ERSTER VORTRAG
Ilkley, 5. August 1923
Meine sehr verehrten Anwesenden, mein erstes Wort soll ein
Gegengrüß auf die freundlichen Anreden sein,
die von der verehrten Miß Beverley an mich selbst
und an Frau Dr. Steiner gesprochen worden sind. Sie
dürfen glauben, daß sowohl ich wie auch Frau Dr.
Steiner voll zu würdigen verstehen die Einladung zu diesen
Vorträgen, die ja im wesentlichen dasjenige umfassen
sollen, was aus der Anthroposophie heraus über das
Erziehungswesen zu sagen ist und die darauf hinweisen sollen,
inwiefern bereits in unserer Waldorfschule in Stuttgart der
praktische Versuch gemacht worden ist mit den
Grundsätzen, die aus Anthroposophie heraus in
pädagogisch-didaktischer Weise entwickelt werden
können. Wir sind gern der Einladung hier herauf in den
Norden Englands gefolgt, und es ist mir eine tiefe
Befriedigung, über die mir im Leben so wertgewordenen
Gegenstände hier zu sprechen, um so mehr, als ich nun
sprechen darf auch vor denjenigen, die diese
Vorträge und die Übungen veranstaltet haben,
und die nicht zum erstenmal bei einer Besprechung dieses
Gegenstandes von diesem Gesichtspunkte aus anwesend sind.
Ich darf daher hoffen, daß nicht nur ein kurzgefaßter
Entschluß zu diesen Vorträgen bei den Veranstaltern
vorliegt, sondern daß die Veranstaltung selbst als
ein Zeugnis dafür aufgefaßt werden darf,
daß die vorangegangenen Veranstaltungen denn doch in
einiger Weise fruchtbar für die gegenwärtigen
Bestrebungen der Welt gelten werden.
Die
erste Veranstaltung, an der die Freunde der anthroposophischen
Sache aus England teilgenommen haben, war ja abgehalten worden
zu Weihnachten des vorvorigen Jahres, als wir in Dornach noch
den Bau des Goetheanums stehen hatten, der uns mittlerweile
durch das Feuer hinweggenommen worden ist.
Diese Veranstaltung war veranlaßt durch Mrs.
Mackenzie, jene Persönlichkeit, welche ja schon
vorher in einer so geistvollen Weise die Hegelsche
Pädagogik in einem englisch geschriebenen Buche vermittelt
hat. Wenn man das Kongenialische dieses Buches mit der
Hegelschen Pädagogik und Philosophie sieht, dann bekommt
man die Hoffnung, daß eine verhältnismäßig
leichte Verständigung auch, ich möchte sagen,
über das Nationale hinaus möglich ist.
Nun
ist ja allerdings dasjenige, was ich selbst zu sagen hatte
über Pädagogik, nicht herausgeschöpft aus jener
mehr intellektualistisch gefärbten Hegelschen
Philosophie, sondern aus der durchaus spirituell gefärbten
Anthroposophie. Aber auch da war es wiederum Mrs. Mackenzie,
welche gefunden hat, wie dennoch einiges Fruchtbare
geholt werden könne auch in pädagogischer
Beziehung aus dieser zwar mit Hegel voll rechnenden, aber
über seine Intellektualität in das Spirituelle
hinausgehenden Anthroposophie.
Dann durfte ich ein zweites Mal das ganze System unserer
Pädagogik und seine praktischen Auswirkungen
schildern im vorigen Jahre in dem alten Kultur- und
Geistessitz, in Oxford. Und vielleicht darf ich annehmen,
daß gerade durch die Anregungen, welche gegeben werden
konnten durch diese, auch das Verhältnis des
Pädagogischen zum Sozialen berücksichtigenden
Vorträge, die Veranlassung kommen konnte, daß eine
ganze Reihe englischer, der Pädagogik ergebener
Persönlichkeiten nun auch unsere Waldorfschule besuchen
wollten. Und wir haben dann die große Freude gehabt, diese
Freunde innerhalb der Räume unserer Waldorfschule,
innerhalb des Arbeitens für Erziehung und Unterricht
begrüßen zu dürfen. Es war uns eine große,
herzliche Freude, und es war uns eine tiefe Befriedigung, als
wir hören durften, daß die Freunde an der Art
und Weise, wie die Pädagogik und Didaktik da
geübt wird, auch eine gewisse Befriedigung hatten und die
Sache mit Interesse verfolgten. Und so scheint denn gerade
während dieses uns so sehr erfreuenden Besuches die Idee
entstanden zu sein — ich freute mich, als Miß
Beverley mir in Stuttgart diese Idee ausdrückte — zu
diesem Sommerkurs über Pädagogik hier. Es darf also
angenommen werden, daß gewissermaßen schon in dem
Früheren die Wurzeln gesucht werden für dasjenige,
was jetzt hier geschehen soll. Und damit bekommt man für
das, was nun bevorsteht für die
pädagogisch-didaktischen Vorträge, die ich von
morgen ab hier zu halten habe, auch den entsprechenden Mut und
entsprechenden Glauben.
Und
Mut und Glauben braucht man ja, wenn man über etwas zu
sprechen hat, das gegenwärtig sich noch als ein so Fremdes
hineinstellt in das Geistesleben, das von vielen Seiten
in einer so scharfen Weise heute noch angefeindet wird. Mut und
Glauben braucht man insbesondere dann, wenn es sich um die
Schilderung von Prinzipien handelt, die an den Menschen selbst,
dieses größte Kunstwerk des Universums,
schöpferisch bildend herantreten wollen.
