VIERTER
VORTRAG
Zürich, 12.
Februar 1919
Die Entwickelung des sozialen
Denkens und Wollens und die Lebenslage der gegenwärtigen
Menschheit
Vielleicht haben die
Vorträge, die ich nun hier halten durfte im Laufe der
vorigen und dieser Woche, von einem gewissen Gesichtspunkte her
bezeugt, daß es gerechtfertigt ist zu sagen: Die
Lebenslage der gegenwärtigen Menschheit ist tief
beeinflußt von der Entwickelung, welche das soziale Denken
und Wollen im Laufe der neueren Zeit bis zu unserer Gegenwart
herein angenommen hat. Mehr vielleicht, als heute mancher ahnt,
greift herein der soziale Impuls in das unmittelbare Leben des
Einzelmenschen; aber er wird immer mehr und mehr noch
hereingreifen. Er wird bestimmend werden geradezu für die
Kräfte des allerindividuellsten Verhaltens. Und man wird
kaum richtig verstehen können, wie man heute drinnensteht
im gesellschaftlichen Leben der Menschheit, welches durchwellt
und durchpulst ist von den sozialen Impulsen, wenn man nicht
ins Auge faßt, wie aus zwei Ursprüngen eigentlich im
Laufe des neueren Lebens der Menschheit das soziale Denken und
Wollen verschiedener Menschenschichten entstanden ist.
Denn das Fortleben der Ursprünge bis in die Gegenwart
herein, das wirkt auf diesem Gebiete eigentlich so, daß es
sozial diesem gegenwärtigen Leben die Gestaltung
gibt.
Ich habe in einem der
Vorträge darauf hingewiesen, daß man nicht auskommt,
wenn man zum Verständnis einer solchen Sache einfach in
der Weise, wie man das gewohnt worden ist, das geschichtliche
Leben geradlinig nach dem Verlaufe von Ursache und Wirkung
betrachtet, so daß man immer mit Bezug auf das Folgende
auf das Vorhergehende hinweist. Ich habe versucht, darauf
aufmerksam zu machen, daß dieses geschichtliche
Leben der Menschheit in seinem Wesen oder Grund mit Bezug
auf gewisse Krisen des Verlaufs, besser gesagt, auf das
Vorhandensein von Krisen des Verlaufs, ähnlich ist
dem Leben des einzelnen Menschen. Im Leben des einzelnen
Menschen gibt es auch nicht eine geradlinige
Fortentwickelung, so daß immer das Folgende ohne einen
Sprung die Wirkung des Vorhergehenden ist. Man muß, um den
bequemen, oft mißverstandenen Gedanken, die Natur mache
keine Sprünge, in der entsprechenden Weise in seine
Grenzen zurückzuweisen, immer wieder und wiederum darauf
aufmerksam machen, wie in dem geradlinigen Fortschreiten des
individuellen Lebens Krisen eintreten, wie die Krise des
sechsten, siebenten Jahres mit dem Zahnwechsel auftritt, wie
die Krisis eintritt, die aus den elementaren Untergründen
des Organischen wie heraufzuquellen scheint in dem
Geschlechtsleben. Und wer kundig ist des Verlaufes des
menschlichen Lebens, dem zeigen sich solche krisenhaften
Umschwünge auch in den späteren Lebensaltern, wenn
sie auch für eine oberflächliche Betrachtung nicht in
einer so entschiedenen Weise wie die zwei ersten
auftreten.
Solche krisenhaften
Umschwünge zu beobachten im geschichtlichen Leben der
Menschheit ist notwendig, um dieses geschichtliche Leben
wirklich zu verstehen. So sehr auch die heutige Menschheit noch
abgeneigt ist, auf solche Dinge hinzuschauen und
hinzuhorchen, so notwendig ist es gerade in der
Gegenwart, in der soziales Verständnis des Lebens
gefordert wird, auf solche Dinge radikal stark hinzuweisen.
Einen der letzten großen Umschwünge — so habe
ich in den vorhergehenden Vorträgen ausgeführt
— im Entwickelungsgange der Menschheit haben wir zu
verzeichnen etwa um die Wende des 15., 16. Jahrhunderts.
Und nur weil man nicht tiefgehend genug den geschichtlichen
Hergang der Dinge beobachtet, weiß man nicht, wie radikal
verschieden namentlich alles das, was in der menschlichen Seele
vorgeht, was in der menschlichen Seele als Forderung, was als
Sehnsucht nach gewissen Befriedigungen herrscht, wie das
sich verändert hat gegenüber dem, was vor diesem
Zeitpunkt vorhanden war.
Nun tritt zu gleicher
Zeit wie im Gefolge dieses elementarischen Umschwunges
der neueren Menschheitsentwickelung das ein, was man so
bezeichnen könnte, daß man sagt: Was früher in
der Menschenseele selbst gelebt hat als soziale Impulse, die
dann zu der sozialen Struktur der menschlichen Gesellschaft
geführt haben, das hat sich vor diesem Zeitraum mehr
instinktiv ausgelebt. Die Menschen lebten
gesellschaftlich zusammen, ordneten ihre Angelegenheiten
gesellschaftlich aus gewissen Instinkten heraus. Um die
angedeutete Zeit tritt an die Stelle des instinktiven sozialen
Denkens und Wollens das bewußte Ergreifen sozialer
Impulse. Es tritt langsam und allmählich auf; aber es
unterscheidet sich die Lebenslage, in die sich dadurch
die moderne Menschheit versetzt, in radikaler Weise von der
Lebenslage der mittelalterlichen und alten Menschheit. Da aber
sehen wir dann sogleich, wie mit dem Heraufnehmen der
sozialen Impulse aus dem instinktiven in das bewußte Leben
deutlich sich zwei Strömungen, zwei
Ausgangsströmungen des sozialen Denkens und Wollens
zeigen.
Die eine tritt ein bei
denjenigen Menschen, die bis zum heutigen Tage genannt werden
können die führende, die leitende
Gesellschaftsschicht der Menschheit. Die andere Strömung
tritt etwas später, aber deutlich von der anderen
unterschieden bei dem ein, was wir heute als die
proletarische Welt bezeichnen. Die leitenden
intellektuellen bürgerlichen Kreise sind mit allen ihren
Lebensinteressen, als die neuere Zeit heraufrückt,
verbunden mit dem, was als die neueren Staatsgebilde sich
allmählich herausgebildet hat aus den Formen des
mittelalterlichen Zusammenlebens der Menschen. Diese
bürgerlich leitenden Kreise sind durch ihre Interessen
namentlich mit dem verbunden, was wir unter den drei Gliedern,
die ich angeführt habe für den sozialen Organismus,
bezeichnen können als den eigentlichen Rechtsstaat,
als das eigentliche politische Gebilde, welches entweder
instinktiv oder bewußt auf Ordnung alles dessen
ausgeht, was sich auf das Verhältnis von Mensch zu Mensch
bezieht. Mehr oder weniger so, wie die Traditionen der
Vergangenheit und auch wie in gewisser Beziehung die
neueren Wirtschaftlichen Verhältnisse sich ergeben,
verbinden die leitenden bürgerlichen Kreise ihre
Interessen mit dem, was von vielen Leuten als das einzige
soziale Gebilde heute noch gehalten wird, eben mit dem Staate.
Und indem sie bewußt übergehen von dem alten
instinktiven sozialen Leben zu dem modernen bewußten,
denken sie zunächst staatlich im Sinne des Rechtsstaates.
Und das immer komplizierter werdende moderne Wirtschaftsleben,
das namentlich durch die Ausbreitung des menschlichen
Betätigungshorizontes über die ganze Welt immer
komplizierter wird, das versuchen diese leitenden Kreise
hereinzugestalten in das Staatsgebilde. Den Staat wollen
sie gewissermaßen immer mehr und mehr zum
Wirtschafter machen.
Diese Bestrebung nimmt einen gewissen Fortgang, und wir
sehen, daß innerhalb gewisser Kreise einzelne
Wirtschaftszweige immer mehr und mehr dem staatlichen
Gebilde einverleibt werden. Ich habe auf solche
Wirtschaftszweige das letzte Mal hingewiesen. Was
wesentlich ist von dieser Seite, ist, daß das soziale
Denken bei diesen Kreisen seine ganz bestimmte Gestaltung
dadurch gewinnt, daß sie erobern wollen für den
Staat, für den sie interessiert sind, das hereinbrechende
komplizierte Wirtschaftsleben.
Ganz anders entwickelt
sich innerhalb des Proletariats der soziale Impuls. Dieses
moderne Proletariat ist in der Heraufentwickelung der neueren
Zeit nicht in gleicher Weise mit seinen Interessen engagiert
innerhalb des eigentlichen staatlichen Gebietes. Es steht
in einer gewissen Beziehung, die ich hier nicht weiter
ausführen kann wegen Mangel an Zeit — die Sache ist
leicht zu durchschauen abseits von dem, was die bürgerlich
leitenden Kreise als ihre Interessen vertreten innerhalb des
Staatsgebildes. Aber es wird gerade in der radikalsten Weise
dieses Proletariat hineingetrieben in die Gestaltung des
Wirtschaftslebens. Sein ganzes Denken und Wollen verläuft
in der Weise, daß es ist wie eine
Abspiegelung
dessen, was im
Wirtschaftsleben durchgemacht wird. Und so werden die sozialen
Impulse des Proletariats ebenso bestimmt von den sozialen
Gebilden der Ökonomie der Menschheit, des
Wirtschaftslebens, wie die sozialen Impulse der
bürgerlich leitenden und auch der intellektuellen
Kreise bestimmt werden von den Impulsen des
Rechtsstaates, von den Impulsen des eigentlichen
politischen Gebildes. Und beide Strömungen entwickeln sich
immer mehr und mehr so, daß eben das zutage tritt,
auf das ich in der Einleitung zum vorgestrigen Vortrage
hingewiesen habe, daß eine Kluft, ein Abgrund
besteht zwischen der besonderen Konfiguration des
sozialen Denkens und Fühlens der leitenden
bürgerlichen und der proletarischen Kreise. Denn das,
sagte ich, sei das Tragischeste der neueren Entwickelung in der
gegenwärtigen Ausgestaltung der Lebenslage der
Menschheit, daß dieser Abgrund besteht, daß so schwer
ein Verständnis, ein gegenseitiges Verständnis der
beiden charakterisierten Bevölkerungsschichten zu finden
ist. So mußte eintreten, was wir nun kommen sehen:
daß wie gerüstet zu einem
Lebenskampfe die
beiden Bevölkerungsschichten sich gegenüberstehen.
