mit den realen
Forderungen der sozialen Frage heraufrückende
Proletariat. Das Proletariat kommt allerdings
für den Einsichtigen in zwei Gestalten in Betracht:
das Proletariat als solches und die Führer des
Proletariats. Ich habe oftmals hier auseinandergesetzt, wie
alle die Gedanken, Empfindungen, die Aspirationen, die Impulse,
welche die Führer des Proletariats in ihren
Köpfen haben, und von denen aus sie ihren
Einfluß gewinnen innerhalb des Proletariats, im Grunde die
Erbschaft des bourgeoisen Denkens der letzten Jahrhunderte
sind. Nun, darüber haben wir von den verschiedensten
Gesichtspunkten aus hier ja gesprochen und die Dinge zu
erhärten versucht.
Also eine der bedeutsamsten Erscheinungen aber blieb doch
diese, daß eine tiefe Kluft zwischen diesen beiden, sagen
wir, Menschengruppen ist. In den letzten Tagen konnte ja jedem,
der die Zeitgeschichte miterlebt, diese Kluft deutlich
vor Augen treten: auf der einen Seite Paris, wo von einem
gewissen Gesichtspunkte aus, der eben derjenige der bisher
leitenden Kreise der Menschheit ist, diese Geschicke der
Menschheit und der Gegenwart in die Hand genommen werden
— auf der anderen Seite Bern mit einer Versammlung, in
der alles dasjenige lebt, was durch eine tiefe Kluft geschieden
ist von dem anderen. Wer aufmerksam verfolgt hat, was von Paris
ausgeht, wer aufmerksam verfolgt hat, was in Bern versucht
worden ist auf dem sozialistischen Kongreß, der wird nicht
umhin können, sich zu gestehen, daß das
Wesentliche, das, was bedeutsam, dauernd eingreifen wird in die
Menschheitsentwickelung, zunächst wohl gar nicht
dasjenige ist, was in Paris, in Bern gedacht und gewollt
wird, sondern das Wesentliche ist, daß an diesen zwei
Orten zwei ganz verschiedene soziale Sprachen gesprochen
werden. Und wenn man innerlich ehrlich ist, so kann man
nicht anders, als sich gestehen: das sind zwei total
voneinander verschiedene Sprachen, in denen man sich
vorläufig nicht verstehen kann.
Das
ist eine so fundamental wichtige Erscheinung, eine so
bedeutsame Erscheinung, daß gerade bei
gehöriger Betrachtung jedem die Richtigkeit dessen
auffallen kann, was ich hier oftmals gesagt habe: daß das
Aufsuchen viel tieferer Grundlagen nötig ist, um
diese Dinge zu verstehen, um an den
Lösungsmöglichkeiten dieser Dinge
mitzuarbeiten, als die Grundlagen sind, die auf der einen
oder anderen Seite heute noch gesucht werden. Es kommt einem
immer wiederum so vor, wie ich vorgestern im
öffentlichen Vortrage in Basel gesagt habe: da ist
heute die soziale Frage, die soziale Bewegung über
einen großen Teil der zivilisierten Menschheit schon als
eine Tatfrage, als eine Ereignisfrage von so
einschneidender Bedeutung im geschichtlichen Leben der
Menschheit da, daß wohl kaum in diesem geschichtlichen
Leben je etwas so tief Einschneidendes für die ganze
Menschheit der Erde da war; denn so läßt es
sich für jeden Einsichtigen an. Die Grundlagen
müssen tiefer sein. Und wie oft habe ich hier darauf
aufmerksam gemacht: die tieferen Grundlagen findet man nur in
jener Wirklichkeitsbetrachtung, von der hier in der
geisteswissenschaftlichen Bewegung, in der
anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft, auch
für die soziale Betrachtung des Lebens und der Dinge
ausgegangen wird.
Ich
habe gerade bei unserer Silvesterbetrachtung auf etwas
Bedeutsames, wie ich glaube, hingewiesen, darauf,
daß es heute möglich ist, ganz und gar in bezug
auf die Menschheit pessimistisch zu sein, pessimistisch
zu sein nicht auf Grundlage irgendeines emotionellen
Urteiles, sondern auf Grundlage wirklicher sozialer
Rechnung. Ich habe Ihnen dazumal einen Aufsatz vorgelesen von
einem Manne, der wirklich so sozial rechnen kann. Und ich
habe Ihnen gesagt: es ist nur nüchtern, so
pessimistisch zu denken, wenn man nicht auf der anderen Seite
das volle Bewußtsein noch haben kann, daß das
Sich-Wenden an den Geist noch helfen kann. Aber dieses
Bewußtsein sollte sich immer weiter und weiter verbreiten,
daß nur Grund ist zum Glauben an
zerstörerische Kräfte, die
furchtbar wirken werden in den nächsten
Jahrzehnten, wenn die Menschen sich nicht an das, was
für die Wirklichkeitsbetrachtung aus der
Geisteswissenschaft folgt, wenden wollen.
Selbstverständlich sind nicht die Dogmen der einen
oder anderen geisteswissenschaftlichen Richtung gemeint,
sondern gemeint ist überhaupt ein Appellieren
an die Geisteskräfte, welche in diesem
bedeutsamen Wendepunkte der Entwickelung der Menschheit
die einzig heilsamen und helfenden Kräfte sein
können.