Nun
darf ich vielleicht die Freunde, welche unsere Waldorfschule in
diesem Jahre in Stuttgart besucht haben, darauf hinweisen,
daß sie vielleicht schon durch den Anblick desjenigen, was
sie da sahen, ein wenig daran erinnert wurden, wie
grundsätzlich die Waldorfschul-Pädagogik und
-Didaktik rechnet mit den tiefsten Wurzeln des modernen
Lebens, und wie daher diese Waldorfschul-Pädagogik
eigentlich im Grunde genommen von vornherein eine Art
Verräter ist an dem, was sie selber in ihrem Namen
anzeigen will: Pädagogik — ein
wertgeschätzter alter griechischer Name,
hervorgegangen aus der ernsten Hingabe an pädagogische
Betrachtungen durch Plato, durch die Platoniker.
Pädagogik — wir können sie ja heute gar nicht
mehr gebrauchen, wir müssen sie ja eigentlich wegwerfen;
denn sie zeigt uns dasjenige, was sie leisten will, schon durch
ihren Namen in der größtdenkbaren Einseitigkeit. Das
konnten die verehrten Besucher ja sogleich in der Waldorfschule
finden.
Man
denke sich einmal, daß die Besucher der Waldorfschule
— es ist das heute nichts Besonderes, aber ich will nur
hervorheben, daß eben die Waldorfschul-Pädagogik mit
den modernsten Strömungen rechnet man denke sich,
daß die Besucher in der gleichen Klasse Knaben und
Mädchen beieinanderfinden, in der gleichen Weise erzogen,
in der gleichen Weise unterrichtet.
Aber Pädagogik — was besagt der Name? Der
Pädagoge ist ein Knabenführer. Er bezeichnet uns von
vornherein, wie der Grieche aus einer menschlichen
Einseitigkeit heraus erzogen und unterrichtet wurde. Er
schloß die Hälfte der Menschen ganz aus von dem, was
man in vollem Ernste als Erziehung und Unterricht
auffaßte. Für den Griechen war eigentlich nur
der Mann ein Mensch, und das weibliche Wesen mußte sich
still zurückziehen, wenn es sich um ernsthafte
Pädagogik handelte, denn der Pädagoge ist seinem
Namen nach ein Knabenführer. Er ist nur für das
männliche Geschlecht da.
Nun
wirkt ja die Anwesenheit der Mädchen als Schüler in
unserer heutigen Zeit — in vieler Beziehung
gegenüber einer gar nicht so weit zurückliegenden
Zeit eben etwas wesentlich Radikales — auch nicht gerade
mehr schockierend; aber das andere wird doch selbst auch heute
für viele noch etwas sehr Befremdliches haben: bei uns
sind nicht nur männliches und weibliches Geschlecht
gleichberechtigt nebeneinander als Schüler und
Schülerinnen, sondern auch in der Lehrerschaft. Wir machen
keinen Unterschied zwischen der Lehrerschaft, wenigstens
keinen prinzipiellen Unterschied bis in die höchsten
Klassen hinauf.
So
mußte für uns vor allen Dingen maßgebend werden,
diese Einseitigkeit gegenüber dem allgemein
Menschlichen abzustreifen. Wir mußten dasjenige, was der
altgewohnte Name Pädagogik in sich schließt, von
vornherein verraten, wollten wir eine der Gegenwart
gemäße Pädagogik hinstellen. Es ist das nur eine
Einseitigkeit, die in dem Namen Pädagogik vorliegt. Im
ganzen und großen muß man sagen, sind die Zeiten
nicht so lange her, in denen man, wenn es sich um Erziehung und
Unterricht handelte, eigentlich gar nichts wußte von dem
Menschen im allgemeinen. Es war ja nicht nur die
Einseitigkeit: männliches und weibliches Geschlecht
— es waren gerade auf dem Gebiete der Pädagogik
unzählige Einseitigkeiten da.
Kam
denn nach den alten Prinzipien der allgemeine Mensch zum
Vorschein, wenn die Erziehung, der Unterricht abgeschlossen
war? Nie! Heute ist aber die Menschheit durchaus auf dem Wege
nach der Suche des Menschen, der reinen, ungetrübten,
undifferenzierten Menschlichkeit. Daß dieses
angestrebt werden mußte, das geht ja schon hervor
aus der Art und Weise, wie die Waldorfschule eingerichtet
wurde. Es war zunächst der Gedanke, den Proletarierkindern
der Waldorf-Astoria-Fabrik einen Unterricht zu geben. Und weil
derjenige, der die Waldorf-Astoria-Fabrik leitete, in der
Anthroposophischen Gesellschaft war, so wendete er sich
an mich, um diesen Unterricht einzurichten. Ich selber
konnte diesen Unterricht nicht anders als aus den Wurzeln der
Anthroposophie heraus einrichten. So entstand die
Waldorfschule zunächst als eine ganz allgemeine,
sogar könnte man sagen, aus dem Proletariat
herausgebildete Menschheitsschule. Und nur weil derjenige, der
zuerst den Gedanken an diese Schule hatte, zu gleicher Zeit
Anthroposoph war, wurde diese Schule anthroposophisch. So
daß hier die Tatsache vorliegt, daß aus einer
sozialen Wurzel heraus allerdings das pädagogische
Gebilde herausgekommen ist, das in bezug auf den ganzen
Unterrichtsgeist, auf seine ganze Unterrichtsmethode seine
Wurzel in der Anthroposophie sucht; aber nicht so, daß wir
im entferntesten eine anthroposophische Schule haben,
sondern nur weil wir glauben, daß Anthroposophie sich in
jedem Momente soweit selbst verleugnen kann, daß sie
eben nicht eine Standesschule, eine Weltanschauungsschule
oder sonst irgendeine Spezialschule, sondern eine allgemeine
Menschheitsschule zu gestalten in der Lage ist.
Das
mag wohl denen aufgefallen sein, die die Waldorfschule
besuchten. Und es kann auffallen in jeder einzelnen
Handlung, die dort gepflogen wird. Und das mag dazu
geführt haben, daß diese Einladung erfolgte.
