WELCHEN SINN
HAT DIE ARBEIT
DES MODERNEN
PROLETARIERS?
Öffentlicher
Vortrag,
Zürich, 8.
März 1919
Als der heutige
Vortrag angekündigt worden ist, wird mancher
vielleicht die Frage gestellt haben: Von welcher Seite
kommt dasjenige, was da geredet werden soll? — Und nach
der einen oder anderen Erkundung wird man vielleicht die
Meinung haben, daß nun auch wieder geredet werden soll von
derjenigen Verständigung, welche heute diejenigen so stark
herbeisehnen, welche im Laufe längerer Zeiten
herbeigeführt haben das heutige kapitalistische Meer der
sozialen Verwirrung, indem sie bemerken, daß ihnen das
Wasser bis an den Mund reicht und sie nicht mehr imstande sind,
in diesem Meere zu schwimmen. Sie suchen nach dem einen oder
anderen Rettungskahn; sie werden solche
Rettungskähne aus den Voraussetzungen, die sie
gewöhnlich machen, aber nicht finden. Denn von einer
solchen Verständigung möchte ich Ihnen heute abend
nicht sprechen. Mir scheint, daß in der Zeit, in der wir
leben, ganz andere Dinge notwendig sind. Denn sehen wir uns an,
was eigentlich geworden ist und was sich auslebt in den
gegenwärtigen Zuständen, die für manchen, der
gerade eine solche Verständigung sucht, so
schreckhaft sind.
Dasjenige, was man
heute «die soziale Frage» nennt, ist ja keineswegs
gestern erst entstanden. Es ist in der Art, in der man heute
davon spricht, mehr als ein halbes Jahrhundert alt. Aber was
eigentlich geführt hat zu dieser sozialen Frage, das ist
viel, viel älter; es ist dasjenige, was
heraufgeführt hat die ganze Entwickelung der neueren
Zeit, der letzten Jahrhunderte. Und wenn wir uns
anschauen, wozu es die Entwickelung der letzten Jahrhunderte
gebracht hat, so können wir das kurz etwa in die folgenden
Worte zusammenfassen.
Da war eine Anzahl von
Menschen, denjenigen Menschen, die man vielleicht am besten
dadurch bezeichnet, daß man sagt, es sind
diejenigen, die gelebt haben von der kapitalistischen
Wirtschaftsordnung und die sich in der kapitalistischen
Wirtschaftsordnung wohlgefühlt haben. Man konnte von
diesen Leuten wahrhaftig oft genug hören, wie weit wir es
in der Zivilisation gebracht haben. Man konnte hören, was
hervorgebracht worden ist dadurch, daß die
Menschheit in die Lage gekommen ist, nicht nur über
weite Entfernungen einzelner Länder, einzelner
Kontinente, sondern über Weltmeere hin sich schnell zu
verständigen; wie weit man dadurch gekommen ist,
daß sich eine gewisse Bildung ausgebreitet hat,
daß die Menschen teilnehmen konnten an dem, was man das
geistige Leben nannte und von dem man sich vorstellte, daß
es zu einer ganz besonderen Höhe in unserer Zeit gekommen
sei.
Nun, ich brauche Ihnen
nicht zu schildern, was alles nach dieser Richtung hin geredet
worden ist an Lobsprüchen über unsere moderne
Zivilisation. Aber diese moderne Zivilisation, sie
breitete sich aus über einem Untergrunde. Sie war ohne
diesen Untergrund gar nicht denkbar; sie lebte von diesem
Untergrund. Und was war in diesem Untergrunde? In diesem
Untergrunde waren immer mehr und mehr Menschen von derjenigen
Art, die aus ihrem tiefsten seelischen Empfinden den Ruf
ertönen lassen mußten: Gibt uns das, was dieses
moderne Leben gebracht hat, ein menschenwürdiges Dasein?
Wozu hat uns diese moderne Zivilisation verurteilt?
— Und so spaltete sich diese moderne Menschheit immer
mehr und mehr in zwei Glieder: in die einen, welche sich in
einer gewissen Weise wohlfühlten oder wenigstens
befriedigt fühlten in dieser modernen Zivilisation,
die sich aber nur befriedigt fühlen konnten aus dem
Grunde, weil die anderen im Untergrunde ihre Arbeitskraft
hingeben mußten für eine gesellschaftliche Ordnung,
an welcher sie im Grunde genommen doch keinen Anteil haben
konnten.
Mit diesem ganzen
Hergang der Sache entwickelte sich allerdings noch etwas
anderes. Es entwickelte sich das, daß gerade die
Träger der sogenannten Zivilisation nicht mehr die alten
patriarchalischen Zustände mit den zahlreichen
Analphabeten fortsetzen konnten. Es entwickelte sich das,
daß die von dem Kapitalismus getragenen Menschen
wenigstens einen Teil des Proletariats, der ihnen diente,
gebildet machen mußten. Und aus der Bildung des
Proletariats entwickelte sich etwas, was sich jetzt in so
schreckhaften, aber für den, der die Geschichte versteht,
nur allzu notwendigen Tatsachen zum Ausdrucke bringt: Das
entwickelte sich, daß vor allen Dingen eine ganz
große Anzahl von Menschen, die eben die Unterlage bilden
mußten für diese moderne Zivilisation, nunmehr nachdenken
konnten über ihre Lage, daß sie sich nicht mehr
instinktiv hinzugeben brauchten, daß sie die Frage in
intensivster Art stellen konnten: Haben wir ein
menschenwürdiges Dasein? Wie können wir zu einem
menschenwürdigen Dasein kommen?
Diejenigen, die bisher
die führende Klasse der Menschen waren, haben im Hergange
des modernen Wirtschaftslebens dieses Wirtschaftsleben,
soweit es ihnen genehm war, in Verbindung gebracht mit dem
modernen Staate. Von diesem modernen Staate konnte, wenigstens
in einem gewissen Maße, das moderne Proletariat nicht
ausgeschlossen werden unter dem Einflüsse der neueren
Zeit. Und so kam es, daß das Proletariat auf der einen
Seite innerhalb des Wirtschaftslebens aus seiner Lage
herausstrebte, ein menschenwürdiges Dasein anstrebte, auf
der anderen Seite aber mit Hilfe des modernen Staates
sein Recht zu erkämpfen versuchte.
Man kann nicht sagen
— die Tatsachen der Gegenwart lehren es — , daß
auf beiden Wegen wenig noch erreicht worden ist. Auf dem Wege
des gewerkschaftlichen Lebens hat die moderne
Arbeitergesellschaft innerhalb des Wirtschaftskreislaufes
manches zu erreichen versucht: es waren Brocken von dem, was
eigentlich der Inhalt eines menschenwürdigen Daseins
innerhalb einer gesunden Wirtschaftsordnung sein muß. Auf
dem Wege des staatlichen Lebens ist das erreicht worden. Allein
dem weiteren stand entgegen die wirtschaftliche und politische
Gewalt der bisher führenden Klasse der Menschheit. Und so
kann man sagen, trotzdem manches erreicht worden ist auf
diesen beiden Wegen, steht heute das moderne Proletariat nicht
weniger vor der Frage: Welchen Sinn hat denn eigentlich meine
Arbeit mit Bezug auf dasjenige, was jeder Mensch in der Welt
als seine Menschenwürde in Anspruch nehmen
muß?
Demjenigen
gegenüber, was durch lange Jahrzehnte das Proletariat in
den verschiedensten Formen diesem führenden, leitenden
Kreise zugerufen hat: So geht es nicht weiter! —
demgegenüber wurde kaum irgendein
verständnisvolles Wort hörbar. Und diejenigen Worte,
die hörbar wurden, die standen eigentlich in einem
merkwürdigen Verhältnisse zu dem, was eigentlich aus
dem Geiste der Zeit heraus hätte angestrebt werden
sollen. Hörten wir es nicht, wie von allen möglichen
Seiten — von christlich-sozialer Seite, von
bürgerlich-sozialistisch Strebenden — das oder jenes
gesprochen wurde, was abhelfen könnte den Gefahren, die
man glaubte heraufziehen zu sehen? War es mehr, im Grunde
genommen, als salbungsvolle Phrase, die aus den
verschiedenen, aus den Überlieferungen kommenden
religiösen, sittlichen und so weiter Vorurteilen heraus
erwuchsen dieser leitenden, bisher führenden
Klasse?
Sie empfanden es
nicht, diese führenden Kreise; aber eine andere Seite der
Menschheit empfand es. Derjenige, der seine Richtung empfand
von etwas ganz anderem als leeren Redensarten, derjenige, der
seine Richtung empfand aus dem Bewußtsein der Klasse
heraus, die in die besondere soziale Lage gebracht wurde,
die Unterlage zu sein für diese moderne Zivilisation. Und
so bildete sich, trotzdem ja auf der anderen Seite durch
gewerkschaftliches, genossenschaftliches und auch
politisches Leben manches geleistet wurde, noch etwas
anderes heraus, etwas, was wichtiger noch ist, was eine Arbeit
des modernen Proletariats ist, die voll von Keimen für die
Zukunft ist, und von der auch die Tatsachen der Gegenwart in
reichlichem Maße getragen werden: Das bildete sich heraus,
daß, während die bisher führende Klasse ihrer
Luxusbildung nachging, die einzig nur genährt und
gekräftigt werden konnte von dem Kapitalismus, das
Proletariat in den Zeiten, die ihm übrigblieben, in
seinen Versammlungen nach einer im wahrsten Sinne des
Wortes modernen Bildung ausging, ausging nach einem
Geistesleben. Das war es, was die bisher führende Klasse
der Menschheit nicht sehen wollte, daß durch Tausende und
aber Tausende von Proletarierseelen hindurch eine ganz neue
Bildung, eine ganz neue Anschauung über den Menschen sich
entwickelte.
Es war in der Natur
der Sache begründet, daß diese proletarische
Bildung zunächst ausging von der Betrachtung des
Wirtschaftslebens. Denn an die Maschine hatte das moderne Leben
den Proletarier geschmiedet. In die Fabrik hatte sie ihn
gedrängt, in den Kapitalismus hatte sie ihn eingespannt.
Da heraus holte er seine Begriffe. Aber diese Begriffe —
ich will nur darauf aufmerksam machen, wie intensiv alles
dasjenige, was mit dem Marxismus zusammenhängt,
verständnisvoll einschlug in die Proletarierseelen
diese Bildung war eine solche, die wenig,
wahrhaftig
recht wenig Widerhall fand bei der leitenden, der bisher
führenden Klasse der Menschheit.
Ist es nicht
charakteristisch, daß derjenige, der die Dinge kennt,
heute sagen muß: Unter den führenden proletarischen
Persönlichkeiten, unter denjenigen, die wirklich verstehen
mit dem Proletariat, nicht bloß über das Proletariat
zu denken, unter denjenigen Persönlichkeiten, die
aufgenommen haben, was an wirklich fruchtbarer Bildung
über das Wirtschaftsleben heute aufgenommen werden konnte,
unter denen lebt wahrhaftig heute eine gründlichere,
wenigstens lebensgründlichere Kenntnis desjenigen, was im
sozialen Organismus spielt, als selbst unter den Gebildetsten
der Gebildeten, selbst unter den über Soziologie
nachdenkenden Professoren, Universitätsprofessoren.
Denn es ist charakteristisch, daß sich diese Kreise,
deren Beruf es sozusagen war, sich mit Soziologie, mit der
Nationalökonomie zu befassen, gesträubt haben so
lange als möglich gegen alles dasjenige, was hervorging
aus dem Verständnis für das moderne
Proletariat. Und erst als die Tatsachen drängten,
als die Tatsachen gar nichts anderes mehr zuließen, haben
sich einige von diesen Bürgerlich-Führenden
herbeigelassen, mancherlei marxistische oder ähnliche
Begriffe in ihr nationalökonomisches System
aufzunehmen.
