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Raffaels Mission Im Lichte der Wissenschaft vom Geiste

vom Ergebnisse der Geistesforschung

Schmidt-Nummer: S-2694

Online seit: 15th June, 2018

Raffaels Mission Im Lichte der Wissenschaft vom Geiste

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Lectures Section

Diese Einzelvorlesung ist die 9. von 14 Vorlesungen in der Vorlesung Serie berechtigt, Ergebnisse der Geistesforschung. Diese Vortragsreihe wird hier mit freundlicher Genehmigung des Rudolf Steiner Nachlassverwaltung, Dornach, Schweiz.

Rudolf Steiner


Bn 62.9; GA 62; CW 62

Diese Einzelvorlesung ist die 9. von 14 Vorlesungen in der Vorlesung Serie berechtigt, Ergebnisse der Geistesforschung.

Diese Vortragsreihe wird hier mit freundlicher Genehmigung des Rudolf Steiner Nachlassverwaltung, Dornach, Schweiz. Von Bn 62.9; GA 62; CW 62.

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RAFFAELS MISSION IM LICHTE DER
WISSENSCHAFT VOM GEISTE


Berlin, 30. Januar 1913


Raffael gehört zu denjenigen Gestalten der menschlichen Geistesgeschichte, welche wie ein Stern auftauchen, die einfach da sind, so daß man das Gefühl hat, sie kommen aus unbestimmten Untergründen der geistigen Entwicklung der Menschheit plötzlich herauf und verschwinden dann wieder, nachdem sie durch gewaltige Schöpfungen ihre Wesenheit in diese Geistesgeschichte der Menschheit eingegraben haben. Bei genauerem Zusehen stellt sich allerdings dem forschenden Blicke heraus: eine solche menschliche Wesenheit, von der man erst angenommen hat, daß sie wie ein Stern aufglänzt und wieder verschwindet, fügt sich in das ganze menschliche Geistesleben wie ein Glied in einen großen Organismus ein. Dieses Gefühl hat man insbesondere bei Raffael.

Herman Grimm, der bedeutsame Kunstbetrachter, von dem ich das letztemal hier sprechen durfte, hat versucht, Raffaels Wirkung, Raffaels Ruhm durch die Zeiten zu verfolgen, die auf Raffaels eigenes Zeitalter gefolgt sind, bis in unsere Tage herein. Er konnte zeigen, daß dasjenige, was Raffael geschaffen hat, nach seinem Tode fortwirkte wie ein Lebendiges, daß ein einheitlicher Strom geistigen Werdens vom Leben Raffaels bis über seinen Tod hin fortgeht und sich eben bis in unsere Tage hereinzieht. Hat Herman Grimm so gezeigt, wie die nachfolgende Menschheitsentwickelung hinüberlebt über Raffaels Schaffen, so möchte man auf der andern Seite, der geistigen Geschichtsbetrachtung gegenüber, sagen: auch die vorhergehenden Zeiten können einem aus dem oder jenem den Eindruck geben, als ob sie doch in einer gewissen Beziehung schon so hinwiesen auf den erst später in die Weltentwickelung hineintretenden Raffael, wie eben ein Glied sich einreiht in einen ganzen Organismus.

Man möchte sich an einen Ausspruch erinnern, den Goethe einmal getan hat, und ihn sozusagen von der Raumeswelt auf die Zeitenwelt anwenden. Goethe tat einmal den bedeutsamen Ausspruch: «Wie kann sich der Mensch gegen das Unendliche stellen, als wenn er alle geistigen Kräfte, die nach vielen Seiten hingezogen werden, in seinem Innersten, Tiefsten versammelt, wenn er sich fragt: darfst du dich in der Mitte dieser ewig lebendigen Ordnung auch nur denken, sobald sich nicht gleichfalls in dir ein beharrlich Bewegtes um einen reinen Mittelpunkt kreisend hervortut?»

Mit Anwendung dieses Ausspruches auf die Zeitentwickelung möchte man sagen, daß in einer gewissen Beziehung die Götter Homers, die von Homer fast ein Jahrtausend vor der Begründung des Christentums so grandios geschildert worden sind, in unseren nach der Vorzeit blickenden Augen etwas verlieren würden, wenn wir nicht schauen könnten, wie sie wiedererstanden sind in der Seele Raffaels und da erst in einer gewissen Beziehung durch den mächtigen bildhaften Ausdruck, den sie in Raffaels Schöpfungen gefunden haben, eine besondere Vollendung erfahren haben. So gliedert sich uns das, was Homer lange Zeit vor der Entstehung des Christentums geschaffen hat, mit demjenigen, was im sechzehnten Jahrhundert aus der Seele Raffaels entsprungen ist, zusammen zu einem organischen Ganzen.

Und wiederum: lenken wir den Blick hin auf die biblischen Gestalten, von denen uns das Neue Testament spricht und betrachten dann die Bildwerke Raffaels, so haben wir das Gefühl, die Empfindung, als würde uns sogleich etwas fehlen, wenn zu der Schilderung der Bibel nicht hinzugekommen wäre die gestaltenschaffende Kraft in Raffaels Madonnen und ähnlichen Bildern, die aus der biblischen Tradition und Legende entsprungen sind. Daher möchte man sagen: Raffael lebt nicht nur fort in den auf ihn folgenden Jahrhunderten, sondern was ihm vorangegangen ist, das gliedert sich mit seinem eigenen Schaffen zu einem organischen Ganzen zusammen und weist, gleichsam um seine Vollendung durch ihn zu erhalten, auf ihn schon hin, wenn das auch erst in der späteren geschichtlichen Betrachtung zum Ausdruck kommt.

So erscheint ein Wort, das Lessing an bedeutsamer Stelle gebraucht hat, das Wort «die Erziehung des Menschengeschlechts», gerade dann in einem besonderen Lichte, wenn wir sehen, wie in solcher Art ein einheitliches geistiges Wesen hinflutet durch die Entwicklung der Menschheit, und wie dieses einheitliche Wesen besonders aufstrahlt in solchen hervorragenden Gestalten, wie Raffael eine ist. Und das, was wir oftmals vom geisteswissenschaftlichen Standpunkte aus in Beziehung auf die Geistesentwickelung der Menschheit betonen konnten, die wiederholten Erdenleben des Menschenwesens, sie lassen sich in einer ganz besonderen Weise empfinden, wenn man das eben Gesagte ins geistige Auge faßt. Da gewahrt man erst, wie es einen Sinn hat, daß dieses Menschenwesen in wiederholten Erdenleben durch die Epochen der Menschheit hindurch immer wieder und wieder erscheint und selber von einem Zeitalter zum andern dasjenige trägt, was der Geistesentwickelung der Menschheit eingepflanzt werden soll. Sinn und Bedeutung sucht die Geisteswissenschaft in der Entwickelung der Menschheit. Nicht will sie bloß wie in einer gerade fortlaufenden Entwicklungslinie darstellen, was aufeinanderfolgend geschehen ist, sondern den einzelnen Zeitaltern will sie einen Gesamtsinn zuerteilen, so daß die Menschenseele, wenn sie immer wieder und wieder in den aufeinanderfolgenden Erdenleben erscheint, diese Erde so betritt, daß sie immer wieder und wieder Neues erleben kann. So daß wir wirklich sprechen können von einer Erziehung, welche die Menschenseele durch ihre verschiedenen Erdenleben durchmacht, eine Erziehung durch alles das, was von dem gemeinsamen Geiste der Menschheit geschaffen und ausgebildet wird.

Was hier vom geisteswissenschaftlichen Standpunkte aus über das Verhältnis Raffaels zu der gesamten Menschheitsentwicklung der letzten Jahrhunderte vorgebracht werden soll, das soll nicht eine philosophische Geschichtskonstruktion sein, sondern etwas, das sich auf naturgemäße Weise durch mancherlei Betrachten von Raffaels Schaffen ergeben hat. Und nicht weil es sozusagen eine Art von Trieb sein könnte, das Geistesleben der Menschheit philosophisch zu konstruieren, soll das gesagt werden, was die Betrachtung des heutigen Abends ausmacht, sondern weil alles, was sich mir selbst ergeben hat nach mancherlei Anschauen und Betrachten der verschiedenen Schöpfungen Raffaels, sich ganz naturgemäß zu dem zusammenkristallisiert hat, was ich darstellen möchte. Allerdings wird es unmöglich sein, auf einzelne Schöpfungen Raffaels einzugehen. Das kann man nur, wenn man in der Lage ist, durch irgendwelche Mittel zugleich die Bildwerke Raffaels den Zuhörern vorzuführen. Aber das Gesamtschaffen Raffaels drängt sich ja auch zu einem Gesamteindruck in der Empfindung zusammen. Man trägt, wenn man Raffael studiert hat, sozusagen etwas von einem Gesamteindruck in der Seele. Und dann mag man wohl fragen: Wie nimmt sich dieser Gesamteindruck gegenüber der Entwicklung der Menschheit aus?