Und jetzt, im Beginne dieser Vorträge, wo ich
zunächst noch nicht über die Erziehung zu
sprechen habe, sondern wo ich eine Art einleitenden Vortrages
zu halten habe, lassen Sie mich vor allen Dingen in dem ersten
Teil dieses Vortrages all denjenigen, die in einer so
hingebungsvollen Weise an dem Zustandekommen dieses
Sommerkurses gearbeitet haben, den allerherzlichsten Dank
aussprechen, auch Dank dafür, daß sie aufnehmen
wollten in das Gebiet dieses Sommerkursus eurythmische
Darbietungen, die heute schon einen so integrierenden Teil in
alldem bilden, was mit unserer Anthroposophie beabsichtigt
ist.
Aber lassen Sie mich im Beginne eine Hoffnung aussprechen. Ein
Sommerkurs vereinigt uns. Wir haben uns mit demjenigen, was wir
hier ausmachen wollen, in den schönen, aber immerhin
nördlichen Winkel Englands zurückgezogen, fern von
dem, was wir im Winter als heute noch ganz ernsthaftes Leben zu
treiben haben. Sie haben sich weggenommen von jenem Lebensernst
die andere Zeit, die Zeit im Sommer, Ihre Erholungspause, um
teilzunehmen an den Besprechungen von etwas, das
eigentlich meint, sehr viel mit der Zukunft zu tun zu haben,
und das eigentlich meint: es müsse einmal die Zeit
kommen, wo derselbe Geist, der uns jetzt zwei Wochen
während unserer Erholungspause zusammenbringen darf, uns
beseelen könnte für dasjenige, was wir als
Menschen den ganzen Winter hindurch treiben.
Denn man muß nicht nur doppelt danken. — Man kann es
gar nicht berechnen, wie viele Male man dankbar sein muß
dafür, daß Sie sich zusammengefunden haben, um Ihre
Erholungspause, die Sie herausnehmen mußten aus dem
heutigen Ernst des Lebens, der Betrachtung von
Zukunftsideen zu widmen. Ebenso herzlich, wie ich Ihnen
dafür jetzt danken möchte, ebenso möchte ich
auch hoffen, daß wir durch solche erholende Betrachtung
desjenigen, was wir für die Zukunft wertvoll halten,
immer mehr und mehr dazukommen, daß der Geist eines
solchen Sommerkursus auch ín die Wintermonate und
Winterwochen ein bißchen eindringe. Denn nur dadurch
hat der Inhalt eines solchen Sommerkursus einen Sinn.
Mit
diesen Worten wollte ich zunächst einleitend den
herzlichsten Dank den verehrten Veranstaltern und den verehrten
Zuhörern aussprechen.
Nach der Übersetzung werde ich dann fortfahren.
Ich
darf an die eindrucksvollen Worte anknüpfen, die gestern
von Miß Macmillan gesprochen worden sind, in denen
sich ein tiefgehender sozialpädagogischer Impuls
aussprach, die in einem gewissen Sinne Zeugnis dafür
ablegten, wie in unserer Zeit tiefe moralische Impulse gesucht
werden müssen, um die allgemeine Zivilisation der
Menschheit gerade auf dem Wege des Erziehungswesens
weiterzubringen.
Gerade wenn man die Bedeutung solcher Impulse für die
gegenwärtige Zeit tief auf das Menschenherz wirken
läßt, dann kommt man zu der grundsätzlichen
Frage im Geistesleben der Gegenwart. Und diese
grundsätzliche Frage knüpft an die Gestaltung an, die
unsere Kultur und Zivilisation im Laufe der
Menschheitsgeschichte angenommen hat.
Wir
leben heute in einer Zeit, in der bis zu einem gewissen Grade
wichtigste Faktoren unvermittelt nebeneinander stehen:
dasjenige, was der Mensch durch Erkenntnis — zumeist
durch eine auf dem Wege des bloßen Intellekts vermittelte
Erkenntnis — sich über die Welt erwerben kann;
und dasjenige, was der Mensch als sein tiefes inneres
Erlebnis zum Ausdruck bringen will auf
künstlerischem Gebiete, nachahmend
gewissermaßen die Schöpfertätigkeit Gottes mit
seinen menschlichen Kräften. Und wir leben
gegenüber demjenigen, wo der Mensch versucht, die Wurzeln
seines eigenen Daseins in Verbindung zu bringen mit den
Wurzeln'der Welt: wir leben gegenüber dem religiösen
Streben, der religiösen Sehnsucht des Menschen. Und dann
versuchen wir aus unserem Inneren herauszuholen jene Impulse,
die uns als Menschen, als sittliches Wesen hineinstellen in das
Zivilisationsdasein.
Wir
finden uns diesen vier Ästen der Zivilisation
gegenüber: der Erkenntnis, der Kunst, der Religion, der
Moralität. Aber wir haben erst im Laufe der
Menschheitsentwickelung — ich will nicht Kritik
üben, die Sache ist eine Notwendigkeit, aber verstanden
muß sie werden —, wir haben es im Laufe der
Menschheitsentwickelung dazu gebracht, daß diese vier
Äste in unserem Leben nebeneinander sich entwickeln, und
daß uns die eigentliche einheitliche Wurzel für unser
Bewußtsein fehlt.