Und das Wesentliche in diesem Kampfe, der zum Teil sich schon
auslebt, zum Teil aber erst sich vorbereitet, und der, wie es
einleuchten kann, selbst noch heute nur oberflächlich das
gesellschaftliche Leben ergreift, der gigantische Formen
annehmen wird, das Wesentliche ist, daß auf der einen
Seite die bürgerlich leitenden Kreise das Wirtschaftsleben
mehr und mehr erobern wollen für den Staat, miterobern
wollen für den Staat mit diesem Wirtschaftsleben in einer
eigentümlichen Weise die Arbeitsleistung und
Arbeitskraft des Proletariats selbst, und daß auf der
anderen Seite das Proletariat den Staat erobern will
für das, was es für sich an Interessen im
abgesonderten Wirtschaftsleben erlebt.
Das ist im
wesentlichen das Grundprinzip des Kampfes, der da so
bedeutungsvoll hereinspielt in die Lebenslage der
gegenwärtigen Menschheit. Und man hat über
alldem, was offen im Bewußtsein vorgeht, vergessen,
außer Aufmerksamkeit gelassen, ich möchte sagen, ins
Unterbewußte der menschlichen Seele
hinuntergedrängt das, was sich hinter diesen zwei
Impulsen, die ich angeführt habe, eigentlich verbirgt.
Das, was sich heraufarbeiten will an die Oberfläche des
menschlichen Lebens, seitdem der krisenhafte Umschwung im 15.
Jahrhundert in der Entwikkelung der neueren Menschheit
eingetreten ist, das zeigt erst, während das andere
vielfach eben nur im Bewußtsein maskiert sich abspielt,
was wühlt und treibt und pulst im menschlichen Leben: das
ist das Streben nach einer vollen Geltendmachung der
menschlichen Persönlichkeit, so wie es die früheren
Zeiten nicht gekannt haben. Geltendmachung der menschlichen
Persönlichkeit, Fühlen des Menschenwesens in sich,
das ist eigentlich der Grundnerv der sozialen Frage, und das
kleidet sich nur nach diesen verschiedenen
Lebensverhältnissen, die ja gerade mit dem Angegebenen
bestimmt sind, in die gegebenen Formen. Und so konnte es
kommen, daß ein Kampf, der im Grunde genommen ein Kampf
ist um die Erringung der vollen Menschenwürde bei allen
Menschen, ein Kampf gegenseitiger verschiedener Interessen
selbst geworden ist, ein Kampf der Klassen, ein Kampf, der in
die Gegenwart herein in einer so verhängnisvollen Weise
seine Kräfte wirft.
Daß sich etwas
verbirgt und maskiert offenbart in dieser neueren
Entwickelung der Menschheit, das hat verursacht, daß
man den Blick nicht richtete, oder besser gesagt, daß man
bis jetzt nicht lernte, den Blick zu richten auf das, worauf es
ankommt. Innerhalb der Zeit, in der die sozialen Impulse
instinktiv gewirkt haben, konnte man den sozialen
Organismus auch instinktiv sich ausgestalten lassen.
Nunmehr, da die sozialen Impulse in das Bewußtsein der
Menschen eingetreten sind, wenn auch in maskierter Gestalt, da
ist es notwendig, da ist es das Wichtigste in bezug auf das
soziale Problem der neueren Zeit, daß soziales
Verständnis, Verständnis für die
Gestaltung des sozialen Organismus in jede einzelne
Menschenseele einzieht, wenn dieses Verständnis auch kein
gelehrtenhaftes zu sein braucht, sondern ein solches, das
in der Empfindung, im Gefühle lebt und das sich auslebt in
dem, was der einzelne Mensch als diese oder jene Notwendigkeit
empfindet, sich hineinzustellen in die menschliche
Gesellschaft. Deshalb ist es heute so notwendig, das zu tun,
was ich versuchte, in diesen Vorträgen zu tun: den Blick
hinzuwenden auf das, worauf alles in dem Streben der neueren
Menschheit tendiert, was aber eigentlich erst heute sich durch
die besonderen Verhältnisse an die Oberfläche
drängen kann; den Blick darauf hinzuwenden, daß der
soziale Organismus wirklich ein lebendiges Gebilde werden
muß, ein solches Gebilde, das man in seinen
Lebensbedingungen versteht, allerdings lebendig versteht,
nicht theoretisch. Deshalb wies ich darauf hin, daß die
Gesundheit des sozialen Organismus davon abhängt, daß
nicht chaotisch durcheinandergewürfelt werde das, was die
drei Glieder des sozialen Organismus sind: geistiges Leben im
weitesten Umfange, Rechts- oder politisches Leben, also das
Staatsleben im engeren Sinne, und das Wirtschaftsleben. Erst
dadurch werden die in den drei Gliedern wirksamen Kräfte
ihre notwendige Ausbildung und ihre notwendige Befreiung
erfahren, so daß diese drei Gebilde nicht je eines von den
anderen aufgesogen werden, sondern daß sie sich frei
nebeneinander entfalten und gerade in gewisser
Selbständigkeit, wie ich von verschiedenen
Gesichtspunkten aus schon ausgeführt habe, nebeneinander-
und zusammenwirken. Gegen diese Selbständigkeit war bisher
aus gewissen Voraussetzungen heraus die eigentliche Tendenz der
menschlichen Entwickelung gerichtet. Differenzierung
dessen, was durcheinandergewirrt worden ist, das ist nun
die notwendigste Lebensfrage mit Bezug auf das soziale Wesen
der gegenwärtigen Menschheit.
Empfunden hat man von
gewissen Seiten des menschlichen Denkens
und Empfindens das,
was ich hier meine, schon immer, als eben im Lichte der
Bewußtheit der sozialen Impulse die Menschen anfingen, je
nach ihren geistigen Voraussetzungen so oder so zu denken
über die Verhältnisse von Staatsleben und
Wirtschaftsleben. Da sehen wir sogenannte soziale oder
nationalökonomische — wie man es nun nennen will,
das ist gleichgültig — Denkweisen, Denkgewohnheiten
sich herausbilden. Es kann nicht meine Aufgabe sein, die
Entwickelung des sozialen Denkens in der neueren Zeit hier
darzustellen. Nur auf eines will ich aufmerksam machen,
das, ich möchte sagen, stark beleuchtet manches, auf das
es gerade hier in diesen Vorträgen ankommen
muß.
Unter den mancherlei
Denkweisen, Vorstellungsarten in bezug auf die Verflechtung des
wirtschaftlichen mit dem staatlichen und dem geistigen
Leben der Menschheit trat auch dasjenige auf in der neueren
Zeit, was man im 18. Jahrhundert als das sogenannte
physiokratische nationalökonomische Denken
bezeichnete. Aus einem früheren Denken, das
innerhalb des Staatsorganismus das Wirtschaftsleben mehr
organisieren wollte, bildete sich wie durch einen notwendigen
Gegensatz dieses physiokratische Denken aus. So bildete es sich
aus, daß man dazu übergehen wollte, das
Wirtschaftsleben nicht zu tyrannisieren durch das
Rechtsieben des Staates, durch das politische Leben des
Staatsgebildes im engeren Sinne, daß man das
wirtschaftliche Leben seinen eigenen natürlichen Gesetzen
überlassen wollte, es überlassen wollte den Impulsen,
denen es verfällt, wenn einfach der Mensch frei heraus aus
seinen Interessen das Spiel des Wirtschaftslebens einleitet. Da
haben manche Bekenner dieses Systems eigentlich diese Dinge
sehr beleuchtende Worte gesprochen, was etwa so nachgesprochen
werden kann. Die Leute sagten: Wozu soll eigentlich innerhalb
des politischen Staatsgebildes ein System von Gesetzen
ausgebildet werden, welche das Wirtschaftsleben regeln?
Entweder werden diese Gesetze die gleichen sein wie
diejenigen, die sich das Wirtschaftsleben selbst gibt, wenn es
dem freien Spiel der Kräfte überlassen ist,
oder aber sie werden andere und ihm entgegengesetzte sein. Im
ersteren Falle, wenn es dieselben sind, dann sind sie ja
unnötig, dann braucht man sie nicht, dann gibt sich das
Wirtschaftsleben seine eigenen Gesetze, dann braucht man nicht
erst das Wirtschaftsleben einzuspannen in besondere
Staatsgesetze. Wirken aber die Staatsgesetze entgegen dem
Wirtschaftsleben, dann hemmen sie es, dann beeinträchtigen
sie es, dann sind sie demselben
schädlich.