Da fällt der Blick auf ein bedeutsames Zeitalter, mit dem Raffael innig zusammenhängt, wenn man ihn auf sich wirken läßt, jenes Zeitalter, das ja die Menschheit dadurch besonders charakterisiert, daß sie es zusammenfallen läßt mit der Entwicklung des griechischen Volkes. Und in der Tat: wenn wir die Menschheitsentwicklung der letzten Jahrtausende betrachten, so stellt sich wie eine Art von mittlerer Epoche in diese Menschheitsentwicklung der letzten Jahrtausende das hinein, was die Griechen nicht nur geschaffen, sondern was sie durch ihre ganze Wesenheit erlebt haben. Was der griechischen Kultur, die in einer gewissen Beziehung zusammenfällt mit der Begründung des Christentums, vorangegangen ist, das stellt sich uns mit einem ganz anderen Charakter dar als das, was dieser griechischen Kultur nachgefolgt ist. Wenn wir die Menschen in der Zeit betrachten, die der griechischen Kultur vorangegangen ist, so finden wir, daß damals Seele und Geist der Menschen viel inniger zusammenhingen mit allem Leiblichen, mit dem äußerlich Körperlichen, als das in der späteren Zeit der Fall ist. Was wir heute Verinnerlichung der Menschenseele, Sich zurück ziehen der Menschenseele nennen, wenn sich diese dem Geist zuwenden, zum Besinnen über das kommen will, was als Geistiges der Welt zugrunde liegt, das gab es für die der griechischen Zeit vorangegangenen Zeiten nicht in solchem Maße wie heute. Damals war es so, daß, wenn sich der Mensch seiner leiblichen Organe bediente, ihm gleichzeitig die geistigen Geheimnisse des Daseins in seine Seele hereinleuchteten. Eine solch abgeschlossene Betrachtung der Sinnenwelt, wie sie in der heute gebräuchlichen Wissenschaft vorhanden ist, war in älteren Zeiten nicht vorhanden. Der Mensch schaute mit seinen Sinnen die Dinge an und empfand, indem er den Sinneseindruck vor sich hatte, zugleich dasjenige, was geistig-seelisch in den Dingen lebte und webte. Mit den Dingen und ihrer Betrachtung durch die Sinne ergab sich zugleich dem Menschen das Geistige. Ein besonderes Zurückziehen von den sinnlichen Eindrükken, ein besonderes Sich hingeben der Innerlichkeit der Seele, um zum Geistigen der Welt vorzuschreiten, war in der älteren Zeit nicht notwendig.

Wenn wir in der Menschheitsentwickelung sehr weit zurückgehen, so finden wir, daß selbst das, was wir im besten Sinne des Wortes «hellsichtige Betrachtung der Dinge» nennen, ein allgemeines Gut der Menschheit der Urzeiten war, und daß dieses hellsichtige Betrachten nicht durch abgesonderte Zustände erreicht wurde, sondern da war und etwas so Naturgemäßes war, wie die sinnliche Betrachtung. Dann kam das Griechentum mit seiner ihm eigentümlichen Welt, von der man sagen kann, daß zwar damit die Verinnerlichung des Geisteslebens beginnt, daß aber das, was der Geist innerlich erlebt, überall noch im Zusammenhange gesehen wird mit dem Äußeren, das in der Sinneswelt vorgeht. Im Griechentum halten sich das Sinnliche und das Seelisch-Geistige die Waage. Nicht mehr so unmittelbar wie in der vorgriechischen Zeit war mit der Sinnesbetrachtung zugleich das Geistige gegeben. Es stieg gleichsam in der griechischen Seele das Geistige auf als ein innerlich Abgesondertes zwar, aber als etwas, was man empfand, wenn man die Sinne nach außen lenkte. Nicht in den Dingen, sondern an den Dingen wurde der Mensch das Geistige gewahr. So war in der vorgriechischen Zeit die Seele des Menschen gleichsam ausgegossen in die Leiblichkeit. Von der Leiblichkeit befreit hatte sie sich im Griechentume in einer gewissen Weise, aber das Seelisch-Geistige hielt dem Leiblichen im ganzen Griechentum noch die Waage. Daher kam es, daß das, was die Griechen schufen, ebenso durchgeistigt erscheint wie das, was ihnen, durch die Sinne ermöglicht, vor die Augen trat. - Dann kommen die nachgriechischen Zeiten, jene Zeiten, in denen sich der Menschengeist verinnerlicht, in denen es ihm nicht mehr gegeben war, daß er mit dem Sinneseindruck zugleich das empfangen konnte, was in den Dingen lebt und webt als Geistiges. Das sind die Zeiten, in denen sich die Menschenseele in sich zurückziehen mußte und abgesondert in einem besonderen Innenleben ihre Kräfte, ihre Überwindungen erleben mußte, wenn sie zum Geistigen vordringen wollte. Geistige Betrachtung der Dinge und sinnliche Anschauung der Dinge wurden sozusagen zwei Welten, welche die menschliche Seele zu durchleben hatte.

Wie erscheint uns das eben Gesagte anschaulich, wenn wir einen Geist wie zum Beispiel Augustinus betrachten, der ja in der nachchristlichen Zeit von der Begründung des Christentums kaum so weit getrennt ist als wir etwa von der Reformation. Wie charakteristisch erscheint uns der angedeutete Fortschritt der Menschheit, wenn wir das, was Augustinus erlebt und in seinen Schriften dargestellt hat, mit dem vergleichen, was aus der griechischen Welt überliefert ist! Was Augustinus in seinen «Confessiones» darlegt, was er uns zeigt als die Kämpfe der verinnerlichten Seele, was er uns zeigt als einen Schauplatz, der sich rein abgezogen von der Außenwelt in der inneren Seele darstellt, wie unmöglich erscheint uns das bei den Geistern Griechenlands, bei denen wir überall sehen, wie sich das, was in der Seele vorhanden ist, anknüpft an das, was sich in der Außenwelt abspielt.

Man darf sagen, wie durch einen mächtigen Einschnitt getrennt erweist sich die Entwickelungsgeschichte der Menschheit. Und in diese Entwickelungsgeschichte stellt sich hinein auf der einen Seite das Griechentum, das uns zeigt, wie das Menschentum die Waage hält in bezug auf das Geistig-Seelische und auf das äußerlich Leibliche. Auf der anderen Seite stellt sich in diesen Einschnitt hinein die Begründung des Christentums, die zunächst darauf ausging, alles, was die menschliche Seele erleben konnte, gleichsam innerlich, in inneren Kämpfen und Überwindungen zu erleben, den Blick hinzuwenden nicht auf die Sinneswelt, um die Rätsel des Daseins zu fühlen, sondern auf das, was der Geist erahnend erschauen konnte, wenn er sich rein den geistig-seelischen Kräften hingab. Wie unendlich verschieden und wie durch eine tiefe Kluft getrennt sind die schönen Griechen, die majestätischen und so vollendet schönen griechischen Götter Zeus oder Apollon von dem am Kreuze sterbenden, von innerer Tiefe und innerer Größe, aber nicht von äußerer Schönheit getragenen Christus am Kreuz. Das ist schon das äußere Symbol für jenen tiefen Einschnitt, den das Christentum und das Griechentum in die Entwickelung der Menschheit machen. Diesen Einschnitt sehen wir bei den Geistern, die auf die griechische Zeit folgen, wie eine immer stärker werdende Verinnerlichung der Seele sich auswirken.

Diese Verinnerlichung, die so stattgefunden hat, charakterisiert nun den weiteren Fortgang der menschheitlichen Entwickelung. Will man geisteswissenschaftlich diese Menschheitsentwickelung begreifen, so muß man sich schon klarmachen, daß wir in einem Zeitalter leben, das, je mehr wir es seinen unmittelbaren Vergangenheiten und den Ausblicken nach betrachten, die wir in eine eventuelle Zukunft tun können, immer mehr nach dem eben Gesagten sich uns darstellt als eine fortschreitende Verinnerlichung. So daß wir hinschauen auf eine Zukunft, in welcher in der Tat eine noch tiefere Kluft, als sie jetzt schon aus den Betrachtungen der Vergangenheit vorgestellt werden kann, sich auftürmen wird zwischen allem, was draußen in der Welt vorgeht, was sich abspielt in dem mehr oder weniger mechanischen, maschinellen Leben der äußeren Welt, und dem, was die menschliche Seele zu erreichen versucht, wenn sie die Höhen eines Geistigen erfassen will, die sie ersteigen will, die sich nur auftun, wenn wir im Inneren die Schritte hinauf zu tun versuchen, die zum Geistigen führen. Immer mehr und mehr schreiten wir einem Zeitalter der Verinnerlichung entgegen. Ein bedeutender Einschnitt aber in bezug auf dieses Vorschreiten der Menschheit zur Verinnerlichung in der nachgriechischen Zeit ist das, was uns hinter blieben ist in den Schöpfungen Raffaels.