Und
daher darf gegenüber dieser Tatsache heute erinnert werden
an den Ausgangspunkt der Menschheit in bezug auf die
Zivilisation. Es gab eine uralte Zeit der
Menschheitsentwickelung, in der das Wissen, das
künstlerische Leben, die Religion und die Sittlichkeit
eins waren; eine Zeit, in welcher der Mensch, als der Intellekt
noch nicht zu jener Abstraktheit entwickelt war, der wir heute
gegenüberstehen, durch eine Art alten bildhaften
Anschauens sich klar zu werden versuchte über die
Rätsel des Daseins, eine Zeit, in der vor der Seele des
Menschen standen die mächtigen Bilder, die dann in
dekadenter Art als Mythen, als Sagen zu uns gekommen sind,
ursprünglich aber Erkenntnis, Erleben des geistigen
Inhaltes der Welt bedeutet haben. Es gab eine solche Zeit, in
welcher der Mensch sich in diesem unmittelbaren inneren
Bild-Erleben, in dieser unmittelbaren inneren Imagination
vergegenwärtigte, was der Welt, der Sinnenwelt als ihr
Geistiges zugrunde liegt.
Und
was er so aus der Welt herauslesen konnte durch seine
instinktive Imagination, vergegenwärtigte er sich,
indem er die Stoffe dieser Erde — den Stoff der
Architektur, den Stoff der Bildhauerei, den Stoff der Malerei,
den Stoff der Musik, den Stoff anderer Künste — so
benützte, daß er, was als seine Erkenntnis sich
ergab, in äußerer Form ausgestaltete, es zum
Entzücken seines Herzens in äußere sinnliche
Form brachte, gewissermaßen das göttliche Schaffen
mit menschlichen Kräften nachbildend, das vor sich
hinstellend, was erst in sein Wissen, in seine Erkenntnis
eingeflossen war. Und es hatte der Mensch eine Kunst, die
für seine Sinne dasjenige spiegelte, was er erst in seine
Erkenntnis aufnehmen konnte.
Diese Tatsache trat ja in einer Abschwächung wiederum bei
Goethe auf, als er aus seiner eigenen Erkenntnis- und
Kunstüberzeugung heraus das bedeutsame Wort sprach:
«Das Schöne ist eine Manifestation geheimer
Naturgesetze, die uns ohne dessen Erscheinung ewig wären
verborgen geblieben», und als er das andere, nicht minder
bedeutsame Wort, wiederum aus seiner innersten Kunst- und
Erkenntnis-Überzeugung heraus sprach: «Wem die
Natur ihr offenbares Geheimnis zu enthüllen
anfängt, der empfindet eine unwiderstehliche
Sehnsucht nach ihrer würdigsten Auslegerin, der
Kunst.»
Aus
solcher Anschauung geht dann hervor, wie der Mensch eigentlich
darauf angelegt ist, Wissenschaft und Kunst nur als die zwei
Gestaltungen einer und derselben Wahrheit anzunehmen. Und
so war es ursprünglich in der Entwickelung der Menschheit.
Was den Menschen als Erkenntnis innerlich befriedigte, indem es
ihm in Ideen sich vor die Seele stellte, was ihn entzückte
als Schönheit, wenn er es in der Kunst vor seine Sinne
hingestellt schaute — Erkenntnis und Kunst aus
einer Wurzel stammend das war einstmals dasjenige, was
eine primitivere Menschheit als ihre Zivilisation erlebt
hat.
Und
wie stehen wir heute dazu? Wir stehen dazu so, daß wir
allmählich durch dasjenige, was uns der Intellekt,
die Abstraktion gegeben hat, eine Wissenschaft, eine
Erkenntnis begründen wollen, die soviel als möglich
gerade das ausschaltet, was künstlerisch ist. Man
fühlt es förmlich wie sündhaft, wenn man in der
Wissenschaft irgendwie etwas Künstlerisches geltend
macht. Und derjenige, der etwa diese Sünde begeht,
daß er in ein wissenschaftliches Buch etwas
Künstlerisches hineinbringt, er ist von vornherein
mit dem Makel des Dilettanten heute belegt. Denn die
Erkenntnis muß nüchtern, muß objektiv sein, so
sagt man; die Kunst, die darf dasjenige geben, was mit der
Objektivität nichts zu tun hat, was durch die
Willkür des Menschen herauskommt. Dadurch aber
bildet sich ein tiefer Abgrund zwischen Erkenntnis und
Kunst. Und der Mensch findet sich über diesen Abgrund
nicht mehr herüber.
Aber er findet sich zu seinem Schaden über diesen Abgrund
nicht mehr herüber. Denn wenn man dasjenige Wissen,
diejenige Erkenntnis noch so weitgehend anwendet, die
heute allgemein geschätzt ist als die kunstfreie
Erkenntnis, man kommt zu jenem ausgezeichneten, hier auch voll
anzuerkennenden Erkennen der Natur, namentlich der
leblosen Natur; aber man muß stehenbleiben in dem
Momente, wo man an den Menschen herankommen will. Daher kann
man sich heute überall umsehen in der Wissenschaft, sie
gibt Antwort in großartiger Weise auf Fragen der
äußeren Natur; sie bleibt stehen da, wo es sich um
den Menschen handelt. Man dringt mit den Gesetzen, die man in
der Naturwissenschaft gewinnt, nicht bis zum Menschen vor.
Warum? Weil — so ketzerisch das für das heutige
Bewußtsein klingt, es muß gesagt werden weil in dem
Momente, wo man mit den Naturgesetzen herankommt zum
Menschen, man künstlerisch wirken muß. Ja, es ist
ketzerisch, denn da sagen die Leute: Jetzt treibst du nicht
mehr Wissenschaft! Du folgst nicht mehr dem Gesetze der
Beobachtung, dem Gesetze der strengen Logik, an die du dich zu
halten hast, die du erkennen willst, wenn du an den Menschen,
um ihn zu erfassen, mit künstlerischem Sinn herantrittst.