Ich möchte sagen:
Was sich in diesen beiden gegenteiligen Sätzen
ausspricht, es spukt heute noch in vielen Köpfen. Es
spukt deshalb in vielen Köpfen, weil die moderne
Menschheit, so sehr sie auch glaubt, praktisch zu sein, Sinn zu
haben für das Reale, doch furchtbar angefressen ist von
einem gewissen Sinn für abstrakte, für theoretische
Einseitigkeit. Und würde man prüfen, wieviel in dem,
was sehr vielen Leuten heute als das eigentlich praktische
Leben erscheint, nichts anderes ist als verwirklichte
Einseitigkeit, verwirklichte einseitige Theorie, dann
würde man auf so manches Lebensrätsel stoßen und
eine teilweise Lösung desselben herbeiführen
können. Was klingt plausibler, was klingt
selbstverständlicher, als wenn ich sage: Entweder
laufen die staatlichen Gesetze in derselben Richtung wie
die wirtschaftlichen, dann braucht man sie nicht, oder sie
widersprechen ihnen, dann müssen sie dem Wirtschaftsleben
schaden. Man denkt aber in diesen Gegensätzen nur, wenn
man den sozialen Organismus ansieht wie etwas, das sich durch
Begriffe, durch Gesetze, durch Prinzipien, durch Programme
regeln lasse, wenn man nicht sich zu der Ansicht aufschwingen
kann, daß der soziale Organismus etwas ist, was
Leben in sich haben muß, was durch seine eigene Wesenheit
leben muß. Was aber durch seinen eigenen Lebensinhalt,
durch seine eigenen Lebensimpulse gedeiht und sprießt, das
hat im wirklichen Leben Gegensätze in sich. Und der
soziale Organismus muß, soll er ein realer, ein wirklicher
sein, Gegensätze in sich haben.
Daher ist das richtig,
was vielleicht gerade vielen theoretisch gestimmten
Seelen der Gegenwart wie eine Absurdität erscheint:
dasStaatliche,
rein rechtliche, rein politische Leben muß gerade in einer
gewissen Weise beschränken, in seinen Gesetzen
entgegenwirken demWirtschaftlichen
Leben, damit das Gesamtleben der Menschheit, das nicht
bloß ein wirtschaftliches, nicht bloß ein rechtliches
ist, sondern das ein wirtschaftliches, rechtliches und
geistiges ist, damit sich das entfalten kann, so wie im
einzelnen menschlichen Organismus — ich gebrauche den
Vergleich noch einmal, indem ich darauf hinweise, nicht
als ob ich ein Analogiespiel aus der Physiologie und der
Soziologie treiben wollte — das Verdauungssystem in einer
gewissen Weise relativ selbständig für sich
verläuft und neben sich das rhythmische System, das
Atmungs-, Herzsystem hat, und beide sich in ihren
Vorgängen in dem lebendigen Prozesse beschränken und
gegenseitig begrenzen. So ist es notwendig, daß
nebeneinandergestellt werden im wirklichen sozialen Organismus
das Wirtschaftsleben auf der einen Seite und im engeren Sinne
politisches Staatsleben auf der anderen Seite, und dem sich
beigesellen muß mit relativer Selbständigkeit das
geistige Leben, wie ich dies das letzte Mal wiederum von einem
anderen Gesichtspunkt aus gezeigt habe.
Dennauf
Folgendem beruht
das,auf
was es ankommt: Das
wirtschaftliche
Leben
hat
in
sich
ganz andere innere
Kräfteals
das Rechtsieben,
mit dem es zusammenwirken muß, damit das Gesamtleben der
Menschheit gedeihen kann, und wieder andere als das geistige
Leben. Man könnte, wenn man mehr oder weniger etwas
konkret Lebendiges in abstrakte Formen bringen wollte, die aber
doch vielleicht von einer Seite her, wenn auch einseitig, eben
die Dinge verständlich machen, das Folgende sagen: Im
Wirtschaftsleben, so wie es besteht in der
Warenproduktion,
Warenzirkulation und
im Warenkonsum, kommt alles darauf
an, daß die dem
Leben entsprechende Wertbildung entsteht. Und diese Wertbildung
vollzieht sich im wesentlichen so, daß der Wert
sich bilden
muß, wenn der
soziale Organismus gesund sein soll, unter dem Einflusse des
Impulses, daß der Verbrauch dessen, was
derWirtschaftliche
Organismus für sich in Anspruch nimmt — nenne man es
Markt oder anderswie — und für den Konsum bereit
hält, daß der Verbrauch der Ware ein möglichst
zweckmäßiger, ein möglichst vorteilhafter ist.
Eine Ware muß so dem Konsum dargeboten werden, wenn der
soziale Organismus gesund ist, daß sie sich in der
zweckmäßigsten Weise ganz verbrauchen läßt,
daß sie so lange dauert, als es zweckmäßig ist,
oder so schnell verbraucht werden kann, als es
zweckmäßig ist, daß aber jedenfalls ihr
ganzer Inhalt auf den Verbrauch hintendiert.
Würde die
menschliche Arbeitskraft voll eingespannt in das
Wirtschaftsleben — und dieses Wirtschaftsleben kann sich
allein gesund entwickeln unter dem Gesichtspunkte der
Waren-Preisbildung nach dem entsprechenden Verbrauche — ,
so wäre erfüllt, was die marxistische
Anschauung des Proletariats behauptet, daß die
menschliche Arbeitskraft selber Ware wäre, und so
würde ja diese Arbeitskraft als mit dem Charakter der Ware
behaftet im sozialen Organismus ihren Wert erhalten
müssen, indem sie in der zweckmäßigsten Weise
voll verbraucht würde. Das wirtschaftliche Glied des
sozialen Organismus hat auch, wenn man es genauer betrachtet,
die Tendenz in sich, den Menschen zu verbrauchen, und
würde das wirtschaftliche Glied des sozialen Organismus
nur seinen eigenen Gesetzen folgen, so würde eben
innerhalb dieses Gliedes die menschliche Arbeitskraft
verbraucht werden. Indem die bürgerlich leitenden Kreise
dieses nicht beachteten, haben sie gerade dazu
beigetragen, daß innerhalb des Wirtschaftslebens und
der Stellung des Proletariats im Wirtschaftsleben sich
der Nerv der modernen sozialen Frage herausgebildet hat, der
sein Leben darin zeigt, daß gerade der moderne Proletarier
es ganz besonders für sich in Anspruch nimmt, seine
Arbeitskraft des Charakters der Ware zu entkleiden. Wie
sich auch sonst manches in der sozialen Frage maskiert
und vieles davon im Unterbewußten des modernen
Proletariers lebt, das ist ein wesentlicher Faktor, daß
die proletarische Seele nach der Befreiung der menschlichen
Arbeitskraft von dem Charakter der Ware
hinstrebt.
Das aber kann niemals
geschehen, wenn der Wirtschaftsprozeß nach seinen Gesetzen
verläuft, und wenn man das gesamte Staatsleben nur zu
einer einzigen Wirtschaft macht, wie es das Ideal vieler
moderner Sozialisten ist. Das kann auch nicht dann
geschehen, wenn man in einseitiger Weise den Staat von sich aus
zum Wirtschafter machen will. Ein gesundes
Verhältnis ergibt sich nur dann, wenn man den
wirtschaftlichen Organismus in sich selber seine relative
Wirksamkeit entfalten läßt, wenn man, wie es im
natürlichen organischen Leben auch geschieht, ein System
gewissermaßen darum, daß es seine in ihm liegenden
Kräfte voll ausbildet, in relativer Selbständigkeit
sich entfalten läßt und dann dasjenige, was
sich ergibt, begrenzt, verbessert durch ein danebenliegendes,
relativ selbständiges System, wie im natürlichen
Organismus ein System sich voll entwickelt, auch seine
Schäden zum Ausdruck bringt, diese Schäden aber
fortwährend paralysiert werden durch das
danebenliegende System. Darauf beruht alle organische
Wirksamkeit. Darauf muß auch beruhen die Gesundung des
sozialen Organismus.
Es kommt mir
wahrhaftig nicht darauf an, wie man den
Wirtschaftsorganismus, wie man den Staatsorganismus
definiert, wie man über sie denke, sondern darauf kommt es
mir an, daß diese zwei Glieder nebeneinander da sein
müssen, und das eine sich relativ selbständig
entwickeln muß, sogar die Veranlagung seiner Schäden
aus sich heraus entwickeln muß, daß das andere System
daneben sich entwickeln muß und paralysieren
muß das, was sich sonst als Schäden ergeben
würde im anderen System. Das ist das Wesen des Lebendigen;
das muß auch das Wesen des lebendigen sozialen Organismus
sein. Nur dann, wenn der Wirtschaftliche Körper sich
selbst verwaltet, verwaltet aus seinen eigenen
Bedingungen heraus, der rechtliche, der politische
Körper sich selbst verwaltet, wiederum aus seinen
eigenen Bedingungen heraus, die sich ergeben durch die Regelung
der Rechtsverhältnisse von Mensch zu Mensch, und wenn dann
ein jeder dieser Organismen sich selbständig regelt, indem
sie nebeneinander und aufeinander wirken, dann entsteht ein
gesundes soziales Leben. Die soziale Frage ist nicht zu
lösen durch eine Theorie, nicht zu lösen durch
Gesetze, sondern sie ist nur dadurch zu lösen, daß im
lebendigen Leben die eine Kräfteart, die wirtschaftliche,
neben der anderen, der staatlichen, der politischen, im
unmittelbaren, im eigenen Dasein wirkt, daß sich die
beiden nebeneinander und ineinander entwikkeln, aber so
entwickeln, daß eine jede in ihrer Selbständigkeit
dasteht.