Als ein ganz besonderer Geist stellt sich Raffael hin wie an eine Wasserscheide der Menschheitsentwicklung. Was vor ihm liegt, ist wieder, man möchte sagen in einer ganz besonderen Weise der Beginn menschlicher Verinnerlichung. Und was nach ihm liegt, das stellt ein neues Kapitel dar in dieser menschlichen Verinnerlichung. Wenn auch manches, was ich in der heutigen Betrachtung zu sagen habe, wie eine Art symbolischer Betrachtung klingen mag, so soll es doch nicht bloß in symbolischer Ausdrucksweise genommen werden, sondern so, daß versucht wird, zu fassen das, was wegen Raffaels so überragender Größe doch nur in menschliche triviale Begriffe zu kleiden ist, indem es in möglichst weite Begriffe und Ideen gedrängt wird.

Wenn wir in Raffaels Seele einen Blick zu tun versuchen, so fällt uns vor allem auf, wie diese Seele im Jahre 1483 wie eine Frühlingsgeburt für die Seele erscheint, dann eine innere Entwickelung durchmacht, glanzvoll in glanzvollen Schöpfungen sich entwickelt und als Raffael sieben- und- dreißigjährig, also noch jung stirbt. Man möchte, um sich in diese Seele Raffaels so recht zu vertiefen, so daß man ihrem Schritte folgen kann, eine Weile den Blick ganz von dem ablenken, was in der Weltgeschichte sonst vorgegangen ist, und rein den Blick hinlenken auf das Innerliche der Raffael-Seele.

Herman Grimm hat zuerst auf gewisse Regelmäßigkeiten der inneren Entwicklung der Raffael-Seele hingewiesen, und man möchte sagen: es braucht sich schon einmal die Geisteswissenschaft nicht zu schämen, wenn sie heute gegenüber der ungläubigen Menschheit auf gewisse zyklische Gesetze, Gesetze eines regelmäßigen Geistesweges in jeder Entwicklung, auch in der menschlichen Einzelentwicklung, hinweist, da ein so bedeutsamer Kopf wie Herman Grimm selber schon, ohne diese Geisteswissenschaft anzuerkennen, zu einer solchen regelmäßigen inneren zyklischen Entwicklung für die Raffael-Seele hingeleitet worden ist. Herman Grimm macht nämlich darauf aufmerksam, daß das Werk, das uns heute ja in Mailand so ergötzt, die «Vermählung der Maria», wie eine völlige Neuerscheinung in der ganzen Kunstentwickelung dastehe und mit nichts Vorhergehendem sich unmittelbar zusammenstellen lasse, so daß man sagen könne, Raffaels Seele habe wie aus unbestimmten Untergründen einer menschlichen Seele heraus etwas geboren, das aus diesen Untergründen sich in die Gesamtentwickelung des Geistes hineinstellt wie ein völlig Neues.

Bekommen wir so eine Empfindung von dem, was in dieser Seele Raffaels von der Geburt an veranlagt war, so können wir auch fühlen mit Herman Grimm, wenn wir nun die Raffael-Seele weiter verfolgen, wenn wir die Entwicklung Raffaels fortschreiten sehen, wie er in regelmäßigem Entwicklungslauf gewisse Etappen betritt, Etappen von vier zu vier Jahren. Merkwürdig schreitet Raffaels Seele vorwärts in Zyklen von vier zu vier Jahren. Und wenn wir ein solches Jahrviert betrachten, so sehen wir Raffael jeweils auf einer für seine Seele höheren Stufe. Vier Jahre etwa nach der «Vermählung der Maria» malte er die «Grablegung», weitere vier Jahre später die Bilder der «Camera della Segnatura», und so in Etappen von vier zu vier Jahren bis zu jenem Werke, das unvollendet neben seinem Sterbebett stand, der «Verklärung Christi».

Weil in dieser Seele alles so harmonisch fortschreitet, deshalb möchte man sie ganz für sich betrachten. Dann bekommt man aber einen Eindruck davon, daß in dem Zeitalter Raffaels auch in bezug auf die Kunst der Malerei eine solche Innerlichkeit sich entwickeln mußte, und wie dasjenige, was zur Gestaltung drängte in Gestalten, wie sie nur Raffael schaffen konnte, herausgeboren ist aus den Tiefen der seelischen Erlebnisse, obwohl es in Bildern der Sinnlichkeit auftritt. Und hebt es sich denn nicht ebenso wie die Geschichte selbst heraus?

Lassen wir, nachdem wir so eine Weile das Innerliche der Seele Raffaels betrachtet haben, die Zeit auf uns wirken, in die er hineingestellt war, und das, was um ihn herum war. Da finden wir allerdings, daß Raffael, solange er noch mehr oder weniger Kind war und in Urbino heranwuchs, sich in einer Umgebung befand, die auf bedeutsame Anlagen, die sich geltend machten, weckend wirkte. War doch in Urbino ein Palastbau zustande gekommen, der damals ganz Italien in Aufregung versetzte. Das war etwas, was für die ersten Anlagen Raffaels etwas gab wie ein harmonisch mit diesen Anlagen Zusammenfließendes. Dann aber sehen wir ihn verpflanzt nach Perugia, dann nach Florenz, dann nach Rom. In einem engen Kreise hat sich im Grunde genommen das Leben Raffaels abgespielt. Wie nahe zusammen liegen heute für uns die Orte, wenn wir sein ganzes Leben betrachten! Raffaels ganze Welt war in diesem Kreise eingeschlossen, soweit die Sinneswelt in Betracht kam. Nur im Geiste erhob er sich in andere Sphären.

Aber nun sehen wir, wie in Perugia, wo Raffael jene jugendliche Entwicklung in der Seele durchmacht, blutige Kämpfe an der Tagesordnung waren. Von einem leidenschaftlich aufgeregten Volke war die Stadt bevölkert. Adelsfamilien, die miteinander in Zank und Hader lebten, bekriegten sich. Die einen vertrieben die anderen aus der Stadt. Nach kurzer Vertreibung versuchten dann die anderen, sich wieder der Stadt zu bemächtigen, und nicht wenige Male waren die Straßen Perugias mit Blut bedeckt, mit Leichen übersät. Ein Geschichtsschreiber schildert uns eine merkwürdige Szene, wie überhaupt die Darstellungen, welche die Geschichtsschreiber aus jener Zeit geben, ganz eigentümlich sind. Da sehen wir durch einen Geschichtsschreiber lebendig auftauchen einen Adligen der Stadt, der, um seine Verwandten zu rächen, die Stadt als Krieger betritt. Der Geschichtsschreiber schildert ihn uns, wie er zu Pferde gleich dem verkörperten Kriegsgeist selber durch die Straßen reitet und alles, was sich ihm in den Weg stellt, niedermacht, so aber, daß der Geschichtsschreiber offenbar den Eindruck gehabt hat: eine gerechte Rache ist es, die dieser Adlige da nimmt. Und es taucht auf vor dem Geiste des Geschichtsschreibers das Bild jenes Kriegers, der den Feind unter seine Füße zwingt. In einem Bilde Raffaels, dem «St. Georg», fühlen wir förmlich aus der Darstellung auftauchen dieses Bild, das der Chronist entwirft, und wir haben unmittelbar den Eindruck: es konnte nicht anders sein, als daß Raffael diese Szene habe auf sich wirken lassen, und daß dann, was äußerlich so furchtbar uns erscheinen muß, aus Raffaels Seele verinnerlicht aufersteht und zum Ausgangspunkt für seine Darstellung eines der größten und bedeutsamsten Bilder der Menschheitsentwickelung geworden ist.

So sah Raffael kämpfende Menschheit um sich. So hatte er Verwirrung über Verwirrung, Krieg über Krieg um sich in der Stadt, in der er seine Lehrzeit durchmachte bei seinem ersten Lehrmeister Pietro Perugino, und wir haben den Eindruck, als ob es damals in der Stadt zwei Welten gegeben hat: die eine, in der sich Grausames und Furchtbares abspielte, und eine andere Welt, die verinnerlicht in Raffaels Seele lebte und die im Grunde genommen nicht viel zu tun hatte mit dem, was ringsherum sinnlich vorging.

Dann wieder sehen wir Raffael im Jahre 1504 nach Florenz verpflanzt. Wie war Florenz, als Raffael die Stadt betrat? Zunächst so, daß die Einwohner das Gebaren und den Eindruck von ermüdeten Leuten machten, die durch Aufregungen des Inneren und Äußeren durchgegangen waren und mit einem gewissen Überdruß und einer gewissen Müdigkeit lebten. Was war doch alles über Florenz ergangen! Kämpfe ebenso wie in Perugia, blutige Verfolgungen verschiedener Geschlechter, allerdings auch Kämpfe mit der Außenwelt; dann aber das einschneidende, alle Seelen der Stadt aufregende Erleben Savonarolas, der, kurze Zeit bevor Raffael die Stadt betrat, den Märtyrertod gestorben war. Da steht sie vor uns, diese eigentümliche Gestalt Savonarolas, mit dem feurigen Wort gegen die damaligen Mißstände wetternd, ja, gegen die Grausamkeiten der Kirche, gegen die Verweltlichung, gegen das Heidentum der Kirche. Da klingen in uns nach, wenn wir uns der Betrachtung hingeben, die stürmischen Worte Savonarolas, durch die er ganz Florenz hinriß, so daß die Leute nicht nur an seinen Lippen hingen, sondern ihn so verehrten, wie wenn ein höherer Geist in diesem asketischen Leibe vor ihnen gestanden hätte.

