ACHTER VORTRAG
Stuttgart, 6. September 1921
Durch dasjenige, was ich mir erlaubte zu charakterisieren als
imaginative, inspirierte, intuitive Erkenntnis, wird der Mensch
geführt vor Ergebnisse einer übersinnlichen
Forschung, die ihn so recht erst vor sein eigenes Wesen
hinführen. Es muß aber immer wieder betont werden,
daß es sich dabei nicht handelt um das Erringen von
Imagination, Inspiration und Intuition selbst, in welchen man
die Forschungsmittel, ich möchte sagen, in welchen man
für die übersinnliche Welt dasjenige hat, was man in
der Waage, im Maßstab für die physische Welt hat. Es
handelt sich vielmehr darum, daß diese Forschungsmittel
innerhalb der Geistesforschung so entwickelt werden, daß
der Ausgangspunkt genommen wird von etwas, das im
gewöhnlichen Bewußtsein, in dem Bewußtsein des
Alltags, in dem Bewußtsein, das der gewöhnlichen
Wissenschaft zugrunde liegt, schon durchaus vorhanden ist, wenn
man sich nur in der richtigen Weise zu diesem gewöhnlichen
Bewußtsein mit seiner Möglichkeit zu wirklichen
sinnlichkeitsfreien> im Geiste erfaßbaren Ideen erheben
kann. Einfach eine höhere Belebung desjenigen, was man im
gewöhnlichen Bewußtsein unbeachtet läßt,
ist dasjenige, was in die übersinnlichen Welten
hineinführt. Und derjenige, der selber zum Geistesforscher
werden will durch Imagination, Inspiration und Intuition, der
hat vor allen Dingen anzustreben, daß dasjenige in
Bewußtheit vor ihm liege, was schon bei einer wirklichen
physischen Forschung vorhanden sein muß, damit diese
physische Forschung zu wirklichkeitsgemäßen
Resultaten führt.
Was
ich jetzt eben gesagt habe, gilt eigentlich erst für
unsere Zeit, denn erst diese unsere Entwickelungsepoche der
Menschheit seit dem 15. Jahrhundert hat, indem sie sich erhob
zu der eigentlich naturwissenschaftlichen Forschung, auch in
der Handhabung dieser Forschung solche Begriffe in das
menschliche Bewußtsein hereingebracht, die in der
angedeuteten Weise ausbildungsfähig, belebbar sind. In
älteren Zeiten mußte man ganz andere Mittel anwenden.
Es wurde — wenigstens andeutungsweise — von ihnen
gesprochen, indem auf das Jogasystem hingewiesen worden ist und
auf dergleichen, aber diese alteren Mittel können nicht
mehr die unsrigen sein. So wie dasjenige, was im Leben der
erwachsene Mensch vollbringt, nicht das sein kann, was das Kind
vollbringt, ebensowenig kann das, was die zivilisierte
Menschheit des 20. Jahrhunderts als Mittel der Geistesforschung
anwendet, dasselbe sein, das die Menschheit der alten
orientalischen oder der alten griechischen Kulturen angewendet
hat.