Daß diese Arbeit
von dem modernen Proletariat geleistet worden ist, ich
möchte sagen, ganz im Verborgenen für die
führenden, leitenden Kreise geleistet worden ist, das
behaupte ich hier nicht aus einer grauen Theorie heraus; das
behaupte ich, weil ich mitansehen konnte, wie diese Arbeit
gezimmert worden ist. Ich konnte jahrelang in Berlin Lehrer an
jener Arbeiterbildungsschule sein, die
Wilhelm
Liebknecht, der alte Liebknecht noch begründet hatte. Und
teilweise in dieser Schule, teilweise in dem, was sich daran
schloß, hatte man einen guten Ausschnitt von alldem,
was da gearbeitet worden ist, um eine neue Zeit
heraufzuführen aus einem entwickelten proletarischen
Menschheitsbewußtsein heraus. Das hätten längst
alle diejenigen überlegen sollen, die in
oberflächlicher Art diese moderne proletarische Bewegung
nur wie eine bloße Lohn- und Brotfrage behandeln, die
nicht verstehen, sie zu behandeln als eine Frage des
menschenwürdigen Daseins aller Menschen.
Demgegenüber ist
es wahrhaftig nicht sehr bedeutsam, wenn heute hingewiesen wird
darauf, wie innerhalb der Tatsachenwelt, die sich aus dem
sozialen Chaos heraus ergeben hat, Schreckhaftes, zuweilen
Grausames geschieht. Derjenige, der die Dinge recht
versteht, wie sie sich entwickelt haben, der frägt nicht
nach dem Zusammenhange dieser Grausamkeiten oder des
Schreckhaften mit der modernen proletarischen Bewegung, sondern
der ist sich klar darüber, daß die bisher
führenden Klassen es sind, welche das hervorgebracht
haben, was heute geschieht.
Der weltgeschichtliche
Augenblick, der ist erst eingetreten, indem das Proletariat
beginnt, für die weltgeschichtlichen Ereignisse eine
Verantwortung zu tragen. Bis in die furchtbare und in
vieler Beziehung auch irrsinnige Katastrophe des sogenannten
Weltkriegs hinein ist dasjenige verantwortlich, was aus dem
Kapitalismus, aus der kapitalistischen Wirtschaftsordnung im
Laufe der neueren Zeit und insbesondere der neuesten Zeit sich
ergeben hat.
Was sehen wir aber nun
im Mittelpunkte all desjenigen stehen, was proletarische
Bewegung, was proletarische Sehnsucht, ja, was proletarische
Forderung ist? Im Mittelpunkt dessen sehen wir stehen, was der
Proletarier empfinden mußte gegenüber dem, was er im
Grunde genommen herbeiführt und was durch die
moderne Wirtschaftsordnung allein dem sozialen Organismus
gegeben werden kann; denn die bisher leitenden
Kulturkreise interessierten sich im Grunde genommen beim
Proletarier nur für dieses einzige, und dieses
einzige ist die Arbeitskraft des Proletariers. Man muß
wissen, wie gerade eingeschlagen haben die
Betrachtungen Karl Marx'
und derjenigen, die in
seinen Bahnen gegangen sind, in das moderne Proletariat, aus
dem Grunde, weil in diesem modernen Proletariat die Empfindung
da war: Vor allen Dingen muß Klarheit geschaffen werden
mit Bezug auf die Art und Weise, wie menschliche Arbeitskraft
einfließen darf in den sozialen
Organismus.
Nun, es ist oftmals
gesagt worden und es hat in weitesten Kreisen
eingeleuchtet: durch die moderne Wirtschaftsordnung ist
die Arbeitskraft geworden zu einer Ware unter anderen Waren.
Das ist ja das Eigentümliche des Wirtschaftslebens,
daß es besteht in Warenproduktion, Warenzirkulation
und Warenkonsumtion. Aber das ist eingetreten, daß zu
einer Ware gemacht wurde die Arbeitskraft des modernen
Proletariers.
Von dieser Seite her
ist im Grunde genommen innerhalb des Proletariats alles
gesagt worden. Nur wird die Frage gewöhnlich doch nur nach
einer Seite hin gelenkt, so daß sie nicht völlig in
dem Lichte erscheint, durch das man eigentlich Einblicke
gewinnt in die Stellung der menschlichen Arbeitskraft im
gesunden sozialen Organismus. Da muß eine Frage
aufgeworfen werden, die sich allerdings aus der
marxistischen Frage ergibt, die aber in einer noch
präziseren, in einer noch intensiveren Weise aufgeworfen
werden muß. Gefragt werden muß: Kann überhaupt
menschliche Arbeitskraft jemals wirkliche Ware
sein?
Dadurch wird die Frage
auf ein ganz anderes Geleise noch geleitet. Man wird in der Tat
fragen: Wie kann gerechtfertigterweise menschliche
Arbeitskraft entlohnt werden? Wie kann menschliche Arbeitskraft
überhaupt zu ihrem Rechte kommen? Und man kann dabei doch
die Voraussetzung haben: es muß schon so sein, daß
die menschliche Arbeitskraft Lohn
empfängt.
Lohn ist aber in
gewissen Zusammenhängen nichts anderes, als
lediglich das Kaufgeld für die Ware
«Arbeitskraft». Aber Arbeitskraft kann niemals eine
Ware sein! Und wo im Wirtschaftsprozeß Arbeitskraft zur
Ware gemacht wird, ist dieser Wirtschaftsprozeß Lüge.
Denn es wird in die Wirklichkeit etwas hineingeworfen, was
niemals ein wahrer Bestandteil dieser Wirklichkeit sein
kann. Menschliche Arbeitskraft kann aus dem Grunde keine Ware
sein, weil sie den Charakter, den notwendig jede Ware haben
muß, nicht haben kann. Im Wirtschaftsprozeß muß
jede Ware in die Möglichkeit versetzt sein, an Wert mit
einer anderen Ware verglichen zu werden. Die Vergleichbarkeit
ist die Grundbedingung für das Ware-Sein von etwas.
Menschliche Arbeitskraft aber kann niemals mit irgendeinem
Warenprodukte in bezug auf den Wert verglichen
werden.
Es wäre
eigentlich furchtbar einfach, wenn man nur nicht heute
verlernt hätte, einfach zu denken. Man denke nur
daran, wenn meinetwillen in einer Familie zehn Leute
zusammenarbeiten, jeder seinen Teil arbeitet, wie man den
Arbeitsteil eines einzelnen aus diesen zehn vergleichen kann
mit den Leistungen, die diese zehn hervorbringen. Man hat gar
nicht die Möglichkeit, mit den Warenleistungen die
Arbeitskraft zu vergleichen. Die Arbeitskraft steht auf
einem ganz anderen Boden des sozialen Beurteilens als die Ware.
Das ist es, was vielleicht in der neueren
Zeit nicht deutlich
ausgesprochen worden ist, was aber lebt in den
Empfindungen des modernen Proletariats.
Was lebt in den
Forderungen des modernen Proletariats? Das, was lebt in den
Empfindungen des modernen Proletariats, das ist
tatsächliche Kritik, das ist die weltgeschichtliche
Kritik, die einfach in dem Leben des modernen Proletariers
liegt und die entgegengeschleudert wird allem, was von den
bisher leitenden Kreisen als soziale Ordnung
heraufgefördert worden ist. Dieses moderne Proletariat ist
nichts anderes als eine weltgeschichtliche Kritik selber.
Gerade der Erkenntnis, daß Arbeitskraft niemals Ware sein
kann, verdankt die Empfindung, die Grundempfindung ihr Dasein,
daß gelebt wird in der neueren Zeit in einer gewaltigen,
in einer umfassenden Lebenslüge; denn gekauft wird
Arbeitskraft, die ihrem Wesen nach niemals gekauft werden
kann.
Daß dem Abhilfe
geschaffen werden müsse, davon ist, wie es ja jedem
Einsichtigen heute selbstverständlich sein muß, der
moderne Proletarier überzeugt. Aber er ist hineingetrieben
worden in dasjenige, was nicht er, was die bisher
führenden Klassen aus dem sozialen Organismus
gemacht haben. Er ist aus allem übrigen
herausgestellt worden und nur hineingespannt worden in den
Wirtschaftsprozeß. Sollte es da nicht
erklärlich sein, daß er nun durch eine
bloße Gesundung dieses Wirtschaftsprozesses, des
Kreislaufes des Wirtschaftslebens selbst, auch die Gesundung
des ganzen sozialen Organismus herbeiführen will? Daraus
sind die Ideale entstanden, dergestalt, wie sie als Ideale des
modernen Proletariats bisher leben.
Gesagt worden ist:
Dadurch, daß der Kapitalismus als privater
Kapitalismus durch den privaten Gebrauch der
Produktionsmittel die moderne Produktion zu einer
Warenproduktion gemacht hat, dadurch sei das moderne
Proletariat in die Lage gekommen, die es nur selbst ganz
empfinden kann. Dem kann nur abgeholfen werden dadurch,
daß zurückgegriffen werde zu dem, was die
uralte Idee der Genossenschaft ist, zu jener Genossenschaft,
die gewissermaßen von dem Produzieren des einen für
den anderen ausgeht und hinarbeitet zur Selbstproduktion, in
welcher nicht mehr der eine den anderen übervorteilen
kann, aus dem Grunde, weil er dann selbst übervorteilt
würde. Und weiter ist gesagt worden: Wie soll diese
Genossenschaft, diese große Genossenschaft begründet
werden? Da müsse man seine Zuflucht nehmen eben zu dem
Rahmen, der sich im Laufe der neueren Zeit herausgebildet hat:
zu dem modernen Staate. Den modernen Staat selber müsse
man zu einer großen Genossenschaft machen, durch
welche gewissermaßen die Warenproduktion
übergeführt wird in Produktionen für den
Selbstbedarf.
Da ist es gerade, wo
man den Punkt ergreifen muß, auf dem man sagen kann: Man
findet das Gesunde gerade in dem Geistesleben des
modernen Proletariats auf der einen Seite, und man findet
zu gleicher Zeit dasjenige, wo dieses Geistesleben des
modernen Proletariats entwickelungsfähig ist, wo es von
der Stufe, die es bis jetzt beschritten hat, zu einer anderen
Stufe noch fortschreiten kann.
Es sollte wahrhaftig
von demjenigen, der anderer Meinung ist auf diesem
Gebiete, nicht übelgenommen werden, wenn man aus ebenso
aufrichtigen und ehrlichen Empfindungen heraus, wie er
sie selber hegt, noch nicht gewissermaßen die Vollendung
sieht in der gegenwärtigen proletarischen Weltanschauung,
sondern wenn man gerade genötigt ist, darauf hinzuweisen,
daß diese proletarische Weltanschauung in sich die Keime
zu einem Fortschritt trägt, daß dieser Fortschritt
aber auch wirklieh angestrebt werden muß. Und er
kann angestrebt werden.
Das wird derjenige
zugeben, welcher einsieht, was ich bereits — es ist
ungefähr achtzehn Jahre her — im Berliner
Gewerkschaftshaus als eine Eigentümlichkeit, und dann
oftmals wiederum als eine Eigentümlichkeit gerade
der modernen Arbeiterbewegung hervorheben mußte und was
ich heute noch für absolut richtig halten muß. Ich
sagte damals: Für den, der das geschichtliche Leben der
Menschheit überblickt und aus diesem geschichtlichen Leben
der Menschheit die moderne proletarische Bewegung mit
Verständnis, mit innerem Verständnis hat
hervorgehen sehen, für den ist es auffällig,
daß diese moderne proletarische Bewegung anders als
alle anderen Menschheitsbewegungen, die es je gegeben
hat, im Grunde genommen auf einem — man mag das grotesk
finden, man mag es paradox finden — auf einem geradezu
wissenschaftlich orientierten Boden
steht.
Tief, tief wahr ist
es, was damals nach dieser Richtung hin als einen Grundton, als
eine Grundforderung der modernen Arbeiterbewegung der schon
fast vergessene Lassalle
angeschlagen hat in
seiner berühmten Rede über «Die
Wissenschaft und die Arbeiter». Nur muß man die Sache
noch von einem anderen Gesichtspunkte aus ansehen, als sie
heute gewöhnlich angesehen wird: man muß sie ansehen
von dem Gesichtspunkte des Lebens. Da kann man sagen: Mit
Bezug auf dasjenige, was dem modernen Proletariat
zugänglich geworden ist, durch das, was ihm die
führenden Klassen geben mußten, wenn sie ihn nicht im
Analphabetismus fortbelassen wollten, durch das hat der
moderne Proletarier die Möglichkeit erlangt, zu
übernehmen, wie ein Erbgut zu übernehmen, was sich in
der neueren Zeit herausgebildet hat, aus dem Bestreben der
leitenden Kreise zu übernehmen, was sich als
wissenschaftliche Weltanschauung herausgebildet
hat.