Umgestaltet hatte das Wort Savonarolas die Stadt Florenz, als ob unmittelbar eine Art von religiösem Reformator die religiösen Ideen und die ganze Stadt auch staatlich durchzogen hätte. Wie wenn eine Art Gottesstaat gegründet worden wäre, so stand Florenz unter dem Einfluß Savonarolas. Und dann sehen wir, wie Savonarola denjenigen Mächten verfällt, gegen die er moralisch und religiös aufgetreten war. Vor unserer Seele taucht das ergreifende Bild auf, wie Savonarola mit seinen Gefährten zum Märtyrerfeuer geführt wird, und wie er von jenem Galgen, von dem er auf den Scheiterhaufen herunterfallen sollte, die Augen hinunterwendete — es war im Mai 1498 — zu dem Volke, das einst an seinen Lippen hing, das ihn nun auch verlassen hatte und wie abtrünnig hinschaute auf den, der es so lange begeistert hatte. Wenige waren es, darunter auch Künstler, in denen noch die Worte Savonarolas nachklangen. Es gibt einen Maler jener Zeit, der, nachdem Savonarola den Märtyrertod erlitten hatte, selber das Mönchskleid anzog, um in seinem Orden in seinem Geiste weiterzuwirken.

Man kann sich jene müde Atmosphäre vorstellen, die über Florenz lag. In diese Atmosphäre hinein sehen wir im Jahre 1504 Raffael versetzt, der den Frühlingshauch des Geistes durch die Mittel seines Schaffens mitbrachte, der gleichsam ein geistiges Feuer, allerdings in ganz anderer Art, als es Savonarola geben konnte, in diese Stadt hereinbrachte. Wenn wir so, recht unähnlich der Stimmung dieser Stadt, die Seele Raffaels sehen, die uns so recht in ihrer Isolierung erscheint, wenn wir sie, vereint mit Künstlern und Malern, an einsamer Werkstätte in Florenz oder sonst wo schaffen sehen, so taucht ja sogleich vor uns ein anderes Bild auf, das uns, man möchte sagen, noch historisch anschaulich zeigt, wie Raffaels Seele etwas innerlich Abgesondertes war auch von dem Äußerlichen, mit dem sie unmittelbar in Berührung stsind. Da tauchen auf die Gestalten der römischen Päpste, Alexander VI., Julius IL, Leo X., das ganze päpstliche System, gegen das Savonarola seine Zornesworte gerichtet hatte, gegen das sich die Reformatoren gewandt haben. Da taucht es aber so auf, daß wir in diesem päpstlichen System zugleich den Protektor Raffaels schauen, daß wir Raffaels Seele im Dienste des Papsttumes sehen, so sehen, daß seine Seele innerlich wahrhaftig wenig mit demjenigen gemeinsam hatte, was uns zum Beispiel an seinem Protektor, dem Papst Julius IL, entgegentritt, der ja sagte, er komme den Menschen so vor wie jemand, der einen Teufel im Leibe habe und seinen Feinden am liebsten immer die Zähne zeigen möchte.

Große Gestalten sind sie, diese Päpste, aber das waren sie gewiß nicht, was etwa Savonarola oder seine Gesinnungsgenossen «Christen» genannt hätten. In ein neues, aber jetzt nicht im alten Sinne gehaltenes Heidentum war das Papsttum übergegangen. Von christlicher Frömmigkeit war in diesen Kreisen nicht viel zu spüren, wohl aber von Glanz, Herrschsucht, Machtgelüsten, bei den Päpsten sowohl wie bei ihrer Umgebung. Gleichsam den Diener dieser heidnisch gewordenen Christenheit sehen wir in Raffael. Aber wie? Wir sehen ihn so, daß etwas geschaffen wird aus seiner Seele heraus, durch welches die christlichen Ideen vielfach in einer neuen Gestalt erscheinen. Wir sehen das Innigste, das Lieblichste der christlichen Legendenwelt auf den Madonnen-Bildern und in anderen Werken Raffaels erstehen. Welcher Kontrast zwischen dem seelisch Innerlichen in Raffaels Scharfen und dem, was um ihn herum vorging, als er in Rom dann der äußere Diener der Päpste geworden ist! Aber wie war das alles möglich? Sehen wir schon an der ersten Lehrstätte in Perugia, sehen wir dann in Florenz, wie unähnlich das Äußere seinem Innerlichen ist, so sehen wir dies in Rom ganz besonders, wo er inmitten einer - für Savonarola etwa, der ihm allerdings auch nicht gleicht-unerhörten Kardinäle- und Priesterwirtschaft seine weltbeherrschenden Bilder schuf. Und dennoch: man muß Raffael und seine Umgebung doch so betrachten, wenn man sich ein richtiges Bild für das schaffen will, was in seiner Seele lebte.

Lassen wir einmal die Bilder Raffaels auf uns wirken! Das kann allerdings heute abend nicht im einzelnen geschehen, aber wenigstens eines der bekannteren Bilder darf herausgehoben werden, damit wir uns besonders über das ganz eigentümliche Seelenhafte der Raffael-Seele verständigen können. Es ist die uns ja so nahe «Sixtinische Madonna», die sich in Dresden befindet, und die wohl fast jeder aus den überaus zahlreichen Nachbildungen kennt, die in der ganzen Welt verbreitet sind. Wie sie uns da entgegentritt als eines der herrlichsten, edelsten Kunstwerke der Menschheitsentwickelung, wie uns da die Mutter mit dem Kind erscheint, heranschwebend auf Wolkenhöhen, welche die Erdkugel überdecken, aus dem Unbestimmten, möchte man sagen, der geistig-übersinnlichen Welt heran-schwebend, von Wolken umkleidet und umringt, die sich wie von selbst zu menschenähnlichen Gestalten formen, von denen eine, wie verdichtet, dem Kinde der Madonna ähnlich ist, wie sie da erscheint ruft sie in uns ganz besondere Empfindungen hervor, von denen wir wohl sagen können, daß wir, wenn sie unsere Seele durchziehen, alle die legendenhaften Vorstellungen vergessen könnten, aus denen das Bild der Madonna herausgewachsen ist, und von allen christlichen Traditionen vergessen könnten, was sie uns über die Madonna sagen.

Nicht um in trockener Weise zu charakterisieren, möchte ich das vorbringen, sondern um möglichst weitherzig zu charakterisieren, was wir gegenüber der Madonna empfinden können. Wer im geisteswissenschaftlichen Sinne die Menschheitsentwickelung betrachtet, kommt ja über alle materialistische Anschauung hinaus. Im Sinne der naturwissenschaftlichen Anschauung haben sich zuerst die niederen Lebewesen entwickelt und dann ist die Entwickelung bis zum Menschen herauf geschritten. Geisteswissenschaftlich müssen wir im Menschen aber ein Wesenhaftes sehen, das hinauslebt über alles, was unter ihm in den Naturreichen steht. Tritt uns der Mensch entgegen, so erscheint uns, geisteswissenschaftlich betrachtet, in ihm etwas, was viel älter ist als alle die Wesen, die ihm in den verschiedenen Naturreichen mehr oder weniger nahestehen.

Der Mensch ist für die Geisteswissenschaft vorhanden, bevor die Wesen des tierischen, des pflanzlichen und selbst des mineralischen Reiches vorhanden waren. In weiter Perspektive sehen wir zurück in die Zeiten-Entwickelung, in welcher das, was jetzt unser Innerstes ist, schon da war, was sich später erst den Reichen eingegliedert hat, die jetzt unter dem Menschen stehen. So sehen wir aus einer überirdischen Welt des Menschen Wesenheit heranschweben, sehen, daß wir in Wahrheit diese menschliche Wesenheit erst begreifen können, wenn wir von alledem, was die Erde aus sich selber erschaffen und hervorbringen kann, uns zu etwas Außerirdischem erheben, zu etwas auch Vorirdischem. Wissen können wir durch die Geisteswissenschaft: wenn wir alle Kräfte, alles Wesenhafte, was mit der Erde selber zusammenhängt, auf uns wirken lassen, so ist doch aus all diesem kein Bild des ganzen wesenhaften Menschen zu gewinnen, sondern wir müssen von allem Irdischen den Blick erheben in überirdische Regionen und aus ihnen dieses Menschen Wesenheit heranschweben sehen. Wir müssen, wenn wir im Gleichnis sprechen wollen, einmal fühlen, wie zu dem Irdischen etwas heranschwebt, wenn wir zum Beispiel des Morgens, insbesondere in einer solchen Gegend wie die ist, in welcher Raffael gelebt hat, unsere Blicke zu einem Sonnenaufgang hinwenden, zu dem goldglänzenden Sonnenaufgang, und da ein Gefühl erhalten können, wie selbst im natürlichen Dasein zu dem, was irdisch ist, etwas hinzukommen muß an Kräften, die in das Irdische hereinwirken, an Kräften, die wir immer mit dem Sonnensein verbinden müssen. Dann steigt vor unserer Seele aus dem goldigen Glänze das Sinnbild dessen auf, was heranschwebt, um sich mit dem Irdischen zu umkleiden.

