DRITTER
VORTRAG
Zürich, 10. Februar 1919
Schwarmgeisterei und reale
Lebensauffassung
im
sozialen Denken und Wollen
In den Vorträgen der vorigen Woche habe
ich bereits darauf aufmerksam gemacht, daß die
gegenwärtige soziale Lage mit Bezug auf ihre
Entwickelung besonders dadurch Hemmnisse erfährt,
Schwierigkeiten erlebt, daß eine Verständigung
der verschiedenen Klassen der gegenwärtigen
Menschheit in einer verhältnismäßig weiten Ferne
liegt. Die führende Bevölkerungsklasse, wie sie
sich heraufentwickelt hat in den letzten Jahrhunderten,
Jahrzehnten bis zur Gegenwart, sie hat gewisse
Denkgewohnheiten, gewisse innere Impulse, aus denen heraus sie
empfindet, denkt und will. Und man möchte sagen: Ein
Abgrund ist zwischen diesen Denkgewohnheiten und zwischen dem,
was in der Art, wie ich es die vorige Woche charakterisierte,
sich entwickelt hat als die ganz spezifische Eigenart in den
Denkgewohnheiten des modernen Proletariats, in dem doch
eigentlich der Ursprung dessen liegt, was man heute die soziale
Frage nennt.
Wer sich bemüht, in das wirkliche Leben
einzudringen, in die Kräfte, die spielen im
gesellschaftlichen Zusammenhange der Menschen, für den
erscheint es viel wichtiger, diese, man möchte sagen,
unter dem Bewußtsein der Menschen, unter dem,
worüber sie bewußt diskutieren, liegenden Impulse zu
beobachten als das, was eben im Bewußtsein selbst
auftritt. Man kann innerhalb der über diese Dinge
denkenden Kreise des Bürgertums heute mancherlei Ansichten
hören. Man kann auch vernehmen die Anschauungen der
Persönlichkeiten des Proletariats oder Führer
dieses Proletariats; man wird nicht so viel für eine reale
Lebensanschauung und für die Bildung eines Urteiles
mit Bezug auf die soziale Tatsache der Gegenwart gewinnen aus
der Beobachtung dieser Anschauung, als gewissermaßen
aus dem, was hinter diesen Anschauungen liegt. Und da liegt
viel mehr soziale Psychologie, soziale Seelenlehre, als man auf
beiden Seiten eigentlich denkt.
Wer — ich darf das von mir wohl sagen,
der ich versuche, diese Dinge hier darzustellen — , wer
sich bemüht hat, nach allen Seiten hin einzudringen
sowohl in die Denkgewohnheiten der bürgerlich leitenden
Kreise auf der einen Seite wie in die Seelenimpulse des
aufstrebenden Proletariats, der weiß, wie groß
die Kluft ist zwischen beiden und wie schwierig das
Verständnis ist; und dieses Nichtverstehen ist einmal eine
welthistorische, ist selber eine soziale Tatsache der
Gegenwart. Wir sehen ja jetzt wiederum Paris–Bern. Wenn
man einen Sinn hat für das Hören solcher Dinge, dann
wird man sagen: An beiden Orten wird eine ganz
verschiedene Sprache gesprochen. An beiden Orten wird
eine so verschiedene Sprache gesprochen, daß man
zunächst daran verzweifeln könnte, daß das, was
an dem einen Ort gesprochen wird, an dem anderen auch nur im
entferntesten empfunden wird, und umgekehrt. Deshalb ist es
auch so schwierig, in der Gegenwart den Blick hinzulenken
sowohl in bürgerlichen Kreisen als auch in Kreisen
des Proletariats auf diejenigen Dinge, auf die es eigentlich
als hauptsächlich treibende Kräfte in der sozialen
Frage ankommt. Denn in dem, was geschichtlich vorgeht, ist ja
nicht alles gleich wichtig, sondern unter den geschichtlichen
Ereignissen sind solche, welche in signifikanter Weise das
andeuten, was eigentlich die wirksamen, die wahrhaft wirksamen
Kräfte sind. Andere Erscheinungen, die der
oberflächliche Beobachter vielleicht für ebenso
wichtig hält, kommen für die wahre Wirklichkeit gar
nicht in Betracht.
Wer die proletarische Bewegung, wie sie sich
herausgebildet hat in den letzten Jahrzehnten,
sachgemäß zu verfolgen in der Lage war, dem wird sich
als eine solche signifikante Tatsache wohl unter vielem
anderen die aufdrängen, daß das moderne
Proletariat, das ja wirklich in einer, man möchte sagen,
wissenschaftlichen Form das in sich aufgenommen hat, was seine
Impulse sind, daß dieses moderne Proletariat aus seinen
Anschauungen heraus zu sagen verstand, wie die Dinge, die es in
die gegenwärtige Lage hineingebracht haben, ihre
Auflösung finden müssen, wie das, was als eine
Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung die alten
Bevölkerungsklassen heraufgebracht haben, nach und nach
verschwinden und wie etwas anderes an dessen Stelle
treten müsse.
Es liegt da eine Tatsache vor, für die
sich manche Spötter gefunden haben. Allein unter die
Spötter soll hier nicht gegangen werden, sondern es soll
auf das historisch Ernste dieser Angelegenheit hingewiesen
werden. Wenn man gerade mit einsichtigen Vertretern der
modernen proletarischen Lebensauffassung sich
auseinandergesetzt hat — vielleicht hat man es besonders
in den ersten Jahren, in denen man bekanntgeworden ist
mit dieser Bewegung, mehr getan als später, wo man sich in
diese Dinge schon mehr hineingefunden, wo man sich mit ihnen
mehr abgefunden hatte, wo man doch wohl die Frage
aufwarf: Welche Gestaltung der Gesellschaft, des menschlichen
Zusammenlebens und menschlichen Wirkens, welche Gestaltung des
sozialen Organismus betrachtet man innerhalb dieser
Lebensauffassung eigentlich als das, was da kommen soll, als
das, was herbeigeführt werden soll? — man bekam
immer die aus dieser Lebensauffassung heraus ganz
sachgemäße Antwort: Das interessiert uns weiter
jetzt noch nicht. Für uns handelt es sich vor allen Dingen
darum, die gegenwärtige Gesellschaftsordnung zu ihrer
Auflösung zu bringen, sie dahin zu bringen, daß sie
sich selber ad absurdum führt. Was dann an die Stelle
tritt, das wird sich schon ergeben. — Immer handelte es
sich den Leuten darum, die Ansicht zu vertreten, das moderne
Proletariat müsse in die Macht- und
Herrschaftsstellungen einrücken. Gelingt ihm das nach der
Überwindung der vor ihm her marschierenden Klasse, so wird
es dann, wenn es die Macht in den Händen hat, das finden,
woran es vorläufig nicht zu denken braucht.
Das war programmatisch. Das ist aber nicht im
eigentlichen Sinne sachgemäß gedacht. Es ist auch
agitatorisch, allein es ist nicht
wirklichkeitsgemäß gedacht.
Wirklichkeitsgemäß ist aber für den, der einen
Sinn hat für die Entwickelungskräfte der Geschichte,
die Frage: Ja, was bedeutet denn eigentlich dann diese
moderne proletarische Weltanschauung innerhalb der
Entwickelung der Menschheit in die Gegenwart herein
überhaupt? — Und da wird man immer wieder und
wiederum abgelenkt, weil, wie gesagt, die Anschauungen
selbst weniger in Betracht kommen, abgelenkt von dem, was die
Leute sagen zu dem, wie sie fühlen, wie sie
über ihr eigenes Leben empfinden, wie sie denken über
die anderen Klassen der menschlichen Gesellschaft. Kurz, man
wird abgelenkt von der proletarischen Frage auf den
Lebensstatus des Proletariats selbst. Es tritt einem
gewissermaßen aus dem Leben entgegen nicht Rede, nicht
Aussage, sondern das bestimmt geartete Dasein einer
Menschenklasse, die durch die Art, wie sie da ist, sagt, um was
es sich handelt. Und die Antwort, die nun die
Realität gibt, die das wirkliche lebendige
Proletariat, wie es heute ist, selbst gibt, diese Antwort, sie
könnte etwa so formuliert werden. Es könnte gesagt
werden: Dieses moderne Proletariat mit seinen
Lebensmöglichkeiten und Lebensbedingungen, mit der Art und
Weise, wie es drinnensteht in der modernen
Gesellschaftsordnung und sich selber in ihr fühlt,
dieses moderne Proletariat fühlt sich, erlebt sich als die
Kritik dieser modernen, aus Technik und Kapitalismus
hervorgegangenen Wirtschaftsordnung.
Das ist, wie ich meine, außerordentlich
interessant, daß man, wenn man Sinn für
wirklichkeitsgemäße Anschauung hat,
gewissermaßen in dem Proletariat selber die Antwort hat in
dem, was da ist, nicht in einer Theorie, nicht in irgendwelcher
theoretischen Auseinandersetzung, sondern in dem Proletariat
selber. Eine Kritik ist es. Daß dieses moderne Proletariat
so geworden ist, das liefert gewissermaßen die Kritik
dessen, was sich außerhalb dieses Proletariats und dieses
Proletariat für sich in Lohn nehmend als moderne
Wirtschaftsordnung herausgebildet hat.