Man kann lange darüber deklamieren, daß solch
ein Herankommen an den Menschen in künstlerischem Sinne
unwissenschaftlich ist, weil es künstlerisch 1st. Wenn die
Natur den Menschen künstlerisch macht, so mag der Mensch
noch so lange diskutieren, daß das Verfahren, ihn zu
erfassen, nicht wissenschaftlich ist: es würde eben nichts
anderes zur Folge haben, als daß man mit all dem
wissenschaftlichen Verfahren den Menschen nicht erfassen
kann.
So
bleibt man mit aller heutigen Wissenschaft stehen vor dem
Menschen und merkt nur, wenn man unbefangen genug ist: da
mußt du zu etwas anderem greifen, da mußt du
hineinlaufen lassen deine intellektualistische
Wissenschaftlichkeit in Künstlerisches. Du mußt die
Wissenschaft selber zur Kunst werden lassen, wenn du an den
Menschen herankommst.
Nun
lernt man, wenn man sich diesem Weg hingibt, aber ganz
hingibt mit seiner vollen menschlichen Seele, nicht nur
den Menschen äußerlich künstlerisch betrachten,
sondern, wenn man die entsprechenden Wege geht, lernt man
das Intellektualistisch-Wissenschaftliche einlaufen
lassen in dasjenige, was ich in meinem Buche: «Wie erlangt
man Erkenntnisse der höheren Welten?» beschrieben
habe als imaginative Erkenntnis. Diese imaginative
Erkenntnis, die heute noch so viel angefochten und angefeindet
wird, sie ist möglich, wenn das Denken, das sich sonst
passiv der äußeren Welt hingibt, das ja immer mehr
und mehr ein Bestandteil unserer Zivilisation in dieser
Passivität geworden ist, wiederum aktiv wird, wenn
es wiederum innerlich sich zur Aktivität
aufrüttelt.
Es
ist schwer, über dieses heute zu reden, denn man redet
nicht nur von einer wissenschaftlichen Zeitgewohnheit oder
gegen eine wissenschaftliche Zeitgewohnheit, sondern man
redet im Grunde genommen, wenn man dieses auseinandersetzt,
gegen die ganze heutige Zivilisation. Denn es ist ja
immer beliebter und beliebter geworden, die
Aktivität des Denkens, das innerliche Dabeisein, das
innerliche Tätigsein im Denken ganz außer acht zu
lassen und sich nur hinzugeben den aufeinanderfolgenden
Ereignissen, und dann das Denken einfach fortlaufen zu
lassen in den aufeinanderfolgenden Ereignissen, nicht
mitzutun im Denken.
Begonnen hat es damit, daß immer mehr und mehr der Ruf
entstanden ist, man müsse den geistigen Dingen
gegenüber recht anschaulich sein. Man nehme einen
Vortrag, der nicht anschaulich sein kann, weil er von geistigen
Dingen redet und voraussetzt, daß die Zuhörer —
weil man nur Worte sprechen kann zur Anregung und nicht die
Dinge herumhuscheln und herumzaubern lassen kann —
innerlich ihr Denken in Aktivität setzen, um das
mitzumachen, was Worte nur andeuten: man wird heute schon
finden, wie ein großer Teil der Zuhörerschaft
— die in anderen Sälen selbstverständlich als
diesem heutigen sitzt — zu gähnen
anfängt, weil das Denken nur passiv ist, der Mensch nicht
mehr aktiv mitgeht, bis er zuletzt sogar einschläft. Denn
man verlangt, es soll alles anschaulich sein, mit Lichtbildern
illustriert sein, damit man nicht zu denken brauche. Man kann
nicht denken!
Damit hat es begonnen, ist auch viel weitergegangen. Im
«Hamlet», da muß man noch mit der Sache
mitgehen, da muß man auch noch das gesprochene Wort
verfolgen. Man ist heute vom Schauspiel aufs Kino gekommen: da
braucht man nicht mehr aktiv zu sein, da rollen die Bilder nach
der Maschine ab, und man kann ganz passiv sein. Und so hat man
allmählich jene innere Aktivität des Menschen
verloren. Die aber ist es, die erfaßt werden muß.
Dann merkt man, daß das Denken nicht bloß etwas ist,
was von außen angeregt werden kann, sondern daß es
eine innerliche Kraft im Menschen selbst darstellt.
Dasjenige Denken, das unsere heutige Zivilisation kennt, ist
nur die eine Seite der Sache. Schaut man das Denken innerlich,
von der anderen Seite an, so ist es diejenige Kraft, die
von Kindheit an den Menschen zugleich aufbaut.
Um
das einzusehen, dazu braucht man die innerlich plastische
Kraft, die den abstrakten Gedanken ins Bild umformt. Und gibt
man sich auf diesem Wege die richtige innerliche Mühe,
dann ist man in dem, was ich in dem genannten Buche den Anfang
der Meditation genannt habe; dann ist man auf dem Wege, nun
nicht nur überzuleiten das Können in die Kunst,
sondern das ganze Denken des Menschen in Imagination; so
daß man innerhalb einer imaginativen Welt steht, von der
man aber jetzt weiß: sie ist nicht ein Geschöpf
unserer eigenen Phantasie, sie muß auf eine objektive Welt
deuten. Man ist sich ganz klar darüber bewußt,
daß man diese objektive Welt noch nicht hat in der
Imagination, aber man weiß, daß man die
Bildhaftigkeit dieser objektiven Welt hat.
Und
jetzt handelt es sich nur darum, auch einzusehen, daß man
über die Bildhaftigkeit hinauskommen müsse. Man hat
ja lange zu tun, wenn man zu der Bildhaftigkeit, zu diesem
inneren schöpferischen Denken kommen will, zu diesem
Denken, das nicht bloß Phantasiebilder erfaßt,
sondern Bilder, die ihre Realität in ihrer eigenen
Wesenheit tragen. Aber man muß dann dazu kommen,
dieses ganze Schaffen der eigenen Wesenheit wiederum
auszuschalten. Man muß zu einer innerlichen, sittlichen
Tat kommen.