Man kann insbesondere in Perugia das Gefühl haben, daß das Auge denselben Sonnenaufgang sehen darf, den einst Raffael erlebt hat, und daß man in den Naturerscheinungen der aufgehenden Sonne ein Gefühl von dem bekommen kann, was im Menschen überirdisch ist. Aus den von dem Sonnengolde durchglänzten Wolken kann einem aufgehen - oder man kann wenigstens empfinden, als ob es einem so erscheint - das Bild der Madonna mit dem Kinde als ein Sinnbild des ewig Überirdischen im Menschen, das an die Erde eben aus dem Außerirdischen herankommt und unter sich noch, durch Wolken getrennt, alles das hat, was nur aus dem Irdischen hervorgehen kann. Zu höchsten geistigen Höhen kann sich unser Empfinden erhoben fühlen, wenn man sich, nicht theoretisch, nicht im Abstrakten, aber mit ganzer Seele, dem hingeben und sich damit durchdringen kann, was in Raffaels Madonna auf uns wirkt. Es ist eine naturgemäße Empfindung, die wir so vor dem weltberühmten Dresdner Bilde haben können. Und daß es auf manche Menschen so gewirkt hat, dafür möchte ich einen Beleg anführen, indem ich die Worte mitteile, welche der Freund Goethes, Karl August, damals noch Herzog von Weimar, über die Sixtinische Madonna nach einem Besuche in Dresden geschrieben hat:

«Bei dem Raffael, der die Sammlung dort schmückt, ist mir nicht anders gewesen, als wenn man den ganzen Tag durch die Höhe des Gotthard gestiegen ist, durchs Ursel er Loch kam und nun auf einmal das blühende und grünende Tal sah. Mir war's, so oft ich ihn sah und wieder wegsah, immer nur wie eine Erscheinung vor der Seele; selbst die schönsten Correggios waren mir nur Menschenbilder; ihre Erinnerung, wie die schönen Formen, sinnlich palpabel. Raffael blieb mir aber immer bloß wie ein Hauch, wie eine von den Erscheinungen, die uns die Götter in weiblicher Gestalt senden, um uns glücklich oder unglücklich zu machen; wie die Bilder, die sich uns im Schlaf wachend oder träumend wieder darstellen und deren uns einmal getroffener Blick uns ewig Tag und Nacht anschaut und das Innerste bewegt.»

Und merkwürdig: wenn man die Literatur verfolgt bei denjenigen, welche aus ihrer Empfindung heraus ein Tiefes gerade beim Anblick der Sixtinischen Madonna, aber auch bei anderen Raffael-Bildern aussprechen können, dann treten einem immer wieder, wenn die Menschen charakterisieren wollen, was sie empfinden, Vergleiche mit dem Licht, mit der Sonne, mit dem Erhellenden und mit dem Frühlingsmäßigen entgegen.

Da können wir einen Blick tun in die Raffael-Seele, wie sie aus den geschilderten Zuständen ihrer Umgebung heraus ihr Gespräch hält mit den ewigen Geheimnissen des Menschenwerdens. Da fühlen wir, wie ein Einzigartiges, nicht aus der Umgebung Herauswachsendes, sondern auf eine ungeheure menschliche Vergangenheit Hinweisendes diese Seele Raffaels ist. Man braucht dann nicht zu spekulieren. Eine solche Seele, die in den Umkreis der Welt hinausschaut und aus sich heraus das Geheimnis des Daseins nicht in Ideen ausdrückt, sondern empfindet und in einem solchen Bilde formt, eine solche Seele stellt sich dann wie etwas ganz Selbstverständliches durch eine solche innere Vollkommenheit als eine reifste Seele dar, die wahrhaftig in ihren Anlagen etwas trägt an Kräften der Menschheit, eine Seele, die hindurchgegangen sein muß durch andere Epochen der Menschheitsentwickelung und besonders durch manche dieser Epochen, welche Großes, Gewaltiges in diese Seele hineingegossen haben, so daß es wieder zutage treten kann in dem, was wir das Leben Raffaels nennen. Aber wie tritt es heraus?

Wir sehen das, was in den christlichen Legenden, in den christlichen Traditionen lebt, in den Bildern Raffaels auftauchen mitten in einer Zeit, in welcher das Christentum wie heidnisch geworden war und ganz äußerer Gestalt und äußerer Pracht hingegeben lebte, so etwa, wie das griechische Heidentum in seinen Göttern dargestellt war und vor allem verehrt wurde von den schönheitstrunkenen Griechen. "Wir sehen Raffael diese Gestalten christlicher Überlieferungen ausprägen in einem Zeitalter, in welchem das, was lange Jahrhunderte unter Schutt und Trümmern auf römischem Boden vergraben war, wieder ausgegraben wurde. Wir sehen, daß Raffael selber mit unter den Ausgrabenden war. Merkwürdig erscheint uns dieses Rom, in das Raffael in dieser Zeit hineinversetzt war.

Was ging dieser Zeit voraus? Wir sehen zuerst die Jahrhunderte, da Rom auftaucht, sehen es auftauchen ganz aufgebaut auf dem Egoismus einzelner Menschen, die vor allen Dingen im Auge haben, auf Grundlage dessen, was der Mensch als Bürger eines Staates bedeuten sollte, eine menschliche Gemeinschaft zu begründen, eine Gemeinschaft in der äußeren physischen Welt. Dann, als Rom zu einer gewissen Höhe gelangt war, als die Kaiserzeit heraufgekommen war, sehen wir, wie es aufsaugt das Griechentum, indem in das römische Geistesleben das Griechentum hineinströmt, und wir erleben, wie Rom zwar politisch Griechenland überwältigt, wie aber Griechenland geistig Rom überwältigt. Es lebt das Griechentum dann im Römertum fort. Wir sehen, wie griechische Kunst, so weit sie von Rom aufgesogen wurde, im römischen Wesen fortlebt, sehen Rom ganz und gar von griechischem Wesen durchgossen.

Aber warum bleibt dieses griechische Wesen in den folgenden Jahrhunderten nicht eine charakteristische Eigenschaft der Entwicklung Italiens? Warum kam doch etwas ganz anderes heraus? Weil bald, nachdem dieses Griechentum sich in die römische Welt hineinergossen hatte, das andere kam, das eine stärkere Signatur dem aufdrückte, was sich auf dem Boden Italiens als Geistesleben entwickelte: das Christentum, die Verinnerlichung des Christentums, dasjenige, was nun nicht zur Menschheit so sprechen sollte wie das äußere Sinnliche der griechischen Städte, der griechischen Bildwerke oder der griechischen Philosophie, sondern das zur inneren Menschenseele das sprechen sollte, was gestaltenlos in diese Seele einziehen, was diese Menschenseele nur in inneren Kämpfen ergreifen sollte. Deshalb sehen wir solche Gestalten auftauchen wie Augustinus, ganz innerliche Gestalten.

Dann aber sehen wir, weil alles in der Entwicklung zyklisch abläuft, Kreisläufe durchläuft, nach der Verinnerlichung bei diesen Menschen, welche diese Verinnerlichung durchgemacht haben und in ihrer Seele lange gewissermaßen ohne Zusammenhang mit schöner Äußerlichkeit gelebt haben, jene Sehnsucht nach Schönheit auftreten. Sie schauen wieder im Äußeren das Innerliche. Da ist es ein Bedeutsames, wenn wir in Assisi das verinnerlichte Leben des Franz von Assisi durch Giotto vor unseren Augen auftreten sehen, wenn wir in den Bildern Giottos die inneren Erlebnisse sprechen sehen, die sozusagen das Christentum in der menschlichen Seele auswirken kann. Und wenn wir auch noch - der Ausdruck sei gestattet — etwas ungelenk und unvollkommen in Giottos Bildern das Innere der Menschenseele sprechen fühlen, so sehen wir dann doch einen geraden Aufstieg bis zu jenem Punkte, wo das Innerlichste, das Hehrste und Edelste in äußerer Gestalt uns bei Raffael und seinen Zeitgenossen entgegentritt. Da werden wir wieder auf eine Eigentümlichkeit dieser Raffael-Seele hingelenkt.

Versuchen wir, uns in die Art hinein zu fühlen, wie Raffael selber empfinden mußte, so müssen wir uns sagen: Ja, wenn wir solche Bildwerke auftreten sehen wie zum Beispiel die «Madonna della Sedia», so fällt uns auf, wie die Madonna mit dem Kinde, und davor das Kind Johannes, so vor uns stehen, daß wir, wenn wir sie betrachten, alle übrige Welt vergessen könnten, vor allem auch vergessen könnten, daß dieses Kind, welches von der Madonna gehalten wird, einmal mit jenen Erlebnissen verknüpft sein kann, welche wir als die Erlebnisse auf Golgatha kennen. Vor dem Bilde Raffaels vergessen wir alles, was dann als das «Christus-Jesus-Leben» folgte. Wir gehen ganz auf in dem Augenblick, der hier festgehalten ist. Wir schauen einfach eine Mutter mit einem Kinde, von dem Herman Grimm gesagt hat, daß es das vornehmste Geheimnis ist, welches uns in der äußeren Welt entgegentreten kann. Wir schauen diesen Augenblick in einer Ruhe, wie wenn vorher und nachher sich nichts an ihn anschließen könnte. Wir gehen ganz auf in dem Verhältnis der Madonna zu ihrem Kinde, reißen es für uns selbst aus allem heraus, womit es sonst verknüpft ist. Und so in sich vollendet, immer das Ewige in einem Augenblicke sich uns zeigend, erscheinen im Grunde genommen Raffaels Schöpfungen.