Worauf es ankommt, das
ist dieses, daß aber nun der moderne Proletarier in
ganz anderer Weise reagieren mußte auf diese
wissenschaftliche Weltanschauung als alle anderen Kreise, sogar
diejenigen, welche unmittelbar diese Weltanschauung
ausgebildet hatten. Man kann innerhalb der leitenden und
bisher führenden Kreise ein sehr aufgeklärter Mensch
sein, ein Mensch, dessen innerste Überzeugung hervorquillt
aus den Resultaten, aus den Ergebnissen der modernen
Wissenschaft, man kann meinetwillen ein Naturforscher
wie Vogt, ein naturwissenschaftlich populärer Forscher
wie Büchner sein, dennoch steht man der
wissenschaftlich orientierten Weltanschauung anders
gegenüber als der moderne Proletarier.
Derjenige, der aus den
leitenden Kreisen und ihren Vorurteilen, namentlich ihrem
Vorgefühl und ihrer Vorempfindung heraus, sich theoretisch
bekennt zu der modernen Bildung über den Menschen und
über die Natur, der bleibt deshalb doch stecken innerhalb
einer Gesellschaftsordnung, die sich streng
abschließt von dem modernen Proletariat, und deren
Struktur, deren ganze Organisation nicht herrührt von dem,
was moderne Wissenschaft erzählt, sondern herrührt
von demjenigen, was vor dieser modernen Wissenschaft die
Menschengemüter an religiösen, an rechtlichen und
sonstigen Vorstellungen über die Menschenwürde
erfüllt hat. Das konnte ich einmal, ich möchte sagen,
im unmittelbaren Erlebnis empfinden.
Es war in dem
Augenblicke, als ich, zusammen mit der jüngst tragisch
untergegangenen Rosa Luxemburg
in Spandau stand vor
einer Arbeiterversammlung, vor der wir beide sprachen über
den modernen Arbeiter und die moderne Wissenschaft. Da
mußte man sehen, wie dasjenige, was diese moderne
Wissenschaft in die moderne Proletarierseele
hineingießen kann, ganz anders wirkt auf den
Proletarier als selbst auf den Überzeugtesten der
bisher leitenden Menschenklasse, als Rosa Luxemburg den Leuten
klarmachte: Da ist nichts, was hinweist auf einen
engelgleichen Ursprung der Menschen, nichts, was hinweist
auf die hohen Ausgangspunkte, von denen die
bürgerliche Weltanschauung noch gern erzählen
möchte; da ist von dieser modernen bürgerlichen
Weltanschauung selbst behauptet, wie der Mensch als
Klettertier einmal begonnen hat, wie er sich hinaufentwickelt
hat aus diesen Zuständen. Wer das überdenkt —
so sprach dazumal die für ihre Sache begeisterte
Arbeiterführerin — wer das durchdenkt, der
kann nicht in den Vorurteilen, die die heutigen führenden
Kreise haben, verharren in den Vorurteilen von
Rangunterschieden, von der Möglichkeit, so abzustufen
zwischen den Menschen, die alle einen solchen gleichen Ursprung
haben, wie man das innerhalb der führenden Kreise heute
tut. — Das schlug anders ein, als bei den Leuten der
führenden Kreise. Und das ergänzte dasjenige, was
verständnisvoll als Wirtschaftswissenschaft der
moderne Proletarier aufnahm.
Dasjenige, was da in
die Seelen aufgenommen worden ist, das ist einer
Fortentwickelung fähig, und von dieser Fortentwickelung
möchte ich Ihnen heute einiges
erzählen.
Derjenige, der alles
das überblickt, was in Betracht kommt für die Frage
gerade: Wie ist die Arbeitskraft des modernen Proletariers zu
dem Sinn einer Ware gekommen? — der sieht sich nach und
nach gedrängt, seine Beobachtungen über das
Wirtschaftsleben zu dem Punkte zu führen, wo er sich
sagen muß: Gerade dadurch, daß der moderne Arbeiter
hineingespannt worden ist in dieses bloße
Wirtschaftsleben, dadurch ist innerhalb des Wirtschaftslebens
auch die Arbeitskraft des modernen Proletariers zur Ware
geworden. In dieser Richtung haben wir nur die Fortsetzung
dessen, was im Altertum die Sklavenfrage war. Da war der ganze
Mensch Ware. Heute ist geblieben von diesem ganzen Menschen nur
noch die Arbeitskraft. Aber dieser Arbeitskraft muß der
ganze Mensch folgen.
In den Empfindungen
der modernen Proletarierseele liegt es, daß das in Zukunft
nicht so sein dürfe, daß das der letzte Rest der
alten Barbarenzeit ist, der überwunden werden
muß. Überwunden aber wird dies nicht anders werden
können, als wenn man nun mit derselben klaren
Geisteskraft, mit der das moderne Proletariat die
Wirtschafts- und die Menschennatur ergriffen hat, damit
auch die Wissenschaft von dem gesunden sozialen
Organismus ergreift. Und von dieser Wissenschaft lassen Sie
mich Ihnen einige Worte sagen.
Da tritt vor allen
Dingen das deutlich auf: Man muß sich fragen: Was macht
denn innerhalb des Kreislaufes des modernen Wirtschaftslebens
die Arbeitskraft des modernen Proletariers zur Ware? Das macht
die wirtschaftliche Gewalt des
Kapitalistischen.
In diesem Worte von
der Gewalt des Kapitalistischen liegt schon eine Hinweisung auf
die gesunde Antwort. Denn: wem ist Gewalt diametral
entgegengesetzt? Gewalt ist diametral entgegengesetzt dem
Rechte. Das aber weist darauf hin, daß eine Gesundung mit
Bezug auf die Verwertung der menschlichen Arbeitskraft im
sozialen Organismus nur dann eintreten kann, wenn die
Arbeitskraft herausgehoben wird, wenn überhaupt die Frage
nach der Arbeitskraft herausgehoben wird aus dem
Wirtschaftsprozeß und wenn sie wird zu einer reinen und
lauteren Rechtsfrage.
Damit aber kommen wir
dazu, des breiteren nachzudenken, ob denn ein tieferer
Unterschied ist zwischen Wirtschaftsfrage und Rechtsfrage.
Dieser Unterschied besteht; nur ist man heute noch nicht
geneigt, diesen Unterschied tiefgehend genug zu nehmen. Man ist
nicht geneigt, tiefgehend genug zu nehmen, was auf der
einen Seite die wirksamen Kräfte in allem Wirtschaftsleben
sein müssen und auf der anderen Seite die wirksamen
Kräfte sein müssen in dem eigentlichen
Rechtsleben.
Was wirkt im
Wirtschaftsprozesse? Im Wirtschaftsprozesse wirkt das
menschliche Bedürfnis, wirkt die Möglichkeit der
Befriedigung dieses menschlichen Bedürfnisses durch die
Produktion. Beides ist gegründet auf die Naturgrundlage;
das menschliche Bedürfen auf die Naturgrundläge des
Menschen, die Produktion auf die klimatischen, geographischen
und sonstigen Naturgrundlagen. Dieses Wirtschaftsleben hat
unter dem Einflüsse der modernen Arbeitsteilung eben
geführt zu dem, was der moderne Warenaustausch ist und
sein muß, jener Warenaustausch, in dem sich nach dem
Bedürfnisse der Menschen die Waren gegenseitig
bewerten, und nach ihrer gegenseitigen Bewertung — ich
kann das nicht im einzelnen beschreiben, es würde zu lange
dauern — auf dem Markte erscheinen und auf dem Markte in
den Kreislauf des Wirtschaftsprozesses
einziehen.
Innerhalb dieses
Kreislaufes des Wirtschaftslebens kann sich als in einem
abgeschlossenen Kreislauf nicht zu gleicher Zeit das
Rechtsleben entwickeln. Die menschliche Natur läßt
ebensowenig zu, daß sich im sozialen Organismus innerhalb
des Wirtschaftslebens selbst das Rechtsleben entwickelt,
wie sie zuläßt, daß im menschlichen, im
natürlichen Menschenorganismus nur ein einziges, in sich
zentralisiertes System da ist. Ich will wahrhaftig heute abend
nicht spielen mit irgendwelchen Vergleichen aus der
Naturwissenschaft; allein ich glaube, daß gerade da ein
Punkt ist, wo auch die Naturwissenschaft über dasjenige
hinausgehen muß, zu dem sie heute gekommen ist. Ich
habe in meinem letzten Buche: «Von
Seelenrätseln» hingewiesen, worauf es da ankommt, was
Naturwissenschaft heute nicht ordentlich erkannt hat: daß
im gesunden menschlichen Organismus drei Systeme vorhanden
sind, daß das Sinnes-Nervensystem vorhanden ist, das als
Träger des Seelenlebens da ist, das Atmungs- und
Herzsystem als Träger des rhythmischen Lebens, das
Stoffwechselsystem als Träger des Stoffwechsels, und
daß das Ganze den menschlichen Organismus ausmacht. Aber
jedes System ist für sich zentralisiert; jedes hat seinen
eigenen Ausgang nach der Außenwelt. In diesem
Menschenorganismus wird Ordnung und Harmonie dadurch
hervorgerufen, daß diese drei Systeme nicht wüst
durcheinanderwirken, sondern nebeneinander sich entfalten, und
dadurch gerade recht die Kraft des einen in das andere
hineinfließen kann.
So muß im
gesunden sozialen Organismus eine solche Dreigliederung
eintreten. Man muß einsehen, daß, wenn der Mensch im
Wirtschaftsorganismus sich betätigt, er dann
innerhalb dieses Wirtschaftsprozesses bloß wirtschaften
muß. Dann handelt es sich darum, daß die
Verwaltung, die Gesetzgebung dieses Wirtschaftsprozesses
darauf ausgeht, die gegenseitige Bewertung der Ware in der
wirtschaftlichen Wirklichkeit auf den Weg zu bringen, in der
zweckmäßigsten Weise die Warenzirkulation
einzuleiten, die Warenproduktion einzuleiten, die
Warenkonsumtion einzuleiten. Aus diesem bloßen
Wirtschaftsprozesse muß aber herausgeholt werden
alles dasjenige, was sich nun bezieht nicht auf die
Befriedigung des Bedürfnisses des einen Menschen mit
dem anderen, sondern was sich bezieht auf das
Verhältnis eines jeden Menschen zu jedem anderen Menschen.
Dasjenige, worinnen alle Menschen gleich sein
müssen, ist etwas radikal Verschiedenes von
demjenigen, was sich im Wirtschaftsleben allein entwickeln
kann. Daher ist notwendig zur Gesundung des sozialen
Organismus, daß herausgeholt werde aus dem bloßen
Wirtschaftsleben das Rechtsleben, das eigentliche Rechtsleben.
Dieser Entwickelung hat eben gerade die neuere Zeit
entgegengestrebt.
Die bisher
führenden Klassen — was haben sie getan? Auf
denjenigen Gebieten, auf denen es ihnen bequem war, auf denen
es ihnen für ihre Interessen richtig erschien, da haben
sie die alte Verschmelzung, die ja schon gewiß auf vielen
Gebieten bestanden hat zwischen dem Wirtschaftsleben und dem
politischen Staatsleben, weiter durchgeführt. Und so sehen
wir, daß in dieser neueren Zeit, gerade unter dem
Einflüsse der leitenden Kreise der Menschheit, heraufkommt
die sogenannte Verstaatlichung für gewisse
Wirtschaftszweige. Post-, Telegraphenwesen und ähnliches
zu verstaatlichen ist ja gefunden worden als im modernen
Fortschritt gelegen und von diesem modernen Fortschritt
verlangt.