Wir
müssen von dem sinnlichkeitsfreien, reinen Denken
ausgehen, wie ich es versuchte zu charakterisieren in meiner
«Philosophie der Freiheit». Dieses sinnlichkeitsfreie
Denken, so paradox es klingt, entwickelt sich am allerbesten,
allerintensivsten, wenn man sich einlaßt auf diejenige
naturwissenschaftliche Forschung, von der ich auch in diesen
Abendbetrachtungen gesprochen habe. Ich habe nicht umsonst
geschildert — trotz der Fehler, die ich bei ihm durchaus
einsehe und zugebe — den Haeckelismus, diese
besondere Art, sich in die Entwickelung des tierischen und des
menschlichen Lebens zu versenken. Wenn man im strengen Sinne
des Wortes dasjenige anwenden will, was gerade Geistesforschung
für die äußere Sinneswelt fordern muß: das
lebendige Durcheinanderwirken der reinen Wahrnehmung und des
reinen Denkens, dann kommt man mit Bezug auf die durch
äußerliche sinnliche Empirie gegebene organische Welt
zu keinen andern Resultaten als zu denen, zu denen der
Haeckelismus gekommen ist. Und will man anschaulich machen
dasjenige, wozu man auf diesem Wege kommt, auf dem Wege der
äußerlich-sinnlichen Anschauung und des methodischen
Denkens, das diese Anschauung durchwebt, so muß man in
folgendem Sinne verfahren. Man kann dann nicht aus irgendeinem
abstrakten Denken heraus allerlei Spekulationen anstellen
über eine Lebenskraft, wie es der Neovitalismus tut. Man
kann nicht Spekulationen aus den reinen Begriffen heraus
aufstellen, ob demjenigen, was äußerlich-sinnlich
verfolgbar ist, noch irgendein Übersinnliches zugrunde
liegt und dergleichen, sondern man muß in der Weise bei
der Tatsachenwelt stehenbleiben, wie es der Haeckelismus getan
hat. Gerade aus geisteswissenschaftlichen Forderungen heraus
muß man die äußere Naturforschung auf dieses
Gebiet und in diesem Sinne beschränken, sonst führt
das Spekulieren über die äußere Natur in
nebulosen Mystizismus hinein. Dadurch aber kann man sich leicht
den Vorwurf des Materialismus erwerben. Dieser Vorwurf kann
dann so gewendet werden, daß man sagt: Da ist von mir auch
einmal etwas dargestellt worden vom materialistischen
Standpunkt, und dann sei ich wieder davon abgekommen. —
Darum kann es sich nicht handeln. Das sind nur törichte
Einwände, welche sich an Worte halten und in den ganzen
Geist der geisteswissenschaftlichen Forschung eben nicht
eindringen können. Denn gerade, wenn man sich auf dem
Gebiete der reinen Naturwissenschaft auf das Phänomenale
beschränkt, wenn man in der Lage ist, jene innere
Resignation des Denkens zu üben, die notwendig ist, um
nicht nebulosen Mystizismus zu treiben, sondern
phänomenalistisch die Tatsachenwelt verfolgt, dann kommt
man dazu, das Denken überhaupt für die
äußere Forschung nur, ich möchte sagen, als
Arbeitsmittel zu gebrauchen, gar nicht als irgend etwas
Konstitutives, als irgend etwas, was über die
äußere Sinneswelt anders etwas aussagen kann, als
daß es die Phänomene dieser äußeren
Sinneswelt ordnet, so daß sie selbst ihre Geheimnisse
ausspricht, wie das durchaus im Sinne des Goetheanismus liegt.
Dann aber, wenn man diese Resignation übt, dann kommt man
eben für dieses Feld der Forschung an eine Grenze. Und an
dieser Grenze fängt man nicht an, philosophisch zu
spekulieren, allerlei auszudenken über Transzendentes, das
erschlossen werden soll, sondern man fängt an, jene
inneren Kämpfe und Überwindungen zu erleben, welche
das Denken jetzt nicht zum Spekulieren anregen, sondern ihm
gewissermaßen ein Lebenselixier einflößen, so
daß dieses Denken sich umwandelt in jene Anschauungen, die
dann in den Imaginationen auftreten, und daß es
herankommen kann an die Welt, die es durch Spekulieren niemals,
sondern nur dadurch erreichen kann, daß es sich eben
metamorphosiert zu übersinnlichem Schauen.