Ja, wie muß eine Seele fühlen, die so schafft? Sie kann nicht fühlen etwa wie die Seele Savonarolas, die, von innerer Feuersglut erfaßt, die ganze Tragödie Christi in sich fühlt, wenn sie ihre Zornesworte spricht, oder auch, wenn sie zu den Hörern christlicher Andacht ihre religiös erhebenden, frommen Worte spricht. Wir können uns nicht vorstellen, daß Raffaels Seele Schwung habe in Savonarolas oder ähnlicher Geistesart, können uns nicht vorstellen, daß jenes sogenannte christliche Feuer in Raffaels Seele gewaltet hätte. Dennoch aber dürfen wir uns nicht vorstellen, wenn wir einigermaßen das Wesen einer Menschenseele auf uns wirken lassen können, daß in solcher Innerlichkeit, in solcher inneren Vollendung das, was die christlichen Vorstellungen sind, bildhaft durch Raffael vor uns hintreten könnten, wenn diese Seele dem christlichen Feuer so ganz fremd gewesen wäre, wie sie uns diesem christlichen Feuer fremd entgegentritt, wenn sie ganz objektiv an solchen Bildern schafft.

Man kann nicht objektiv und gerundet die Gestalten schaffen, wenn man etwa von dem Feuer Savonarolas durchdrungen ist, wenn man von der ganzen tragischen Stimmung des Christus in seiner Seele getragen ist und sich davon beflügelt fühlt. Es muß ganz andere Ruhe und ein ganz anderes Empfinden in der christlichen Empfindung in die Seele ausgeflossen sein. Dennoch könnte nicht aus der Seele herauskommen, was in Raffaels Bildern zum Ausdruck gekommen ist, wenn nicht das, was der tiefste Nerv christlicher Innerlichkeit ist, in dieser Seele gelebt hätte. Ist es dann nicht fast natürlich, wenn wir uns sagen: Ja, da haben wir eben eine Seele vor uns, welche jenes Feuer, das wir in Savonarola auf uns wirkend vernehmen, schon mit in das physische Dasein brachte, das sie als der Maler Raffael betrat. Wenn wir sie sehen, aus früheren Erdenleben durch die Geburt dieses Feuer ins Dasein bringend, dann begreifen wir, wie es so abgeklärt, so innerlich vollendet sein konnte, daß uns dieses Feuer nicht als das sozusagen Verzehrende und den Enthusiasmus Störende entgegentritt, sondern als das Abgeklärte des bildhaft Schaffenden erscheinen kann. Da möchte man sagen: man fühlt schon in den Anlagen Raffaels etwas durch, was einem vorkommt, wie wenn es in diesen Anlagen so lebte, als ob er in einem früheren Leben mit demselben Feuer hätte sprechen können, wie dann später Savonarola sprach. Und man brauchte sich nicht zu verwundern, wenn man in Raffaels Seele eine wiedererstandene Seele hätte aus einer Zeit, in welcher das Christentum nicht bildhaft, nicht in der Kunst stehend empfunden wurde, sondern als unmittelbar an seiner Begründung stehend, als es den großen Impuls, durch den es dann im Laufe der Jahrhunderte gewirkt hat, an seinem Ausgangspunkt hatte.

Vielleicht ist es nicht zu gewagt, zum Verständnis einer solchen Seele, wie es die Raffaels ist, sich so etwas herbeizutragen, wie es eben ausgesprochen worden ist. Denn wer gelernt hat, in immer wieder erneuerter Vertiefung in die Werke Raffaels diese Seele in ihren Tiefen zu verehren, in ihren Tiefen so anzuschauen, wie sie unergründlich tief wirkt, der vermag nicht anders, als durch solche weitgehende Empfindung sich begreiflich, sich verständlich zu machen, was da zu uns spricht, wo Raffael seine Seele in seine Wunderwerke hineingegossen hat.

So erscheint uns die Mission Raffaels eigentlich erst im rechten Lichte, wenn wir nach einem Ausdruck Goethes in einem «abgelebten Leben» das christliche Feuer suchen, das uns dann in einem späteren Leben als die Abgeklärtheit in seinem Raffael-Dasein erscheint. Dann verstehen wir auch, wie diese Seele so isoliert sich in die Welt hineinstellen mußte, und wir begreifen auch, wie jene Seele, die wir eben zu charakterisieren versuchten, die vielleicht, nur in gesteigertem Maße, etwas «Savonarola haftes» in einem früheren Dasein hatte, als ein Neues empfinden konnte, was nun wieder zur Zeit Raffaels in der geistigen Entwicklung Italiens aufgetreten war.

Hatte in die Zeit, als das Kaisertum heranrückte und dann da war, in die römische Entwicklung das Griechentum hereingespielt, wie es geschildert worden ist, und war dann eine Verinnerlichung eingetreten, so sehen wir jetzt im Zeitalter Raffaels, der Renaissance, auf der einen Seite dieses alte Griechentum, das unter Schutt und Trümmern begraben war, wieder herauskommen, sehen Rom sich mit dem überbliebenen Griechentume bevölkern, sehen auftauchen, was einst als griechischer Geist die Stadt geziert und verschönt hatte, sehen die Augen der römischen Bevölkerung sich wieder hinlenken auf die Formen, die einst der griechische Geist geschaffen hatte. Auf der anderen Seite sehen wir in diesem Zeitalter aber auch, wie der Geist Platos, der Geist des Aristoteles, der Geist der griechischen Tragiker in das römische Leben eindringt. Noch einmal sehen wir die Eroberung der römischen Welt durch das Griechentum. Vielleicht gerade für einen solchen Geist, der einstmals in einseitiger Weise der moralisch-religiösen Anschauung des Christentums hingegeben war und in einem vorhergehenden Leben seine Seele ganz diesen moralisch religiösen Eindrücken hingegeben hat, mußte das Griechentum, wie ihn selbst befruchtend, erneuernd wirken, so wie es, aus Schutt und Trümmern hervorgezogen, auf der italienischen Halbinsel auftrat.

Sieht man also den moralisch-religiösen Impuls des Christentums wie in den Anlagen Raffaels Hegend, so sieht man das, was in diesen Anlagen noch nicht da war, vor seinen schauenden Augen auftreten in dem wiedererstandenen Griechentum. Wie in keiner anderen Seele wirkten die aus Schutt und Trümmern wiedererstandenen Statuen und die griechischen Geistesprodukte, die aus den wiederaufgefundenen Manuskripten herausgeholt wurden, auf die Seele Raffaels. Was sich aus seinen Anlagen heraus, aus dem christlichen Empfinden heraus verband mit einem übergeistigen Hingegeben sein an das Kosmische, das wirkte zusammen mit dem, was als griechischer Geist aus seinem Zeitalter heraus wiedererstand. Das waren die zwei Dinge, die sich in seiner Seele verbanden und die bewirkten, daß uns in den Werken Raffaels das entgegentritt, was an Innerlichkeit die nachgriechische Zeit geschaffen hat, was an Innerlichkeit das Christentum hineinergossen hat in die Menschheitsentwickelung und was sich zum Ausdruck brachte in, man möchte sagen, vollständig äußerer Offenbarung in einer malerischen Gestaltenwelt, aus welcher überall der reinste griechische Geist spricht.

So sehen wir die merkwürdige Erscheinung, daß uns durch Raffael das Griechentum im Christentum wiederersteht. So sehen wir in Raffael ein Christentum auftreten in einer Zeit, die eigentlich in einer gewissen Weise um ihn herum das Antichristliche darstellt. Wir sehen, daß sich in ihm ein Christentum darstellt, das weit hinausging über alle Enge des vorhergehenden Christentumes und sich erhob zu einer weiten Betrachtung gegenüber der damaligen Welt. Und doch sehen wir ein Christentum, das nicht in unendliche Sphären des bloß Spirituellen ahnend hinausweist, sondern sich zusammenschließt so, wie einst die Griechen in der künstlerischen Form ihre Götter-Ideen zusammengeschlossen haben mit dem, was gestaltenlos die Welt durchlebt und durchwebt, und es hineingedrängt haben in die Gestalten, aus denen heraus es zugleich unsere Sinne ergötzt.

Das ist es, was vor unsere Seele tritt, wenn wir uns ein Gesamtbild zu formen versuchen, wenn in unsere Seele einströmt die eine oder die andere der Schöpfungen Raffaels, wenn wir auf uns wirken lassen, was alles in höchster Vollendung-und doch in wunderbarstem Jugendüberfluß, denn Raffael starb mit 37 Jahren - auf uns wirken kann. Nicht einer grauen Theorie und auch wahrlich nicht einer philosophischen Geschichtskonstruktion zuliebe, sondern der unmittelbaren Empfindung entsprungen, welche die Werke Raffaels geben, muß gesagt werden: An einem so überragenden Geiste wie Raffael erscheint so recht das Gesetzmäßige im Fortlaufe des menschlichen Geisteslebens.