Das ist es, was aus
einer gewissen historischen Notwendigkeit heraus versäumt
worden ist. Denn was geschehen ist, ist natürlich
notwendig. Es soll keine Kritik, sondern eine Darstellung der
Verhältnisse hier gegeben werden. Das ist es aber,
was sich als eine Notwendigkeit im Menschenfortschritte
für das Leben der Gegenwart und der nächsten
Zukunft einstellen muß. Ergeben wird sich, daß
um der Gesundung des sozialen Organismus willen das
Wirtschaftsleben ein assoziatives wird, daß es sich so
gliedert, daß ja die veranlagten Genossenschaften,
Gewerkschaften und so weiter sich so ausbilden, daß
sie abstreifen, was sie noch übernommen haben aus dem
Vorurteil, daß alles sich nach dem Muster des alten
Rechtsstaates bilden müsse. Was noch an Staatsleben lebt
in diesen dem Wirtschaftsleben dienenden Assoziationen, das
muß abgestreift werden. Sie müssen rein dem
Wirtschaftsleben dienende Körperschaften werden, solche
Körperschaften, die beruhen auf dem Verhältnis, das
innerhalb des Wirtschaftslebens der Mensch haben muß, sei
es zu der Naturgrundlage des Wirtschaftslebens, sei es zu der
Notwendigkeit, auf diese oder jene Art die Rohstoffe zu
verwerten, die Waren in Zirkulation zu bringen, das
Konsumverhältnis in das richtige Verhältnis zur
Produktion und zum Handel zu bringen und so weiter. Die
Kompliziertheit des menschlichen Lebens macht es heute
notwendig, daß ein ganzes System von Assoziationen
und Koalitionen, die herausgefordert werden durch die
Naturgrundlage des Wirtschaftslebens, sich unter den Menschen
bilden, solche Assoziationen und Koalitionen, welche im
wesentlichen auf dem Verständnis der Verwertung der
Naturgrundlage und der Hinleitung der Ware zur
zweckmäßigen Konsumtion bestehen. Eben die
Kompliziertheit erfordert, daß auf diesem Gebiete ein
ganzes System von Assoziationen sich ausbildet. Aber diese
Assoziationen werden herausgestaltet sein aus dem Zusammenhange
des Menschen mit den wirtschaftlichen Kräften selber. Da
wird sich ergeben, daß eben das eintritt, immer
wieder und wiederum im wirklichen Leben eintritt, daß das
Wirtschaftsleben dazu tendiert, den Menschen zu
verbrauchen.
Neben dem
Wirtschaftsleben muß stehen das politische Leben, das im
Gegensatze zum Wirtschaftsleben, das auf Assoziationen zu
beruhen hat, mehr auf der Demokratie ruhen muß, denn das
staatliche Leben umfaßt das Verhältnis von Mensch zu
Mensch. Es umfaßt alles das, woran alle Menschen in
gleicher Weise ihr Interesse haben. Wie das
Wirtschaftsleben beruht auf dem wirtschaftlichen Wert der
Güter, so wird das Staatsleben zu beruhen haben im
wesentlichen auf dem öffentlichen Recht, das im Gesetze
gründet oder das das Gesetz begründet, das da
bestimmt das Verhältnis des Menschen unter Menschen. Und
in lebendiger Wechselwirkung wird dasjenige, was sich aus
dem Wirtschaftsleben heraus entwickelt, begrenzt,
beschränkt werden müssen. Ansätze dazu sind ja
vorhanden, aber eine durchgreifende soziale Einsicht
muß Platz greifen. Dasjenige wird sich herausbilden
müssen, was vor allen Dingen den Menschen davor
schützt, von dem Wirtschaftsleben, das auf den
Verbrauch hin orientiert ist, selber mit Bezug auf seine
Arbeitskraft verbraucht zu werden.
Ebenso wie
Preisbildung, Wertbildung das Wesentliche ist innerhalb des
Wirtschaftskörpers, ebenso ist die Ausgestaltung des
konkreten Rechtes, des konkreten öffentlichen Rechtes, das
reguliert das Leben des Menschen neben dem Menschen, das
Wesentliche im Leben des politischen Staates. Kann man in bezug
auf die Empfindung, die gegenüber dem öffentlichen
Rechte besteht, nicht eigentlich auch heute noch sagen,
daß sie zu keiner ganz besonderen Klarheit sich
durchgerungen hat? Man kann viel, viel bei denjenigen, die die
Sache wissen sollten, die viel nachgedacht und nachgeforscht
haben sollten über die Sache, man kann viel bei diesen
nachfragen, was eigentlich unter dem Wesen des Rechtes zu
verstehen ist, des Rechtes, das ja immer in konkreten Formen
auftritt. Man bekommt erst einen Begriff von den
Schwierigkeiten, die da vorliegen, wenn man zum Beispiel sich
einläßt auf eine solche Frage, wie diejenige war, die
in seiner Doktordissertation mein verstorbener
FreundLudwig
Laistner zugrunde gelegt hat,
«das Recht zur Strafe». Das kann selbst eine Frage
werden, worinnen im Konkreten das Recht der menschlichen
Gesellschaft zur Strafe besteht.
Man kann vieles
versuchen, um nahezukommen dem Impuls des Rechtes. Insbesondere
in unserer heutigen Zeit, wo von den verschiedensten
Seiten her so viel vom Recht gesprochen wird, liegt es ja auf
der Hand, sich immer wieder und wiederum dem nähern zu
wollen, was eigentlich das Wesen des Rechtes ist. Wenn man
versucht, dahinter zu kommen, worauf ein solches konkretes
Recht beruht — auch das Besitzrecht ist auf ein
Recht begründet; das Besitzverhältnis gründet
auf dem Recht, ein Grundstück oder irgend etwas
ausschließlich für sich, zu seiner
Betätigung zu benützen mit Hinwegweisung der anderen
— , das Gegenstand des eigentlichen politischen
Gliedes des sozialen Körpers ist, so finden die einen
überhaupt nichts anderes, als daß es zuletzt doch auf
Macht zurückgeht. Die anderen finden, daß es auf ein
ursprüngliches menschliches Empfinden zurückgehe. Man
kommt ja allzuleicht, wenn man der Sache zu Leibe rücken
will, auf leere Formen. Ohne daß ich mich — was ja
Stunden in Anspruch nehmen würde — einlassen kann
auf eine volle Begründung, möchte ich doch dieses
sagen, daß das Recht ja begründet ein gewisses
Verhältnis des Menschen zu irgend etwas, einer Sache oder
einem Vorgang oder dergleichen oder einer Summe von
Vorgängen, mit Ausschluß von anderen Menschen. Worauf
beruht es denn nun eigentlich, daß man die Empfindung, das
Gefühl entwickeln kann: Irgendein Mensch oder ein Volk
habe ein Recht auf das, was man im Auge hat? Und man bekommt da
doch, wenn man noch so sehr sich abmüht, nichts anderes
heraus, als daß man sich sagen kann: Im öffentlichen
Leben begründet den Rechtsanspruch das, daß die
Voraussetzung bestehen darf, daß der, der seine
Betätigung einer Sache oder einem Vorgange oder einer
Reihe von Vorgängen zuwenden darf, dies mit der
größeren Wahrscheinlichkeit mehr im Sinne der
allgemeinen Menschheit tut als irgendein anderer. In dem
Augenblick, wo man die Empfindung hat, daß irgend jemandes
Verhältnis zu einer Sache oder zu etwas anderem mehr zum
Ausdrucke bringt den Nutzen der allgemeinen Menschheit,
als wenn ein anderer diese Sache benützt oder in dieses
Verhältnis eingeht, so kann man dem Betreffenden das Recht
auf diese Sache zusprechen. Das wird es ja auch im wesentlichen
sein, was in der Empfindung der Menschheit den Ausschlag geben
wird, wenn jetzt die großen Rechtsfragen des
internationalen Lebens ins Dasein, ins wirkliche Dasein
treten. Man wird demjenigen voll zusprechen das Recht über
ein gewisses Territorium, bei dem die Aussicht besteht,
daß im Sinne des Wohles der allgemeinen Menschheit gerade
dieses Volk das Territorium am fruchtbarsten, am sichersten
verwalten kann.
So kommt man zu dem,
was im demokratischen Staatswesen durchweben und
durchfluten kann die Impulse, die orientieren müssen das
Leben von Mensch zu Mensch, die, sei es in der
Arbeiterversicherung, sei es irgendwie in anderen
Versicherungen, die da sind zum Schutze gegen die
Schäden des Wirtschaftslebens, in alledem muß das
leben als das Fundament des Rechtes, von dem ich eben
gesprochen habe. Und ein Verständnis, aber jetzt nicht ein
Verständnis für irgendeine allgemeine abstrakte
Definition des Rechtes, sondern ein Veständnis für
die Wirksamkeit des Rechtes im einzelnen konkreten Fall,
das ist es, was behufs eines gesunden sozialen Lebens der
Menschheit eintreten muß. Dieses Rechtsleben, dieses Leben
des politischen Staates im engeren Sinn, des zweiten Gliedes
eines gesunden sozialen Organismus, das wird es auch sein,
welches den eigentlichen Kreuzpunkt, möchte ich sagen, der
modernen sozialen Frage allein, nicht durch irgendwelche
Verwirklichungen von theoretischen Ansichten und
Prinzipien und Programmen, sondern durch das unmittelbare
Leben aus der Welt schaffen wird, nämlich den Punkt, den
ich vorhin bezeichnet habe als die Forderung des modernen
Proletariats: die Arbeitskraft des Menschen des
Warencharakters zu entkleiden.
Dazu ist allerdings
notwendig, daß man auch verstehe, ich möchte sagen,
aus dem Fundament heraus verstehe, worauf es ankommt bei dem
Anteil, den menschliche Arbeit im allgemeinen menschlichen
Leben, in der Struktur der menschlichen Gesellschaft hat.