Dadurch aber, daß der Mensch solche Erkenntnismittel
anwendet, wird er wirklich eigentlich erst so recht sich selbst
gegeben. Und indem der Geistesforscher gerade von diesem Denken
ausgeht und es überall mitnimmt, muß er überall
dasjenige, was er imaginativ erschaut, was sich ihm durch
Inspiration offenbart, zurückführen bis zur
Gestaltung der reinen Idee. Aber in bezug auf dasjenige, was er
dann als Ideen gibt, kann ihm jeder folgen, der nur in der
richtigen Weise sich auf das gewöhnliche Bewußtsein
besinnt. Daher ist der Geistesforscher nachprüfbar selbst
in seinen höchsten Ergebnissen, und nur die
Denkbequemlichkeit behauptet, man müsse selber
hineinkommen in die geistige Welt, um die Ergebnisse richtig
finden zu können. Dadurch aber, daß die Ergebnisse
der Imagination zutage treten, wird dem Menschen dasjenige vor
die Seele gerückt — ich habe es in diesen
Vorträgen bereits ausgeführt —, was sein ganzes
Leben seit der Geburt als einen zusammenhängenden Strom
umfaßt. Das Ich erweitert sich über den Augenblick
hinaus, indem es sich erfühlt und erlebt im ganzen
Lebensstrom seit der Geburt. Und indem dann der Mensch
aufrückt zur Inspiration, eröffnet sich ihm die Welt,
in welcher er gelebt hat vor der Geburt beziehungsweise vor der
Konzeption, und in welcher er leben wird, wenn er durch die
Pforte des Todes gegangen sein wird. Dasjenige also, was mit
dem Menschen lebt als sein Unsterbliches, es wird auf diese
Weise Erkenntnisobjekt. Und in der Intuition eröffnet sich
der Blick über die wiederholten Erdenleben der
Vergangenheit, so daß dasjenige, wovon anthroposophische
Geisteswissenschaft spricht, so charakterisiert werden kann,
daß man überall die einzelnen Schritte angibt, durch
die man zu diesen Ergebnissen kommt und die dann, wie gesagt,
nachprüfbar sind, weil sie in Gedanken, die jedem
zugänglich sind, gegeben werden müssen.
Damit aber ist zunächst hingestellt vor den Menschen das
rein menschliche Ergebnis dieser anthroposophischen
Geisteswissenschaft. So wie wir beginnen, zu uns selbst zu
kommen, wenn wir dasjenige zusammenfassend aussprechen lernen,
was wir in unserem Geiste erleben, im Ich, so kommen wir zu
unserem ganzen auseinandergelegten Selbst, das Zeitlichkeit und
Ewigkeit umspannt, indem wir die Ergebnisse der
Geisteswissenschaft zu unseren eigenen machen. Der Mensch kommt
dadurch zu sich selbst, und das ist zunächst das
bedeutsamste ganz allgemein menschliche Resultat. Damit aber
ist dem Menschen zu gleicher Zeit eine Erweiterung seines
ganzen Bewußtseins gegeben; denn indem die Ergebnisse der
Geistesforschung hervorgehen aus belebtem, umgestaltetem
Denken, wirken sie auch wiederum, wenn sie aufgenommen
und nachgeprüft werden von den Menschenseelen, auf diese
Menschenseelen belebend. Eine neue Art der Einsicht in die Welt
kommt dadurch für das menschliche Bewußtsein
zustande, und ich will zunächst zwei von den
Lebensfrüchten mit wenig Worten charakterisieren, die
gerade durch diese Erweiterung, durch dieses Intensivermachen
des Bewußtseins zustande kommen.
Wir
stehen heute vor der brennenden sozialen Frage. Was im sozialen
Leben bis in unsere Tage hinein gewirkt hat, ging aus
unbestimmten und unterbewußten Instinkten der Menschheit
hervor. Die Menschen haben sich soziale Zusammenhänge
gegründet, die hervorgegangen sind wie naturgesetzlich aus
allerlei instinktiven Verhältnissen. Wer unbefangen das
soziale Leben zu überblicken vermag, dem ergibt sich das.
Aber wir leben in einem Zeitalter, wo man mit diesen
instinktiven Zusammenhängen im sozialen
Menschheitsorganismus nicht mehr auskommen kann. In demselben
Maße, in dem Einzelwirtschaft, Stammeswirtschaft, dann
Nationalwirtschaft zur Weltwirtschaft geworden sind, in
demselben Maße mußte das wirtschaftliche Denken immer
bewußter und bewußter werden. Und die Notwendigkeit
ist eingetreten für den Menschen der Gegenwart,
hinzuschauen auf die möglichen Verhältnisse, die sich
ergeben zwischen den wirtschaftenden Menschen, überhaupt
zwischen den Menschen, die im sozialen Leben miteinander
auskommen müssen. Von diesen Verhältnissen wird man
zugeben, daß sie komplizierter Natur sind. In demselben
Maße, in dem man genötigt war, diese
Verhältnisse aus dem instinktiven in das klare
Bewußtsein hereinzubringen, hat man versucht, dies von
demselben Gesichtspunkt aus zu tun, von dem man überhaupt
in den letzten Jahrhunderten wissenschaftlich denken gelernt
hat. Ich brauche ja nicht wieder diese wissenschaftliche
Methode zu rühmen, die sich herausgebildet hat als
diejenige, die in richtiger Weise die äußeren
Naturgeheimnisse erforschen kann. Für diese
äußeren Naturgeheimnisse ist diese aus dem
Kopernikanismus, aus dem Galileismus hervorgegangene Methode
durchaus die fruchtbare. Die Menschheit hat sich im Laufe der
neueren Jahrhunderte eingewöhnt in diese Methode; sie hat
sich dasjenige, was sie dunkel als Natur erschaut mit dem
sinnlichen Anschauen, zur Klarheit geführt durch diese
Methode.