In gerade
entgegengesetzter Richtung muß derjenige denken, der nun
nicht auf die Interessen der bisher führenden Kreise
sieht, sondern der frägt: Welches sind die Grundlagen
eines gesunden sozialen Organismus? — Der muß
anstreben, daß immer mehr und mehr gelöst werde aus
dem bloßen Wirtschaftsleben das Leben des eigentlich
politischen Staates, desjenigen Staates, der zu sorgen
hat für Recht und für Ordnung; der zu sorgen hat vor
allen Dingen aber dafür, daß von diesem Gebiete aus
in das Wirtschaftsleben das entsprechende Rechtsleben
hineinfließt. Derjenige unterscheidet im menschlichen
Leben nicht richtig, der kein Auge, kein geistiges Auge
dafür hat, wie radikal verschieden Wirtschaftsleben und
das Leben des eigentlichen politischen Staates
ist.
Sehen wir einmal die
Dinge an, wie sie sich heute entwickelt haben. Gewisse Menschen
sprechen aus dem heutigen sozialen Zustand heraus so, sie
sagen, innerhalb dieses sozialen Zustandes haben wir als
erstes:
Tausch von Waren gegen
Waren. — Gut, das muß sein im
Wirtschaftsleben. Davon ist ja gerade eben gesprochen
worden. Dann haben wir als zweites, sagen sie und sie sehen das
als berechtigt an: Tausch von Waren, beziehungsweise des
Repräsentanten von Ware, des Geldes, gegen
Arbeitskraft. Und als drittes: Tausch von Waren gegen
Rechte.
Was ist das letztere?
Über das zweite habe ich ja schon gesprochen. Nun, wir
brauchen nur hinzusehen auf das Grundbesitzerverhältnis in
der modernen Wirtschaftsordnung, und uns wird sogleich klar
werden, was klar sein sollte auf diesem Gebiete für die
Zukunft. Wie man sonst auch über das Besitzverhältnis
in bezug auf Grund und Boden denken mag — alles andere
hat für den realen Vorgang im sozialen Organismus nicht
eigentlich eine Bedeutung; eine Bedeutung hat lediglich das,
daß der Besitzer von Grund und Boden das Recht hat, ein
Stück Grund und Boden allein zu benützen und bei
dieser Benützung sein persönliches Interesse
geltend zu machen.
Das hat nicht das
geringste in seinem Ursprunge mit dem Wirtschaftsprozesse
als solchem zu tun. Mit dem Wirtschaftsprozesse hat einzig und
allein — dagegen kann nur eine verkehrte
Nationalökonomie etwas einwenden — dasjenige
zu tun, was auf dem Grund und Boden als Ware oder mit Warenwert
erzeugt wird. Benützung des Grund und Bodens beruht auf
einem Rechte.
Dieses Recht
allerdings verwandelt sich innerhalb der modernen
kapitalistischen Wirtschaftsordnung, namentlich durch die
Verquickung des Kapitalismus mit den Grundrenten, wiederum in
eine Gewalt. Und so haben wir auf der einen Seite die Gewalt,
welche ausschließt von solchen Rechten; auf der
anderen Seite jene wirtschaftliche Gewalt, welche die
menschliche Arbeitskraft zwingen kann, zur Ware zu
werden.
Von beiden Seiten her
wird nichts anderes, als eine Lebenslüge
verwirklicht, wenn nicht angestrebt wird —
angestrebt wird aus wirklicher sozialer Einsicht heraus —
die Gliederung des sozialen Organismus in einen
Wirtschaftsorganismus und in einen Organismus des im engeren
Sinne politischen Staates.
Der
Wirtschaftsorganismus wird begründet werden müssen
auf assoziativer Grundlage, aus den Bedürfnissen der
Konsumtion in ihrem Verhältnisse zur Produktion. Aus den
verschiedenen Interessen der mannigfaltigsten Berufskreise
werden die mannigfaltigsten Genossenschaften — man
könnte sie mit einem alten Wort auch Bruderschaften der
Menschheit nennen — entwickelt werden müssen, in
denen verwaltet werden die Bedürfnisse und ihre
Befriedigung.
Was sich innerhalb
dieser Assoziationsgrundlage des wirtschaftlichen Organismus
herausbildet, das wird immer zu tun haben mit der
Befriedigung des einen Kreises von Menschen durch einen
anderen Kreis. Auf diesem Gebiete wird maßgebend sein müssen
die sachverständige Verwertung erstens der
Naturgrundlage, dann aber auch die sachverständige
Ausgestaltung der Warenproduktion,-zirkulation
und -konsumtion.
Da wird geltend sein müssen das menschliche
Bedürfnis, das menschliche Interesse.
Dem wird immer
gegenüberstehen als etwas radikal Verschiedenes dasjenige,
worinnen Mensch und Mensch wesentlich gleich sich
gegenüberstehen, wo sie gleich sein müssen, wie
man mit einem heute schon trivial gewordenen Worte sagt: Wo sie
gleich sein müssen vor jenem Gesetze, das sie sich als
gleiche Menschen selber geben.
Auf assoziativer
Grundlage wird beruhen müssen der Kreislauf des
Wirtschaftsprozesses; auf rein demokratischer Grundlage, auf
dem Prinzip der Gleichheit aller Menschen in ihrem
Verhältnis zueinander wird ruhen müssen im engeren
Sinne die eigentliche politische Organisation. Aus dieser
politischen Organisation wird entspringen etwas ganz anderes
als die wirtschaftliche Gewalt, welche die Arbeitskraft zur
Ware macht. Aus dem vom Wirtschaftsleben getrennten politischen
Leben wird entspringen das wahre Arbeitsrecht, wo einzig und
allein nach dem, was über Arbeitskraft zwischen Mensch und
Mensch als Menschen verhandelt werden kann, Maß und Arbeit
und anderes über die Arbeitskraft festgesetzt werden
kann.
Wie man auch glauben
mag, daß die Dinge in der neueren Zeit schon etwas besser
geworden seien: dasjenige, worauf es fundamental ankommt,
ist nicht besser geworden. Durch die Art, wie die Arbeitskraft
des Proletariers im Wirtschaftsprozesse drinnensteht, wird der
Preis der zur Ware gemachten Arbeitskraft von den Preisen der
anderen Wirtschaftsprodukte, von den Warenpreisen
abhängen. Das sieht jeder, der wirklich tiefer
hineinschaut in den Wirtschaftsprozeß. Anders wird
die Sache sein, wenn unabhängig von dem Gesetze
des Wirtschaftslebens und seiner Verwaltung, aus dem
politischen Staate heraus, aus der rein demokratischen
Verwaltung und Gesetzgebung des politischen Staates heraus ein
Arbeitsrecht existieren wird. Was wird dann
eintreten?
Dann wird eintreten,
daß dasjenige, was der Mensch durch seine Arbeitskraft dem
sozialen Organismus leistet, in einem ebenso lebendigen,
durch sich bestimmten Verhältnis steht wie heute die
Naturgrundlagen. Man kann innerhalb gewisser Grenzen die
technische Fruchtbarmachung des Bodens und dergleichen
etwas verschieben, die festen Grenzen der Naturgrundlage etwas
verschieben; allein diese Naturgrundlagen bestimmen das
Wirtschaftsleben dennoch in ausgiebigstem Maße von der
einen Seite her. Ebenso wie von dieser Seite her das
Wirtschaftsleben von außerhalb bestimmt wird, so muß
von der anderen Seite her das Wirtschaftsleben von außen
bestimmt werden, indem es nicht mehr die Arbeitskraft von sich
abhängig macht, sondern die aus rein menschlichen
Untergründen heraus bestimmte Arbeitskraft dem
Wirtschaftsleben dargeboten werden kann. Dann macht die Arbeit
den Preis der Ware, dann bestimmt nicht mehr die Ware den Preis
der Arbeit!
Dann kann nur
höchstens das eintreten, daß, wenn aus
irgendwelchem Grunde die Arbeitskraft nicht genügend
geleistet werden kann, das Wirtschaftsleben verarmt. Dem
muß aber abgeholfen werden dadurch, daß auf
rechtlichem Boden die Abhilfe gesucht wird, und nicht aus dem
bloßen Wirtschaftsleben.
Zugrunde liegt beim
Wirtschaftsleben nur dasjenige, was nach Angebot und
Nachfrage frägt. Mit dem Arbeitsrecht, das gestellt wird
auf die Grundlage des selbständigen politischen Staates,
werden aber notwendig auch alle übrigen Rechte auf
diese selben Grundlagen gestellt werden. Kurz, man wird
— ich kann das nur andeuten wegen der Kürze der Zeit
— notwendigerweise sehen müssen gerade in der
Auseinanderschälung der beiden Gebiete: des Rechtslebens
und des Wirtschaftslebens, das Ideal eines gesunden sozialen
Organismus in der Zukunft.
Und als drittes
muß sich angliedern diesem selbständigen
Wirtschaftsleben, diesem selbständigen Rechtsleben
dasjenige, was man das geistige Leben der Menschheit nennen
kann.
Darinnen wird man,
indem man von dieser wahren Fortsetzung der proletarischen
Weltanschauung spricht, am meisten auf Widerstand
stoßen. Denn es ist in die menschlichen
Denkgewohnheiten auf diesem Gebiete, mehr noch gerade als
in anderes, eingegangen die Meinung, daß nur durch das
Aufsaugen des gesamten geistigen Lebens vom Staate das Heil der
Menschheit abhängen könne; und man durchschaut noch
nicht, wie die Abhängigkeit, in die das geistige Leben vom
Staate gekommen ist gerade in der neueren Zeit, aus dem
hervorgegangen ist, was man nennen kann das Interesse der
bisher führenden Kreise an dem Staate, der eben diese
führenden Kreise so recht befriedigt hat. Diese
führenden Kreise, sie haben ihre Interessen in diesem
Staate befriedigt gefunden; sie haben dasjenige, was sie
geistiges Leben nennen, immer mehr und mehr von diesem Staate
aufsaugen lassen. W'ie der politische Staat durch
Zwangssteuergesetze genötigt ist, dasjenige
herbeizuschaffen, was die Gleichheit aller Menschen vor dem
Gesetze begründen kann, und wie der Staat genötigt
ist, durch die Zwangssteuer seine Bedürfnisse zu
befriedigen, so muß auf der anderen Seite das
geistige Leben wirklich emanzipiert werden von den beiden
anderen Gebieten des sozialen Organismus.
Gerade was man auf
diesem Gebiete angestrebt hat: die Verquickung des
Geisteslebens mit dem Staats- und Wirtschaftsleben, das ist es,
was zum Unheil der neueren Zeit ausgeschlagen hat. Denn
dasjenige, was im Geistigen leben soll, das kann sich nur
entwickeln, wenn es im Lichte der wahren Freiheit sich
entwickeln kann. Alles dasjenige, was nicht im Lichte der
wahren Freiheit sich entwickeln kann, das verkümmert und
lähmt das wirkliche Geistesleben und bringt es
außerdem auch auf Abwege, die man in der neueren
gesellschaftlichen Ordnung nur leider allzugut bemerken
kann. Was aber notwendig ist auf diesem Gebiete, ist: zu
durchschauen, welcher innere Zusammenhang besteht zwischen dem
Geistesleben im engsten Sinne, und dem religiösen Leben,
dem wissenschaftlichen Leben, dem künstlerischen
Leben, dem Leben in einer gewissen Sittlichkeit, welcher
Zusammenhang ist zwischen diesem Leben und alledem, was
überhaupt hervorgeht aus den individuellen
menschliehen Fähigkeiten und
Geschicklichkeiten.
Daher muß jetzt,
wo über diese Dinge hier in ernstem Sinne gesprochen
wird, in ernstem Sinne eines gesunden sozialen Organismus
gesprochen wird, gesprochen werden so, daß unter das
geistige Leben gezählt wird alles dasjenige, was
überhaupt mit der Entfaltung, der Entwickelung der
individuellen Fähigkeiten etwas zu tun hat, alles
dasjenige, was damit zu tun hat, vom Schulwesen
angefangen bis hinauf zum Universitätswesen, bis hinein in
das künstlerische, bis in das sittliche Leben, ja, bis auf
diejenigen Geisteszweige, die die Grundlage des
praktischen, auch des Wirtschaftslebens ausmachen. Auf
allen diesen Gebieten muß angestrebt werden
Emanzipation des geistigen Lebens. So daß dieses geistige
Leben gestellt werden kann in die freie Initiative
desjenigen, der die individuellen Fähigkeiten des
Menschen hat, und daß dieses freie Geistesleben nur da
sein kann dann in entsprechender Weise im gesunden
sozialen Organismus, wenn es auch in seiner Geltung beruht auf
der freien Anerkennung, auf dem freien Verständnisse
derjenigen, die es entgegenzunehmen nötig haben. Das
heißt, es darf in Zukunft nicht mehr irgendwie aus der
Summe desjenigen, was man in der Tasche hat oder im
Geldschrank, oder aus der Bürokratie des Staates heraus
das Geistesleben verwaltet werden.