Weil dies so ist, hat insbesondere
eingeschlagen in die Seele dieses modernen Proletariats eine an
sich abstrakte, man möchte sagen auf
wissenschaftlichen Stelzen gehende Lehre, aber eine
Lehre, die durchdrungen ist gerade von dem Impuls, der,
wie ich es eben charakterisiert habe, als der eigentliche
Lebensimpuls im modernen Proletariat selber vorhanden
ist: die Lehre des Marxismus, die Lehre des Karl Marx. Es ist ein einzigartiges
Beispiel in der Geistesgeschichte der Menschheit, daß eine
unverbrauchte Menschenklasse, eine Menschenklasse mit noch
nicht dekadenter, mit unverbrauchter
Intellektualität, mit so vollem Herzen, mit so offener
Seele und so, wie wenn die darin wirksamen Kräfte die
eigenen Lebenskräfte wären, eine
wissenschaftliche Theorie aufgenommen hat, wie das von seiten
des modernen Proletariats mit der marxistischen Lehre geschehen
ist.
In dieser Beziehung muß man die Dinge am
Leben studiert haben. Man muß gesehen haben, wie selbst
Schwierigstes, von den anderen Klassen als schwierig
Angesehenes sich hineingefunden hat in die elementar
fühlende und empfindende Proletarierseele, wie das moderne
Proletariat in Millionen und Millionen ergriffen worden ist von
einer scheinbar theoretischen Lehre. Aber was lebt in dieser
theoretischen Lehre? Das ist wiederum das Eigentümliche,
daß in ihr auch nicht das lebt, was man im
gewöhnlichen Sinne ein soziales Ideal nennt. Was in ihr
lebt, hat nicht irgendeine Formulierung, wie ein Zukunftsstaat
oder eine zukünftige soziale Struktur aussehen soll,
sondern in ihr lebt im wesentlichen eine Kritik der modernen
bürgerlichen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung,
und es liegt gewissermaßen der Instinkt in diesem
marxistischen Werke, der Instinkt: Weise ich das
Proletariat hin auf das, was Kritik der modernen technischen
kapitalistischen Wirtschaftsordnung ist, dann weise ich es auf
seine eigenen Lebenskräfte hin, dann führe ich es zu
seiner eigenen Wirklichkeit. Es ist schon in einem gewissen
Sinne das Spiegelbild ausgedrückt des unmittelbaren
proletarischen Lebens gerade in der marxistischen Lehre. Und
diejenigen, welche glauben, daß die marxistische Lehre
für das Proletariat abgetan ist, die begreifen auf der
einen Seite nicht, daß äußere Formulierungen,
bestimmte Anschauungen und Gedanken längst
überwunden sein können, daß aber geblieben
ist der spezifische Elan, der spezifische Impuls, der in einer
solchen Sache lebt, und daß auf der anderen Seite gerade
vielleicht in den entgegengesetzten Anschauungen, zu
denen man gekommen ist aus dem Marxismus heraus, daß in
allerlei revisionistischen Versuchen nur wiederum eine
Fortentwickelung dessen lebt, was als Impulse in die Seele des
modernen Proletariats durch den Marxismus hineingezogen
ist.
Das ist nur, um zu charakterisieren eine
soziale Tatsache der Gegenwart, die mir wichtiger scheint
als elementare Diskussionen, die gepflogen werden, denn
sie weist gewissermaßen in die soziale Psychologie hinein.
Und wenn sie auch nicht direkt eine Antwort gibt — wir
werden im Laufe der Vorträge noch sehen, was als Antwort
zu geben ist — , so weist sie auf die vorhandenen Fragen
von Gesichtspunkten aus hin, die für das reale Leben der
Gegenwart wohl wahrscheinlich als erste in Betracht
kommen. Und welche Empfindung bekommt man, wenn man sich dieser
Tatsache unbefangen, vorurteilslos gegenüberstellt? Da
bekommt man die Empfindung einer gewissen
Eigentümlichkeit des modernen Lebens überhaupt.
Dieses moderne Leben — wie ich ja oftmals in meinen
Vorträgen, die ich hier in Zürich gehalten habe,
betonte — hat Denkgewohnheiten, hat Denkformen
herausgebildet, die sich für eine gewisse Richtung der
Naturwissenschaft außerordentlich fruchtbar
erweisen. Es hat dann dieses moderne Denken auch
eindringen wollen in das Begreifen und begreifende Reformieren,
reformierende Begreifen des sozialen Lebens selbst, der
sozialen Erscheinungen und Impulse des Lebens. Aber bei diesem
Eindringen hat man überall das Gefühl: Die Menschen
der Gegenwart, die gerade rein in den Denkformen und
Denkgewohnheiten der Gegenwart drinnenstehen, haben nicht
Begriffe, welche in Wirklichkeit die komplizierten
Erscheinungen des sozialen Lebens erfassen können.
Gewissermaßen sind die Begriffe zu engmaschig. Sie
können nicht in sich fassen die komplizierten
Erscheinungen des sozialen Lebens selbst. Sie bleiben
abstrakt, sie bleiben konturenhaft, aber sie dringen
nicht ein in das wirkliche Leben selbst, das sich im sozialen
Körper abspielt. Man möchte sagen: Ein kurzmaschiges
Denken zeichnet diese moderne Menschheit aus. Und dieses
kurzmaschige Denken, dieses Denken, das überall
abreißt, wenn man ins wirkliehe Leben untertauchen
will, dieses Denken, das ist auch übergegangen in
das Bestreben des modernen Proletariats. Und so kommt es,
daß dieses Denken hinreicht zur Kritik, nicht aber
hinreicht dazu, wirkliche Impulse herauszugestalten aus dem
menschlichen Seelenerleben, die dastehen könnten wie
Richtungskräfte, die in die Zukunft hineinführen.
Überall reißt das Denken ab, wenn es nach solchen
Impulsen hinstreben will.
Und damit bezeichnet man etwas, was tief
einschneidend ist in das ganze Leben der Gegenwart. Wer mit
vollem Ernst imstande ist, das aufzufassen, was diesem Leben
der Gegenwart not tut, der muß gerade von dem
Gesichtspunkte aus seinen Blick darauf richten, der hier
berührt wird, gerade jetzt in diesem
weltgeschichtlichen Augenblicke, wo wahrhaftig für
Diskussionen, die bloß theoretisch verlaufen, wenig Zeit
ist, weil die Tatsachen drängend und brennend sind. Gerade
jetzt in diesem Augenblicke sieht man, wie die Menschen
vor diese drängenden und brennenden Tatsachen gestellt
sind, und wie sie überall eben diese Erscheinung des
Denkens zeigen, das in die Wirklichkeit nicht eindringen
kann. Von gutem Willen sind die Menschen vielfach durchdrungen,
von einem den Tatsachen gewachsenen Denken aber nicht. Es zeigt
sich gerade in diesem weltgeschichtlichen Augenblicke für
den, der eben im Ernst in die Zeitlage einzudringen vermag, das
Heraufkommen — oftmals zeigt es sich maskiert in
allerlei anderen Formen, ganz unbewußt dem Menschen
— desjenigen Hanges der Menschen, der für die
wirkliche ernste Lebensführung, wenn brennende und
drängende Fragen vorhanden sind, ganz besonders
verhängnisvoll wird: das Heraufkommen einer gewissen
Schwarmgeisterei, wie ich es nennen möchte. Diese
Schwarmgeisterei, die sich in den verschiedensten Masken auf
den verschiedensten Gebieten zeigt, die ist es, was uns
so schwer in ein sachgemäßes Wirken in der
Gegenwart hineinkommen läßt. Und diese
Schwarmgeisterei, sie hat sich ergeben aus der Entwickelung,
die ich als die historische angedeutet habe in den
Vorträgen der vorigen Woche, und die etwa begonnen hat um
die Zeitenwende des 14., 15., 16.
Jahrhunderts.
Worinnen liegt das Wesentliche dieser
Schwarmgeisterei? Das Wesentliche liegt eben gerade darinnen,
daß durch eine gewisse unwirkliche Lebensauffassung, durch
eine Lebensauffassung, welche das vermissen
läßt, was ich in der vorigen Woche die Stoßkraft
des inneren Erlebens genannt habe, daß durch eine
gewisse Lebensauffassung ein seelisches, ein
denkerisches, ein wissenschaftlich Erkenntnis suchendes
inneres Leben gewissermaßen eine Insel oder
fortwährend eine Fülle von Inseln sucht, und nicht
die Brücke bauen will zu demjenigen, was das Leben in der
Alltäglichkeit ist. Wir finden, wie zahlreiche Menschen
der Gegenwart es gewissermaßen — wenn ich den
Ausdruck gebrauchen darf — innerlich vornehm finden, in
einer gewissen, sei es auch schulmäßigen
Abstraktheit nachzudenken über allerlei
ethisch-religiöse Probleme in
W'olkenkuckucksheimhöhen. Wir sehen, wie die Menschen
nachdenken über die Art und Weise, wie sich der Mensch
Tugenden aneignen könne, wie er in Liebe zu seinen
Mitmenschen sich verhalten soll, wie er begnadet werden kann.