Wiederum würde es Stunden in Anspruch nehmen, wenn ich ein
soziales Grundgesetz der menschlichen Arbeit hier im
einzelnen begründen wollte; intuitiv, glaube ich,
und instinktiv kann jeder Mensch, der das Leben nur
einigermaßen durchschaut, begreifen, was ich jetzt
aussprechen werde. Ich habe versucht, bereits im Beginne des
Jahrhunderts in einem Aufsatz, der dazumal in meiner
damals erscheinenden Zeitschrift «Luzifer-Gnosis»
über die soziale Frage erschienen ist, gerade auf dieses
fundamentale soziale Gesetz aufmerksam zu machen. Aber
man predigte damals und predigt über viele Dinge auf
diesem Gebiet auch heute noch tauben Ohren, leider. Dieses
Gesetz besteht darin, daß niemand, insofern er dem
sozialen Körper, dem sozialen Organismus angehört,
für sich selber in Wirklichkeit arbeitet. Wohlgemerkt,
insoferne der Mensch dem sozialen Organismus angehört,
arbeitet er nicht für sich selbst. Jegliche Arbeit, die
der Mensch leistet, kann niemals auf ihn zurückfallen,
auch nicht in ihrem wirklichen Erträgnis, sondern sie kann
nur für die anderen Menschen geleistet sein. Und das, was
die anderen Menschen leisten, das muß uns selbst zugute
kommen. Es ist nicht bloß ein ethisch zu fordernder
Altruismus, der in diesen Dingen lebt, sondern es ist
einfach ein soziales Gesetz. Wir können gar nicht
anders, ebensowenig wie wir unser Blut anders leiten
können, als in der Zirkulation der menschlichen
Betätigung so wirken, daß unsere Tätigkeit allen
anderen, und aller anderer Tätigkeit uns zugute kommt,
daß niemals unsere eigene Tätigkeit auf uns selbst
zurückfällt.
So paradox es klingt,
wenn Sie untersuchen, welchen wirklichen
Zirkulationsprozeß menschliche Arbeit im sozialen
Organismus macht, Sie werden finden: sie geht aus dem Menschen
heraus, sie kommt den anderen zugute, und das, was die
einen von der Arbeitskraft haben, das ist das Ergebnis der
Arbeitskraft anderer. Wie gesagt, so paradox es klingt, wahr
ist es. Man kann ebensowenig leben von seiner eigenen Arbeit im
sozialen Organismus, als man sich selber aufessen kann, um sich
zu ernähren.
Obschon im Grunde
genommen das Gesetz sehr leicht zu verstehen ist, können
Sie einwenden: Wenn ich nun aber ein Schneider bin und unter
den Kleidern, die ich für andere herstelle, auch einmal
mir selber einen Anzug mache, dann habe ich doch meine
Arbeitskraft auf mich selber angewendet! — Das ist nur
eine Täuschung, wie es überhaupt immer eine
Täuschung ist, wenn ich glaube, daß das Ergebnis
eigener Arbeit auf mich zurückfallt. Indem ich mir einen
Rock, eine Hose oder dergleichen mache, arbeite ich in Wahrheit
nicht für mich, sondern ich setze mich in die Lage, weiter
für andere zu arbeiten. Das ist das, was die menschliche
Arbeit als Funktion rein durch ein soziales Gesetz
innerhalb des sozialen Organismus hat. Wer gegen dieses
Gesetz verstößt, der arbeitet gegen den sozialen
Organismus. Deshalb arbeitet man gegen den sozialen Organismus,
wenn man weiter verwirklicht dasjenige, was sich im neueren
geschichtlichen Leben ergeben hat, daß man den
proletarischen Arbeiter von dem Erträgnis seiner
Arbeitskraft leben läßt. Denn das ist keine Wahrheit,
das ist eine durch die sozialen Verhältnismittel
kaschierte, realisierte Unwahrheit, die sich hereindrängt
als zerstörend in das Wirtschaftsleben. Das ist
dasjenige, was aber in dem Wirtschaftsleben nur geregelt werden
kann, wenn dieses Wirtschaftsleben sich selbständig
entwickelt und neben ihm relativ selbständig das
politische, das engere Staatsleben sich entwickelt, das immerzu
entreißt dem wirtschaftlichen Leben die Möglichkeit,
die menschliche Arbeit auf sich selber zu lenken. Innerhalb des
Rechtssystems wird das bewirkt im richtigen sozialen
Verständnis, daß die menschliche Arbeit diejenige
Funktion erhalte, welche sie erhalten muß
gemäß dem wahrhaftigen Verlaufe des Lebens im
sozialen Organismus. Der wirtschaftliche Organismus für
sich hat immer die Tendenz, die Arbeitskraft des Menschen zu
verbrauchen. Das Rechtsleben muß immer der
Arbeitskraft ihre naturgemäße altruistische
Stellung anweisen, und immer ist es von neuem notwendig,
durch neue konkrete demokratische Gesetzgebung das, was das
Wirtschaftsleben in Unwahrheit realisieren will, diesem
Wirtschaftsleben immer aufs neue zu entreißen, und
immer aufs neue die menschliche Arbeitskraft aus den
Fängen des Wirtschaftslebens auf dem Wege des
öffentlichen Rechtes herauszureißen. Geradeso wie
zusammenwirken müssen das bloße Verdauungssystem mit
dem Atmungs-Zirkulationsleben, indem aufgenommen wird von dem
zirkulierenden Blute das, was dem Verdauungssystem einverleibt
wird, so muß nebeneinanderwirken, aufeinanderwirken
das, was im Wirtschaftsleben vorgeht und das, was im
Rechtsleben vorgeht, sonst gedeiht das eine und das andere
nicht. Der bloße Rechtsstaat, wenn er Wirtschafter werden
will, lähmt das Wirtschaftsleben; der
Wirtschaftsorganismus, wenn er sich den Staat erobern will,
tötet das System, das Leben des öffentlichen
Rechtes.
Das ist es, was ich zu
dem in den vorigen Vorträgen Gesagten noch hinzufügen
möchte zur Begründung der Dreigliedrigkeit des
sozialen Organismus. Indem die bürgerlich leitenden Kreise
gewissermaßen den Blick wie hypnotisiert nur auf den Staat
gerichtet hatten, wurde ihnen der Staat etwas wie ein
Götze. Es wurde die Aufmerksamkeit nicht hingelenkt
auf die notwendige Differenzierung des sozialen Organismus in
die drei Glieder. Und so kam es, daß in der neueren Zeit
auch aufgesogen, absorbiert wurde von dem Staate, von dem
politischen Leben im engeren Sinne das geistige Leben. So wie
die Warenzirkulation im Wirtschaftsleben auf der Preis- und
Wertbildung beruht, so wie das Leben innerhalb des politischen
sozialen Organismus auf dem Rechtsleben beruht, so beruht
alles geistige Leben auf dem unmittelbaren Inhalt des
Produzierten. Und bedenken Sie nur, was für ein gewaltiger
Unterschied ist zwischen dem Wirtschaftsleben und dem
geistigen Leben. Im Wirtschaftsleben kommt alles darauf an,
daß die Ware zum zweckmäßigsten Verbrauch
getrieben wird. Geistige Hervorbringung, sei es auf dem Gebiete
des Erziehungs-, des Schulwesens, sei es auf dem Gebiete der
Kunst, sei es auf irgendeinem anderen eben geistigen Gebiete,
geistige Hervorbringung mit dem Begriff des Verbrauches
in Zusammenhang zu stellen ist geradezu eine
Absurdität. Man kann es nicht. Man kann nicht das, was
geistig hervorgebracht ist, in dieselbe Linie stellen wie das,
was im Wirtschaftsprozeß zirkuliert. Das ist es, was auch
bewirkt hat, daß die Aufsaugung zum Beispiel des
Schulwesens durch den Staat, des Universitätswesens durch
den Staat und ähnliches, in der modernen Entwickelung zu
einem hemmenden, auch jetzt im realen Sinne hemmenden Faktor geworden
ist. Und das ist es, was die Menschheit aufmerksam machen
muß, daß dieses Geistesleben wiederum befreit,
entfesselt werden muß. Und ich habe schon aufmerksam
darauf gemacht, daß zu diesem geistigen Gliede des
sozialen Organismus nun auch gerechnet werden muß, was
heute noch manchem nun auch paradox erscheinen wird, die
wirkliche Praxis des privaten und des strafrechtlichen
Urteilens. So sonderbar das klingt, auch da gibt es schon eine
Tendenz im modernen Leben, die nur nicht in der richtigen Weise
beurteilt wird. Was immer mehr und mehr von einer eben
verfehlten Psychologie in Anspruch genommen worden ist
für die Rechtsprechung, das ist es, was tendiert nach
einem noch nicht erkannten, aber notwendigerweise zu
erkennenden Prinzip der Einverleibung des privat- und
strafrechtlichen Wirkens in das geistige Glied, das
wiederum mit relativer Selbständigkeit dasteht, auch mit
relativer Selbständigkeit dasteht gegenüber all
dem Leben, das sich als das engere politische Leben entwikkelt,
das sich als das Leben des öffentlichen Rechtes, der
Gesetzgebung entwickelt. Gewiß, es wird in Zukunft in
einem gesunden sozialen Organismus der Verbrecher zum Beispiel
zu suchen sein von dem, was sich im zweiten Gliede, im
politischen Gliede ergibt. Wenn er aber gesucht ist, dann
wird er abgeurteilt von dem Richter, dem er in einem
individuellen menschlichen Verhältnis
gegenübersteht.
Uber diese Frage kann
auch nur der vielleicht aus der Geschichte heraus
urteilen, der wie ich, der zu Ihnen jetzt spricht, Jahre,
jahrelang beobachten konnte auf einem Territorium, wo es
wahrhaftig schwer wurde, einheitlich zu regieren, und wo man
doch, ich möchte sagen, zwangsmäßig einheitlich
staatlich regieren wollte: auf einem Territorium wie in
Österreich. Da konnte man beobachten, was es ergeben
hätte, wenn über die reinen Sprachgrenzen
hinüber freie Gerichtsbarkeit dagewesen wäre;
wenn sich trotz der Sprachgrenzen der in einem deutschen
Gebiete wohnende Böhme den benachbarten tschechischen oder
böhmischen Richter drüben, der böhmische
Bewohner wiederum seinen Richter in dem deutschen Gebiete
hätte wählen können. Man hat gesehen, wie
segensreich dieses Prinzip gewirkt hat in dem leider
Anfang gebliebenen Bestreben der verschiedenen
Schulvereine. Darinnen liegt etwas, was, ich möchte sagen,
wie ein schwerer Alpdruck heute noch immer dem, der dieses
österreichische Leben miterlebt hat, auf der Seele ruht,
daß dieses Ei des Kolumbus nicht gefunden worden ist: die
freie Wahl des Richters und das lebendige Zusammenwirken des
Klägers, des Richters und des Angeklagten, statt des
Richters aus dem zentralisierten politischen Staate
heraus, der nur maßgebend sein kann nicht für die
Rechtsprechung, sondern für das Aufsuchen und Abliefern
des Verbrechers oder dann für die Ausführung des
Urteils.