Nicht allein dadurch,
daß dieses Geistesleben verwaltet worden ist vom Staate,
hat es einen gewissen Charakter angenommen in bezug auf die
Persönlichkeiten, die drinnenstehen, in bezug auf die
Persönlichkeiten, die es verwalten, sondern dieses
geistige Leben, wie wir es heute haben, wie es mit Recht der
moderne Proletarier als eine Ideologie empfindet, dieses
geistige Leben, das ist doch zu einem Spiegelbilde
desjenigen geworden, was sich an Interessen, an
Bedürfnissen der führenden, leitenden Kreise für
und durch den modernen Staat, den sie sich selbst ihrer eigenen
Bequemlichkeit nach gebildet haben, nach diesem
Bedürfnisse herausgestaltet hat. Ist es im letzten
Grunde richtig, daß alles geistige Leben nur ein
Spiegelbild gewissermaßen, nur ein Überbau des
wirtschaftlichen oder des staatlichen Lebens ist? Das moderne
geistige Leben der führenden Kreise ist nur ein solcher
Überbau. Gewiß, Chemie, Mathematik, sie werden
nicht leicht ihrem Inhalte nach den Charakter annehmen
können, der sich aus den Interessen der führenden
Kreise ergibt. Allein schon der Umfang, in dem sie betrieben
werden, aber namentlich das Licht, das von den anderen Zweigen
des Geisteslebens auf sie fällt, das ist bestimmt durch
die Tatsache, daß mit den Interessen der leitenden,
der bisher leitenden Kreise der Menschen die Interessen
des modernen Staatslebens und damit die Interessen des modernen
Geisteslebens im Staate zusammenwachsen.
Ja, dieses moderne
Geistesleben, es ist gerade auf den wichtigsten Gebieten,
da, wo es eingreifen soll in Menschenseelen, wenn es sich
seinen Platz bestimmen soll in der sozialen Ordnung, ein
Spielball des Wirtschaftslebens und des politischen
Lebens geworden. Man kann es sehen an der Art, wie bis in diese
furchtbare kriegerische Katastrophe herein diejenigen
Träger des geistigen Lebens, die auf dem Umwege des
Kapitalismus verbunden waren mit dem modernen
Staatsleben, im Grunde genommen gerade auf den wichtigsten
Lebensgebieten des Geistes dasjenige hervorgebracht
haben, was in den Dienst des modernen Staates hat gestellt
werden können.
Man könnte da
nicht hundertfach, sondern tausend- und abertausendfach
die Beweise finden. Sie brauchen nur das eine zu bedenken:
Nehmen Sie die deutschen Geschichtsprofessoren, die
Träger der geschichtlichen Wissenschaft. Versuchen Sie
sich ein Bild zu machen von alledem, was sie produziert haben
mit Bezug auf die Geschichte der Hohenzollern, und fragen Sie
sich, ob nun jetzt nach diesem weltgeschichtlichen Ereignisse
die Geschichte der Hohenzollern ebenso aussehen wird, wie sie
vorher ausgesehen hat? Daran kann man ersehen, wie das geistige
Leben durch die Verhältnisse ein bloßes Spiel
geworden ist desjenigen, von dem es eben nicht frei gewesen
ist.
Frei werden muß
das Geistesleben von den beiden anderen Gebieten. Dann aber
kann das Geistesleben in seine ihm eigene Gesetzgebung und
Verwaltung aufnehmen dasjenige — so sonderbar es klingt
und so überraschend es für manchen sein wird,
es muß gesagt werden was heute einzig und allein aus den
kapitalistischen Vorurteilen hervorgehen kann: dann kann das
Geistesleben der Überwinder des bloßen
wirtschaftlichen proletarischen Interesses wirklich
werden. Denn das geistige Leben ist ein einheitliches.
Das geistige Leben geht von dem höchsten Zweige des
Geisteslebens herunter bis in jene Verzweigungen, die dadurch
entstehen, daß irgend jemand aus seinen individuellen
Fähigkeiten heraus irgendeine Unternehmung zu leiten
hat. So wie er sie heute leitete, so leitete er sie aus dem
Wirtschaftsleben heraus unter der Wirkung der Gewalt, der
wirtschaftlichen Gewalt. So wie er sie zu leiten hat im
gesunden sozialen Organismus, so ist das aus dem Geistesleben
heraus. Das Geistesleben hat im gesunden sozialen
Organismus seine eigene Gesetzgebung und Verwaltung in bezug
auf die höchsten Zweige dieses geistigen Lebens, aber auch
mit Bezug auf alles dasjenige, was geistig in den
Wirtschaftsprozeß gerade dann hineinwirken wird, wenn das
geistige Leben als solches selbständig
ist.
Dann wird auftreten in
diesem Wirtschaftsprozeß in der richtigen Weise der
Einfluß des emanzipierten, des selbständigen
Geisteslebens. Dann wird dasjenige, was eben durch das Kapital
geleistet werden wird, nicht mehr im Sinne des modernen
Kapitalismus geleistet werden können. Dann wird es
geleistet werden können allein nach den Impulsen, die das
geistige Leben selber gibt.
Nur, man muß sich
von diesen Impulsen die richtigen Vorstellungen machen. Wie
wird zum Beispiel ein Betrieb unter diesen Impulsen eigentlich
ausschauen?
Wer das Geistesleben
in seinem Fundament kennt — ich weiß das ganz gut
— , der wird mir nicht widersprechen, wenn ich die
folgende Schilderung gebe von einem Betrieb, der seine
Impulse nicht von der wirtschaftlichen Gewalt, sondern
von der Gewalt des Geisteslebens erhält: Da wird derjenige
durch das freie Verständnis der mit ihm
Mitarbeitenden in die Lage versetzt werden, aus einem
gewissen Kapitalfonds heraus dasjenige zu unternehmen,
was nun nicht zu seinem Nutzen, sondern wegen des
sozialen Verständnisses, das er sich im richtigen
Geistesleben angeeignet haben wird, unternommen wird.
Dann wird in einem solchen Betriebe gegenüberstehen
derjenige, der durch das freie Verständnis seiner
Mitarbeiter bis zum letzten Arbeiter herunter, durch das freie
Verständnis an seinen Posten gestellt ist, dann wird, weil
dann ein Verhältnis des freien Verständnisses
eintreten wird zwischen diesem Leiter eines Betriebes und
denjenigen, die arbeiten, sich ganz notwendig dasjenige
herausbilden, was da macht, daß neben den Arbeitsstunden
eingeführt wird innerhalb eines jeden Betriebes und
innerhalb der Genossenschaften von Betrieben, die
Möglichkeit eines freien Aussprechens über die
ganze Art, wie der Wirtschaftsprozeß im sozialen
Gesamtorganismus drinnensteht. Dann wird unter dem
Einflüsse eines solchen Geisteslebens derjenige, der
an der Stelle stehen wird, wo heute der kapitalistische
Unternehmer steht, sich zu offenbaren haben in bezug auf alles
dasjenige, was seine Ware hineinstellt in den gesamten
Gesellschaftsprozeß der Menschheit. Dann wird jeder
einzelne einsehen, welchen Weg das Produkt nimmt, zu dem
er seine Arbeit beisteuert, das Produkt des handwerklichen
Arbeiters und desjenigen, der diese handarbeitliche
Arbeit durch seine besonderen individuellen Fähigkeiten zu
leiten hat. Dann wird allein aber auch dasjenige eintreten
können, was dem Arbeiter die Möglichkeit gibt, einen
wirklichen Arbeitsvertrag zu schließen. Denn ein
wirklicher Arbeitsvertrag kann nicht geschlossen werden, wenn
er geschlossen wird auf Grundlage der Voraussetzung, daß
Arbeitskraft Ware ist. Ein wahrer Arbeitsvertrag darf gar nicht
auf diesen Grundlagen aufgebaut werden; sondern einzig und
allein kann ein wirklicher Arbeitsvertrag nur aufgebaut werden
auf der Grundlage, daß die Arbeit, die notwendig ist zur
Herstellung eines Produktes, auf Grundlage des Rechtes
geleistet wird, daß aber mit Bezug auf das
Wirtschaftliche das gehörige Zusammenarbeiten
zwischen handwerklichem und geistigem Arbeiter entsteht,
daß mit Bezug auf das Wirtschaftliche jener
Teilungsvorgang zwischen dem handwerklich und geistig
Arbeitenden stattfinden muß, der allein aus der
freien Einsicht auch des handwerklichen Arbeiters
hervorgehen kann, weil dieser handwerklich Arbeitende
dann wissen wird aus dem geistigen Zusammenleben mit dem
Leitenden, in welchem Grade seine Arbeit dadurch, daß die
Leitung da ist, zu seinem eigenen Vorteil einfließt in den
sozialen Organismus.
Nur in einem solchen
Zusammenarbeiten hört die Möglichkeit auf, daß
die Unternehmungen, die auf Kapitalgrundlage gebaut werden
müssen, auf den Vorteil, auf den egoistischen Vorteil
aufgebaut werden. Dann allein, wenn in dieser Weise der soziale
Organismus gesundet, dann allein kann das heutige
Profitinteresse ersetzt werden durch das rein sachliche
Interesse. Und heraufziehen wird in einem größeren
Umfange, als das in früheren Zeiten der Fall war,
wiederum der Zusammenhang zwischen dem Menschen und
seiner Arbeit.
Sehen wir uns heute
diesen Zusammenhang zwischen dem Menschen und seiner Arbeit an.
Da ist auf der einen Seite der Unternehmer, der da leistet
dasjenige, was er auch als Arbeit ansieht, aber er macht sich
so schnell als möglich weg von dieser Arbeit. Er
drückt das sogar dadurch aus, daß er, wenn er sich
weggedrückt hat von seiner Arbeit, er das Reden über
diese Arbeit als «Fachsimpelei» bezeichnet. Er macht
sich weg, und er sucht durch allerlei anderes dann zu dem zu
kommen, was er als Mensch anstrebt. Gerade durch ein solches
Verhältnis des Menschen zu seiner Arbeit drückt sich
aus, wie wenig der Mensch mit seiner Arbeit verwachsen
ist.
Das aber ist ein
ungesundes Verhältnis. Das ist ein ungesundes
Verhältnis, welches das andere nach sich ziehen
mußte, daß, indem das moderne Proletariat
hinweggerissen ist von dem Boden des alten Handwerkes, wo
der Mensch mit seinem Beruf verwachsen war, aus seinem Berufe
seine Ehre, seine Menschenwürde gezogen hat, und wo er
hingestellt worden ist zu der Maschine, eingespannt
worden ist in der Fabrik; da wird in ihm jenes Ungesunde
erzeugt, daß er kein Verhältnis gewinnen kann
zu seiner Arbeit.
Aber derjenige, der
das Geistesleben in seiner wahren Grundlage erkennt, der
weiß, daß solch ein ungesundes Verhältnis
zwischen dem Menschen und seiner Arbeit nur eben unter
ungesunden Voraussetzungen auch entstehen kann. Es gibt
nichts in einem gesunden Geistesleben, das frei ist vom
politischen und frei ist vom Wirtschaftsleben und auf diese nur
zurückwirkt, es gibt nichts innerhalb eines solchen
Geisteslebens, das nicht unmittelbar interessant ist, und
was, wenn es nur richtig gehandhabt wird, den Menschen
knüpft an seine Arbeit, weil er weiß: dasjenige, was
er arbeitet, wird ein Glied in dem Kreislauf des sozialen
Organismus. Das ist nicht etwas, was nur beurteilt werden darf
als so, daß es nicht anders sein könne, daß der
Mensch auch Uninteressantes tun müsse. Nein, das
muß so beurteilt werden, daß gerade jene Grundlage
des Geisteslebens aufgesucht wird, welche einzig und allein
Interesse, Zusammenhang des Menschen mit seiner Arbeit und
Interesse für diese Arbeit auf allen Gebieten, bei
jeglicher Arbeit hervorrufen kann.