Wir sehen Begriffe von Erlösung, Gnade und so weiter sich
entwickeln, die gewisse Träger von
Lebensanschauungen möglichst nur in
geistig-seelischen Höhen halten wollen. Wir sehen aber
zugleich das Unvermögen, die echte Brücke zu schlagen
von demjenigen, was die Leute gut und liebevoll und wohlwollend
und rechtlich und sittlich nennen, zu dem, was in der
äußeren Wirklichkeit, im Alltag uns umgibt als
Kapital, als Arbeitsentlöhnung, als Konsum, als Produktion
in bezug auf die Warenzirkulation, als Kreditwesen, als Bank-
und Börsenwesen. Wir sehen, wie zwei Weltenströmungen
nebeneinandergestellt werden auch in den Denkgewohnheiten der
Menschen: die eine Weltenströmung, die sich
gewissermaßen in göttlich-geistiger Höhe
halten will, die keine Brücke bauen will zwischen dem, was
ein religiöses Gebot ist, und was eine Usance des
gewöhnlichen Handels ist. Das Leben aber ist ein
einheitliches. Das Leben kann nur gedeihen, wenn die es
treibenden Kräfte von allem ethisch-religiösen Leben
herunterwirken in das alleralltäglichste, profanste Leben,
in dasjenige Leben, das eben weniger vornehm erscheint.
Denn vernachlässigen wir es, diese Brücke zu
schlagen, verfallen wir in bezug auf religiöses,
sittliches Leben in bloße Schwarmgeisterei, die fernsteht
der alltäglichen wahren Wirklichkeit, dann rächt sich
diese alltäglich wahre Wirklichkeit. Dann strebt der
Mensch aus einem gewissen religiösen Impuls alles
möglich Ideale an, alles mögliche, was er
«gut» nennt, aber den Instinkten, die als
gewöhnliche alltägliche Lebensbedürfnisse
gegenüberstehen den Befriedigungen, die aus der
Volkswirtschaft heraus kommen müssen, diesen Instinkten
steht der Mensch ohne Empfindung machtlos gegenüber. Er
weiß keine Brücke zu bauen von dem Begriff der
göttlichen Gnade zu dem, was im alltäglichen Leben
vor sich geht. Dann rächt sich dieses alltägliche
Leben. Dann nimmt dieses alltägliche Leben eine Gestalt
an, die nichts zu tun haben will mit dem, was als ethische
Impulse in vornehmeren, seelisch-geistigen Höhen gehalten
werden will. Dann aber wird die Rache eine solche, daß das
ethisch-religiöse Leben, weil es sich fernhält von
der alltäglichen, von der unmittelbaren Lebenspraxis,
daß dieses ethisch-religiöse Leben, ohne daß man
es merkt, weil die Sache maskiert auftritt im Leben, eigentlich
zu einer innerlichen Lebenslüge des Menschen
wird.
Wie sehen wir heute die Menschen vielfach
herumgehen, die aus gewisser ethisch-religiöser
Vornehmheit heraus — wie sie meinen — den
besten Willen zeigen mit Bezug auf ein richtiges
Zusammenleben mit ihren Mitmenschen, die den besten Willen
zeigen, ihren Mitmenschen nur das Allerallergütigste zu
tun, die aber alles versäumen, dies wirklich zu tun, weil
sie sich kein soziales, in den praktischen Lebensgewohnheiten
drinnenstehendes Gefühlsleben aneignen.
Und so erleben wir es — wenn ich den
Ausdruck noch einmal gebrauchen darf — in diesem
welthistorischen Augenblick, wo die sozialen Fragen so
sichtbarlich, so fühlbar drängen, daß von allen
Seiten die Schwarmgeister, die manchmal sich für sehr
starke Lebenspraktiker halten, kommen und sagen: Wir
haben nötig, daß die Menschen wiederum
zurückkehren aus dem Materialismus, aus dem
äußerlich materiellen Leben, das uns in die
Katastrophe und in das Unglück hineingetrieben hat, zu
einer gewissen Geistigkeit, zu einer geistigen Auffassung des
Lebens. — Und man wird nicht müde, zu zitieren oder
anzuführen die Persönlichkeiten, die in der
Vergangenheit — Vergangenheit muß es in der Regel
sein, dem Gegenwärtigen wird man weniger gerecht —
sich für eine gewisse ideale Weise, für eine gewisse
Geistigkeit ausgesprochen haben. Ja, man kann es erleben,
daß, wenn jemand versucht, gerade auf das hinzuweisen, was
heute für das praktische Leben so notwendig ist wie das
tägliche Brot, daß er darauf aufmerksam gemacht wird,
daß es ja in erster Linie darauf ankomme, die Menschen
wiederum zum Geiste zu bringen. In dieser Mahnung steckt
ungeheuer viel von dem, was gerade die Menschen in die heutige
Katastrophe hineingeführt hat, steckt Schwarmgeisterei,
die in den mannigfaltigsten Masken heute auftritt und in den
Tatsachen wirkt. Gewiß, es ist auf der einen Seite
Schwärmgeisterei, wenn jemand, ohne die äußeren
praktischen Lebensbedingungen zu kennen, irgendwelche
soziale Ideale aufstellt, die man Utopien nennt, in denen er
recht fein herausstaffiert und herauskristallisiert das System
zeigt, wie die Menschen leben sollten, damit sie glücklich
oder zufrieden oder sonst irgendwie seien. Im Grunde genommen,
selbst wenn solche Utopien sehr scharfsinnig sind, es kommt
nicht auf den Scharfsinn an, es kommt auch nicht auf den guten
Willen an, es kommt auf das an, wie sie sich zur Lebenspraxis
stellen. Es kommt heute nicht darauf an, daß man die
Menschen darauf hinweist, zum Geiste zurückzukehren,
sondern es kommt darauf an, daß Geist in dem ist, wie man
heute über den sozialen Organismus denkt. Auf die Art und
Weise, auf das Wie des Denkens kommt es an. Meinetwillen rede
man gar nicht vom Geist, aber in der Art und Weise, wie man
über die Lebenspraxis redet, sei Geist. Dann wird man der
heutigen Zeit viel besser dienen, als wenn man aus
Schwarmgeisterei in jedem dritten Satz heute die Menschen
darauf hinweist, sie sollen wiederum zum Geiste
zurückkehren, denn gewöhnlich können sich
diejenigen nichts unter Geist vorstellen, zu denen man so
spricht, gerade weil sich auch diejenigen nichts Rechtes
vorstellen unter Geist, die so sprechen. Die Utopien selber
aber, die aufgestellt werden — und auch heute sind
sie ja nicht einmal so sehr gering an Zahl die sozialen Ideale,
die fein ausgedacht sind, die sind noch nicht einmal das
Schlimmste, denn in der Regel hält man nicht viel von
diesen Dingen. Man kommt bald dahinter, daß diese Dinge
unpraktisch sind, daß sie nicht aus den wahren
Lebensbedingungen heraus gedacht sind. Viel schlimmer sind in
der heutigen Lebenswirklichkeit die maskierten
Schwarmgeistereien, welche aus scheinbarer Lebenspraxis
herausgehen, aber diese Lebenspraxis nicht in
Wirklichkeit in sich haben, sondern die eigentlich leben in
wesenlosen Abstraktionen. Diese Schwarmgeister, wir haben sie
— man muß in solchen Dingen immer frei von der Leber
weg sprechen — in den Ereignissen der Gegenwart nur zu
bedeutungsvoll erlebt. Und sie werden schwer erkannt. Sie
werden schwer erkannt, weil man gerade auf diesen Gebieten den
Blick nicht geschärft hat.
Wenn man heute in bezug auf einen Menschen, der
im wesentlichsten gerade die Eigenschaft des Schwarmgeistes an
sich hat — es soll im übrigen gar nichts gegen
manche sonstigen Qualitäten solcher Schwarmgeister
gesagt werden, es können auch gute Leute sein, sie
können ihre Pflicht tun auf ihrem Gebiete, können
sogar hervorragende Leute sein — , aber wenn man in bezug
auf manche Persönlichkeit die Tatsache betont,
daß er ein Schwarmgeist ist, dann sind die Menschen heute
recht erstaunt, weil sie in dieser Beziehung, wie ihnen
dünkt, selbstverständliche Urteile haben, aber weil
in Wirklichkeit diese selbstverständlichen Urteile nichts
anderes sind als ein wüster Aberglaube. Ich habe mir zum
Beispiel im Verlauf der letzten Jahre auch manche
«Lebenspraktiker» — das sage ich jetzt in
Gänsefüßchen — angeschaut auf die
Schwarmgeisterei hin. In dieser Beziehung wird die
Menschheit, wenn sie zu wirklicher Erkenntnis vorrücken
will, manches innerlich Paradoxe erleben müssen. Man
wird zum Beispiel erstaunt sein, wenn ich als einen
Schwärmgeist im eminentesten Sinne Ludendorff hinstelle. Das Urteil
seiner Anhänger und seiner Gegner geht nach ganz
anderer Richtung. Das Wesentlichste seiner Persönlichkeit
ist, daß er mit Ausnahme desjenigen Gebietes, in dem er
schulmäßig groß war, der Strategie, in bezug auf
alles übrige Denken im eminentesten Sinne ein Abstraktling
war, ein dem Leben völlig fremder Mensch, der sich
schwarmgeistige Gedanken, die mit der Wirklichkeit nichts
zu tun haben, über die Dinge machte, und der dadurch
unsägliches Unheil bewirkt hat, daß er seine
Schwarmgeistideen in die Wirklichkeit einführen wollte.