So paradox das heute
noch der Menschheit klingt, es muß einverleibt werden das
Verhältnis des Menschen zu seinem Richter in straf- und
privatrechtlicher Beziehung dem geistig
selbständigen Gliede. Schon vorgestern habe ich
darauf aufmerksam gemacht, daß nicht abhängen wird
die äußere Verwaltung, die Wahl der Personen in dem
geistigen Gliede vom Staate. Wer hineinschauen kann in die
modernen Verhältnisse, dem offenbart sich das auch,
daß das innerste Leben von Wissenschaft und Kunst und
allem Geistigen abhängig wird von dem, von dem es nicht
abhängig werden darf, wenn sich dieses geistige Glied
neben den anderen beiden Gliedern nicht in relativer
Selbständigkeit entwickeln kann. Es erscheint heute noch
vielen als etwas Paradoxes, wenn ich nun zusammenfassend
sage, jedes dieser Gebiete müsse eine gewisse
Souveränität haben, sein eigenes
Repräsentativsystem, seine eigene Gesetzgebung, die
aus seinen Verhältnissen herausgewachsen ist, die aus den
Assoziationsverhältnissen im wirtschaftlichen Gebiete
herauswachsen, also seine Verwaltung, seine Gesetzgebung
selbständig haben. In demokratischer Weise wird
herauswachsen aus der Gesamtmenschheit eines bestimmten
sozialen Gebietes für den eigentlichen politischen Staat,
in dem geregelt wird das Verhältnis des Menschen zum
Menschen, das Verhältnis zur Wirtschaft, das
Verhältnis zum geistigen Leben; ohne daß in die
beiden aber eingegriffen wird aus den Gesetzen des Staates
heraus, und aus den im geistigen Leben selbst tätigen
Kräften wird sich die Gliederung ergeben auch der
Verwaltung für das geistige Leben. In einem noch viel
höheren Grade kann aus wirklich modernem Leben
heraus das geistige Leben emanzipiert werden, in einem
höheren Grad als es in alten Zeiten der Fall war, als das
einzige geistige Leben, das für viele Menschen in Betracht
kam, im religiösen Leben bestand, aus dem heraus sich ja
auch das Schulwesen, das Universitätswesen gebildet
hat.
Gewiß war das
Eingreifen des modernen Staatswesens notwendig, um veralteten
Religionsformen und veralteten Verwaltungen das zu verweisen,
was ihnen nicht mehr zukam. Aber aus dem modernen Leben selber
heraus muß sich wiederum das selbständige
Geistesleben entwikkeln. Das ist es ja gerade, was eine
geisteswissenschaftliche Richtung, wie sie diesen sozialen
Betrachtungen hier zugrunde liegt, für sich in
Anspruch nehmen muß, was sie in Anspruch nehmen
muß aus dem Grunde, weil sie weiß, daß das
gesamte wirkliche produktive Geistesleben, auch das, was sich
zum Beispiel in technischen Erfindungen, technischen
Ideen auslebt, daß sich das nur mit wirklich der
Menschheit heilsamen Impulsen entwickeln kann, wenn es
sich aus dem lebendigen, selbständigen Geistigen
entwickelt, unabhängig von den anderen beiden
Gliedern des sozialen Organismus. Der Geist wird im Menschen
nur in der rechten Weise zur Produktivität die
Stoßkraft haben, wenn dieses geistige Leben relativ
selbständig ist. Spintisieren, theoretisieren, Dinge
ausdenken, meinetwillen auch so, wie es von einer gewissen
Richtung her in moderner Technik und Naturwissenschaft,
namentlich in ihren Methoden bewundernswert geschehen ist, auch
erfinden kann man, aber die wirkliche produktive Idee, die so
produktiv ist, daß sie dem wahren Menschheitsfortschritte
und zugleich dem wahren Menschheitsheile dient, diese Idee kann
nur geboren werden innerhalb eines auf sich selbst gestellten
Geisteslebens.
So weit ist man heute
noch entfernt von dem, was ich hier eigentlich meine und was
notwendig verstanden werden muß, wenn die soziale Frage
auf eine heilsame Grundlage gestellt werden soll, daß
manche Leute mir erwidert haben, wenn ich ihnen das
auseinandergesetzt habe: Ja, das ist ja nur in einem modernen
Sinne eine Wiedererneuerung der alten platonischen Idee von der
Dreiteilung des sozialen Körpers in die drei Stände:
Nährstand, Wehrstand, Lehrstand. — Nein, das ist
keine Erneuerung dieser alten platonischen Idee, sondern
das ist in gewisser Beziehung das radikale Gegenteil
davon, und darauf kommt es an. Denn zwischen dem, was
platonisch gedacht werden konnte als etwas Großes in
Griechenland und noch für spätere Zeiten, und
demjenigen, was heute gedacht werden muß zum Heile und zur
Gesundung des sozialen Organismus, liegt der große,
krisenhafte Menschheitseinschnitt um das 15. Jahrhundert.
Dazumal, zu platonischen Zeiten, war die Gliederung des
sozialen Organismus eine solche, daß man die Menschen nach
Ständen einteilte. Die Gliederung, von der ich hier
sprach, die gliedert nicht die Menschen, die gliedert den
sozialen Organismus; die gliedert diesen sozialen Organismus
so, daß unter Umständen ein Mensch in allen drei
Gliedern drinnen sein kann, das Entsprechende tun kann, aber
dadurch, daß der soziale Organismus gegliedert ist, ist er
nicht in der Lage, irgendwie schädlich von dem einen
Gliede in das andere hineinzuwirken, nicht einmal dann,
wenn, wie es in modernen Parlamenten vielfach geschehen ist,
derselbe Mensch meinetwillen als Landwirt zugleich in einer
staatlichen Partei drinnensteht. Heute ist es noch
möglich, daß er durch irgendwelche Assoziationen eine
Interessenvertretung inauguriert, daß in das
Rechtsleben hinein eine wirtschaftliche
Interessenvertretung kommt. Ich habe das letzte Mal ein
Beispiel angeführt, wo ein ganzer Staat in seinem
Rechtsleben von einer solchen Interessenvertretung
durchsetzt wurde. Das wird ausgeschlossen. Aber was ich als
dreigliederig bezeichne im gesunden sozialen Organismus, das
ist der vom Menschen abgesonderte soziale Organismus. Der
Mensch wird gerade dadurch selbständig, wird gerade
dadurch entkleidet des Charakters eines Sklaven des sozialen
Organismus, daß nicht Menschenklassen, Menschenschichten
als Glieder dastehen, sondern daß der soziale
Organismus selber gegliedert wird. Das weist zu gleicher
Zeit darauf hin, daß dieses Denken, das hier zugrunde
liegt, ein wahrhaft wirklichkeitsgemäßes ist,
entfernt ist von alldem, was ich vorgestern als
Schwarmgeisterei bezeichnet habe.
Diese Schwarmgeisterei
tritt ja auf bei den verschiedensten Parteien. Sie ist ebenso
in bürgerlichen Kreisen vorhanden wie auf seiten der
Sozialdemokratie. Und diese Schwarmgeisterei ergreift dann die
Menschen, wenn sie immer wieder und wiederum keine Ahnung
davon entwickeln, was der soziale Organismus als solcher
eigentlich anstreben kann, wenn er gesund ist. Immer wieder und
wiederum leidet das soziale Denken unter dem Einfluß der
Empfindung, der Idee, als ob angestrebt werden könne
unmittelbar, durch irgendwelche Programme, ein sozialer
Organismus, der das Glück der Menschheit oder die
Zufriedenheit der Menschheit oder dergleichen bedingt. Das kann
nicht unmittelbar angestrebt werden. Was unmittelbar angestrebt
werden kann, das ist ein lebensfähiger sozialer
Organismus, ein solcher, der lebendige Kräfte des Lebens
eben in sich hat. Hineingestellt in einen solchen Organismus,
lebend in einem solchen Organismus, kann erst aus ganz anderen
Untergründen heraus der Mensch sein Glück
begründen. Das hat ganz andere Untergründe. Aber
diese Untergründe, die müssen befreit werden von
ihrer Fesselung. Und sie werden nur befreit, wenn ein
lebensfähiger Organismus zugrunde liegt. So wie in einem
wirklich lebensfähigen Organismus die Seele sich
entwickeln kann, in ihm in entsprechender Weise sein kann, so
in einem lebensfähigen sozialen Organismus eine
glückliche, zufriedene, arbeitswillige und
arbeitsverständige Menschheit. Das ist es, worauf es
ankommt zur Gesundung des sozialen
Organismus.