Da wird sich zeigen,
daß, wenn das emanzipierte freie Geistesleben aus
geistigen Impulsen heraus bis in die einzelnsten Verzweigungen
hinein das staatliche und das Wirtschaftsleben in seinen
Verwaltern versorgt, daß dann allein dasjenige eintreten
kann, was ein wirkliches, sachliches Interesse an allem
wird und nicht ein bloßes kaufmännisches, nicht ein
bloß äußeres Wirtschafts- und
Vorteilsverhältnis begründet.
Allerdings muß
einem solchen Geistesleben die Grundlage geschaffen werden.
Diese Grundlage kann nur geschaffen werden, wenn alles
Schulwesen in die Verwaltung des geistigen Lebens selbst
gestellt wird, wenn der unterste Lehrer nicht mehr zu fragen
hat: Was verlangt der politische Staat von mir? — ,
sondern wenn er hinaufzuschauen hat zu denjenigen, zu denen er
Vertrauen hat, wenn er hinschaut zu dem das Geistesleben nach
ihren eigenen Grundsätzen verwaltenden Gebiete des
sozialen Organismus.
So wirkt in vieler
Beziehung dasjenige, wovon ich glaube, daß es sich
naturgemäß ergibt. Gerade aus einer wahren
Fortsetzung der proletarischen Weltanschauung wirkt es den
Denkgewohnheiten entgegen. Denn während man es als Erbgut
übernommen hat gerade von der bürgerlichen
Wissenschaft: Geistesleben, Staat, Wirtschaftsleben
miteinander zu verschmelzen, handelt es sich darum,
daß zur Gesundung des sozialen Organismus angestrebt
werden muß die Verselbständigung der angeführten
drei Gebiete. Nur dadurch, daß gewissermaßen jedes
dieser Gebiete — wenn ich mich jetzt gangbarer
Ausdrücke bedienen darf — sein eigenes Parlament und
seine eigene Verwaltung hat, die zueinander stehen wie
die Regierungen souveräner Staaten, nur durch Delegationen
miteinander verhandeln, nur ihre gemeinsamen Bedürfnisse
im Verkehre austauschen, dann allein kann der soziale
Organismus gesunden. Und die Frage ist heute die Grundfrage,
die aus allen Tatsachen hervorgeht: Wie kann der soziale
Organismus gesunden? Das ist mit Händen zu greifen: er ist
krank, dieser soziale Organismus!
Diejenigen, die aus
ihrem Klassenbewußtsein heraus die berechtigte Forderung
aufstellen müssen, daß dieser soziale Organismus
gesunde, die haben gerade nötig, die proletarische
Weltanschauung zu verfolgen auf ihre fruchtbaren Keime hin und
sie in entsprechender Weise
weiterzubilden.
Ich gebe zu, daß
es zunächst manchem gegen dasjenige sprechen kann, was er
als das Richtige heute anschaut, wenn gesagt wird: Es muß
die Richtung genommen werden nach dieser sozialen
Dreigliederung, dieser Dreigliederung des sozialen Organismus.
— Aber so sehr dies den Denkgewohnheiten von manchem in
der Gegenwart widerspricht, die Wirklichkeit darf sich nicht
nach unserer Bequemlichkeit richten, nicht nach dem, was die
glauben, die sich bisher für Lebenspraktiker gehalten
haben. Die Wirklichkeit muß sich nach dem richten, was man
aus einem ehrlichen, gesunden Wahrheitssinn heraus für das
Richtige erkennen kann.
Das, was ich
auseinandergesetzt habe, bezieht sich nicht auf irgendein
Wolkenkuckucksheim. Oh, die Zeiten sind da, wo mancher, der
sich, weil er nur das Einfache überschauen konnte und
danach sich seine Denkgewohnheiten bildete, der sich dadurch
für einen Lebenspraktiker hielt, wird zugeben müssen,
daß die verpönten, so sehr verpönten
Idealisten, die aus Entwickelungsnotwendigkeiten der
Menschheit heraus denken, die wahren Lebenspraktiker sind.
Dasjenige, was ich Ihnen angegeben habe, ist nicht ein
Wolkenkuckucksheim; es ist entnommen gerade aus dem, was
die unmittelbarsten, alltäglichsten Lebensbedürfnisse
der Menschheit sind.
Ich kann
natürlich nicht auf alle einzelnen Gebiete mich einlassen;
ich will zum Schlüsse ein einziges Gebiet berühren,
ein Gebiet, an dem sich, wenn ich es auch nur flüchtig
berühren kann, zeigen wird, wie dasjenige, was ich
scheinbar von dem Urgedanken des sozialen Lebens hergeleitet
habe, in das Allerärgste eingreift. Was ist im Leben das
Allerärgste? Das Allerallerärgste ist, daß wir
etwas, was wir Geld nennen, in unserer Tasche haben
müssen. Aber Sie wissen auch, was an diesem Gelde
hängt. Sie wissen, wie dieses Geld eingreift in alles
Leben. Wenn man die Entwickelung des gesunden sozialen
Organismus ins Auge faßt: welchem Gliede kommt denn
die Verwaltung des Geldes zu? Diese Verwaltung des Geldes
hat bisher aus gewissen Entwickelungskräften, die sehr alt
sind, der Staat besorgt. Das Geld aber ist ebenso wahr in einem
gesunden Organismus Ware, wie die Arbeitskraft nicht Ware
ist. Und alles Ungesunde, das von der Seite des Geldes aus
eingreift in den sozialen Organismus, besteht darinnen,
daß das Geld des Warencharakters dadurch entkleidet wird,
daß es heute mehr beruht auf der Abstempelung von
irgendeiner Marke durch den politischen Staat, als auf dem,
worauf es ja noch, weil es da nicht anders geht im
internationalen Verkehr, beruhen muß: auf seinem
Warenwert. Die Nationalökonomen haben heute einen
komischen Streit, einen Streit, der auf den Einsichtigen
wirklich komisch wirkt. Sie fragen, ob das Geld eine Ware ist,
nur eine beliebte Ware, für die man immer andere Waren
eintauschen kann, während man sonst, wenn man zum Beispiel
gerade das Unglück hat, nur Tische und Stühle zu
fabrizieren, umherziehen müßte mit Tischen und
Stühlen und warten, ob einer einem dafür Gemüse
gibt, kann man, indem man zuerst Tische und Stühle
für Geld eintauscht, für die Ware Geld Dinge
bekommen, die einem gerade recht sind, nach denen man gerade
Bedarf hat. Während die einen sagen: Dieses Geld ist eine
Ware oder wenigstens der Repräsentant der Ware, für
das da sein muß, auch wenn es Papiergeld ist, der
entsprechende Gegenwert in Waren, sagen die anderen: Das Geld
ist überhaupt nur dasjenige, was entsteht, indem der Staat
durch ein Gesetz eine gewisse Marke abstempelt. Und nun
forschen sie nach, diese nationalökonomischen Gelehrten,
sie forschen nach: Was ist das Richtige? Ist das Geld Ware,
oder etwas, was durch eine bloße Abstempelung entsteht?
Ist es eine bloße Anweisung auf die
Ware?
Die Antwort auf diese
Fragen ist einfach diese: daß das Geld weder das eine noch
das andere ist, sondern heute beides ist. Das eine ist es
dadurch, daß der Staat eben gewisse Marken abstempelt; das
andere ist, daß im internationalen Verkehre oder in
gewisser Beziehung auch im nationalen Verkehre das Geld nur als
Ware in der Warenzirkulation mitzirkulieren
kann.
Der gesunde soziale
Organismus wird das Geld jedes Rechtscharakters
entkleiden; er wird es derjenigen Verwaltung und Gesetzgebung
zuweisen, durch seinen eigenen, natürlichen Prozeß,
auch die Hineinstellung
des Geldes,
Prägung des Geldes, Wertbestimmung des Geldes innerhalb
des Wirtschaftskreislaufes, diesem selben Parlament, dieser
selben Verwaltung, die den übrigen Wirtschaftsorganismus
verwaltet.
Erst dann kann, wenn
so etwas eintritt, dasjenige, was vom modernen Proletariat
erstrebt werden muß, auf eine gesunde Basis gestellt
werden. Jenes merkwürdige Verhältnis, das da besteht
zwischen dem Arbeitslohn und der Warennatur, dieses
Verhältnis, es beruht ebenfalls eigentlich auf einer
Lebenslüge. Während auf der einen Seite der Arbeiter
glaubt, durch seine Forderung nach höherem Lohn, wenn er
diese befriedigt erhält, dann gesündere
Lebensverhältnisse zu erlangen, steigt immer auf der
anderen Seite der Preis der Waren, solange nicht
emanzipiert wird der Wirtschaftskreislauf von dem
Rechtskreislauf des politischen Staates. Diese Dinge werden
alle erst auf eine gesunde Basis gestellt werden
können, wenn diese Dreigliederung eintreten
wird.
Ebenso wird man, wenn
man die notwendige Selbständigkeit des Geisteslebens
einsehen wird, einsehen, daß keine Notwendigkeit besteht,
die kapitalistischen Betriebe als solche hervorzurufen, sondern
die Art und Weise, wie im Laufe der neueren Zeit das Kapital
verwaltet worden ist, wie es verwendet worden ist dadurch,
daß es allein im Wirtschaftsprozeß
drinnensteht, das ist es, was das Kapital in seiner Wirksamkeit
zu den Schäden gebracht hat, mit denen soviel Elend
verknüpft ist.
Man wird einsehen
müssen: Solange nicht der Arbeitsvertrag auf die Teilung
desjenigen sich bezieht, was gemeinsam der Handarbeiter mit dem
Geistesarbeiter hervorbringt, sondern solange sich der
Arbeitsvertrag auf die Entlohnung der Arbeit bezieht, so
lange ist es unmöglich, daß dies auf eine gesunde
Basis gestellt wird.
Einzig und allein
dadurch, daß dem Geistesleben seine gesunde
Wirklichkeit gegeben wird, wird aufgedeckt werden in
jedem Falle, in dem es notwendig ist in dem Verhältnis
zwischen Arbeiter und geistigem Lenker, daß da, wo
der Arbeiter übervorteilt ist, er nicht durch die
Wirtschaft bloß übervorteilt ist, sondern
dadurch übervorteilt ist, daß derjenige, der
der Unternehmer ist, seine individuellen Eigenschaften, seine
geistigen Eigenschaften in einer nicht richtigen Weise, in
einer nicht rechtlichen, in einer nicht menschenwürdigen
Weise verwertet. Der Arbeiter wird nicht durch das
Wirtschaftsleben ausgebeutet, der Arbeiter wird durch
jene Lebenslüge ausgebeutet, die dadurch entsteht,
daß im heutigen gesellschaftlichen Organismus die
individuellen Fähigkeiten gerade verwendet werden
können zur Übervorteilung des Arbeiters, weil sie
innerhalb des Wirtschaftsprozesses nicht gesehen werden
können von beiden Seiten; innerhalb des gesunden
Geisteslebens werden sie von beiden Seiten gesehen und
kontrolliert werden.
Wie gesagt, ich kann
es gut einsehen, daß dasjenige, was ich hier
angeführt habe gerade zur Gesundung des sozialen
Organismus, heute auch noch manchem Proletariergemüte
widerstreben kann. Ich kann es einsehen. Ich habe seit
Jahren unter Arbeitern, mit Arbeitern über diese Dinge
gesprochen. Ich habe ja nicht nur einzelne Zweige des
Unterrichts innerhalb der Arbeiterbildungsschule
verwaltet, ich habe mit den Arbeitern auch Redeübungen
getrieben. In den Übungen, die zur Redeübung
getrieben wurden, wurde mancherlei auch von Seiten der
Arbeiter vorgebracht in dieser Gemeinschaft, was so recht
zeigte, welche besondere Färbung, welche besondere
Artung die Forderungen des modernen Proletariats haben. Da
bekommt man schon die Fähigkeit, nicht nur so, wie die
Angehörigen der heutigen leitenden Kreise oder der bisher
leitenden Kreise es tun, nur über den Proletarier denken
— nein, man erlangt die Fähigkeit, mit dem
Proletarier zu denken. Das ist es, was ich Ihnen heute sagen
wollte: mit dem Proletarier zu denken, nicht nur über ihn
zu denken!