Ja,
es ist eine sittliche Tat im Inneren des Menschen! Nachdem man
sich alle Mühe gegeben hat — und Sie können
lesen in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der
höheren Welten?», welche Mühen man sich zu geben
hat, um zu diesem bildhaft-aktiven Denken zu kommen —
nachdem man alle Seelenkräfte, die ganze Totalität
der Seelenkräfte aufzuwenden hat, also das Selbst im
höchsten Sinne anzuspannen hat, dann muß man,
nachdem man zuerst diese höchste Anspannung geleistet hat,
wiederum alles das ausschalten können, was man auf diesem
Wege gewonnen hat.
Die
höchsten Früchte des aktiven, zur Meditation
gesteigerten Denkens muß man im eigenen Selbst
entwickelt haben und dann selbstlos werden können,
dasjenige, was man sich erobert hat, wieder ausschalten
können. Dann ist es anders, als wenn man es nicht hat, es
gar nicht erobert hat. Hat man zuerst alle Anstrengung gemacht,
um das Selbst in dieser Weise zu verstärken, vernichtet
man dann dasjenige wiederum durch die eigene Kraft, so daß
das Bewußtsein leer wird: dann wogt und wallt eine
geistige Welt in das menschliche Bewußtsein herein, dann
kommt dasjenige, was spirituelle Welt ist, in das
Menschenwesen herein. Dann sieht man: zur Erkenntnis der
geistigen Welt sind geistige Erkenntniskräfte
notwendig.
Und
wenn das Erringen des ersten aktiven bildhaften Denkens
Imagination genannt werden kann, dann muß das, was jetzt,
nachdem der Mensch sich vollständig leer gemacht hat in
seinem Bewußtsein, was da als geistige Welt hereinflutet,
nun als auf dem Wege der Inspiration gewonnen bezeichnet
werden.
Nachdem wir durch die Imagination durchgegangen sind,
können wir uns würdig machen durch den geschilderten
sittlichen Akt der inneren Selbstlosigkeit zum Erfassen
desjenigen, was als geistige Welt der äußeren Natur
und dem Menschen zugrunde liegt.
Wie
das dann hinüberführt zur Religion, das möchte
ich, nachdem dies übersetzt worden ist, im dritten Teil
meines Vortrags sagen.
Jetzt möchte ich nur auf eines aufmerksam machen: Indem
Anthroposophie die imaginative Erkenntnis anstrebt, führt
sie nicht nur zur Erkenntnis, zur Kunst, die eben als Kunst
Bild bleibt, sondern zu demjenigen, was nun zu Bildern
sich hinbegibt, die geistige Realität enthalten.
Indem Anthroposophie dieses anstrebt, überbrückt sie
den Abgrund zwischen Erkenntnis und Kunst wiederum so,
daß auf einer höheren Stufe, für die Gegenwart,
für das moderne Leben geeignet, dasjenige wieder in die
Zivilisation kommen kann, wovon die Menschheit
ausgegangen ist: die Einheit von Wissenschaft und Kunst. Wir
müssen wiederum zu dieser Einheit kommen, denn die
Spaltung zwischen Wissenschaft und Kunst hat den Menschen
selbst zerrissen.
Das
aber ist es, was der moderne Mensch in erster Linie anstreben
muß: aus seiner Zerrissenheit zur Einheit und zur inneren
Harmonie zu kommen. Das, was ich bisher gesagt habe, soll
gelten für die Harmonie zwischen "Wissenschaft und
Kunst. Nachher möchte ich auch noch den Gedanken ausdehnen
für Religion und Sittlichkeit.
Eine Erkenntnis, die in dieser geschilderten Weise das
Schöpferische der Welt in sich aufnimmt, kann unmittelbar
in die Kunst hineinfließen. Aber der Weg, der auf
diese Weise von der Erkenntnis in die Kunst hinein genommen
wird, er kann auch weiter fortgesetzt werden. Er ist
fortgesetzt worden in jener alten, instinktiven, imaginativen
Erkenntnis, von der ich gesprochen habe, die sich in die Kunst
hinein fortsetzte, und die auch den Weg ohne Abgrund in das
religiöse Leben hinüber fand. Derjenige, der solcher
Erkenntnis, wenn sie auch einstmals bei der primitiven
Menschheit selbst noch primitiv und instinktiv war, sich
hingab, der fühlte die Erkenntnis nicht nur als etwas
Äußerliches, sondern er fühlte, wie in der
Erkenntnis, im Wissen, im Denken das Göttliche der Welt in
ihm lebte, wie das Schöpferisch-Göttliche in
ihm überging in das
Künstlerisch-Menschlich-Schöpferische.
Da
aber konnte dann der Weg dazu genommen werden, dasjenige, was
der Mensch dem Stoffe einprägte, in der Kunst zu einer
höheren Weihe zu bringen. Die Tätigkeit, die der
Mensch sich aneignete, indem er in dem äußeren
Sinnenstoff das Göttlich-Geistige künstlerisch
verkörperte, diese Tätigkeit konnte er
fortsetzen und Handlungen hervorbringen, in denen er sich
unmittelbar bewußt wurde, wie er, indem er als Mensch
handelte, zum Ausdruck bringt den Willen des göttlichen
Waltens in der Welt. Und die Kunst ging, indem so der Weg
gefunden wurde von der Bearbeitung des sinnlichen Stoffes zu
dem Handeln, in welchem der Mensch sich selber von der
göttlich-schöpferischen Kraft durchsetzt fühlte,
über in den Kultus, in den Dienst des Göttlichen.
Gottesdienst wurde das künstlerische Schaffen.