Ein Blick auf das, was
wir in einer katastrophalen Zeit erlebt haben, kann auch, ich
möchte sagen, von einem internationalen
Gesichtspunkte her und von einem größeren
historischen Gesichtspunkte her erhärten, wie das,
was ich hier als diese drei Glieder anführe, eine
wirkliche Notwendigkeit für die gegenwärtige
Lebensform der Menschheit und die Lebensform der Menschheit
für die nächste Zukunft ist. Man möchte sagen,
bevor diese schreckliche Katastrophe, die man einen Krieg
nennt, über die Menschheit hereingebrochen ist, war die
Kulmination des Durcheinanderwürfeins und
Durcheinanderwirrens der drei Glieder, die sich differenzieren
müssen, erreicht. Und gerade dadurch, daß diese drei
Glieder nicht in relativer Selbständigkeit nebeneinander
wirken konnten, dadurch ist vieles von dem eingetreten, was in
wahrhaftigem Sinne zu dem Ausgangspunkt und den Ursachen
dieser kriegerischen Katastrophe gerechnet werden
muß. Man braucht ja nur auf Weniges hinzuweisen. Der Blick
aller Menschen war darauf gerichtet, wie von der Beziehung des
österreichischen Staates zu dem
Balkanverhältnis, namentlich zu Serbien, der Krieg
seinen Ausgangspunkt genommen hat. Wer eingeweiht war in
die österreichischen Verhältnisse seit Jahrzehnten,
der wußte zu beurteilen, wie die wirtschaftlichen
Verhältnisse, die zwischen Österreich und dem
europäischen Südosten spielten, in unnatürlicher
Weise mit den Verhältnissen verschlungen waren, die
relativ selbständig neben ihnen sich hätten
entwickeln sollen, mit den rein politischen, und wie durch
diese Verquickung, dadurch, daß nun die politischen
Verhältnisse plötzlich für sich entscheiden
sollten über etwas, was in wirtschaftlichen
Verhältnissen tief begründet war, eine realisierte
Unwahrheit entstand und explodierte.
Wie anders wäre
diese Sache geworden — ich kann dies am Schluß des
heutigen Vortrages nur andeuten — , wenn das
Verhältnis solcher Nachbarstaaten entsprechend der
Dreigliederung gewesen wäre, wenn über die Grenze
hinüber das Verhältnis ein rein politisches, auf
demokratischer Grundlage beruhend und abgesondert gewesen
wäre von den anderen Gliedern, gleich wie sonst die
Regierungsform ist. Wenn nun aber korrigierend, harmonisierend
über die Grenze hinüber selbständig die
wirtschaftlichen und geistigen Faktoren wirkten, da würde
über das System der Staaten, der sogenannten Staaten so
etwas an Interessenharmonie und an Interessenverquickung
ausgebreitet, wo immer das eine das andere korrigiert, wo nicht
das eine einseitig eine Explosion herbeiführen kann.
Gesunde Verhältnisse über die Grenzen hinüber
würden durch diese Dreiteilung im internationalen
Verhältnis der Völker
entstehen.
Und wiederum, wie hat
die internationale Menschheit den Blick gerichtet auf
Deutschland, das ja in den Kriegserklärungen, wenigstens
äußerlich, vorangegangen ist. Wer auf diesem Gebiet
eingeweiht ist, der weiß, wie das Unglück geschehen
ist. Man hat vielfach gesagt, im Juli und August, in den
verhängnisvollen Tagen, habe die Politik neben der
eigentlichen Kriegsführung, neben dem Heerwesen, versagt.
Aber Politik und Heerwesen sind da, wo beide wirken,
gleichlaufende Dinge. Die sind nicht ohne weiteres zu trennen.
Sie können nur in gesunder Weise sich entfalten, wenn sie
wirken innerhalb des einen, des staatlichen Gebildes in
einem dreigeteilten sozialen Organismus. Sonst wird
notwendigerweise die Politik, wenigstens in dem einen
Gliede, einen einheitlichen Charakter annehmen
müssen. Sie wird zu einer bestimmten Zeit entweder im
Militär oder im Nichtmilitär kulminieren. Denn was in
seiner Natur, wenn es auch verquickt ist durch
menschlichen Irrtum mit anderen Systemen, etwas Einheitliches
sein muß, das kann sich nach außen nicht, das eine
über das andere korrigierend, ergehen. In jenem
furchtbaren Angstzustande, aus dem heraus in Berlin erwachsen
ist das, was in den letzten Juli-, in den ersten Tagen des
August erwachsen ist, da hat gewirkt die Zusammendrängung
auf ein einziges System, was hätte verteilt sein sollen.
Es drängte sich zusammen unter die Verantwortung
eines einzigen Systems, was ein einziges System zum Heile der
Menschheit niemals tragen darf. Die konkreten Verhältnisse
werden es gerade dann lehren, wenn man diese Dinge einmal
vorurteilslos und unbefangen untersuchen wird. Oh,
wieviel Unsinn ist gerade mit Bezug auf Politik und
Heeresverwaltung gesagt worden! Es ist ja soviel Unsinn
gesagt worden in den letzten viereinhalb Jahren! Ich will nur
das eine ausführen: Weil in einem untrennbaren Gliede des
sozialen Organismus ruhend Politik und Strategie nur
wirken können, so kann niemals, wenn die Strategie
veranlaßt ist, nur auf sich selbst zu sehen, die Politik
diese Strategie in gesunder Weise beeinflussen. Man hat gesagt,
sich immer wieder und wiederum auf einen Clausewitzschen Satz
berufend: Die Kriegführung sei die Fortsetzung der
Politik mit anderen Mitteln. — Ich will nicht mich
kritisierend ergehen über diesen Satz, insoferne er im
Zusammenhang der ganzen kriegerischen Auseinandersetzung
steht. Aber so, wie die Herren, die immer wieder und wiederum
diesen Satz — es sind auch Damen gewesen —
angewendet haben, da hat er ungefähr ebensoviel Sinn, als
wenn man sagt: Die Scheidung ist die Fortsetzung der Ehe mit
anderen Mitteln.
Unsinn dieser Art ist
aus einem unnatürlichen Denken, das wiederum
unnatürlich in die realen Verhältnisse eingegriffen
hat, viel produziert worden. Wenn man einmal die Dinge
unbefangen durchschaut, wird man sehen, wie alles anders
verlaufen wäre. Selbstverständlich ist das, was
geschehen ist, historisch notwendig, und das, was ausgesprochen
werden soll, soll als der Impuls für die Zukunft gelten,
aber hypothetisch kann man doch sagen, wie alles anders
verlaufen wäre, wenn die Struktur der europäischen
internationalen Verhältnisse aufgebaut gewesen
wäre unter dem Einfluß der sozialen Dreigliederung.
Man wird sagen: Das, was gekommen ist, ist durch die
Bündnisverhältnisse gekommen. Aber diese
Bündnisverhältnisse hätten unter dem
Einfluß der sozialen Dreigliederung niemals eintreten
können. Das Ende solcher Bündnisbildungen wie
diejenigen waren, welche zu dem Unglücke der letzten
viereinhalb Jahre geführt haben, ist dann da, wenn die
Menschen sich orientieren im Sinne der Dreigliederung des
gesunden sozialen Organismus.
Das, was ich hier
auseinandersetze, es ist durchaus im realen Sinne
gedacht, es ist aus der Wirklichkeit heraus gedacht.
Deshalb habe ich auch immer gesagt, wenn ich mich damals
bemüht habe während dieser Schreckensjahre, an
autoritativer Stelle in entsprechender Weise für die
damalige Zeit auf die Dreigliederung hinzuweisen: Dasjenige,
was real ist, ändert sich von Tag zu Tag, und es
könnte selbstverständlich sein, daß, wenn die
Verhältnisse sich wieder geändert haben, ich
über diese Dinge anders sprechen müßte. Ich
sagte zu den Leuten: Was hier vorgelegt wird, ist nicht
ein Programm, ist nicht ein Ideal, es entspringt der
Beobachtung dessen, was sich in den nächsten zehn, zwanzig
Jahren in Mittel- und Osteuropa verwirklichen will,
überhaupt in Europa. Sie haben die Wahl, entweder Vernunft
anzuwenden heute, oder entgegenzugehen Revolutionen und
Kataklysmen.
Es hat schon begonnen
und es wird sich in noch anderer Weise zeigen. Heute aber
möchte ich wiederholen, was ich auch noch nach anderer
Hinsicht bei diesen Gelegenheiten gesagt habe. Gesagt habe ich
immer: Wer ein Utopist, ein Theoretiker ist, der nicht aus der
Wirklichkeit heraus denkt, sondern aus gewissen
abstrakten Forderungen oder aus Parteiimpulsen heraus,
der hat ein Interesse daran, daß das, was er wie ein
Programm oder dergleichen gibt, auch wirklich so
ausgeführt werde, wie er es im einzelnen gibt. Mir kommt
es bei diesen Dingen, die ich zu vertreten habe, darauf nicht
an — so sprach ich dazumal. Es könnte sein —
sagte ich, und das sage ich auch heute noch daß von der
Formulierung dessen, was ich vertrete, kein Stein auf dem
anderen bleibt. Denn nicht darauf kommt es an, daß
irgendwelche ausgedachten Dinge realisiert werden, sondern
daß die Wirklichkeit an einem Punkte angepackt werde. Dann
wird man finden, indem man sie anpackt, wie es
weiterzugehen hat. Es könnte sich in weiteren
Ausführungen herausstellen, daß alle Formulierungen
anders werden müßten. Darauf kommt es nicht an, wenn
man kein Utopist, kein Schwarmgeist ist, daß die Dinge
wörtlich ausgeführt werden, sondern daß an einer
Stelle wirklich angefangen werde. Und auf eine solche Stelle,
wo angefangen werden muß, wollte ich hinweisen und will
ich auch heute noch hinweisen, bevor es ganz zu spät wird,
bevor die menschlichen Instinkte so weit entfesselt sind,
daß eine Verständigung unter den Menschen, vielleicht
auf Jahrzehnte hinaus, nicht mehr möglich sein
würde.
Daher — lassen
Sie mich das zum Schlusse noch aussprechen, obwohl es nicht im
engeren Sinne zu meinem Vortrage gehört — denke ich
auch, daß heute derjenige, der mit der sozialen Frage
irgendwie mit seiner Seele verknüpft ist, nicht nur die
Aufgabe hat, die Dinge auszusprechen, sondern alle Mittel
anzuwenden, um sie zum Verständnis der Mitwelt zu bringen.