Und so könnte man gerade manche von den
Persönlichkeiten, die heute, weil man sie für
Praktiker hält im Leben, unendliches Unheil anrichten, als
die typischen Repräsentanten der Schwarmgeisterei
hinstellen.
In den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts
trat diese Schwarmgeisterei geradezu epidemisch auf, kam
von Amerika herüber und überflutete Europa in
Form der damals sogenannten «Gesellschaft für
ethische Kultur». Da versuchte man irgend etwas, was
lebensfremd war, was nur aus diesem vornehmen, abstrakten
Erfühlen gewisser ethischer Impulse herausströmen
sollte, als ethische Kultur auszubreiten. Und wenn jemand, wie
ich es damals tun mußte, darauf hinwies, daß man mit
solchen Dingen eben in Schwarmgeisterei drinnen lebt,
daß man mit solchen Dingen gerade das menschliche
Denken einsperrt, einschränkt, so daß es nicht
untertauchen kann in die wahre Wirklichkeit, so wurde man
entweder nicht verstanden oder mißverstanden oder
verhöhnt.
Dieser Schwarmgeisterei soll sich eben das
wirklichkeitsgemäße Denken
gegenüberstellen, das, wie ich glaube, aus der hier ja
auch durch viele Jahre hindurch vertretenen, wirklich
geisteswissenschaftlichen Weltauffassung heraus sich ergibt.
Was ist das Wesentliche dieser geisteswissenschaftlichen
Weltauffassung? Das Wesentliche ist, daß sie nicht vom
Geiste spricht als demjenigen, was sich als ein bloßes
Spiegelbild aus der Anschauung der äußeren
sinnlichen Wirklichkeit ergibt, sondern daß sie vom Geiste
spricht aus einem wirklichen übersinnlichen Erleben einer
Welt, die ebenso real ist, wie die durch Augen gesehene und
durch Ohren gehörte und mit Händen getastete. Weniger
kommt es darauf an, was man im einzelnen theoretisch über
diese geistig wirkliche Welt sagt, sondern viel mehr kommt es
darauf an, daß man durch alles das, was einem als
Erkenntnis wird aus dieser Geisteserkenntnis der Welt, eine
innere Seelenverfassung sich aneignet, einen inneren
Lebensstatus, durch den der Mensch sich lebendig weiß als
seelisch-geistiges Wesen in einer wirklichen geistigen Welt.
Nicht darauf kommt es an, was man sagt über diese geistige
Welt, sondern darauf kommt es an, wie man sich drinnenstehend
fühlt in dieser geistigen Welt. Es mag schön sein, zu
glauben an das oder jenes Übersinnliche. Das kann aber
ebensogut zur Schwarmgeisterei führen, wie zu einem
in gewisser Beziehung guten Wollen. Darauf aber kommt es an,
daß man fühlt: Indem man denkt, indem man empfindet,
ist in den Gedanken, die die eigene Seele durchblitzen, in den
Empfindungen, die die eigene Seele durchzucken, der lebendig
wirksame Geist.
Dieser lebendig wirksame Geist ist in uns. Er
ist da, wie die Dinge draußen im Räume sind und die
Vorgänge draußen in der Zeit sind. Und wenn man sich
in diese Stellung zum wirklichen geistigen Erkennen nun nicht
bloß hineindenkt, sondern hineinlebt, dann sprießt
aus diesem geistigen Erkennen ein innerlicher Impuls, der
ein Antrieb ist, den Geist in der Welt real zu machen durch
sich selber, der ein Antrieb ist, den Geist als Realität
zu erleben und zu verwirklichen in einer ganz anderen Weise,
als das sein kann durch das, was ein bloßes Spiegelbild
ist an Ideen, an Begriffen, die von einem Geistigen handeln. Es
ist ein großer Unterschied, ob man sagt: Ich denke
über den Geist, ich glaube an den Geist — , oder ob
man sagt: In mir denkt der Geist, in mir empfindet der Geist.
— Der gewöhnliche Glaubens begriff verliert
eigentlich gegenüber diesem Erleben sogar seinen Sinn.
Etwas von seelisch-geistiger Stärke muß in die
Menschheitsentwickelung hineinkommen aus diesem geistigen
Erleben heraus. Und dieses Etwas von seelisch-geistiger
Stärke, was in die Menschheitsempfindung hineinkommen
soll, es ist von größerer sozialer Wichtigkeit
als man denken kann, denn es ist das, was das Heilmittel ist
für die lähmende, in der vorigen Woche hier
charakterisierte Ideologie, welche das Proletariat von
dem Bürgertum als ein bedrückendes Erbe
übernommen hat.
Das ist es, was in der ersten wahren Gestalt
der sozialen Frage in Wirklichkeit lebt, wenn man in die
Tiefen dieser Frage einzudringen versteht, daß die
Entwickelung des modernen Geisteslebens um die Wende der
neueren Zeit oder seit dieser Wende der neueren Zeit im 14.
Jahrhunderte allmählich sich so abgestumpft,
abgeschwächt, abgelähmt hat, daß die Menschen
nicht mehr wußten: in ihnen lebt der Geist als ein realer,
lebendiger, sondern daß sie glaubten, nur Ideen, nur
Spiegelbilder irgendeiner Wirklichkeit leben in ihnen —
was dann in der Welt- und Lebensanschauung des modernen
Proletariats dazu geworden ist, daß dieses Proletariat
sagt: Es gibt auf geistigem Gebiete nur eine Ideologie. Die
Wirklichkeit ist nur in dem ökonomischen, in dem
wirtschaftlichen Prozesse, in dem Klassenkampfe; da spielt sich
die Realität ab. — Aber daraus dampft in irgendeiner
Weise etwas herauf in die Seelen der Menschen; das kommt
in Form von Bildern zur Offenbarung, von Bildern, die sich
ausleben in der Wissenschaft, in der Sitte, in der Religion, in
der Kunst. Das gibt einen Überbau für den einzig
wirklich realen Unterbau. Und wenn man auch nicht umhin kann
zuzugeben in der Soziologie, daß das, was in diesem
Überbau als eine Ideologie lebt, wiederum real
zurückwirkt auf das wirtschaftliche Leben, es bleibt
doch Ideologie. Es gibt kein Heilmittel aus dieser Ideologie
heraus, wenn man nicht zum wirklichen geistigen Erleben, wie es
die geistige Wissenschaft in die moderne Menschheit
hineinführen will, wenn man nicht zu diesem
geistigen Erleben greift. Heilung von den Schäden
der Ideologie ist nur zu erreichen durch wirkliche Vertiefung
in den wahrhaftigen Geist und seine Erscheinungen, durch
Vertiefung in die wirkliche übersinnliche Welt. Das, was
bewirkt hat, daß innerhalb des modernen Proletariats alles
geistige Leben, in das der Mensch durch die Kultur
hineingeführt ist, als bloße Ideologie erscheint, das
läßt, weil Ideologie nichts ist, was die Seele mit
einem gewissen Elan, mit einer gewissen Schwungkraft, mit einem
gewissen Bewußtsein, was sie eigentlich ist im
höheren Sinne, erfüllen kann, die Seele unbefriedigt
und leer. Aus dieser Leerheit der Seele ist die Stimmung, ist
die trostlose Stimmung in der proletarischen Weltanschauung,
die einen Teil, ein Glied der wirklichen sozialen Frage bildet,
erwachsen. Und so lange man nicht einsehen wird, daß die
Neigung der Menschen zur Ideologie geheilt werden
muß, so lange wird man in die moderne proletarische Seele
nicht das hineinbringen können, was positive Impulse sind,
so lange wird bleiben in der modernen Proletarierseele
eine bloße Kritik der heraufgekommenen
technisch-kapitalistischen Wirtschaftsordnung und
Weltanschauung.
Das aber wird man nicht erreichen, wenn man
nicht wird den Willen haben, in eine wirklich praktische
Lebensanschauung einzutreten, in eine Lebensanschauung, die
nicht aus Theorien, auch nicht bloß religiösen
Theorien besteht, sondern die leben will, lebenschaffend sein
will, die selber Lebensimpulse gebären will. Dazu ist
manches notwendig, wovor der heutige Mensch wie vor etwas ganz
Radikalem zurückschreckt. Aber das, was hier gemeint
ist, ist viel weniger radikal, als was aus dem Leben, das in
den modernen Zeitinstinkten entfesselt wird, an die Menschen
herantreten wird, wenn sie zu bequem sind, sich an das
Notwendige zu wenden.
Was ich hier von einer gewissen Seite her
ausgeführt habe, bezieht sich auf das eine Glied des
sozialen Organismus, der entstehen muß aus den
Lebensbedingungen der modernen Menschheit heraus, auf das eine
der drei Glieder, wie ich sie in der vorigen Woche, am
Mittwoch, hier skizzenhaft auseinandergesetzt habe. Ich habe
damals auseinandergesetzt, daß in einem gewissen
Sinne das Unglück der modernen Menschheit, wenn es
auch nicht durchschaut wird — es ist so, daß es
nicht durchschaut wird darinnen besteht, daß man
das, was dreigliedrig sein soll und dessen drei Glieder in
einer gewissen Selbständigkeit lebendig
ineinanderwirken sollten, zu einem in seinen Kräften
chaotisch wirr wirkenden Organismus gemacht hat und noch
fernerhin machen will.