So
wird in einer gewissen Weise diese anthroposophisch orientierte
Geisteswissenschaft, weil sie ja nicht aus einer
Willkür hervorgegangen ist, sondern aus der
Beobachtung der Zeitenkräfte, zugleich in einem
ihrer Glieder im eminentesten Sinne ein Zeitheilmittel. Sie ist
ja wirklich nicht aus der Willkür entsprungen. Sie
ist ja wirklich nicht ein Programm eines Einzelnen oder
einzelner Individuen, sondern sie ist hervorgegangen aus der
Beobachtung dessen, was die geistige Weltenlenkung selber
diktiert als notwendig zum Hereinkommen in den
gegenwärtigen Menschheitsverlauf. Deshalb nur
kann man von anthroposophisch orientierter Geisteswissenschaft
so sprechen, sonst wäre solches Sprechen ja
selbstverständlich eine Anmaßung. Aber was
seinem Ursprunge nach aus ehrlicher Bescheidenheit
hervorgeht, braucht, wenn es sich geltend machen will, nicht
vor dem Vorwurf zurückzuschrecken, den die Torheit
machen kann, daß es sich um eine Anmaßung
handelt.
Man
kann sagen, von Paris strahlt aus alles dasjenige, was auf den
Schwingen einer Lebensauffassung strömte, welche
deutlich zeigt, daß sie sich in den letzten viereinhalb
Jahren ad absurdum geführt hat. Von Bern
strömte aus, was eine Anzahl von Menschen
für ein Heilmittel hält, was aber
aus einem nicht genügend tiefen Quell
geschöpft ist. Von Paris strömt aus,
wovor sich fast die ganze Menschheit fürchtet;
von Bern wollte dasjenige ausströmen, worauf eine
große Anzahl von Menschen glaubt hoffen zu
können. Und diese beiden Dinge sprechen heute noch
eine ganz verschiedene Sprache. Man kann sich
hinüber und herüber über den
Abgrund nicht verständigen. Man wird sich erst
verständigen, wenn man den inneren Appell der Seele
an die Geisteswissenschaft wird stellen wollen.
Aus
solchen Impulsen heraus entstand der Gedanke,
zunächst zum Verständnis wenigstens eines
Teiles der Menschen zu sprechen. Denn auf
Verständnis kommt es an. Das habe ich immer wieder
und wiederum betont: wir kommen nicht weiter im sozialen
Chaos, wenn es uns nicht gelingt, bevor die Instinkte allzu
zügellos werden, bei einer genügend
großen Anzahl von Menschen der zivilisierten Welt
Verständnis hervorzurufen. Das ist ja auch
dasjenige, was dem Geiste meiner Vorträge jetzt
zugrunde gelegen hat in Zürich, Bern und Basel. Mit
den verschiedenen Menschen, mit denen ich gesprochen habe in
dieser Zeit, konnte immer wieder und wiederum die Frage
erörtert werden: Wie kann man den Zugang zum
Verständnisse finden oder: Ist es denn
überhaupt noch möglich, bevor ein
vollständiges Debakel hereinbricht, den Weg zum
Verständnis der Menschen zu finden? — Nun, die
letztere Frage kann ja für einen in der
Wirklichkeit denkenden Menschen nicht aufgeworfen werden.
Denn ein in der Wirklichkeit denkender Mensch stellt nicht
Hypothesen auf über dasjenige, was
möglich oder unmöglich ist, sondern er
greift zu dem, von dem er für notwendig
hält, daß es getan werde. Wenn man einen Weg
geht, dann handelt es sich darum, den ersten Schritt zu machen.
Und man soll ja nicht glauben, wenn der erste Schritt anders
ausschaut als das, was man als Ziel ansehen will, daß
deshalb dieser erste Schritt unzweckmäßig sein
könnte. Der erste Schritt eines weiten Weges kann
sich ja immer nur erstrecken über eine sehr kleine
Strecke dieses Weges. Es handelt sich nur darum, daß, wenn
man nach einem bestimmten Ziele geht, man erstens nicht
nach der entgegengesetzten Richtung oder nach links oder nach
rechts von dem Ziele geht, und zweitens handelt es sich darum,
daß man den Willen hat, wenn man die Wegrichtung einmal
angetreten hat, bei dieser Wegrichtung auch zu verbleiben, sich
nicht durch alles mögliche nach links und rechts
stoßen zu lassen. Außerdem muß man bei
Zeitereignissen anknüpfen an dasjenige, was da ist,
nicht in die Luft hinein bauen, wenn man sich auf einen
gewissen Wirklichkeitsstandpunkt stellen will. Der
Gedanke muß an irgend etwas anknüpfen,
was gewissermaßen gezeigt hat, daß sich nach einer
Richtung hin eine reale Strömung ergießt.
Manchmal kann es auch scheinen, als ob der erste Schritt
etwas höchst Unglückseliges
wäre. Daß er es nicht ist, kann sich vielleicht
erst nach einiger Zeit herausstellen.
Als
nun die drei genannten Herren, Herr Molt, Herr Dr. Boos und
Herr Kühn, mit mir verhandeln wollten
über die Sache, so konnte es sich
zunächst einmal darum handeln — da es sich ja
um einen geistigen Anhub handeln mußte, um einen
Appell an das Verständnis der Menschen —, die
Frage auf zuwerfen: Wo hat man gesehen, daß
zunächst auf die Gedanken der Menschen etwas wirkte?
Da erinnern Sie sich einmal an jenen Aufruf an die Kulturwelt,
sogenannte Kulturwelt, welchen einmal — es waren
größtenteils, glaube ich, Professoren —
neunundneunzig deutsche Persönlichkeiten erlassen
haben. Man kann vielleicht gar nicht einmal, wenn man nicht aus
Emotionen heraus, sondern wieder aus der Wirklichkeit heraus
urteilt, ein anderes Urteil fällen, als daß
dieser Aufruf an die Kulturwelt reichlich ungeschickt war. Na,
es waren Professoren zum großen Teil. Aber er hat Eindruck
gemacht, er hat den Weg zu den Gedanken in einer recht
unglückseligen Weise gefunden. Und er spukt
heute noch immer. Er war in einem gewissen Sinne eine
Wirklichkeit, gerade eine Wirklichkeit, die zum Unheil des
deutschen Volkes mehr beigetragen hat als manches andere, denn
er hat Wellen geschlagen.