Denn das ist ja das, was wir als erstes tun können:
gegenseitiges soziales Verständnis hervorrufen. Vieles ist
verdorben worden, verdorben worden auf den
verschiedensten Gebieten der Welt dadurch, daß ein
kurzmaschiges Denken, wie ich es hier neulich charakterisiert
habe, hinausgerufen worden ist in die Welt, daß
nicht zur rechten Zeit an das Rechte gedacht worden ist.
Deshalb muß ich es mit einer gewissen Befriedigung
begrüßen, daß es möglich geworden ist,
immerhin aus den schwierigen Verhältnissen der Gegenwart
heraus möglich geworden ist, auch mit Bezug auf praktische
Auswirkung der hier vorgetragenen Ideen, in
verhältnismäßig kurzer Zeit einiges zu
erreichen. Solche Persönlichkeiten, bei denen in
gewisser Weise, wenn ich so sagen darf, Feuer gefangen hat das,
was hier als Wirklichkeitsansicht von der sozialen Frage
entwickelt worden ist, sie haben sich darauf eingelassen, dahin
zu wirken, daß wenigstens auf diesem Gebiete, auf dem
heute das Unglück der große Lehrer sein kann,
ein Verständnis für diese Dinge eintrete.
Allerdings möchte ich es als ein besonderes Glück
bezeichnen, wenn hier auf schweizerischem Gebiete, wo
verhältnismäßig noch Gelegenheit zu
ruhiger Objektivität ist, gerade wegen der
Möglichkeit dieser ruhigen Objektivität auch tieferes
Verständnis eintreten könnte, dahingehend,
daß man die Notwendigkeit einsieht, daß zum
gegenseitigen sozialen Verständnis der Menschheit in dem
in diesen vier Vorträgen angedeuteten Sinne etwas
getan werden soll. Immerhin, unter den Schmerzen und in die
Schmerzen hinein, die man über den Verlauf so mancher
Ereignisse und über das Schicksal so mancher Glieder der
Menschheit heute haben kann, kann es mit einer gewissen
Befriedigung erfüllen, daß das Unglück manche
Menschen doch etwas gelehrt hat. So konnte es geschehen —
gestatten Sie, daß ich das anführe, weil es
immerhin doch bedeutsam sein kann, wenn man nicht
bloß abstrakt, sondern konkret über die soziale Frage
handeln will — , daß ein Aufruf, dem ich einverleibt
habe das, was ich hier ausführlich vertreten habe, in
kurzen Sätzen, daß ein Aufruf, der eigentlich
bestimmt ist zur Wirkung in alle Welt, doch bis jetzt Eingang
gefunden hat in die Herzen derjenigen, die in Deutschland und
Deutsch-Österreich schwer geprüft sind durch das
Unglück und durch das Unglück einigermaßen
belehrt sind. Ich habe in diesem Aufruf gerade
auseinanderzusetzen versucht, wie das Deutsche Reich, als es
gegründet worden ist, mit seiner Gründung in
diejenige Zeit hineinfiel, wo die
Entwickelungsmöglichkeiten der neueren Menschheit von
einer solchen Neugründung im eminentesten Sinne ein
Hingehen zu neuen sozialen Aufgaben verlangt hätten.
Kleinen Dingen hat man sich sogar in umfassender Weise
hingegeben; allein gerade das, was diesem Reiche obgelegen
hätte, seinem Rahmen einen entsprechenden Inhalt zu
geben aus den Entwickelungskräften der modernen Menschheit
heraus, die nun einmal nach dieser Dreigliederung
hingehen, das hat man nicht sehen können. Und davon
ist es gekommen, daß sich die übrige Welt so zu
diesem Mitteleuropa stellte. Wie konnte die übrige Welt
verstehen die Berechtigung dieser besonderen
Reichsgründung, wenn nicht aus dieser
Reichsgründung etwas hervorging, was unwiderstehlich
sein Recht innerhalb des internationalen
Menschheitsprozesses darwies!
Deshalb habe ich
geglaubt, als ein rechtes, wenn ich jetzt sagen darf, Programm
— aber Sie wissen aus dem Vorangegangenen: es ist kein
Programm, es ist eine Wirklichkeit — , deshalb habe
ich geglaubt, formulieren zu dürfen in einem Aufruf
an die Menschheit eine Aufgabe, die nunmehr erwachsen
könnte der europäischen Menschheit, die ja vor der
Notwendigkeit eines Neuaufbaues steht. Und immerhin konnte man
mit Befriedigung erleben, daß bis gestern Mittag dieser
Aufruf schon mehr Unterschriften in Deutschland gefunden hat,
als der einstige Aufruf der neunundneunzig
Intellektuellen unglückseligen Angedenkens, daß
über hundert Unterschriften für diesen Aufruf aus
Deutschland und bis gestern Mittag über siebzig
Unterschriften aus Deutsch-Österreich für diesen
Aufruf vorhanden sind. Ich erwähne das, weil ich aus der
Realität heraus reden möchte und dadurch aufmerksam
darauf machen möchte, daß ich nun mit dem, was ich
glaube, daß notwendig ist im sozialen
Fortentwickelungsprozeß, doch nicht mehr ganz allein
dastehe, auch wenn es darauf ankommt, dies geltend zu machen
für das gegenseitige soziale Verhältnis der
Menschen untereinander.
Und so wird weiter
gewirkt werden müssen zunächst auf dem Wege einer
wirklichen sozialen Aufklärung. Denn die ist das
nächste. Die Menschheit steht einmal heute in bezug auf
einen großen Teil der zivilisierten Welt vor der
Notwendigkeit, dem sozialen Problem sich Auge in Auge
gegenüberzustellen. Sie wird dabei ein Problem lösen
müssen — lassen Sie mich das zum Schlusse
aussprechen das ihr im höchsten Grade den Denkgewohnheiten
gegenüber unbequem ist. Viele Menschen wollen noch
zugeben, daß man eine Umwandelung der Einrichtungen,
eine Umwandelung auch der sozialen Struktur notwendig habe. Hat
aber nicht der ganze Geist der Vorträge, von dem ich mir
erlaubte hier zu sprechen, hat nicht dieser ganze Geist
nachgewiesen, daß noch ein anderes notwendig ist? Wenn
marxistisch gebildete proletarische Führer immer wieder
und wiederum betonen, daß das marxistische Wort wahr ist:
Die Philosophen haben die Welt interpretiert, erklärt; es
handelt sich aber darum, die Welt nach Gedanken nicht nur zu
erklären, sondern umzugestalten — , so ist das
trotzdem den heutigen einschneidenden Zeitforderungen
gegenüber nicht nur eine Halbheit, vielleicht nicht einmal
eine Viertelheit. Das, was notwendig ist, das ist, daß man
nicht nur die Gedanken anwenden soll auf irgendwelche
Umwandelung von Einrichtungen, von sozialen Strukturen, sondern
daß es sogar notwendig ist, die Gedanken selber
umzuwandeln. Nur aus neuen, nur aus umgewandelten Gedanken wird
ein gesunder sozialer Organismus sich entwickeln können.
Einrichtungen, das lassen sich die Menschen noch leicht
gefallen; umzudenken, das lassen sie sich weniger gefallen. Das
aber ist notwendig. Und ehe man das nicht einsehen wird, wird
man nicht sich orientieren und nicht mitwirken können an
der Gesundung des sozialen Organismus.
Lange Zeit hat gepocht
an das Tor der wichtigsten menschlichen Erwägungen
und Entschlüsse die soziale Frage. Jetzt ist sie
eingedrungen in das Haus der Menschheit. Sie kann nicht wieder
hinausgeworfen werden, denn sie ist in gewisser Beziehung
der Menschheitsentwickelung gegenüber eine Zauberin. Sie
wirkt nicht nur auf das Äußere des
Menschheitsgefüges, sie wirkt so, daß die Menschen
vor der Notwendigkeit stehen, entweder umzudenken oder zu
dem schon vorhandenen Unglück ein immer vermehrteres
Unglück zu fügen.
Damit deutet man an,
was notwendig ist, was notwendig realisiert werden muß,
wenn es nicht zu spät werden soll in der Beziehung,
daß die Instinkte, wie ich schon sagte, Formen annehmen,
so daß eine Verständigung zwischen den
verschiedenen Menschenklassen nicht mehr möglich sein
werde. Nur dann gehen wir der Gesundung des sozialen
Organismus entgegen, wenn wir das Neue, das wir erwarten,
wenn wir das Gesundende, das wir erhoffen, nicht begründen
wollen auf die alten Gedanken, sondern wenn wir uns
kühn und kraftvoll entschließen, zur Fortentwickelung
der Menschheit unsere Kraft zu wenden an neue Gedanken;
denn aus neuen Gedanken wird allein erblühen die
Lebensmöglichkeit von neuen Generationen. So wird
man denken müssen, daß die soziale Frage
heraufgekommen ist, daß sie entwachsen ist den
Bedingungen des modernen Lebens. Aber man wird falsch
denken, wenn man glauben wird, man könne sie irgendwie
momentan lösen. Der Sozialismus ist nicht etwas, was
eine Lösung oder ein Lösungsversuch ist, nein, das
moderne Leben und das Leben der Menschheit in die Zukunft
hinein hat die soziale Frage heraufgebracht. Sie wird immer da
sein. Im lebenden sozialen Organismus wird sie immer
gelöst werden müssen. Darin wird ein Teil, ein
Stück des Lebens der zukünftigen Menschheit
bestehen müssen, daß in jeder Generation aufs
neue diese Frage gelöst werden muß, aus neuen
Formen gelöst werden muß, diese Frage, die einmal
heraufgezogen ist, mahnend und erschütternd das ganze
Gefüge des menschlichen Denkens und Wollens, die soziale
Frage. Wenden wir uns ihr zu mit unserem ganzen Herzen, mit
unserer ganzen Seele, sonst wird sie sich uns zuwenden, dann
aber allerdings nicht zu unserem Heil, sondern zu unserem
Unheil.