Die
Handlungen des Kultus sind die von Weihe durchsetzten
künstlerischen Taten der Urmenschheit. Es steigerte
sich hinauf die künstlerische Tat zur Kultustat, die
Verherrlichung des göttlichen Wesens durch den sinnlichen
Stoff zur Hingabe an das göttliche Wesen durch die
Kultushandlung. Indem man den Abgrund überbrückte
zwischen Kunst und Religion, entstand die Religion, die
einstmals in vollem Einklang, in voller Harmonie war mit
Erkenntnis und Kunst. Denn wenn auch jene Erkenntnis primitiv,
instinktiv war, sie war doch ein Bild, und sie konnte deshalb
auch das menschliche Handeln bis zu demjenigen Handeln bringen,
das in sich bildhaften Kultus hat, das Göttliche
unmittelbar darstellt.
Damit war der Übergang gefunden von Kunst zur Religion.
Können wir das noch mit unserer Erkenntnis? Jenes
instinktive alte Erkennen sah in jedem Naturwesen, in
jedem Naturvorgang bildhaft ein Geistiges. Es ging durch
Hingabe an den Geist des Naturvorganges das geistige Walten und
Weben des Kosmos über in den Kultus.
Wie
erkennen wir die Welt? Wiederum soll nicht Kritik geübt
werden, sondern geschildert werden. Im historischen
Werden der Menschheit war das alles notwendig, das werden
insbesondere die nächsten Vorträge noch zeigen. Ich
will heute nur einige andeutende Gedanken hinstellen. Wir haben
allmählich den unmittelbaren instinktiven Einblick
in die Naturwesen und Naturvorgänge verloren. Wir sind
stolz darauf, die Natur ohne den Geist zu schauen, und wir
dringen endlich vor zu solchen hypothetischen Anschauungen
über die Natur, wo wir zurückführen zum Beispiel
das Werden unseres Planeten zu dem Weben und Wesen eines
einstigen Urnebels. Durch rein mechanische Kraft habe sich aus
diesem Urnebel durch Rotation herausgeballt unsere Erde. Aus
demjenigen, was schon in diesem Urnebel in mechanischer Weise
sich betätigte, sei auch herausgestiegen alles, was in den
Reichen der Natur bis zum Menschen lebt. Und wiederum
müsse nach denselben Gesetzmäßigkeiten,
die unser ganzes Denken, das objektiv sein will, erfüllen,
diese Erde einstmals ihr Ende nehmen im sogenannten
Wärmetod. Alles dasjenige, was an Idealen die Menschheit
sich errungen hat, wird, da nur als eine Fata Morgana des
Naturdaseins hervorgegangen, verschwinden, und am Ende
kann nur dastehen der große Kirchhof des Erdendaseins.
Wenn die Menschheit heute ganz ehrlich wäre, wenn sie den
Mut hätte, sich innerlich zu gestehen, was, wenn solch ein
Gedankengang von der Wissenschaft als richtig anerkannt wird,
die notwendige Konsequenz ist, sie müßte sich
sagen: Eine Fata Morgana bleibt also alles religiöse und
alles sittliche Leben! — Nur weil die Menschheit diesen
Gedanken nicht ertragen kann, hält sie fest an
demjenigen, was als Religion, ja was als Sittlichkeit aus
alten Zeiten, in denen man noch im Einklang mit Erkenntnis und
Kunst Religion und Sittlichkeit gewonnen hat, übrig
ist. Das heutige religiöse und sittliche Leben ist nicht
ein unmittelbar vom Menschen heraus sich schaffendes, ist ein
Traditionelles, ist übriggeblieben als Erbschaft aus
jenen Zeiten, wo durch den Menschen, allerdings im instinktiven
Leben, sich noch Gott und mit Gott sich die sittliche Welt
geoffenbart hat. Heute streben wir nach der Erkenntnis so,
daß sich weder der Gott, noch die sittliche Welt
offenbaren kann, sondern es ist ein rein wissenschaftliches
Leben, das den Menschen nur erkennt als das höchste der
Tiere. Wissenschaft gelangt heute nur bis zum Ende der
Tierheit, der Mensch ist ausgeschaltet. Ehrliches inneres
Streben kann nicht finden die Brücke über den Abgrund
zwischen der Erkenntnis und dem religiösen Leben.
Alle Religion ist hervorgegangen aus einer Inspiration. Wenn
diese Inspiration auch nicht so bewußt war wie diejenige,
die wir wieder erringen müssen, von der eben gesprochen
worden ist, sie war instinktiv da. Mit Recht führen
die Religionen ihren Ursprung auf eine Inspiration
zurück. Und diejenigen Religionen, die nicht mehr die
lebendigen Inspirationen, die Offenbarung aus dem
Geistigen in der unmittelbaren Gegenwart anerkennen wollen, die
müssen eben beim bloßen Traditionellen bleiben. Dabei
aber fehlt einem dann die innerliche Lebendigkeit, das
unmittelbar Impulsive des religiösen Lebens. Dieses
Impulsive, dieses unmittelbar Lebendige muß sich die
menschliche Zivilisation wieder erringen, denn dadurch
allein kann die Gesundung unseres sozialen Aufbaues
beginnen.
Ich
habe von Inspiration gesprochen. Ich habe davon gesprochen, wie
der Mensch eine Erkenntnis wiederum gewinnen müsse, die
durch die Kunst bis zur Imagination und hinauf bis zur
Inspiration geht. Wird sich die Menschheit dasjenige, was durch
die Inspiration einer spirituellen Welt hereinflutet in das
menschliche Bewußtsein, wieder erringen, dann wird
wiederum ursprüngliche Religion da sein. Dann wird man
auch nicht aus dem Intellekt heraus diskutieren, wie eigentlich
der Christus gewesen sei, dann wird man wiederum — was
man nur durch Inspiration wirklich erkennen kann —
wissen, daß der Christus der menschliche Träger
eines wirklichen göttlichen Wesens war, das
heruntergestiegen ist aus göttlichen Höhen in das
irdische Dasein. Denn zum Begreifen des Christus ist
übersinnliches Wissen notwendig.