Und
so konnte man denken: Wie wäre es, wenn man dieser
Summe von Gedanken, die dazumal zur Unzeit erlassen worden ist
— losgelassen worden ist auf die Menschheit aus
Vorstellungen heraus, die ihre Antiquiertheit an der Stirne
trugen wie wäre es, wenn man jetzt, wo alles
drängt und brennt, um etwas zu tun zur
Verständigung, wenn man jetzt einen aus den
wirklichen Lebensverhältnissen der
gegenwärtigen Menschheit herausgeholten Appell an
die Menschheit richten würde; zunächst,
wie sich aus der Sache selbst ergibt, gerade an das deutsche
Volk, welches ja das Schicksal erlebt hat, seine vermeintliche
Aufgabe in einem gewissen Staatsrahmen dadurch verloren zu
sehen, daß dieser Staatsrahmen einfach weggefegt ist, wenn
man zunächst an dieses deutsche Volk appelliert, es
aufmerksam macht darauf, daß ja die Tatsachen zu ihm
sprechen, nicht bloß irgendwelche Worte, nicht bloß
irgendwelche Urteile, irgendwelche Gedanken, sondern die
Tatsachen. Während einem großen Teile der
Menschheit gegenüber vielleicht ein solches Wort
noch deshalb vergeblich ist, weil die alten Rahmen noch da
sind, wird vielleicht doch das deutsche Volk hören
— so kann man wohl denken weil der alte Rahmen ihm
einfach entzogen ist, weil es nicht mehr auf dem Boden des
Alten stehenbleiben kann, sondern einen neuen Boden
für seine Lebensaufgabe notwendig suchen muß.
Die Menschen sind ja einmal so: solange das Alte nur ein
bißchen hält — wenn es nicht gerade
Röcke sind —, halten sie am
Alten unbedingt fest und verschlafen alles, was sagt, daß
es unmöglich ist, an diesem Alten noch festzuhalten.
Man glaubt gar nicht, welche Rolle Bequemlichkeit im innersten
Leben des Menschen eigentlich spielt.
Aus
diesem Gedanken heraus, meine lieben Freunde, habe ich nun eine
Art Manifest verfaßt, von dem ich mir denke, daß es
gehört werden könnte von den Seelen, die
heute für eine Verständigung auf einem
gesunden Boden der Wirklichkeit in bezug auf unsere
eigentümliche Kulturfrage zu gewinnen sind; daß
es verstanden werden kann zunächst von den
verständigen Menschen des deutschen Volkes, an das
es unmittelbar gerichtet ist. Ich meine aber, daß es auch
von den Feinden des deutschen Volkes gelesen werden sollte als
etwas, was angemessen gefunden wird in der Gegenwart, von
diesem deutschen Volke bedacht und in die Wirklichkeit
umgesetzt zu werden. Ich dachte: neunundneunzig haben dazumal
unterschrieben; wenn man wiederum neunundneunzig findet aus den
Reihen der Deutschen Deutschlands, des ehemaligen Deutschlands,
des ehemaligen österreichs und vielleicht diese
neunundneunzig vermehren kann um eine kleine Anzahl von
Persönlichkeiten, die für ein
Verständnis der gegenwärtigen
Lebensnotwendigkeiten in neutralen Ländern,
namentlich in der Schweiz, zu gewinnen sind, so wäre
etwas Positives getan im Gegensatze zu dem damals von den
neunundneunzig unternommenen Negativen.
Also ich bitte, mich richtig zu verstehen: Der Appell ist
zunächst an das deutsche Volk gerichtet. Es ist aber
gewollt, daß das, was innerhalb des deutschen Volkes
dergestalt besprochen wird, in der ganzen Kulturwelt
gehört werde. Ich werde nun diesen Appell hier zur
Verlesung bringen, meine lieben Freunde. Die Gedanken
werden Ihnen ja bekannt und vertraut sein, weil wir sie oftmals
besprochen haben. Natürlich, in aller
Kürze kann auch nur alles ganz kurz sein.
Dasjenige, was gewollt wird, ist ja nicht, jemanden zu
belehren, sondern etwas zu sagen, was die Menschen aufmerksam
darauf machen kann, daß es einen Weg gibt, und was sie
aufmerksam darauf machen soll, den rechten Zugang zu diesem
Wege zu finden. Gewiß, man kann Anstoß nehmen an der
Kürze der Darstellung. Aber es handelt sich ja nicht
um ein Schulbuch, sondern es handelt sich darum, etwas zu sagen
als Hinweis darauf, daß innerhalb der Menschheit etwas da
ist, was helfen kann. Also der Aufruf heißt:
An das deutsche Volk und an die Kulturwelt!
Sicher gefügt für unbegrenzte Zeiten
glaubte das deutsche Volk seinen vor einem halben Jahrhundert
aufgeführten Reichsbau. Im August 1914 meinte es,
die kriegerische Katastrophe, an deren Beginn es sich gestellt
sah, werde diesen Bau als unbesieglich erweisen. Heute kann es
nur auf dessen Trümmer blicken. Selbstbesinnung
muß nach solchem Erlebnis eintreten. Denn dieses
Erlebnis hat die Meinung eines halben Jahrhunderts, hat
insbesondere die herrschenden Gedanken der Kriegsjahre als
einen tragisch wirkenden Irrtum erwiesen. Wo liegen die
Gründe dieses verhängnisvollen Irrtums?