Nur um nicht mißverstanden zu werden,
bemerke ich gleichsam noch einmal in Parenthese, daß es
sich mir wahrhaftig nicht darum handelt, irgendeinen gewaltigen
Umschwung zu befürworten, der sich von heute auf morgen
vollziehen soll. Was ich angebe, soll eine Richtlinie, eine
gewisse Strömung sein, nach der orientiert werden kann
jede einzelne Frage, die im Staate, im geistigen Leben,
im wirtschaftlichen Leben dem Menschen entgegentreten kann. Man
braucht nicht etwa gleich zu glauben, wie manche Leute, denen
ich diese Dinge auseinandersetzte, man müsse gleich
das, was man heute «Staat» nennt, morgen zu etwas
anderem machen. Man braucht nur den Willen zu haben in
bezug auf diese Dinge, das christliche «Ändert
den Sinn» zu verwirklichen, das heißt, die
Einzelheiten, die Einzelmaßnahmen, vor die man gestellt
ist, wenn man bei ihnen eingreifen soll, mit Bezug auf ihre
Gestaltung nach einer gewissen Richtung hin zu
orientieren.
Und so habe ich auseinandergesetzt, daß
das, was man heute zusammenmuddeln will in einen einheitlichen
Staat, geradeso wie wenn man den menschlichen Organismus
— zu einem Homunkulus würde man ihn dann machen
— zusammenmuddeln wollte, so daß seine drei Systeme
wirr zentralisiert wären, daß das, was man heute so
zentralisieren will, zum gesamten Staatsbetriebe machen will,
lebendig in drei Glieder auseinanderfallen muß, wenn
sich ein gesunder sozialer Organismus entwickeln soll. Es
muß als selbständiges Glied dieses sozialen
Organismus alles dasjenige sich entwickeln, was geistige Kultur
ist, als selbständiger Organismus sich entwickeln alles
das, was man heute im engeren Sinne das politische Staatsleben
nennt, das nicht durch Zentralisation, sondern nur durch eine
lebendige Wechselwirkung mit dem geistigen Leben
zusammenhängen soll, und es muß sich als
drittes selbständiges Glied entwickeln der
Wirtschaftsorganismus. Geistiger Organismus,
Staatsorganismus, wirtschaftlicher Organismus, das ist
es, wovon man sagen muß: in den nächsten zehn bis
zwanzig Jahren streben die Entwickelungskräfte der
Menschen dahin. Und wer sich dieser Entwickelung
widersetzt, widersetzt sich dem, was die
Lebensmöglichkeiten der modernen Menschheit
sind.
Den ersten Punkt berührte ich von dem
Gesichtspunkte aus, den ich heute auseinandergesetzt habe,
zunächst: Das Leben der sogenannten geistigen Kultur,
alles umfassend, was man Schul- und Erziehungswesen, was
man religiöses Leben nennen kann, alles das umfassend, was
künstlerisches, literarisches Leben ist, aber auch alles
das umfassend, was sich auf das Privat- und das Strafrecht
bezieht. Diese Dinge werde ich noch genauer charakterisieren.
Alles das, was innerhalb dieses Lebens der geistigen Kultur
beschlossen ist, das muß auf eine gemeinschaftliche,
aber selbständige Grundlage gegenüber den Grundlagen
des übrigen sozialen Organismus gestellt werden. Das
muß ganz auf sich gestellt werden, das muß auf eine
solche Grundlage gestellt werden, daß man sagen kann: das
Lebenselement innerhalb dieses Gliedes des sozialen
Organismus muß die aus dem Zentrum des Menschen heraus
wirkende freie Entfaltung seiner körperlichen und
geistigen Anlagen sein. Alles muß auf diesem Gebiete auf
Individualität gestellt werden. Denn was in dieses Gebiet
einfließt, das muß aus dem Zentrum der
menschlichen Individualität heraus kommen, und die
körperlichen und geistigen Anlagen des Menschen
müssen freie Entwickelungsmöglichkeit haben,
müssen aber zu gleicher Zeit davon zurückgehalten
werden, daß sie in irgendeiner Weise schädlich oder
hemmend oder unberechtigt in das übrige Kulturleben
eingreifen können.
Gerade auf diesem Gebiete könnte man
mancherlei anführen. Ich möchte ein groteskes
Beispiel anführen. Ich bitte'zu entschuldigen, daß
das Beispiel etwas grotesk sein wird, aber es wird vielleicht
zum Ausdruck bringen, was ich gerade mit Bezug auf dieses
Gebiet sagen will. Nehmen wir an, irgendein junger Student,
also ein Mensch, der als angehender Mensch drinnensteht
in der geistigen Entwickelung, habe seine Doktorarbeit zu
machen. Er bekommt den Rat von der maßgebenden
Persönlichkeit, irgendein Thema zu bearbeiten, das noch
wenig oder gar nicht bearbeitet ist — nun, sagen wir zum
Beispiel, es soll über die Schimpfwörter eines alten
römischen Schriftstellers handeln. Solche Dinge gibt es
ja, wie diejenigen, die es angeht, ja wohl wissen werden. Nun
arbeitet der junge Mann ein ganzes Jahr über die
Schimpfwörter irgendeines alten Schriftstellers. Man sagt
heute: Das istWissenschaftlich
wichtig. — Ja, von seiten derjenigen Vorstellungen, die
man auf gewissen Gebieten hat, ist das ja gewiß
wissenschaftlich wichtig; aber es kommt etwas anderes in
Betracht. Das ist das Hineingestelltsein einer solchen Sache in
den ganzen sozialen Organismus. Ablenken muß man den Blick
von dieser Tatsache, daß es ja sehr interessant sein kann,
über die Schimpfwörter irgendeines alten
Schriftstellers zu schreiben. Ich kenne eine Dissertation, wo
sich der junge Mann furchtbar geplagt hat, die handelte
über die Parenthesen bei einem alten griechischen
Schriftsteller. Ich will gar nichts gegen das, was vom
rein wissenschaftlichen Standpunkt über solche Dinge
vorgebracht werden kann, sagen. Banausische Dinge sollen
hier nicht geltend gemacht werden. Aber mit Bezug auf das
Hineingestelltsein in den sozialen Organismus liegt doch das
Folgende vor: Der junge Mann braucht vielleicht ein Jahr
regsten Fleißes. Da muß er essen, da muß
er trinken, da muß er sich kleiden. Dazu braucht er ein
gewisses Einkommen, ein gewisses Kapital. Was heißt das:
er verzehrt ein gewisses Kapital? Das heißt ja nichts
anderes im wirklichen Leben, als: Viele, viele Menschen
müssen für ihn arbeiten.
Das, was er ißt,
was er trinkt, das, wovon er sich kleidet, das engagiert ein
ganzes Heer von Menschen während dieses Jahres. Ein
kleines Heer von Menschen engagiert er für sein Essen,
Trinken und Sich-Kleiden, und das kommt in Betracht mit Bezug
auf den sozialen Effekt der Sache. Heute ist man vielfach der
Ansicht, man könne einfach die Dinge so ohne soziales
Verständnis, aus einer gewissen Neigung, rein
wissenschaftlichen Interessen zu dienen, in die Welt
hineinstellen. Unser Leben in der Gegenwart fordert aber,
daß ein jeglicher Zweig in seinem Verhältnis,
in seiner lebendigen Beziehung zu allen anderen Lebenszweigen
für das soziale Verständnis, für das soziale
Gefühl aufgefaßt werde.
Wie gesagt, ich habe
Sie um Entschuldigung gebeten, daß ich gerade ein
groteskes Beispiel angeführt habe, es könnten weniger
groteske angeführt werden, aber ich habe dieses
Beispiel angeführt, um Ihnen zu zeigen, wie notwendig es
ist, ein soziales Gefühl dafür zu entwickeln, wie das
geistige Leben, der ganze Betrieb des geistigen Lebens im
sozialen Organismus so drinnenstehen muß, daß
er gerechtfertigt ist durch die allgemeinen Interessen der
Menschheit. Das Allgemeininteresse der Menschheit muß
gefragt werden, ob es auf die Feststellung der
Schimpfwörter irgendeines alten römischen
Schriftstellers einen so großen Wert legt, daß ein
Jahr lang ein kleines Heer von Arbeitern für diese Arbeit
angestellt werden muß. Die Frage könnte man
natürlich weniger grotesk nach manchen anderen
Seiten hin ausarbeiten. Dann würde man darauf kommen,
daß das, was die geistige Kultur umfaßt, zu der zum
Beispiel auch die Erfindung technischer Ideen gehört,
lebendig wirkt gerade in das andere Gebilde, in den Rechtsstaat
hinüber, wenn die Dinge mit einer relativen
Selbständigkeit im Leben stehen. Dagegen bewirkt die
Zentralisation, daß alles ins Chaos
kommt.