Meinem Wollen nach
gedacht, ist es so — das möchte ich, daß Sie
das verstanden haben — , daß man vielleicht mit Bezug
auf den Inhalt der Meinungen da oder dort voneinander abweichen
könne, daß es aber zunächst im heutigen
weltgeschichtlichen Augenblicke nicht darauf ankommt, ob
man in der einen oder in der anderen Meinung abweicht, sondern
ob man zusammenstimmt in jener ehrlichen Forderung, die sein
muß die Forderung des modernen Proletariats. Allein
dadurch, daß man sich zu dieser Übereinstimmung
bequemt, zu der Übereinstimmung in dem ehrlichen Wollen,
einzig und allein dadurch können die Keime gefunden
werden, die in der proletarischen Weltanschauung zur
Weiterbildung liegen. Denn der Zeitpunkt ist
vorüber, wo bloß diskutiert werden kann; der
Zeitpunkt ist vorüber, wo Leute, die nur ihrem Interesse
dienen wollen, von Verständigung sprechen durften. Der
Zeitpunkt ist gekommen, wo die jahrzehntelangen, bloß aus
den Unterströmungen hervorgehenden Forderungen des
modernen Proletariers auf den weitgeschichtlichen Plan
treten, wo sie wirklich zu dem allerwichtigsten,
allerbedeutungsvollsten Ereignis der neueren Zeit
werden.
Was aus dem Chaos des
modernen Wirtschaftskrieges, des modernen Weltkrieges sich
herausgebildet hat, was lange Zeit, ja was vielleicht für
die Zukunft immer mehr die Zukunft erfüllen wird, das wird
die soziale Frage sein. Nicht eine unwirkliche, nicht eine
theoretische Lösung oder den Versuch einer solchen wollte
ich Ihnen heute vorführen; auf das wollte ich aufmerksam
machen, daß nun einmal die Zeit angebrochen ist, wo die
soziale Frage da ist, wo die Menschen in ihrem sozialen
Zusammenwirken so gegliedert werden müssen in
Staats-, Wirtschafts- und geistige Organe, daß aus
dieser gesunden Gliederung eine fortdauernde Lösung
der sozialen Frage hervorgehen kann.
Diese soziale Frage
wird nicht von heute auf morgen gelöst werden, nachdem sie
einmal da ist; sondern weil sie immer da sein wird, wie das
Leben seine Konflikte immer neu erzeugt, so wird immerzu auch
jene Gliederung der Menschheit da sein müssen, welche nach
der Lösung der im sozialen Leben aufgehenden Konflikte in
ehrlicher Weise strebt. Ob man versuchen wird, in weitesten
Kreisen darauf aufmerksam zu werden, daß in einer
solchen Fortentwickelung der proletarischen
Weltanschauung die Gesundung in die Zukunft hinein liegen
wird, davon wird es abhängen, wohin der Ausgangspunkt der
modernen proletarischen Bewegung führen wird. Und er
muß eigentlich dahin führen, aus all den berechtigten
Forderungen der Lohnfrage, der Brotfrage heraus sich zu erheben
zu jener mächtigen, weltgeschichtlichen Umwälzung,
die aus dem Bewußtsein des modernen Arbeiters heraus
übergehen wird in das allgemeine
Menschheitsbewußtsein, die aus der Würde, aus der
empfindungsgemäßen Würde des modernen
Proletariers heraus begründen wird die wahre
Menschenwürde für alle Menschen, die die anderen
bisher nicht begründen konnten.
In der sich
anschließenden Diskussion äußerten sich mehrere
Redner. Den Abschluß bildete das folgende Schlußwort
Rudolf Steiners:
Rudolf
Steiner: Ja, ich muß zunächst einmal mit Bezug auf den
verehrten ersten Einredner etwas wie eine prinzipielle
Bemerkung machen. Man ist sehr häufig, wenn man redet, in
der Lage, sagen zu müssen, daß man eigentlich nicht
recht versteht, warum Dinge, wie sie von dem ersten
Redner gesagt worden sind, just in der Form gesagt werden
müssen, als wenn es eine Widerlegung dessen
wäre, was man selbst gesagt hat. Der erste Redner hat so
gesprochen, als wenn er in die Notwendigkeit versetzt
wäre, mich gewissermaßen in allen Stücken
— wenn er auch manches anerkannt hat, so wenigstens in
bezug auf die ganze Haltung — eigentlich bekämpfen
zu müssen. Ich bin nicht in der Lage, ihn
bekämpfen zu müssen, sondern ich muß
sagen, daß ich eigentlich meine, daß derjenige, der
mir recht zugehört hat, gar nicht soviel haben wird gegen
dasjenige, was der erste Redner gesagt hat. Ich bin in der
Lage, in vielem mehr anerkennen zu können, auch in bezug
auf das Inhaltliche, das, was er ausgesprochen hat, als er
dasjenige irgendwie ins Auge zu fassen scheint, was ich
eigentlich gewollt habe.
Nun, eines scheint mir
wichtig zu sein in den Einzelheiten. Es ist merkwürdig,
daß der erste Herr Redner glaubte, hervorheben zu
müssen, daß dasjenige, was ich gesagt habe,
entstanden sei dadurch, daß ich nur mit Arbeitern
gesprochen habe, nicht mit Arbeitern mitgewirkt habe. Ja, nun,
natürlich kann jeder nur auf seinem Gebiet wirken; aber
die Art und Weise, wie ich mit Arbeitern zusammengewirkt habe,
war schon so, daß man nicht sagen kann, daß es
bloß mit Arbeitern gesprochen war. Ich glaube auch,
daß derjenige, der vielleicht mehr eingeht auf das, was
auch den heutigen Vortrag durchsetzte, auf das ganze Wollen es
begreiflich finden wird, daß ich jahrelang nicht so
angesprochen worden bin, obwohl ich es begreife, daß ich
heute so angesprochen werde. Ich bin nicht immer so
angesprochen worden, allein das glaube ich, aus dem einfachen
Grunde, weil dazumal die Arbeiter schon gefühlt haben,
daß dasjenige, was ich zu sagen habe, nicht heraus
gesprochen ist aus dem bloßen Reden mit den
Arbeitern.
Wenn es mir
möglich geworden ist, in einer solchen Weise zu reden, wie
ich auch heute wieder reden mußte, so ist das wahrhaftig
nichts Angelerntes. Denn, werfen wir einmal die Frage
auf: Wer darf sich denn eigentlich zu den Proletariern rechnen?
Derjenige der mit den Proletariern, zu den Proletariern
reden darf dadurch, daß er durch sein Schicksal und
durch eigene Kraft sich dazu durchgerungen hat, so zu reden,
wie ich es heute aber auch nur als freier Redner kann. Denn in
den Kreisen, mit denen mir vorgeworfen worden ist,
Gemeinschaft zu haben, ja, da bin ich vielleicht schon genau
ebenso, vielleicht noch viel übler behandelt worden,
als ich heute abend hier behandelt worden bin. Es ist doch
etwas anderes, wenn man sich, wie ich, ja auch entsprechend
durchgerungen hat; ich werde es auch weiter in dem kurzen
Leben, das mir noch zur Verfügung steht. Ich habe mich
aber jahrelang durchgerungen dadurch, daß ich mit
den Proletariern gesprochen, mit den Proletariern
gearbeitet, mit dem Proletariat mitgehungert habe. Ich habe
nicht «Postbeamte gefragt, wieviel sie haben, um dabei
verhungern zu können», sondern ich habe selbst
mithungern müssen. Denn diejenige Familie, aus der ich
herausgewachsen bin, war in einer viel übleren Lage, als
vielleicht jene «Postbeamten» alle, die man heute
fragen kann. Ich habe nicht allein gelernt, den Proletarier zu
verstehen dadurch, daß ich über ihn denken lernte,
sondern ich habe gelernt, den Proletarier dadurch zu verstehen,
daß ich selber mit ihnen, mit den Proletariern
gelebt habe, daß ich herausgewachsen bin aus dem
Proletariat, mit dem Proletariat auch hungern lernte und
mußte. Aus diesen Untergründen heraus spürte man
schon dazumal, als ich jahrelang mit Arbeitern
zusammenarbeiten konnte, daß ich nicht aus der
Theorie, sondern aus einer ganz gehörigen Praxis heraus zu
sprechen in der Lage bin. Ich glaube, das kann auch eine
Grundlage dazu abgeben, ob man ein gewisses Recht hat, zu
Proletariern zu sprechen oder nicht.
Das ist es, was ich zu
der einen Sache sagen möchte.
Dann bezog sich ein
großer Teil dessen, was der erste Redner vorgebracht
hat, ja eigentlich gar nicht auf mich, es bezog sich auf die
Intellektuellen. Ja, da hat bereits der Vorsitzende
gesagt: Wenn irgendeiner davon reden kann, daß er mit
Schmutz beworfen worden ist, von den Intellektuellen mit
Schmutz beworfen worden ist, dann darf ich es. Denn wahrhaft,
wenn Sie nachgehen würden der Art und Weise, wie ich mit
Schmutz beworfen worden bin, und namentlich der Art und Weise,
wie dieser Schmutz ausschaut, dann würden Sie mich
wahrscheinlich um den Umgang, wie ich ihn genossen habe mit den
Intellektuellen, nicht beneiden.
Das ist eine
persönliche Bemerkung; es sind überhaupt dies
persönliche Bemerkungen. Aber dasjenige, was mir erwidert
worden ist, geht ja auch im Grunde auf das Persönliche,
und deshalb mußte schon diese Bemerkung gemacht
werden.
Nun, ein großer
Teil bezog sich selbstverständlich überhaupt nicht
auf mich, bezog sich auf die Studentenschaft. In bezug auf das
letztere: Glauben Sie, daß ich es durchaus nicht verkenne,
daß ein großer Teil der heutigen Studentenschaft von
dem Vorwurf mit Recht getroffen wird, daß nun sein Ideal
das des untersten Lohnarbeiters nicht erreicht! Da könnte
man selbstverständlich über dieses Kapitel sehr viel
reden. Aber gerade der moderne Arbeiter sollte auf der anderen
Seite verstehen, daß schließlich so, wie aus den
Verhältnissen heraus die anderen Menschenklassen
sich gebildet haben, so schließlich auch der moderne
Student sich aus den Verhältnissen heraus gebildet hat.
Wer unbefangen vergleichen kann das Streben innerhalb der
modernen Studentenschaft, als Streben, mit demjenigen, was zum
Beispiel innerhalb der Studentenschaft angetroffen worden
ist, als ich selbst — es ist lange her — unter
dieser Studentenschaft noch war, der wird sagen, daß
allerdings mit Bezug auf die Gründlichkeit, in der gerade
in den Niedergangserscheinungen des Bürgertums die moderne
Professorenschaft drinnensteckte, von der die Studentenschaft
selbstverständlich abhängig sein muß — mit
Bezug auf dasjenige, was da als Beispiel voranleuchtete der
modernen Studentenschaft, kann man doch für alle die
Blüten, die immerhin gerade in der modernen
Studentenschaft aufgehen nach dem Besseren hin, auch eine
gewisse Befriedigung haben. Es werden ganz gewiß —
wenn auch die Sache heute so ausschaut, als ob die
Studentenschaft den Arbeitern in den Rücken fällt
— gerade aus der Studentenschaft Mitarbeiter für die
sozialen Ideale, ich glaube sogar in sehr reicher Zahl,
hervorgehen. Der Student hat heute mancherlei zu
überwinden. Man muß nicht vergessen, wie eisern die
Klammern sind, mit denen man festgehalten ist. Ich habe gerade
in letzter Zeit mannigfaltige Gelegenheit gehabt, auch mit
jungen Studenten über Dinge zu sprechen, die
vielleicht deren unmittelbaren Ideal ferner liegen, aber
die naheliegen demjenigen, was sich als ein gesundes
Geistesleben im allgemeinen aus dem kranken Geistesleben heute
herausentwickeln muß. Ich weiß, welche
Empfänglichkeit in der Jugend für eine Erneuerung des
Geisteslebens ist. Ich weiß aber auch, wie groß die
Versuchung ist, wenn man die Begeisterung der Jugend hinter
sich hat, die das Diplom erreicht hat und notwendig hat,
innerhalb der modernen bürgerlichen Gesellschaft
eine Stelle zu suchen, wie nahe da die Versuchung liegt, dann
wiederum hinein zu versumpfen in das Philistertum, in das
Spießertum.