Diese Frage muß Selbstbesinnung in die Seelen der Glieder
des deutschen Volkes treiben. Ob jetzt die Kraft zu solcher
Selbstbesinnung vorhanden ist, davon hängt die
Lebensmöglichkeit des deutschen Volkes ab. Dessen
Zukunft hängt davon ab, ob es sich die Frage in
ernster Weise zu stellen vermag: Wie bin ich in meinen Irrtum
verfallen? — Stellt es sich diese Frage heute, dann wird
ihm die Erkenntnis aufleuchten, daß es vor einem halben
Jahrhundert ein Reich gegründet, jedoch unterlassen
hat, diesem Reich eine aus dem Wesensinhalt der deutschen
Volkheit entspringende Aufgabe zu stellen. — Das Reich
war gegründet. In den ersten Zeiten seines Bestandes
war man bemüht, seine inneren
Lebensmöglichkeiten nach den Anforderungen, die sich
durch alte Traditionen und neue Bedürfnisse von Jahr
zu Jahr zeigten, in Ordnung zu bringen. Später ging
man dazu über, die in materiellen Kräften
begründete äußere Machtstellung zu
festigen und zu vergrößern. Damit verband man
Maßnahmen in bezug auf die von der neuen Zeit geborenen
sozialen Anforderungen, die zwar manchem Rechnung trugen, was
der Tag als Notwendigkeit erwies, denen aber doch ein
großes Ziel fehlte, wie es sich hätte ergeben
sollen aus einer Erkenntnis der Entwickelungskräfte,
denen die neuere Menschheit sich zuwenden muß. So war das
Reich in den Weltenzusammenhang hineingestellt ohne wesenhafte,
seinen Bestand rechtfertigende Zielsetzung. Der Verlauf der
Kriegskatastrophe hat dieses in trauriger Weise geoffenbart.
Bis zum Ausbruche derselben hatte die außerdeutsche Welt
in dem Verhalten des Reiches nichts sehen können,
was ihr die Meinung hätte erwecken
können: die Verwalter dieses Reiches
erfüllen eine weltgeschichtliche Sendung, die nicht
hinweggefegt werden darf. Das Nichtfinden einer solchen Sendung
durch diese Verwalter hat notwendig die Meinung in der
außerdeutschen Welt erzeugt, die für den
wirklich Einsichtigen der tiefere Grund des deutschen
Niederbruches ist.
Unermeßlich vieles hängt nun für das
deutsche Volk an seiner unbefangenen Beurteilung der Sachlage.
Im Unglück müßte die Einsicht
auftauchen, welche sich in den letzten fünfzig
Jahren nicht hat zeigen wollen. An die Stelle des kleinen
Denkens über die allernächsten
Forderungen der Gegenwart müßte jetzt ein
großer Zug der Lebensanschauung treten, welcher die
Entwickelungskräfte der neueren Menschheit mit
starken Gedanken zu erkennen strebt, und der mit mutigem Wollen
sich ihnen widmet. Aufhören müßte
der kleinliche Drang, der alle diejenigen als unpraktische
Idealisten unschädlich macht, die ihren Blick auf
diese Entwickelungskräfte richten.
Aufhören müßte die Anmaßung und
der Hochmut derer, die sich als Praktiker dünken,
und die doch durch ihren als Praxis maskierten engen Sinn das
Unglück herbeigeführt haben.
Berücksichtigt müßte werden, was die
als Idealisten verschrieenen, aber in Wahrheit wirklichen
Praktiker über die
Entwickelungsbedürfnisse der neuen Zeit zu sagen
haben.
Die
«Praktiker» aller Richtungen sahen zwar
das Heraufkommen ganz neuer Menschheitsforderungen seit langer
Zeit. Aber sie wollten diesen Forderungen innerhalb des Rahmens
altüberlieferter Denkgewohnheiten und
Einrichtungen gerecht werden. Das Wirtschaftsleben der neueren
Zeit hat die Forderungen hervorgebracht. Ihre
Befriedigung auf dem Wege privater Initiative schien
unmöglich. Überleitung des privaten
Arbeitens in gesellschaftliches drängte sich der
einen Menschenklasse auf einzelnen Gebieten als
notwendig auf; und sie wurde verwirklicht da, wo es dieser
Menschenklasse nach ihrer Lebensanschauung als
ersprießlich schien. Radikale
Überführung aller Einzelarbeit in
gesellschaftliche wurde das Ziel einer anderen Klasse, die
durch die Entwicklung des neuen Wirtschaftslebens an der
Erhaltung der überkommenen Privatziele kein
Interesse hat.
Allen Bestrebungen, die bisher in Anbetracht der neueren
Menschheitsforderungen hervorgetreten sind, liegt ein
Gemeinsames zugrunde. Sie drängen nach
Vergesellschaftung des Privaten und rechnen dabei auf die
Übernahme des letzteren durch die Gemeinschaften
(Staat, Kommune), die aus Voraussetzungen stammen, welche
nichts mit den neuen Forderungen zu tun haben. Oder auch, man
rechnet mit neueren Gemeinschaften (z. B. Genossenschaften),
die nicht voll im Sinne dieser neuen Forderungen entstanden
sind, sondern die aus überlieferten Denkgewohnheiten
heraus den alten Formen nachgebildet sind.
Die
Wahrheit ist, daß keine im Sinne dieser alten
Denkgewohnheiten gebildete Gemeinschaft aufnehmen kann,
was man von ihr aufgenommen wissen will. Die
Kräfte der Zeit drängen nach der
Erkenntnis einer sozialen Struktur der Menschheit, die
ganz anderes ins Auge faßt, als was heute gemeiniglich ins
Auge gefaßt wird. Die sozialen Gemeinschaften haben sich
bisher zum größten Teil aus den sozialen
Instinkten der Menschheit gebildet. Ihre Kräfte mit
vollem Bewußtsein zu durchdringen, wird Aufgabe der
Zeit.
Der
soziale Organismus ist gegliedert wie der
natürliche. Und wie der natürliche
Organismus das Denken durch den Kopf und nicht durch die Lunge
besorgen muß, so ist dem sozialen Organismus die
Gliederung in Systeme notwendig, von denen keines die Aufgabe
des anderen übernehmen kann, jedes aber unter
Wahrung seiner Selbständigkeit mit den anderen
zusammenwirken muß.