Das, was geistiges
Leben ist, muß mit einer relativen Selbständigkeit
dastehen, muß nicht nur auf die innere Freiheit des
Menschen gestellt sein, sondern es muß so innerhalb des
sozialen Organismus dieses geistige Leben stehen,
daß es auch in völlig freie Konkurrenz gestellt ist,
daß es auf keinem Staatsmonopol beruht, daß
dasjenige, was das geistige Leben als Geltung sich verschafft
bei den Menschen — was es für den einzelnen
individuellen Menschen für eine Geltung hat, das ist eine
andere Sache, wir reden von der Gestaltung des sozialen
Organismus — , daß das auf völlig freier
Konkurrenz, auf völlig freiem Entgegenkommen den
Bedürfnissen der Allgemeinheit einzig und allein sich
offenbaren kann. Mag irgend jemand in seiner Freizeit
dichten, so viel er will, mag er auch Freunde finden für
diese Dichtung, so viel er will — das, was berechtigt ist
im geistigen Leben, ist allein das, was die anderen
Menschen miterleben wollen mit der einzelnen menschlichen
Individualität. Das aber wird auf eine gesunde Basis nur
gestellt, wenn man alles geistige Leben, alles Schul- und
Universitätsleben, alles Erziehungsleben und alles
Kunstleben des staatlichen Monopolisierungscharakters
entkleidet und auf sich selbst stellt — wie gesagt,
nicht von heute auf morgen. Die Richtung ist damit
angegeben, wenn man den Menschen auf sich selbst stellt. Damit
wird die Brücke geschlagen zu etwas anderem. Ich habe mich
bereits im Anfange der neunziger Jahre bemüht, in
meiner «Philosophie der Freiheit», die jetzt
ihre Neuauflage erlebt hat, vielleicht gerade zur rechten
Zeit, zu zeigen, wie das, was das wirkliche
Freiheitserlebnis im Menschen ist, niemals beruhen kann
auf etwas anderem als auf dem wirklichen, in die Seele des
Menschen hereinspielenden Geistesleben. Ich nannte das
dazumal das Hereinspielen der Intuition in die Menschenseele,
das Hereinspielen des wirklichen Geistigen. Dieses wirkliche
Geistige muß in der Menschenseele in dem Lichte der
Freiheit und der freien Konkurrenz geboren werden, dann lebt es
sich in der richtigen Weise in den sozialen Organismus hinein.
Dann darf es aber auch nicht, und das ist wichtig, unter
irgendeinem Aufsichtsrecht irgendeines anderen Gliedes des
sozialen Organismus stehen, dann muß es in völliger
Freiheit, nur herausgefordert durch die allgemeinen
Bedürfnisse, sich offenbaren
können.
Ich weiß —
und ich werde in den nächsten Vorträgen auch das
widerlegen daß viele Leute glauben: Nun ja, wenn die
Schule frei ist, dann werden wir wiederum von lauter
Analphabeten umgeben sein. — Ich werde zeigen, daß
das nicht der Fall ist. Worauf es mir zunächst heute
ankommt, das ist, aus der inneren Natur der Sache heraus die
Notwendigkeit des freien Geisteslebens im sozialen
Organismus zu zeigen. Es gibt Staaten, in denen ja die
Wissenschaft, wie heute fast überall, Monopol ist,
auch ihr Betrieb monopolisiert ist durch den Staat, und in
denen sich das Gesetz findet: Die Wissenschaft und ihre Lehre
ist frei. — Das bleibt aber eine bloße Phrase und
muß eine bloße Phrase bleiben, wenn das geistige
Leben nicht auf sich selbst gestellt ist. Nicht nur, daß
dieses geistige Leben in bezug auf die Persönlichkeiten,
die in ihm wirken, in bezug auf das, was öffentlich gesagt
oder nicht gesagt werden darf, abhängig wird von
einem anderen Gliede des sozialen Organismus, wenn dieses
andere Glied Schulen, Universitäten einrichtet, wenn ich
nur das erwähne; nicht nur, wie gesagt, der
äußere Betrieb, die Anstellung der
Persönlichkeiten, die Begrenzung dessen, was man sagen
oder nicht sagen darf, wird dadurch bestimmt, sondern es wird
auch der innere Inhalt des Geisteslebens selbst bestimmt.
Unser gesamtes Wissenschaftliches Leben trägt einen
Charakter des politischen Lebens, seitdem sich in der neueren
Zeit die Sphäre des politischen Lebens über das
geistige Leben ausgedehnt hat. Das geistige Leben kann aber
nicht die Angelegenheit irgendeines anderen Gliedes des
sozialen Organismus sein; es kann seinen ihm selbst
gemäßen Inhalt nur erhalten, wenn es aus der freien
menschlichen Individualität heraus sich
entwickelt.
Diesem geistigen Leben
steht, wie dem Verdauungssystem das Kopfsystem im
menschlichen natürlichen Organismus, das bloße
Wirtschaftsieben gegenüber. Dieses Wirtschaftsleben
hat seine eigenen Gesetze. Herausgearbeitet hat den
Charakter des modernen Wirtschaftslebens gerade die
proletarische Wissenschaft in einer
empfindungsgemäßen, in einer
lebensgemäßen Weise, nicht wie die
Kathederwissenschaft nur theoretisch, so daß man
merkt an dieser proletarischen Wissenschaft, wie das
Wirtschaftsleben zum Menschen im allgemeinen
steht.
Nun darf man da
besonders auf einen Punkt immer wieder hinweisen. Ich habe auf
diesen Punkt in diesen Vorträgen schon hingewiesen. Was an
diesem Wirtschaftsleben heute besonders auffällt,
beziehungsweise an der proletarischen wissenschaftlichen
Betrachtung dieses Wirtschaftslebens, ist, daß auch
mit Bezug darauf das Proletariat das Erbe der anderen Klassen
übernommen hat. Indem sich die moderne Technik,
indem sich der moderne Kapitalismus herausgebildet hat,
ist — aus den schon in der vorigen Woche hier
angeführten Gründen — der menschliche
Blick wie hypnotisiert auf dieses Wirtschaftsleben als das
eigentliche, im sozialen Organismus allein Wirkliche hingelenkt
worden. Man glaubt, wenn man von menschlicher Entwickelung
redet, nur auf dieses Wirtschaftsleben hindeuten zu
müssen. Daß dieses Wirtschaftsleben, wie wir gesehen
haben, ganz besonders engagiert worden ist, daß durch
dieses Wirtschaftsleben ein besonders wirksamer Impuls des
modernen Proletariats in das helle Licht der Sonne der
Menschheitsempfindung, der Menschenwürdeempfindung
gerückt worden ist, das muß gerade gegenüber dem
Wirtschaftsleben ins Auge gefaßt werden. Dadurch hat
ja Karl Marx
in Millionen und aber
Millionen von Proletariern so zündend gewirkt,
daß die Leute glaubten, er habe zuerst mit klaren Worten
auf dasjenige hingewiesen, was als ein Menschenunwürdiges
lebt für den modernen Proletarier in seiner ganzen
Stellung; er, Karl Marx, habe zuerst hingewiesen darauf,
daß für den Proletarier seine Arbeitskraft Ware ist,
wie andere Waren zirkulieren auf dem Warenmarkt und unter dem
Gesetz von Angebot und Nachfrage stehen.
Karl Marx hat in
vielfach irrtümlicher Weise auf die zugrunde
liegenden Tatsachen hingewiesen. Allein, daß er
überhaupt auf diesen innersten Nerv der modernen
sozialen Frage hingewiesen hat, das wird ihm von dem
Gefühle der proletarischen Seele zum besonderen Verdienste
angerechnet. Auch hier ist das Sozialpsychologische von einer
viel wirklichkeitsgemäßeren Bedeutung als die
Theorien, Betrachtungen und Diskussionen, die an manches im
wirtschaftlichen und sonstigen sozialen Leben
angeknüpft werden. Aber daraus entsteht die Lebensfrage:
Wie kann dieses als menschenunwürdig Empfundene
überwunden werden: Arbeitskraft des Menschen ist
Ware und wird als Ware behandelt? — So sagte ja
zunächst Marx. Wie gesagt, die Sache ist in vieler
Beziehung irrig, aber darauf kommt es jetzt nicht an, denn wenn
eine irrige Tatsache so gewaltige Stoßkraft in den
Seelen von Millionen von Menschen hat, so ist sie eben eine
soziale Tatsache. So sagte Karl Marx und so verstanden
ihn die modernen Proletarier. Dieses Verständnis, wenn es
sich auch in mancher Beziehung geändert hat, wirkt heute
noch nach, wirkt gerade heute ganz besonders lebendig in den
Gefühlen. So sagte er: Innerhalb des
Wirtschaftsorganismus werden Waren auf den Markt gebracht
und verkauft. Es gibt Besitzer von Waren, Eigentümer von
Waren, es gibt Käufer von Waren. Zwischen denen
zirkulieren die Waren. Der moderne Proletarier besitzt nichts
außer seiner eigenen Arbeitskraft. Für jede Ware
sind gewisse Herstellungskosten notwendig. Die
Herstellung dieser oder jener Ware, bis sie konsumfähig
ist, ist so und so hoch. Der moderne Proletarier hat nur seine
Körperkraft, er hat nur seine Arbeitskraft. Zur
Herstellung dieser Arbeitskraft ist alles das notwendig, was er
erwerben muß an Nahrungsmitteln, an Kleidern und so
weiter. Durch das, was er an Nahrungsmitteln, an Kleidern sich
erwerben muß, wird immerzu die verbrauchte Arbeitskraft
wiederum ersetzt. Das sind die Herstellungskosten für
seine Arbeitskraft. — Nun sagte Karl Marx, und in seinem
innersten Wesen meint dies auch der moderne Proletarier:
Ungezwungen, ohne Zwang gibt ihm der Arbeitgeber nicht
mehr als sogenannten Lohn für die Arbeit, als diese
Herstellungskosten für seine Arbeitskraft. Aber wenn
zum Beispiel durch eine Arbeit, die fünf Stunden dauert,
abgearbeitet wäre alles das, was die Herstellungskosten
sind, so gibt sich der moderne Unternehmer damit nicht
zufrieden. Er fordert längere Arbeitszeit. Da arbeitet
dann der Arbeiter umsonst, denn er bekommt nur so viel, wie die
Herstellungskosten seiner Ware «Arbeitskraft»
betragen. Was er darüber hinaus arbeitet, ist der
Mehrwert. Das ist das, was er darbringt auf dem Altar —
wenn man das Altar nennen darf — des Kapitalismus, was
sich als Kapital ansammelt, was aber entstammt seiner
Arbeitskraft, und deshalb dem entstammt, weil er nur die
Herstellungskosten bekommt, weil er gezwungen ist dazu,
auf dem Arbeitsmarkt das feilzubieten, feilzubieten unter den
wirtschaftlichen Verhältnissen, was er allein hat: seine
Ware «Arbeitskraft».