Und
soll das Christentum wiederum tief verankert werden in der
Menschheit, dann muß diese Menschheit wiederum den Weg
finden zur übersinnlichen Erkenntnis. Das müssen wir
wieder gewinnen. Inspiration muß der Menschheit
wiederum geben unmittelbares religiöses Leben. Dann
werden wir nicht eine Erkenntnis haben, welche den bloßen
Naturalismus nachahmt und nicht nur zur Kunst hinüber,
sondern auch zur Religion hinüber vor dem Abgrund steht,
sondern dann werden wir eine Harmonie haben zwischen
Erkenntnis, Kunst und Religion.
Und
ebenso baute der Urmensch darauf, wenn er nun die Kunst
herabgebracht hatte zum Gottesdienst, wenn er hat teilhaftig
werden können jener Befeuerung des menschlichen Herzens,
die sich einprägen kann, wenn im Gottesdienst der
göttliche Wille selber die Menschenhandlungen
durchdringt —, daß dann der Gott in den
Menschenhandlungen anwesend wird. Und wenn man wiederum
dazu gelangen wird, diesen Weg hinüber zu finden von der
äußerlichen gegenständlichen Erkenntnis zur
Inspiration, dann wird man eben durch Inspiration die
unmittelbare Religion haben, dann wird man auf diese Weise
wiederum die Möglichkeit finden, auch ebenso mit diesem
ursprünglichen Menschen drinnen zu stehen in einer
gottgegebenen Sittlichkeit.
Und
das fühlte dieser ursprüngliche Mensch: Habe ich den
Kultus, habe ich den Gottesdienst, ist der Gottesdienst da in
der Welt und ich in ihn verwoben, dann erfüllt sich mein
Inneres so, daß ich auch im ganzen Leben, nicht nur an der
Kultusstätte, den Gott in der Welt gegenwärtig machen
kann.
Das
aber ist die wahre Sittlichkeit: den Gott in der Welt
gegenwärtig machen zu können. Keine Natur
führt zur Sittlichkeit; allein das führt den Menschen
zur Sittlichkeit, was seine Natur hinweghebt über die
Natur, was seine Natur erfüllt mit göttlich-geistigem
Dasein. Nur jene Intuition, welche über den Menschen
kommt, wenn er durch das religiöse Leben sich in den Geist
hineinstellt, kann ihn mit wirklicher, innerster
menschlich-göttlicher Moralität erfüllen.
Und
so wird auch, wenn wir wieder zur Inspiration kommen, jene
Brücke gebaut, die einstmals in der instinktiven
Menschheitszivilisation gebaut war, jene Brücke von der
Religion zur Sittlichkeit. Wie hinaufführt die Erkenntnis
durch die Kunst zu den übersinnlichen Hohen, so wird
herunterführen das religiöse Dienen die
übersinnlichen Höhen in das Erdendasein so, daß
wir dieses Erdendasein wiederum mit einer elementaren,
ursprünglichen, unmittelbaren, vom Menschen erlebten
Sittlichkeit impulsieren können.
Dann wird der Mensch selber wiederum in Wahrheit individueller
Träger eines sittlich durchpulsten Lebens sein
können, eines gegenwärtig ihn imputierenden
sittlichen Lebens. Dann wird Moralität ein Geschöpf
des einzelnen Menschen werden. Dann wird die Brücke
aufgeschlagen über den letzten Abgrund hinüber,
der da besteht zwischen Religion und Sittlichkeit. Dann wird in
einer modernen Form jene Intuition geschaffen, in welcher der
primitive Mensch drinnenstand, wenn er in einer Kultushandlung
sich befand. Dann wird durch ein modernes religiöses Leben
der Mensch moderne sittliche Verhältnisse schaffen.
Das
brauchen wir zur Erneuerung unserer Zivilisation. Das
brauchen wir, damit wiederum ursprüngliches Leben
dasjenige wird, was heute nur Erbschaft, nur Tradition ist und
deshalb schwach und unkräftig wirkt. Wir brauchen zu
unserem komplizierten sozialen Leben, das über die Erde
hin ein Chaos zu verbreiten droht, diese ursprünglichen
Impulse. Wir brauchen die Harmonie zwischen Erkenntnis, Kunst,
Religion und Sittlichkeit. Wir brauchen in einer neuen Form
diesen Weg von der Erde aus, auf der wir uns unsere Erkenntnis
erwerben, durch die Inspiration, durch die Kunst
hinüber zum unmittelbaren Drinnenstehen, zum
Ergreifen des Übersinnlichen in dem religiösen
Leben, damit wir wiederum herunterführen können auf
die Erde dieses Übersinnliche, im religiösen Leben
Gefühlte und in den Willen Umgesetzte im irdisch-sozialen
Dasein.
Die
soziale Frage wird erst in ihrer vollen Tiefe ergriffen werden,
wenn sie als eine sittliche, als eine religiöse Frage
erfaßt wird. Aber sie wird keine sittliche, religiöse
Frage werden, ehe nicht die sittliche und religiöse Frage
eine Angelegenheit der spirituellen Erkenntnis wird.
Erringt sich der Mensch wiederum spirituelle Erkenntnis, dann
wird er dasjenige, was er braucht, herbeiführen
können, wird gewissermaßen die weitere
Entwickelung anknüpfen können an einen
instinktiven Ursprung. Dann wird er finden, was gefunden
werden muß zum Heile der Menschheit: Harmonie zwischen
Wissen, Kunst, Religion und Sittlichkeit.
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