Das
wirtschaftliche Leben kann nur gedeihen, wenn es als
selbständiges Glied des sozialen Organismus
nach seinen eigenen Kräften und Gesetzen sich
ausbildet, und wenn es nicht dadurch Verwirrung in sein
Gefüge bringt, daß es sich von einem anderen
Gliede des sozialen Organismus, dem politisch wirksamen,
aufsaugen läßt. Dieses politisch wirksame Glied
muß vielmehr in voller Selbständigkeit neben
dem wirtschaftlichen bestehen, wie im natürlichen
Organismus das Atmungssystem neben dem Kopfsystem. Ihr
heilsames Zusammenwirken kann nicht dadurch erreicht
werden, daß beide Glieder von einem einzigen
Gesetzgebungs- und Verwaltungsorgan aus versorgt werden,
sondern daß jedes seine eigene Gesetzgebung und
Verwaltung hat, die lebendig zusammenwirken. Denn das
politische System muß die Wirtschaft vernichten, wenn es
sie übernehmen will; und das wirtschaftliche System
verliert seine Lebenskräfte, wenn es politisch
werden will.
Zu
diesen beiden Gliedern des sozialen Organismus muß in
voller Selbständigkeit und aus seinen eigenen
Lebensmöglichkeiten heraus gebildet ein drittes
treten: das der geistigen Produktion, zu dem auch der geistige
Anteil der beiden anderen Gebiete gehört, der ihnen
von dem mit eigener gesetzmäßiger Regelung und
Verwaltung ausgestatteten dritten Gliede
überliefert werden muß, der aber nicht von
ihnen verwaltet und anders beeinflußt werden kann, als die
nebeneinander bestehenden Gliedorganismen eines
natürlichen Gesamtorganismus sich gegenseitig
beeinflussen.
Man
kann schon heute das hier über die Notwendigkeiten
des sozialen Organismus Gesagte in allen Einzelheiten
vollwissenschaftlich begründen und ausbauen. In
diesen Ausführungen können nur die
Richtlinien hingestellt werden, für alle diejenigen,
welche diesen Notwendigkeiten nachgehen wollen.
Die
deutsche Reichsgründung fiel in eine Zeit, in der
diese Notwendigkeiten an die neuere Menschheit
herantraten. Seine Verwaltung hat nicht verstanden, dem Reich
eine Aufgabe zu stellen durch den Blick auf diese
Notwendigkeiten. Dieser Blick hätte ihm nicht nur
das rechte innere Gefüge gegeben; er
hätte seiner äußeren Politik auch
eine berechtigte Richtung verliehen. Mit einer solchen
Politik hätte das deutsche Volk mit den
außerdeutschen Völkern zusammenleben
können.
Nun
müßte aus dem Unglück die Einsicht
reifen. Man müßte den Willen zum
möglichen sozialen Organismus entwickeln. Nicht ein
Deutschland, das nicht mehr da ist, müßte der
Außenwelt gegenübertreten, sondern ein
geistiges, politisches und wirtschaftliches System in
ihren Vertretern müßten als
selbständige Delegationen mit denen verhandeln
wollen, von denen das Deutschland niedergeworfen
worden ist, das sich durch die Verwirrung der drei
Systeme zu einem unmöglichen sozialen Gebilde
gemacht hat.
Man
hört im Geiste die Praktiker, welche über
die Kompliziertheit des hier Gesagten sich ergehen, die
unbequem finden, über das Zusammenwirken
dreier Körperschaften auch nur zu denken, weil sie
nichts von den wirklichen Forderungen des Lebens wissen
mögen, sondern alles nach den bequemen Forderungen
ihres Denkens gestalten wollen. Ihnen muß
klar werden: entweder man wird sich bequemen, mit seinem
Denken den Anforderungen der Wirklichkeit sich zu
fügen, oder man wird vom Unglücke nichts
gelernt haben, sondern das herbeigeführte durch
weiter entstehendes ins Unbegrenzte vermehren.
*
Mit
diesem Aufrufe sind nun die drei genannten Herren nach
Deutschland gereist, und in der Zeit, während ich
meine Zürcher, Basler und Bern er
Vorträge hielt, haben sie sich bemüht,
das in Wirklichkeit überzuführen,
was wir uns vorgenommen hatten: etwa gegen hundert
Unterschriften zu finden. Herr Stein hat die Aufgabe
für Österreich übernommen,
andere Herren haben sich hier in der Schweiz
bemüht.
Nun, es war ja bisher nur kurze Zeit, aber immerhin, wir, die
wir ja einen ersten Schritt machen wollten, können
voll damit zufrieden sein, was sich bis jetzt ergeben hat, denn
einen solchen Aufruf, der unterstützt ist in
der gleichen Weise, wie es der unglückselige Aufruf
von dazumal war, den haben wir. Bei meinen letzten
Vorträgen in Zürich — die ja ganz
absichtlich in Zürich gehalten wurden, weil
gewissermaßen jetzt die Schweiz der Drehpunkt ist
für alle Verhältnisse der zivilisierten
Welt —, bestand für mich die Absicht, schon
darauf hinweisen zu können, daß da oder
dort Menschen sich finden, bei denen das Verständnis
angreift. Und so war es natürlich darum zu tun, das
Ergebnis kennenzulernen vor dem letzten Zürcher
Vortrage. Und es ergab sich das sehr Erfreuliche, daß mir
schon am 11. gemeldet werden konnte: bis jetzt
ungefähr hundert Namen, exklusive Schweiz und Wien,
beisammen. Das wurde mir von Deutschland gemeldet, wo sich
unsere Freunde nach allen Richtungen hin auf die
Strümpfe gemacht haben, um diese Sache in der
entsprechenden Weise in Wirklichkeit umzusetzen. Von Wien bekam
ich das Telegramm an demselben Tage: Haben derzeit, 11.
mittags, dreiundsiebzig Unterschriften, morgen sicher mehr.