Sie können den
größten menschlichen Scharfsinn, Sie können die
tiefsten nationalökonomischen Erkenntnisse
aufwenden, um darüber zu diskutieren, wie man das nun
machen soll, daß im sozialen Organismus der Arbeiter nicht
mehr seine Arbeitskraft als Ware zum Markte tragen soll,
daß er diese letzte Konsequenz der Sklaverei aus der Welt
schaffen könnte, und Sie werden, auch wenn Sie mit dem
größten Scharfsinn, mit den tiefsten
nationalökonomischen Erkenntnissen mehrere
Menschenleben nachdenken könnten, Sie werden zu
keinem Resultate kommen. Sie können zu keinem Resultate
kommen, denn dies ist gerade im eminentesten Sinne eine
Frage, welche nicht diskutiert werden kann, welche nicht
theoretisch beantwortet werden kann, sondern welche nur
vom Leben selbst beantwortet werden kann, nur dadurch
beantwortet werden kann, daß man etwas schafft, was
im Leben so wirkt, daß die Arbeitskraft des
Warencharakters entkleidet wird.
Wenn ich mich eines
Vergleiches bedienen darf, möchte ich hinweisen auf jenes
Männlein, das im Goetheschen «Faust» der Wagner
in der Retorte erzeugt: den Homunkulus. Der ist aus dem
zusammengesetzt, was ein Mensch zusammendenken kann an
Ingredienzien aus der Natur heraus; aber er wird kein Mensch,
er wird bloß ein Menschlein, ein Homunkulus. Sie
mögen so aus Verständnisingredienzien oder aus
nationalökonomisch erzeugten Ingredienzien etwas
zusammensetzen — Sie werden nur einen sozialen Homunkulus
bekommen! So wie man die Bedingungen schaffen muß,
daß ein lebendiger Mensch da ist, so muß man die
Bedingungen schaffen, daß ein lebendiger sozialer
Organismus so wirkt, daß fortwährend im Leben, nicht
durch Theorien, durch Argumente, abgetrennt werden muß
das, was in der bloßen Warenzirkulation sich
ausleben soll, und das, was menschliche Arbeitskraft ist und
sich nicht in der bloßen Warenzirkulation ausleben
darf.
Dies erreichen Sie auf
keine andere Weise, als wenn Sie darauf eingehen,
daß der lebendige soziale Organismus als selbständige
Glieder enthalten muß neben dem geistigen Glied das
rechtlich-staatliche, das im engeren Sinne
politisch-staatliche, und relativ selbständig daneben den
Wirtschaftsorganismus, der nach seinen eigenen Gesetzen zu
leben hat. So wenig als der Magen atmen oder Herzschläge
vollführen kann, so wenig kann der wirtschaftliche
Organismus aus seinen eigenen Kräften heraus Rechte
entwickeln. Und er wird nie Rechte entwickeln, wenn er nur aus
seiner eigenen realen Grundlage heraus wirkt. Aus dieser realen
Grundlage heraus wird der soziale Organismus nur durch
Produktion, durch Handel, zur Konsumtion
treiben.
Geradeso aber wie
gegenübersteht dieser Warenzirkulation diese Natur selbst,
diese Naturgrundlage aller Produktion und aller
Konsumtion und aller menschlichen Geschehnisse und so
weiter des Handwerkes und Gewerbes, so muß auf der
anderen Seite gegenüberstehen und nicht bestimmt werden
durch die Wirtschaftsorganisation, sondern diese Wirtschaft
bestimmend das, was im politischen, im Rechtsstaate lebt. Das
muß so selbständig sein dem Wirtschaftsorganismus
gegenüber, wie das Lungen-Herzsystem relativ
selbständig ist dem Kopfsystem, dem
Nerven-Sinnessystem gegenüber. Gerade dadurch, daß
diese Dinge selbständig wirken, zusammenwirken, gerade
dadurch stellen sie sich im Leben in das rechte
Verhältnis. Nur dadurch, daß die Lunge und das Herz
im organischen Leben abgesondert sind von dem Magenleben,
wirken sie, die relativ selbständig sind, in der rechten
Weise zusammen. Nur dadurch, daß im lebendigen sozialen
Organismus ein selbständiges Glied da ist, welches nun
nicht bestimmt aus irgendwelchen Wirtschaftlichen
Untergründen heraus die Arbeitskraft zur Ware, sondern
welches bewirkt, daß aus dem lebendigen Leben heraus die
Arbeit nur in solcher Weise in der sozialen Struktur
drinnensteht, daß sie als Recht in diese soziale Struktur
eingefaßt ist, nur dadurch können Sienach der anderen
Seite hin bestimmt sein lassen das Wirtschaftsleben durch das,
was das Rechtsleben, das politische Leben des Staates im
engeren Sinne ist, wie bestimmt ist durch die Naturgrundlage
das Wirtschaftsleben. Erst dann, wenn man diese drei Glieder
relativ selbständig nebeneinander hat, wenn man ein
selbständiges geistiges Glied, ein selbständiges
Rechtssystemglied, eigentliches Staatsleben, und ein
selbständiges Wirtschaftsleben hat und diese Glieder
mit relativer Selbständigkeit nebeneinander wirken, wenn
jedes dieser Glieder aus seinen eigenen Grundlagen heraus
seinen Vertretungskörper, seinen Verwaltungskörper
hat, sagen wir, seinen Reichstag, seinen Bundestag, sein
Ministerium hat und die einzelnen Glieder fast so souverän
zueinander stehen wie Einzelstaaten, nur durch Delegierte
zueinander verhandeln, erst dann wird der soziale Organismus
wirklich gesund. Dann entwickeln sich auf dem Gebiete des
Wirtschaftslebens die Interessengrundlagen, die allein in
diesem Wirtschaftsleben als Impulse ausschlaggebend sein
können. Und dann wird die Frage aufgeworfen werden
können vom Leben durch das, was im anderen Gliede des
sozialen Organismus, im Rechtsorganismus geschieht: Wenn
aus den Impulsen dieses Rechtsorganismus heraus die Begrenzung
der menschlichen Arbeitskraft, die fortan nicht den
Charakter der Ware hat, sondern den Charakter eines
Rechts hat, wenn diese Arbeitskraft so in einen bestimmten
Wirtschaftszweig hineinfließt, daß sich dieser
Wirtschaftszweig nicht rentiert, dann wird dieser
Wirtschaftszweig ebenso in bezug auf dieses
Nichtrentieren angesehen werden müssen, wie wenn er
sich durch das zu Teure eines Rohstoffes nicht rentiert. Das
heißt: Die menschliche Arbeitskraft wird ein
Beherrschendes werden mit Bezug auf das Wirtschaftsleben,
nicht ein Unterdrücktes, nicht ein Versklavtes. Aber
das wird nicht dadurch erreicht, daß man gewisse Gesetze
gibt, sondern daß man im lebendigen Leben einen
Körper schafft, der einfach dadurch, daß etwas
anderes an menschlichen Impulsen in diesem abgetrennten
Körper da sein muß, fortdauernd von Epoche zu Epoche
die Arbeit dem Warencharakter entreißt, denn sie muß
dem Warencharakter entrissen werden, sonst wird sie immer
wiederum aufgesogen werden, weil der
Wirtschaftskörper immer die Tendenz hat, die
Arbeitskraft aufzusaugen und sie zur Ware zu machen. Immer
muß der Staatskörper wachen, um wiederum die
Arbeitskraft des Warencharakters zu
entkleiden.
Überall zeigt
einem das Leben, daß die Durcheinandermuddelung —
wenn ich mich des trivialen Ausdrucks bedienen darf — der
drei sozialen Lebensgebiete von Unheil ist. Man studiere nur
einmal das, was sich als diese soziale und sonstige
Menschheitskatastrophe in den letzten viereinhalb Jahren
herausgebildet hat. Man studiere es an den wirklichen
Ereignissen. Es ist ein schönes Studium, zum Beispiel in
dem Gebiet, das jetzt wie in Atome zerfallen ist, in
Österreich zu studieren: Wie hat eigentlich das innere
Gefüge sich halten wollen, sich halten wollen seit mehr
als einem halben Jahrhundert? Da hatte man einen sogenannten
Reichsrat. In diesem Reichsrat war eine gewisse Vertretung des
Volkes, nur gewisser Schichten. Diese Vertretung zerfiel
— nicht in der letzten Zeit, sondern da, wo sich die
Ereignisse aber schon vorbereitet haben, in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts — in vier Kurien, in die
Kurie der Großgrundbesitzer, der Landgemeinden, der
Städte und Märkte und der Industrieorte, der
Handelskammern; also der Landgemeinden, der Städte, der
Großgrundbesitzer, der Handelskammern. Sie sehen, lauter
im Grunde wirtschaftliche Impulse steckten in dieser
Vertretung. Und diese Vertretung war nun die Staatsvertretung.