Wir kommen
natürlich nicht von heute auf morgen zu einer
endgültigen Lösung desjenigen, was wir erhoffen
und ersehnen. Aber das müßte doch erkannt werden,
daß überall dort, wo eine solche Sehnsucht, ein
solches verständiges Ersehnen desjenigen, was mit Recht
der moderne Proletarier fordert, Platz greift, man es nicht
niederdrücken sollte dadurch, daß man in einer
gewissen fanatischen, dogmatischen Weise das eine mit dem
anderen zusammenwirft. Ich glaube doch, daß dieses
Dogmatische wenigstens bis zu einem gewissen Grade — wenn
auch im modernen Kampfe die Mittel nicht allzu glimpflich
gewählt werden können — weichen müßte
der Gesinnung, von der ich in meinem Vortrage gesprochen
habe: daß es weniger ankommen sollte auf die
Verschiedenheit der Gedanken, sondern auf die Gleichheit
des ehrlichen Wollens.
Nun, fragen Sie
einmal, wie viele von denjenigen, von denen Sie sagen, daß
sie einem in den Rücken fallen, abhängig von den
Verhältnissen sind, in die der moderne Student
hineingestellt ist, und fragen Sie auf der anderen Seite aber
auch, wieviel ehrliches Wollen gerade in der heutigen
Jugend sich geltend macht. Pflegen Sie es lieber, statt
daß Sie es dadurch, daß Sie ins Dogmatische fallen,
geradezu lähmen.
Nun, was dann der
zweite Redner zunächst vorgebracht hat, da kann ich ja
sagen: Ich bin einverstanden mit dem Rufe, der da links
gefallen ist, daß ja im Grunde genommen das nicht so sehr
verschieden ist von demjenigen, was ich selber gesagt habe; und
ich versteife mich nicht so sehr darauf, daß die Dinge
gerade so gesagt werden, wie ich sie gesagt habe. Wenn irgend
etwas, sagen wir, heute zur Besserung helfen kann, so bin ich
erfreut darüber. Und ich will deshalb auch nicht mit etwas
anderem so scharf ins Gericht gehen, was vom zweiten
Redner gesagt worden ist; ich möchte nur aber etwas
richtigstellen, was immerhin darauf hinweisen kann, daß
dieser Redner doch die Sache nicht so ganz genau genommen hat.
Er hat zum Beispiel meinen Hinweis darauf, daß ich
jahrelang in der Arbeiterbildungsschule gelehrt habe in
Berlin, dahin verdächtigt, daß er sagte: Das
wird wohl nur ein liberaler Bildungsverein gewesen sein.
— Ich habe ausdrücklich gesagt, es war die von dem
alten Liebknecht, von Wilhelm Liebknecht begründete
Arbeiterbildungsschule! Nun glaube ich nicht, daß
Sie zuschieben dem alten Liebknecht, daß er einen
x-beliebigen Bildungsverein für die Arbeiterschaft
begründete, wie ihn die Arbeiterschaft in der
damaligen Zeit auch gar nicht entgegengenommen
hätte. Die Zuhörer waren nicht Menschen aus den
«gewöhnlichen bürgerlichen Liberalen»,
sondern lediglich Arbeiter, lediglich aus den Kreisen der
Proletarier und durch die Bank organisierte
Sozialdemokraten!
So glaube ich,
daß auch manche andere von mir gesprochenen Worte gerade
von diesem Herrn Redner nicht in der richtigen Weise
aufgefaßt worden sind, wie ich es eigentlich gewollt habe,
und wie man es doch auch auffassen kann, wenn man nicht von
vornherein mit einem Vorurteil nicht nur dann kommt, wenn
der andere eine andere Meinung hat, sondern sogar, wenn er das,
was man selber meint, nur in einer etwas anderen Form
ausspricht, weil er glaubt, daß es eben notwendig ist,
daß heute in diesem weltgeschichtlichen Augenblick die
Dinge umfassender genommen werden müssen, und weil er
glaubt, daß nicht jeder heute ein Praktiker genannt werden
könnte, der nur nach dem Allernächsten urteilt,
sondern derjenige der wahre Praktiker ist, der
größere Verhältnisse
überschaut.
Was die Auffassung der
Frage des «Aufrufes» betrifft, wo darauf
hingewiesen worden ist, daß das fast wörtlich
übereinstimme mit dem, was ich Ihnen heute Abend gesagt
habe — Sie werden sich nicht wundern darüber,
da Sie ja gehört haben, daß der «Aufruf»
von mir selber verfaßt worden ist, und Sie werden nicht
von mir verlangen, daß ich, wenn ich da oder dort etwas
spreche, wenn ich also etwa spreche zu Bürgerlichen,
daß das anders lauten soll als das, was ich hier sage vom
Podium aus.
Einwurf: Entweder
überall gleich, oder ...
Das sage ich ja
gerade: Ich sage: in dem «Aufruf» steht dasselbe, was
ich hier gesagt habe. In jenem «Aufruf» steht
nirgendwo etwas anderes, als was ich hier gesagt
habe.
Mir kommt es darauf
an, daß dasjenige, was ich sage, in meinem Sinne die
Wahrheit ist, und ich werde die Wahrheit an jedem Orte sagen,
wo es mir gestattet ist, die Wahrheit zu sagen. Ich spreche nur
die Wahrheit aus, darauf kommt es mir an. Das ist es, was ich
in dieser Beziehung zu sagen habe. Ich werde niemanden
ausschließen von irgend etwas, wenn er es mit seiner
Überzeugung vereinen kann und zu dem Ja sagt, was ich
selber sage. Denn ich glaube, dadurch kommen wir allein auf
einen grünen Zweig, daß wir die Wahrheit
aussprechen, unbekümmert darüber, welchen Eindruck
sie auf die Menschen macht, ob sie unterschreiben oder nicht.
Das ist es, was ich dazu sagen wollte.
Und dann möchte
ich nur noch zum Schlusse das eine bemerken, das sich bezieht
auf das, was der nächste Redner gesagt hat: Ich hätte
nichts über die Kampfesweise gesagt. — Aber aus
meinen Worten konnten Sie überall entnehmen, wie ich
über diese Kampfesweise eigentlich denke. Ich glaube es
genugsam angedeutet zu haben, daß es nicht meine
Meinung ist, daß es heute auf eine
oberflächliche Verständigung, oder wie die
schönen Dinge alle heißen, ankommen kann. Heute sind
wir eingerückt in ein Tatsachenstadium, wo in der
Tat nichts anderes möglich ist, als daß wir nicht
bloß zu leeren Anschauungen kommen, wie die Dinge
gewandelt werden müssen, sondern dadurch, daß wir zur
Anschauung kommen, welche neuen Gedanken wirklich möglich
sind, in die Seelen der Menschen hineinzubringen. Denn die
alten Gedanken haben eben gezeigt, was für eine soziale
Ordnung sie zustande bringen können, und diesen alten
Gedanken ist damit der Beweis geliefert, daß sie
unbrauchbar sind. Deshalb glaube ich, daß es sich
zunächst, zu allernächst, für das
allernächst Praktische darauf ankommt, daß
diejenigen, die ehrliches soziales Wollen haben, sich vor allen
Dingen einmal verständigen über dasjenige, was
geschehen kann.
Wir stehen heute in
der Schweiz — ich weiß nicht, ob man da sagen soll
«Gott sei Dank» oder «leider» — noch
in Verhältnissen drinnen, die nicht so sind, wie in
mittel- und osteuropäischen Verhältnissen es ist.
Mittel- und Osteuropa steht ja in Verhältnissen drinnen,
die wirklich nur bewältigt werden können durch
Anknüpfen an die Urgedanken des sozialen Organismus. Und
wenn da nicht der Versuch gemacht wird, daß
zunächst unter dem Proletariat selber die
fundamentalen Fragen besprochen werden, wie nun aus
diesem Chaos heraus durch die einfachsten Organisationen, die
aber alle den Charakter tragen müssen, meiner Ansicht
nach, jener Dreigliederung des sozialen Organismus — wenn
nicht unter dem Proletariate selbst die Gesundung dadurch
herbeigeführt wird, daß Organisationen neu
geschaffen werden, nach neuen Gedanken, so sehe ich
überhaupt zunächst für Jahrzehnte hinaus kein
Heil.
Beginnen wird man
müssen zunächst vor allen Dingen mit dem, was Ihnen
vielleicht als unwesentlicher Punkt erscheint: Zuerst
müssen wir einsehen, daß wir nicht nur
gegenüberstehen bürgerlichen Einrichtungen,
bürgerlichen Zuständen, sondern daß wir
gegenüberstehen einer bürgerlichen
Wissenschaft.
Das habe ich im
Berliner Gewerkschaftshaus vor sechzehn Jahren gesagt,
und das wurde selbst innerhalb des Proletariats richtig
verstanden. Das Proletariat hat noch die Aufgabe, dasjenige,
was in seinem Denken von bürgerlicher Wissenschaft ist,
zunächst auszutreiben, und nicht im Sinne der
bürgerlichen Wissenschaft irgendwelche Einrichtungen zu
treffen, sondern im Sinne gerade jener Art neuer Gedanken, die
vielleicht nur von dem Proletariat eben gefunden werden
können, weil das Proletariat emanzipiert ist von allen
übrigen menschlichen Zusammenhängen, in denen
leider die bürgerlichen Menschen
drinnenstehen.
Daher handelt es sich
heute vor allen Dingen darum, daß das, was Ihnen
vielleicht als das Unwesentlichste erscheint, die Emanzipation
des geistigen Lebens, die Freiheitsentwickelung des geistigen
Lebens, durchgeführt werde. Kommen wir dazu, ein wirklich
freies Geistesleben zu haben, kommen wir dazu, daß nicht
mehr eine Wissenschaft, die dem Kapitalismus tributpflichtig
ist, den Ton angeben kann, bis in die Kreise des Proletariats
hinein den Ton angeben kann, dann erst gehen wir einer
Gesundung entgegen. Nicht eine Verengerung im
bürgerlichen Sinne, nicht eine Verengerung will ich,
sondern gerade eine Erweiterung
der proletarischen
Aufgaben.
Und ich habe den
festen Glauben — mögen Menschen, die von dem
Gesichtspunkte aus, den ich ganz gut verstehen kann, reden, wie
der zweite Redner, noch soviel dagegen einwenden, daß man
nicht versteht Satz für Satz, was ich gesagt habe — ,
ich habe den festen Glauben, den ich mir durch ein langes Leben
unter dem Proletariat erworben habe, daß dasjenige, was
ich gesagt habe, zunächst nicht von den anderen Klassen,
sondern gerade vom Proletariat verstanden werden wird. Und es
muß leider gewartet werden, bis es vom Proletariat
verstanden werden wird. Ich glaube aber, da wird es verstanden
werden können.
Und in diesem
Gedanken, möchte ich sagen, kann ich auch mit einer
gewissen Zufriedenheit zurückblicken auf dasjenige, was
heute abend von mir erreicht werden wollte. Ich habe Sie
wahrhaftig nicht bis ins Wort hinein in allen Einzelheiten
überzeugen wollen. Dazu achte ich zu sehr Ihre freie
Persönlichkeit; dazu achte ich zu sehr eines jeden freies
Einverständnis. Aber ich habe den Glauben, daß unter
Ihnen viele sind, die noch anders denken werden über
dasjenige, was ich gesagt habe, als Sie schon heute gedacht
haben. Und dieser Glaube ist es eben, wovon ich annehme,
daß er dazugehört zur Gesundung des sozialen
Organismus.