— Und am folgenden Tage: Gesamtresultat
dreiundneunzig Unterschriften. — Das konnte Herr
Stein melden. Dann ergaben sich noch eine weitere Anzahl von
Unterschriften, die nachträglich gemeldet worden
sind. Es sind also die Resultate bisher durchaus in
befriedigender Weise zu verzeichnen. Und es wäre zu
wünschen, da wir ja jetzt so weit sind, daß
eine Anzahl von Menschen, und darauf kommt es ja bei einer
solchen Aktion immer an, unter denen immerhin auch solche
sind, die bekannt sind, auf die man etwas geben wird, daß
eine Anzahl von Menschen einen solchen Aufruf, wo es nur sein
kann, veröffentlichen, so daß er gesehen,
gelesen wird, damit er vor die Augen derer kommt, die es
angeht. Eigentlich geht er alle Menschen in der Gegenwart
an. Man kann schon sagen: in den Untergründen
der menschlichen Seelen gibt es etwas, was die Menschen dazu
aufruft, sich an das Verständnis einer solchen Sache
zu machen.
Ich
habe Ihnen ja im Laufe der Vorträge
erzählt, wie die Idee, die jetzt in dieser Form
zutage tritt, ja durchaus bei mir nicht neu ist, sondern
in der Zeit, in der die kriegerische Katastrophe in eine
entscheidende Wendung eingetreten war, habe ich mich
bemüht, diesem notwendigen Impuls an den
Stellen, die für mich in Betracht kamen, zur
Wirksamkeit zu verhelfen. Ich habe Ihnen geschildert, wie das
geschehen ist. Ich sagte dazumal Leuten, die
für die Sache in Betracht kamen: Es ist nicht ein
Programm, nicht ein Ideal, sondern es ist dasjenige, was
beobachtet ist als Entwickelungskräfte der neueren
Menschheit, was sich unbedingt in den nächsten zehn,
zwanzig, dreissig Jahren verwirklichen will und
verwirklichen wird. Nicht darum kann es sich handeln, ob es
sich verwirklicht oder nicht, sondern lediglich darum,
wie es sich verwirklicht. Und gar manchem, auf den es dazumal
ankam, sagte ich: Sie haben nun die Wahl, entweder Vernunft
anzunehmen und durch Vernunft so etwas zu verwirklichen —
oder soziale Kataklysmen und Revolutionen zu erleben.
Überzeugen konnten sich die Leute nur zu bald,
daß das letztere keine falsche Prophezeiung war.
Aber schwer findet der heutige bequeme Mensch den Weg von einem
gewissen Verständnis zu dem Lebensmut, der notwendig
ist, um so, wie es ihm nach seiner Position möglich
ist, die Sache in die Wirklichkeit
überzuführen.
Hier in der Schweiz sind ja auch schon einzelne Unterschriften
geleistet worden. Man hat hier immer das Bedenken,
daß ja im ersten Teile dieses Aufrufes einiges gesagt ist
über die notwendige Selbstbesinnung des
deutschen Volkes und über den Irrtum, in dem das
deutsche Volk befangen war. Da sagt man darin, man habe als
Schweizer doch nicht die Möglichkeit, dem deutschen
Volke Lehren zu geben über die Grenzen
hinüber. Ich glaube, meine lieben Freunde, so sollte
man heute nicht mehr sprechen. Solche Dinge mögen
als alte Gedankenmumien eine gewisse Bedeutung gehabt
haben vor dem Jahre 1914; aber in der Gegenwart haben diese
Dinge keine Bedeutung mehr. In der Gegenwart sollte auch die
Engherzigkeit, die aus einer solchen nationalen
Beurteilungsweise kommt, aufhören. Das sollte
nämlich das Unglück der letzten
viereinhalb Jahre die Menschen gelehrt haben. Man sollte schon
heute anders denken können — verzeihen Sie
— auch in der Schweiz, als man vor viereinhalb Jahren
gedacht hat; man sollte das. Denn man sollte auch hier einiges
gelernt haben, so daß es entspricht dem, was einen
da überkommt, wenn man mit einiger Einsicht die
letzten viereinhalb Jahre verfolgt hat. Sie erscheinen einem
dann wirklich wie Jahrhunderte, die sich über die
Menschheit ergossen haben. Und höchst
merkwürdig erscheint es einem, wenn aus den alten
nationalen und sonstigen Vorurteilen heraus, die nun wirklich
mit dem Jahre 1914 ihren Abschluß gefunden haben sollten,
wenn aus diesen nationalen Vorurteilen oder aus Gedankenmumien
heraus die Leute heute eine neue Weltordnung gestalten wollen,
eine neue europäische Karte gestalten wollen.
Dieses europäische Kartengebäude, das
wird schnellstens umgeworfen durch die anderen
Kräfte, die die allein mächtigen sind in
der Gegenwart, die die einzigen bestimmenden sind
für das, was man Politik genannt hat: die sozialen
Faktoren. Denn alles übrige ist heute Maske.
Das aber ist die Wirklichkeit. Und die
Europäer werden sich sehr täuschen, wenn
sie aus den alten Gedankenmumien heraus urteilen und auch ihre
Einwände machen.