Diese Vertretung gab Gesetze. Das kam nur davon her, weil man
unter dem Einflüsse der modernen Entwickelung, wie ich im
Anfange meiner heutigen Betrachtungen
andeutete,
ohnmächtig
war,das
wirtschaftliche Leben selbst mit seiner eigenen
Organisation zu durchdringen, weil das Denken zu kurzmaschig
wurde, zu engmaschig und begrenzt wurde, weil man gar nicht
untertauchen konnte. Man nahm als Rahmen für das
Wirtschaftsleben den heraufgekommenen Staat und pfuschte
Wirtschafts- und Staatsieben durcheinander. Und ehe man
nicht einsehen wird, daß durch dieses Ineinanderpfuschen
Unzähliges von den Ursachen gelegt worden ist, was zu
unserer katastrophalen Gegenwart geführt hat, eher wird
man nicht auf die wahren Heilmittel
verfallen.
Ich konnte heute nur
wiederum manche Andeutungen geben. Die weiteren
Ausführungen werde ich mir erlauben, übermorgen zu
bringen. Nur das möchte ich noch bemerken: Selbst
mit Bezug auf die große Weltpolitik könnten Sie
erhärtet finden, was ich gesagt habe, wenn Sie nur auf die
Untergründe des Lebens gehen wollen. Wer die Genesis
dieses furchtbaren Krieges studiert, der kein Krieg im
alten Sinne ist, sondern eine aus mancherlei
Ingredienzien zusammengebraute große
Menschheitskatastrophe, die jetzt nicht in ihr Ende, sondern in
ihre Krisis eingetreten ist, wer die Genesis dieser Katastrophe
studiert, der wird zum Beispiel finden, daß eine
wesentliche Gestalt in dem Ausgangspunkte, in der ganzen
Vorbereitung dadurch gegeben worden ist, daß sich das
moderne Wirtschaftsleben herausgebildet hat in einer
bestimmten Weise, und daß dieses moderne
Wirtschaftsleben dadurch, daß man es nicht in der rechten
Weise abzutrennen verstand in einen
naturgemäßen, in einen wirklich
lebensfähigen sozialen Organismus oder in einen Organismus
über die Welt hin, daß sich dieses Wirtschaftsleben
verbunden hat mit dem bloßen Rechts staatsieben, das
in relativer Selbständigkeit hätte bleiben
sollen. Und so waren im wesentlichen Wirtschaftsfaktoren,
Wirtschaftselemente da, welche sich bedient haben der
staatlichen Machtkräfte durch die letzten Jahrzehnte,
Wirtschaftskräfte, die in disharmonischer Weise
gegeneinander gewirkt haben. Wären sie darauf
angehalten gewesen, bloß auf Grundlage ihres
wirtschaftlichen Lebens und auf Grundlage ihrer gegenseitigen
Zusammenklänge sich zu entfalten, niemals
hätten sie zu dieser Katastrophe führen können.
Zu dieser Katastrophe haben sie geführt als bloße
Wirtschaftskräfte, weil diese Wirtschaftskräfte sich
bedienen durften durch eine falsche politische
Körperschaft der politischen Staatskräfte, die
für sie ihre Heere ins Feld schickten.
Diese Sache muß
man nur in der entsprechenden Weise, nicht nur theoretisch,
sich vor Augen führen. Das tun ja gewiß heute manche
Leute. Aber man muß sie in bezug auf das, was als der
eigentliche Impuls der sozialen Frage durch die moderne
Gegenwart drängend und brennend geht, in das rechte
Licht als das wahre Symptom des gegenwärtigen Lebens
zu heben wissen. Dann kommt man aus der Schwarmgeisterei
heraus, aus der bloßen Ermahnung, und kommt hinein in das,
was wirklich ist, was möglich macht, daß die drei
Glieder des sozialen Organismus zusammenwirken im Leben.
Was keine Diskussion, kein nationalökonomisches
Urteil bewirken kann, das Nebeneinanderleben des
Wirtschaftslebens und des politischen Lebens, wird die
Arbeitskraftfrage lösen und wird einen der
wesentlichsten, schwierigsten Punkte in der Empfindung des
modernen Proletariats in der rechten Weise fortdauernd
aus der Welt schaffen können.
Nun, ich werde
übermorgen diese Betrachtungen hier fortsetzen, in
Einzelheiten eingehen und manches von dem, was heute noch
fraglich bleiben mußte, wird sich ja dann in
sachgemäßer Weise aufklären können.
Nur auf das eine darf ich wohl noch hinweisen. So ist es schon
und so wird es noch lange sein, daß die Leute aus den
bequemen Denkgewohnheiten der Gegenwart heraus das zu
radikal, vielleicht auch zu akademisch oder sonst
irgendwie finden, was in Wahrheit nicht ein abstrakter
Idealismus, was in Wahrheit Lebenspraxis ist. Da werden manche
sagen: Nun, da kommt so ein Geisteswissenschafter und will in
der eminent praktischen Frage, in der welthistorisch
wichtigen Frage, in der sozialen Frage mitreden. — Gerade
nicht um irgend etwas Besonderes für mich oder für
die Vertreter jener Richtung, die ich hier geltend mache, zu
sprechen, sondern mit Bezug auf solche Leute, die derlei Dinge
für unpraktisch, für aussichtslos finden, weil sie
die Aussichten nicht überblicken, die Perspektiven
nicht ins Auge fassen können, für diese Leute, nicht
für mich, möchte ich einen Vergleich hier zum
Schlüsse heute gebrauchen. Ich möchte hinweisen
auf jenen armen Knaben, Stephenson,
der dazumal verurteilt
war, an einer Newcomenschen Dampfmaschine zu sitzen und der die
Hahnen abwechselnd zu öffnen und zu schließen hatte,
durch die auf der einen Seite der Dampf, auf der anderen Seite
das Kondensationswasser eingelassen wird. Da bemerkte der
kleine Knabe, daß da oben ja der Balancier auf- und
niederschwinge, und da fiel er auf den Gedanken: Wie wäre
es denn, wenn ich nun den einen Hahnen und den anderen Hahnen
mit einer Schnur an den Balancier anbinden würde? Der
würde das eine Mal beim Hinaufgehen den einen Hahnen
herausziehen und den anderen hineinstecken, das andere Mal den
einen Hahnen hineinstecken und den anderen herausziehen. Der
Balancier würde meine Arbeit ersetzen, ich kann zuschauen,
dachte sich der kleine Knabe. Und er führte das wirklich
aus. Nun hätte damals schon etwas geschehen können,
was sich in solchen Dingen vielfach ergibt, wenn irgend etwas
Neues ins Leben hineinkommen soll, ausgesprochen oder ausgesagt
wird, daß von einem ganz Gescheiten gesagt worden
wäre: Du dummer Junge, du hast das zu tun, was dir
obliegt! Was hast du für Schnüre an den Balancier
angebunden? Mach das rasch weg, sonst hau ich dich durch!
— Nun, es ist nicht so geschehen, sondern es ist eine der
wichtigsten Erfindungen der neueren Zeit, die Selbststeuerung
der Dampfmaschine, aus dieser Erfahrung des kleinen Knaben
erwachsen. Auf mehr als den richtigen Blick dafür
entwickelt zu haben, was zur Selbststeuerung des sozialen
Organismus, zu dem lebendigen Ineinander- und
Zusammenwirken der drei Glieder führt — zu einer
Selbstbetätigung des geistigen Gliedes, des
rechtlich-politischen Gliedes, des wirtschaftlichen
Gliedes auf mehr erhebt Geisteswissenschaft nicht
Anspruch. Aber nun hängt es davon ab, ob die ganz
gescheiten Leute sagen zu dieser Geisteswissenschaft: Du dummer
Junge, tu deine Aufgabe — , oder ob sie darauf eingehen
werden. Das muß man sich oftmals, wenn man in diesen
Dingen drinnensteht, in aller Bescheidenheit und ohne
Anmaßung sagen. Der Glaube an die Schwarmgeister, die sich
für Praktiker halten, möge bald der Erkenntnis
weichen, daß die wahren Lebenspraktiker die
verschrienen Idealisten sind, die aber auf die
Lebenswirklichkeit eingehen können, daß sie es
sind, die die wahren Entwickelungsbedingungen der Menschheit
erforschen müssen, und daß nur durch die Erkenntnis
und Auswirkung der wahren Entwickelungsbedingungen und
Entwickelungskräfte der modernen Menschheit der Weg
gefunden werden kann, der zu jener Lösung der sozialen
Frage führen kann — das nächste Mal wollen wir
davon sprechen — , die eben überhaupt im wirklichen
Leben möglich ist. Nicht auf dem Wege der
Anmaßung der
heute noch vielfach als Praktiker geltenden Menschen wird das
Rechte liegen, sondern wahrscheinlich werden sich als die
wahren Lebenspraktiker die verschrienen Idealisten, die
aber auf die Lebenswirklichkeit wirklich eingehen können, erweisen
müssen.