Wer sich als eine gerade Linie, wo sich immer Wirkung an Ursache anschließt, diesen Fortgang des Geisteslebens vorstellt, der ist wahrhaftig nicht mit den Tatsachen im Einklang. Man hat so leicht einen Ausspruch bei der Hand, der gewiß zu den goldenen Aussprüchen der Menschheit gehört: daß das Leben und die Natur keine Sprünge mache. Gewiß, aber in vieler Beziehung machen das Leben und die Natur fortwährend Sprünge. Das können wir sehen an der Entwicklung der Pflanze vom grünen Blatt zur Blüte, von der Blüte zur Frucht. Da sehen wir, wie zwar alles sich «entwickelt», wie aber tatsächlich Sprünge das Selbstverständliche sind.

So ist es auch im Geistesleben der Menschheit, und das ist noch mit mancherlei Geheimnissen verknüpft. Eines dieser Geheimnisse ist, daß immer eine spätere Epoche zurückgreifen muß auf eine frühere Epoche. So möchte man sagen: wie das Männliche und das Weibliche zusammenwirken müssen, so müssen die verschiedenen Zeitengeister, sich gegenseitig befruchtend, zusammenwirken, damit die Fortentwicklung geschieht. So mußte das Römertum schon um die Kaiserzeit herum vom Griechentum befruchtet werden, damit ein neuer Zeitgeist entstünde. Und so mußte wieder dieser Zeitgeist, der da entstand, befruchtet werden von dem christlichen Impuls, damit jene Verinnerlichung möglich werde, die wir dann in Augustinus und in anderen erblicken. So mußte später neuerdings diese innerlich so fortgeschrittene Menschenseele Raffael befruchtet werden von dem Griechentume, das doppelt begraben war und doch wieder hervorkam, das doppelt entzogen war: den Blicken in den Bildwerken, die unten im Boden Italiens vom Erdreich bedeckt ruhten, und den Seelen in den begrabenen Literaturwerken, die den griechischen Geist ausprägten. Wenig, außerordentlich wenig berührt waren diese Jahrhunderte des ersten christlichen Jahrtausends in Italien von dem, was in der griechischen Philosophie, in der griechischen Dichtung lebte.

Doppelt begraben war das Griechentum und wartete gleichsam wie in einem jenseitigen Reich auf einen Zeitpunkt, wo es neuerdings die inzwischen durch eine neue Religion hindurchgeschrittene Menschenseele befruchten konnte. Begraben, sich den äußeren Augen der Menschen entziehend, und begraben wieder auch für die Seelen, die nicht ahnten, daß es sich fortentwickeln würde, daß man es hatte, während es nur fort floß wie ein Fluß, der manchmal eine Strecke weit unter einem Berge fortfließt, sich den Blicken entzieht und nachher wieder an die Oberfläche kommt. Begraben, äußerlich für die Sinne, innerlich für die Tiefen der Seelen, war dieses Griechentum. Jetzt kam es wieder hervor. Für die sinnliche Anschauung grub man es heraus aus dem Boden Italiens in den künstlerischen Werken; für die geistige Anschauung grub man es aus, indem man es nicht nur aus den alten Manuskripten hervorholte, sondern indem man wieder anfing, im griechischen Sinne zu empfinden, wie der Geist in allem Sinnlichen lebt, wie alles Sinnliche die Offenbarung des Geistigen ist. Man fing wieder an zu empfinden, was einst Plato und Aristoteles gedacht hatten.

Der aber, auf den das am meisten befruchtend wirken konnte, weil seine Seele in ihren Anlagen die christlichen Impulse am meisten verarbeitet hatte, das war Raffael. Bei ihm wirkte sich dieses doppelt vorher begrabene und doppelt wiedererstehende Griechentum jetzt so aus, daß er imstande war, die ganze Entwicklung der Menschheit in Gestalten zu prägen. Wie wunderbar vermochte er es in den Bildern der «Camera della Segnatura», wo wir das alte Geistesringen auf den Bildern wiedererstehen sehen, das Ringen jener Geister, die sich herausgebildet haben in der Zeit der Verinnerlichung, die nicht da waren in der Zeit des Griechentums. Daß sie so angeschaut werden konnten zur Zeit Raffaels, dazu war die ganze Periode der Verinnerlichung notwendig. Jetzt sehen wir diese Verinnerlichung an die Wände der päpstlichen Zimmer gemalt.

Was sich die Griechen nur in Gestalten geformt gedacht hatten, das sehen wir jetzt verinnerlicht. Die inneren Strebungen und Kampfstimmungen, welche die Menschheit selbst durchgemacht hat, sehen wir mit griechischem Gestaltengeist, mit griechischer Kunststimmung und Schönheit an die Wände des päpstlichen Palastes gezaubert. Wie sich die Griechen vorstellten, daß die Götter auf die Welt wirkten, das gössen sie aus über ihre Statuen. Wie die Menschen es erlebt hatten, daß sie fortschreiten zu den Gründen der Dinge, das tritt uns in dem Bilde entgegen, das so oft die «Schule von Athen» genannt wird. Wie die Menschenseele gelernt hat die griechischen Götter anzuschauen, das tritt uns in einer eigentümlichen Neugestaltung der Götter Homers in dem «Parnaß» vor die Seele. Das sind nicht die Götter der Ilias und Odyssee, sondern das sind die Götter, wie sie eine Seele anschaute, die bereits durch die Epoche der Verinnerlichung durchgegangen war!

An der anderen Wand sehen wir das Bild, das jedem, gleichgültig, welchem religiösen Bekenntnisse er angehören mag, unvergeßlich bleiben muß — so wenig man jetzt noch eine Vorstellung davon bekommen kann —, das Bild, auf dem ein Innerstes dargestellt wird, die «Disputa». Während die anderen Bilder darstellen, wozu man sich durch ein gewisses philosophisches Streben hindurchringt, aber in griechischer Formenschönheit, tritt uns in dem gegenüberliegenden Bilde das Tiefste entgegen, was die Menschenseele erleben kann. Und wie wir nicht an ein enges christliches Bewußtsein zu denken brauchen, das zeigt sich uns hier, wenn wir das Brahma-, Vishnu-, Shiva-Motiv in einer ganz anderen Art ausgedrückt finden. Wir sehen als die Dreieinigkeit uns entgegentreten, was die menschliche Seele innerlich erleben kann, jede Seele, welchem Bekenntnisse sie auch angehört. Es tritt uns entgegen, aber nicht bloß symbolisch dargestellt, in der Symbolik der Dreieinigkeit in dem oberen Teile des Bildes. Es tritt uns weiter entgegen in jedem Antlitz der Kirchenväter und der Philosophen, in jeder Handbewegung, in der ganzen Verteilung der Gestalten, in der wunderbaren Farben gebung. Es tritt uns entgegen in der Totalität des Bildes, welches uns ein Innerliches der Menschenseele gibt in der schönen, vom griechischen Geiste durchzogenen Form. So sehen wir die Innerlichkeit, welche die Menschenseele im Verlaufe von anderthalb Jahrtausenden erlebt hat, als äußere Offenbarung wieder auferstehen. Wir sehen das Christentum nicht als das Heidentum der römischen Päpste und Kardinäle, sondern als das schöne, herrliche Gestalten schaffende griechische Heidentum - und doch Christentum — in den Bildern Raffaels wiedererstehen.

So steht diese Raff ael-Seele an der Wende, gleichsam an der Wasserscheide der Zeiten, hinweisend auf ihre Vorzeit, heraufholend, was sich bis zum Christentum in der Schönheit der äußeren Offenbarungen entwickelt hat, und zugleich hingewendet zu dem, was sich in der Menschheitsentwickelung herausgebildet hat als das, was man die «Erziehung des Menschengeschlechts» nennt und was die wiedererstehende Seele zeigt, als die Verinnerlichung dieser Menschenseele. Daher stehen wir vor diesen Bildern Raffaels, vor diesen Wunderwerken einer einzigartigen Kunst so, daß sie uns wie ein Zusammenfluß zweier Zeitalter erscheinen, die klar und deutlich voneinander geschieden sind: das vorhergehende nachgriechische Zeitalter, das Zeitalter des Außenerlebens und das des Innenerlebens.

Aber wir stehen vor diesen Bildern so, daß sie uns zugleich eine Perspektive in die Zukunft hinein eröffnen. Denn wer von denen, die das erfühlen, was im Zusammenfluß von äußerer Schönheit und innerem weisheitsvollen Drange der Menschenseele werden konnte, sollte nicht die Hoffnung und die Gewähr dafür empfinden, trotz aller Äußerlichkeit, die sich auch im Fortgange der Menschheit immer weiter und weiter entwickeln muß, daß diese Verinnerlichung im Laufe der Entwickelung fortschreiten muß, daß die Menschenseele immer innerlichere Perioden in den folgenden Leben finden muß?