Natürlich kann man sagen — ich
könnte Ihnen nämlich sehr leicht ein
Vademecum aller Widerlegungen geben —,
natürlich kann jemand sagen: Ja, aber das ist ja
gewissermaßen eine Angabe der Impulse für alle
Staaten, das könnte ja erst werden, wenn alle
Staaten den Anfang damit machen. Nein, meine lieben Freunde,
ein einziger sogenannter Staat kann damit den Anfang machen; es
ist dazu geeignet, daß ein einziger den Anfang machen
kann. Und wenn einer den Anfang macht, dann hat er etwas getan
für die ganze Menschheit. Das ist ja eben gerade das
Unglück für das deutsche Volk, daß
seine Reichsgründung in die Zeit der neueren
Geschichte hineingefallen ist, in der, wenn ein neues Reich
gegründet wurde, schon die Notwendigkeit
vorhanden war, dieses Reich anzufüllen mit
dieser Aufgabe. Und weil es dieses Reich nicht
anfüllte mit dieser Aufgabe, hat man nicht
verstanden, wozu es überhaupt in der Welt da
ist. Wäre es angefüllt gewesen mit dieser
Aufgabe, so wären alle Ereignisse anders verlaufen,
denn man hätte seine Daseinsbedingungen ad oculus
gesehen, oder seine Daseinsberechtigung eingesehen.
Heute urteilen ja die Leute aus Gedankenmumien heraus. Sehen
Sie, es gibt auch eine Menge von Leuten in Europa, die nicht
von ihren alten europäischen Gedankenmumien
loskommen und die aber doch die
Allerweltspersönlichkeit Wilson heute aus
einem gewissen Schreck heraus — ich weiß nicht, wie
ich es sagen soll — wie einen Erlöser
betrachten. Aber die Leute müssen sich doch sagen:
Sehen wir jetzt ganz ab von einer Beurteilung Wilsons, stellen
wir aber die Tatsachenfrage: Wodurch ist denn dieser
Wilson in seinem Lande der einflußreiche Mensch
geworden, der er ist? — Dadurch, daß er gegen alle
anderen Parteien diejenige Politik getrieben hat, aus einem
gesunden amerikanischen Instinkt heraus, die genau
entgegengesetzt ist dem, wohinein jetzt ein
großer Teil von Europa segeln will. Ein großer Teil
von Europa will hineinsegeln in eine Gemeinschaft, in eine
gesellschaftliche Gemeinschaftspolitik, in der die
freiheitlichen, individuellen Kräfte des einzelnen
Menschen untergehen. Wilson verdankt seine Wahl, seinen
Einfluß, einzig und allein dem Umstände,
daß er als amerikanischer Demokrat zur Entfesselung
derjenigen Kräfte beigetragen hat, die als
individuelle Kräfte im Wirtschaftsleben
drinnen-steckten. Nehmen wir einmal hypothetisch an: Europa
erreicht die Ideale des Bolschewismus, erreicht die Ideale der
Berner Sozialdemokratie, das heißt der
Sozialdemokratie des sozialistischen Kongresses. Nehmen wir an,
das werde verwirklicht; die Leute erreichten das, wovon sie
träumen. Dann würde Europa ein Gebilde,
aus dem — trotz aller nationalen Vorurteile — nach
dem freien Amerika hinüber, in dem Wilson gerade
durch das Entgegengesetzte groß geworden ist, alle freien
Kräfte notwendigerweise abfluten würden.
Eine furchtbare Konkurrenz zwischen Europa und Amerika
müßte sich entspinnen, bei der
unmöglich anderes geschehen kann, als daß
Europa in Pauperismus verfällt und Amerika
reich würde, nicht aus einem Unrecht heraus,
sondern aus einer Torheit der europäischen
Sozialpolitik heraus. Denn die Dinge würden sich so
gestalten, wenn nicht die sozialen Kräfte, die zu
entwickeln geradezu die Aufgabe der europäischen
Menschheit ist, wenn nicht diese sozialen Kräfte so
gedacht und verwirklicht würden, daß sie
dem gesunden sozialen Organismus entsprechen.
Wir
haben es in diesem Aufrufe nicht etwa bloß mit etwas zu
tun, was ausgedacht ist, sondern mit etwas, das auf
Kräfte verweist, die überall in der
Wirklichkeit vorhanden sind, die verwirklicht werden
müssen, ohne deren Verwirklichung wahrhaftig nicht
nur das Schicksal Deutschlands und
Österreichs, sondern das Schicksal von ganz Europa
das sein muß, der Verarmung, der Verelendung und der
Ungeistigkeit zu verfallen.
Wir
leben eben in einer ernsten Zeit, in der sich mit kleinen
Gedanken nicht auskommen läßt. In den
Leuten lebt auch etwas, was sie hinzieht zu dem, was in diesem
Aufrufe ausgesprochen ist. Man kann das schon beobachten. Und
weil das so ist, weil man hoffen kann, doch den Zugang zu den
Seelen, zu den Herzen der Menschen zu finden, ist nun
versucht worden, das, was während der kriegerischen
Katastrophe in der damals notwendigen Form versucht
worden ist, wie ich es Ihnen erzählt habe, so
umzugestalten, wie es für die heutigen
Verhältnisse notwendig ist.
Ich
möchte nur hoffen, daß niemand denke, daß
so eine Sache eine absolute Bedeutung hat. Ich habe einem
Herrn, auf den es später ankam, im Januar 1918 in
der Form, in der es dazumal verfaßt war, von dieser Sache
gesprochen, aber so, daß ich sagte: Diese Sache kann
natürlich nach den Zeitverhältnissen
immer andere und andere Formen annehmen, denn es handelt
sich nicht um eine Theorie, nicht um ein Programm, nicht um ein
Ideal, sondern es handelt sich um etwas, was aus der
Wirklichkeit heraus gedacht ist. — Und ich habe weiter
gesagt: Weil es aus der Wirklichkeit heraus gedacht ist, so
handelt es sich mir gar nicht darum, worum es sich vielen
Utopisten handelt. Die Utopisten, die Programme aufstellen,
denken sich, daß alles schlecht ist, wenn diese Dinge
nicht so verwirklicht werden, wie sie sie in ihren Programmen
formulieren. Mir kommt es darauf überhaupt nicht an.
Es könnte zum Beispiel sein, daß eine solche
Sache in die Seelen einschlägt, daß man
sie, weil sie praktisch gedacht ist, beginnt, in das praktische
Leben umzusetzen. Es kann auf jedem Gebiete heute schon ganz
klar gesagt werden, wie man es anzufangen hat, um es auf einem
Gebiete ins praktische Leben umzusetzen. Aber ich
könnte mir denken, daß dann von dem, was hier
gesagt ist, was auch in meinen Vorträgen in
Zürich, Bern und Basel gesagt worden ist, kein Stein
bleibt, sondern sich alles anders gestaltet. Wer
wirklichkeitsgemäß denkt, dem kommt es nicht
darauf an, daß seine Formeln, seine Sätze sich
verwirklichen, sondern daß irgendwo in der Wirklichkeit
angefaßt wird. Man wird dann schon sehen, was herauskommt.
Darauf kommt es an; vielleicht wird alles anders — das
will ich durchaus als eine Möglichkeit
andeuten daß aber dasjenige herauskommen muß, was den
Verhältnissen angemessen 1st, das ist sicher. Denn
es ist nicht irgendein abstraktes Ideal, nicht irgendein
Programm aufgestellt, sondern es sind einfach die
Wirklichkeitskräfte angefaßt. So weit als
möglich entfernt von aller Phantasterei, von
aller Schulmeistern soll dasjenige sein, um was es sich jetzt
handelt. Daher war ich so erstaunt, als mir eine vielgenannte
Persönlichkeit, von der die Voraussetzung gemacht
wurde durch einen der drei Herren, die ich genannt habe,
daß sie auch diesen Aufruf unterschreiben
könnte, als mir diese vielgenannte
Persönlichkeit sagen ließ: Ja, er
hätte geglaubt, daß gerade ich, wenn ich einen
solchen Aufruf machte, mehr an den Geist der Menschheit
appellierte und sagte, daß jetzt nur ein Heil in die
Menschheit kommen kann, wenn die Menschheit den Weg
wiederum zum Geist findet.
Also die Leute wollen, daß man die Phrase vom Geist immer
wieder und wiederum wiederholt: Geist, Geist und Geist! Aber
darum handelt es sich nicht; sondern darum, daß sich
der Geist zeigt, daß der Geist sich imstande erweist, die
Tatsachen wirklich zu gestalten. Das sind die
größten Schädlinge im Grunde, die
fortwährend vom Geiste reden, ohne irgendwie auf die
Wirklichkeit dieses Geistes hindeuten zu wollen. Denn sie reden
eigentlich nur im Sinne einer Ideologie — und nicht vom
Geiste. Und es ist dankenswert, meine lieben Freunde, daß
sich aus dem Schöße unserer Gesellschaft heraus
Persönlichkeiten gefunden haben, welche
Verständnis haben — aber
Tatverständnis, so daß sie auch wirklich etwas
tun Tatverständnis haben für
dasjenige, was hier gewollt wird. Und immerhin zeigen
sich ja die Echos.
Unser Freund Dr. Boos hat dann, nachdem mein letzter Vortrag in
Zürich geschlossen war und ich hingewiesen hatte auf
das Ergebnis und auf diesen Aufruf, seinerseits seinen Appell
erlassen, daß sich gleich aus der Versammlung heraus eine
Anzahl von Menschen melden sollten und ihre Adressen
abgeben sollten, die gewillt waren, praktisch an der Sache
mitzuarbeiten. Und auch da war das Ergebnis ein für
diesen Abend ja außerordentlich befriedigendes.
Gewiß, es sind auch Einwendungen gemacht worden. Ich kann
die Einwendungen gut verstehen. Aber diese Einwendungen
sind so, daß man eben daraus sicht: die Leute stehen heute
nicht in der Wirklichkeit, sind Schwarmgeister. Wirklich, es
sind ja gerade diejenigen, die man bis heute für die
größten Praktiker gehalten hat, eigentlich
Schwarmgeister. Deshalb habe ich in Zürich bei
einem Vortrage gesagt: Was ist so recht ein Beispiel
für einen Schwarmgeist der Gegenwart, für
einen Schwärmer? — Der General
Ludendorff! Das ist der Typus, der
Repräsentant eines Schwarmgeistes; ein Mensch,
der sich meinetwillen gut oder schlecht — aber meiner
Meinung nach schlecht — auf Strategie verstanden hat,
aber in bezug auf alles andere ganz fern allem Leben gestanden
hat, zum Unheil einen großen Einfluß gehabt hat, ganz
fern aller Wirklichkeit gestanden hat, nichts ahnte von den
Bedingungen der Wirklichkeit, in der er tätig
sein sollte, ein so abstrakter Idealist war, wie
nur irgendein sozialistischer Utopist abstrakter Idealist ist.
Man sollte endlich diesen verruchten Begriff des
«Praktikers», der so unendliches Unheil
über die Menschheit gebracht hat, einmal ganz
tüchtig ins Auge fassen. Diese Praxis, die bisher
gegolten hat, die nichts anderes ist, als durch
Brutalität in Wirklichkeit umgesetzte
Schwarmgeisterei, unwirkliche Denkungsweise, die ist es, die
vor allen Dingen verschwinden muß. Darauf kommt es an,
meine lieben Freunde. Und aus solchem Geiste heraus ist
dasjenige, was kommen muß gerade aus anthroposophisch
orientierter geisteswissenschaftlicher Bewegung.
Das
habe ich Ihnen heute als etwas, was ja immerhin auch aus dem
Schöße unserer Bewegung hervorgegangen ist,
mitteilen wollen in diesem episodisch sich in unsere
Vortragsreihe einreihenden Abend.
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