Man kann verstehen, was einem in der Literatur entgegentritt, freilich nur entgegentritt, wenn man nicht als Kunstgelehrter oder als bloßer Leser an die Werke eines Geistes wie Herman Grimm herangeht, der mit ganzer Seele das Wirken der menschlichen Phantasie darzustellen versuchte, man kann es verstehen, wenn man gerade an einer gewissen Stelle von Herman Grimms Raffael-Werk Worte findet, die einem dann zu etwas ganz Besonderem werden, wenn man mit innigem Anteil einen solchen Geist wie Herman Grimm betrachtet und sieht, wie dieser selber wieder mit so innigem Anteile vor Raffaels Schöpfungen stand. Aber man muß es empfinden an jener Stelle des Raffael-Werkes, was Herman Grimm durch die Seele gezogen ist, als er ein Wort gebrauchte, das er nur keusch andeutet, schon auf den allerersten Seiten seines Buches, an der Stelle, bei der sein Blick auf das Herauswachsen Raffaels aus alten Zeitaltern fällt. Man sieht eigentlich aus dem Äußeren der Darstellung des Raffael-Werkes bei Herman Grimm nicht recht ein, woher dieser Gedanke stammt. Mitten unter weiten historischen Betrachtungen, in die Raffael hineingefügt wird, geht Herman Grimm der Gedanke auf und wird hingeschrieben, keusch hingeschrieben: «Es stehen mir Entwicklungen der Menschheit vor den Augen, die mitzumachen mir versagt sein wird, die mir aber als so glänzend schön erscheinen, daß es um ihretwillen wohl der Mühe wert wäre, das menschliche Leben noch einmal zu beginnen.»

Merkwürdig, diese Sehnsucht nach «Wiederverkörperung» in der Einleitung zu seinem Raffael-Buche bei Herman Grimm, tief bezeichnend für ein seelisches Fühlen bei einem Menschen, der sich ganz hinein zu fühlen versuchte in die Seele Raffaels und in den Zusammenhang Raffaels mit den anderen Zeitaltern. Fühlt man da nicht etwas, was man etwa so ausdrücken kann: Solche Werke wie die von Raffael sind nicht nur ein Ergebnis. Sie führen nicht nur zu einer Betrachtung, die uns sagen läßt, wie dankbar wir sein müssen gegenüber dem, was uns die Vergangenheiten bis zu unserem Zeitalter gegeben haben, sondern solche Werke können noch eine ganz andere Empfindung in uns erstehen lassen, die Empfindung der Hoffnung, weil sie uns befestigen in dem Glauben an die fortschreitende Menschheit, und weil wir uns sagen müssen, daß diese Werke nicht so sein könnten, wenn die Menschheit nicht eine Wesenhaftigkeit wäre, der das Fortschreiten Natur ist. So wird uns Sicherheit, so wird uns Hoffnung, wenn wir Raffael im richtigen Sinne auf uns wirken lassen, und dann dürfen wir sagen: Raffael hat durch das, was er künstlerisch geschaffen hat, zur Menschheit gesprochen!

Wenn wir die Fresken in der «Camera della Segnatura» betrachten, dann fühlen wir wohl die Vergänglichkeit des äußeren Werkes, und daß wir aus den oft übermalten Werken keine Vorstellung mehr von dem bekommen können, was Raffael einst dort auf die Wand gezaubert hat. Wir fühlen, daß einst eine Menschheit auf der Erde leben wird, die nicht in der Lage sein wird, die Originalwerke auf sich wirken zu lassen. Aber wir wissen, daß die Menschheit immer weiterschreiten wird.

Im Grunde genommen haben die Werke Raffaels erst ihren Siegeszug genommen, als mit Hingabe und Liebe von diesen Werken unzählige Bilder und Stiche und Nachbildungen hergestellt worden sind. Sie wirken fort, diese Werke Raffaels, bis in die Nachbildungen hinein. Man kann es verstehen, wenn wiederum Herman Grimm erzählt, er habe sich einmal eine große Phototypie der «Sixtinischen Madonna» in sein Zimmer gehängt, und es sei ihm, wenn er dieses Zimmer betrat, dann immer so gewesen, als ob er nicht recht hineingehen dürfe, als ob es wie ein Heiligtum der Madonna, dem Bilde gehöre. Wohl mancher wird es schon erlebt haben, wie die Seele eigentlich ein anderes Wesen wird als sie sonst im gewöhnlichen Leben ist, wenn sie einem Raffael schon Bilde wirklich hingegeben sein kann, auch einer bloßen Nachbildung. Gewiß, die Originale werden einstmals nicht mehr sein. Aber sind denn die Originale auf anderen Gebieten vorhanden?

Wahr ist es, was Herman Grimm in seinem Homer-Buche gesteht: Wir können auch die Originale des Homer nicht mehr richtig genießen, weil wir im gewöhnlichen Leben, ohne höhere geistige Kräfte, nicht mehr in der Lage sind, in alle Fügungen und Wendungen der griechischen Sprache, in ihre Schönheit und Gewalt uns hineinzuvertiefen, wenn wir jetzt Homer in seiner «Ilias» und «Odyssee» auf uns wirken lassen. Die Originale haben wir auch da nicht mehr; dennoch sprechen die Dichtungen Homers zu uns. Aber was Raffael äußerlich gegeben hat, das wird auch dann noch als ein lebendiges Zeugnis dafür leben, daß es einmal in der Entwicklung der Menschheit eine Zeit gegeben hat, in der man sich im weitesten Umkreise nicht in Gedrucktes und Geschriebenes vertiefen konnte - denn das war damals bei weitem nicht gang und gäbe -, in der aber in den Schöpfungen Raffaels die Geheimnisse des Daseins zu den Augen der Menschen gesprochen haben. Das Zeitalter Raffaels war ein solches, welches weniger las, dafür aber mehr sah. Zeugnis von diesem Zeitalter, das anders geartet war, das aber fortwirken wird in alle kommenden Zeiten, weil die Menschheit ein ganzer Organismus ist, Zeugnis dafür wird das sein, was Raffael immerdar der Menschheit zu sagen haben wird. So wird Raffaels Schöpfung fortleben im Gange der Menschheitsentwickelung, fortleben auch innerlich in den aufeinanderfolgenden Leben, die der Geist Raffaels zu durchleben und in denen er der Menschheit immer Größeres und immer Verinner lichteres zu geben hat.

So weist die Geisteswissenschaft sozusagen auf ein doppeltes Fortleben hin: auf jenes Fortleben, das in den bereits gehaltenen Vorträgen geschildert ist und noch weiter besprochen werden wird, und auf ein anderes Geistesleben, das wir ja immer anstreben, das zu unserm Erzieher wird, wenn wir in immer neuen Epochen dieses Erdendasein durchlaufen. Und richtig ist es, was Herman Grimm mit Worten gesagt hat, in die er zusammenfaßte, was sich in seinem Gefühl, in seiner Empfindung ergeben hat aus seiner Gesamtbeschreibung Raffaeis: Wenn auch einmal Raffaeis Werk längst verblichen, vernichtet sein wird, dann wird Raffael der Menschheit doch leben; denn in ihm ist der Menschheit etwas geworden, was dem Geiste dieser Menschheit in jeglicher Beziehung eingepflanzt ist, was immerdar keimen und Früchte tragen wird.

Das wird die Menschenseele empfinden, welche sich genügend in Raffael vertiefen kann. Im Grunde genommen haben wir Raffael erst ganz verstanden, wenn wir eine Empfindung, von der sich Herman Grimm durchdrungen fühlte — wir haben das letztemal dargestellt, wie nahe er der Geisteswissenschaft stand —, als er Raffael immer wieder betrachtete, wenn wir diese Empfindung auch geisteswissenschaftlich erhöhen und vertiefen können. Wir verstehen uns selber in unserem Verhältnis zu Raffael, wir verstehen, wie solche Betrachtungen, wie sie heute an der Anschauung Raffaels darzustellen versucht worden sind, als Keime aufgehen können, wenn wir zum Schluß zusammenfassen, was eigentlich heute hat gesagt sein wollen, in Sätze Herman Grimms: «Von Raffael werden die Menschen immer wissen wollen. Von dem jungen schönen Maler, der alle anderen übertraf. Der früh sterben mußte. Dessen Tod ganz Rom betrauerte. Wenn die Werke Raffaels einmal verloren sind, sein Name wird eingenistet bleiben in das Gedächtnis der Menschen.»

So Herman Grimm, als er begann, in seiner Art Raffael zu beschreiben. Wir verstehen es. Und wieder verstehen wir ihn, wenn er am Schlüsse seines Raffael-Werkes seine Betrachtung in die Worte ausklingen läßt: «Von der Lebensarbeit eines solchen Menschen wird jeder wissen wollen. Raffael ist zu einem der Elemente geworden, auf dem die höhere Bildung des menschlichen Geistes beruht. Wir möchten ihm näher treten, weil wir seiner zu unserem Wohlsein bedürfen.»




Zuletzt aktualisiert: 24-Mar-2024
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