Nun
trat die Notwendigkeit ein, auch das zu durchschauen, was sich
im sozialen Leben als menschliche Verhältnisse darstellt.
Kein Wunder, daß man zunächst mit demjenigen an diese
menschlichen Verhältnisse gegangen ist, das man sich
erobert hat im Anschauen der äußeren Natur. Und so
sind unsere nationalökonomischen und unsere
sozial-Ökonomischen Anschauungen entstanden, von
denjenigen, die nur auf den Kathedern vertreten worden sind bis
zu derjenigen, die Millionen und Millionen von Menschen
ergriffen hat, bis zum Marxismus. Ich habe das dargestellt in
meinen «Kernpunkten der sozialen Frage». Man
versuchte zu begreifen, wie das Kapital seine Funktionen
vollzieht, wie die Arbeit im sozialen Zusammenhang wirkt, wie
Warenzirkulation, Warenerzeugung, Warenkonsumtion wirken. Das
alles steht in komplizierten Verhältnissen darinnen; das
alles stellt sich vor unsere Seele als, ich möchte sagen,
lebendige Prozesse mit unendlichen Möglichkeiten. Für
dasjenige, was sich da als solche Prozesse darstellt, reicht
die beste naturwissenschaftliche Methode nicht aus, und weil
sie nicht ausgereicht hat und doch dies soziale Leben
durchdringen wollte, stehen wir heute im breitesten Umfange in
der Weltenmisere drinnen. Wer nicht an der Oberfläche
bleiben will, sondern in die Tiefen unserer sozialen Nöte
hineindringt, der wird schon sehen, daß diese mit dem
zusammenhängen, was ich eben versuchte zu
charakterisieren. Man kann nicht mit jenem Denken, das sich in
der Naturwissenschaft bewährt hat, soziale Gestaltung
hervorrufen. Dagegen dringt dasjenige Denken, das sich
durcharbeitet zur Imagination, das ein Objektives ergreift, das
sich darlebt als ein Bewegtes, nicht als ein Ruhendes, sondern
als ein Prozeß mit unendlichen Möglichkeiten im
verhältnismäßig kleinen Gebiet oder auch
über ein großes Gebiet hin — das dringt in
dieses bewegliche Leben von Kapital, Arbeit, Wirtschaft und so
weiter hinein. Es kann erfassen dasjenige, was Menschen
darleben in der sozialen Ordnung, und das ist schließlich
kein Wunder, denn dasjenige, was Menschen so darleben,
entspringt schließlich doch aus dem Inneren des Menschen.
Das Innere des Menschen ist das Geistig-Seelische oder es ist
wenigstens vom Geistig-Seelischen dirigiert. Man
stößt also, indem man auf die soziale Ordnung
stößt, selber auf ein Geistiges. Kein Wunder,
daß geistige Methoden notwendig sind, um die sozialen
Verhältnisse zu durchschauen.
Das, meine sehr verehrten Anwesenden — verzeihen Sie,
wenn ich die Sache jetzt in persönlicher Färbung
ausspreche —, das gab mir den Mut, aus denselben
Untergründen heraus, aus denen ich die «Philosophie
der Freiheit», meine «Theosophie», meine
«Geheimwissenschaft im Umriß» geschrieben habe,
das heißt aus denselben Untergründen heraus, aus
denen ich versuchte, die geistig-übersinnliche Welt zu
beschreiben, auch den Geist da zu erfassen, wo er sich darlebt
im unmittelbaren sozialen Menschenleben. Und das führte
mich auf den Weg zu meinen «Kernpunkten der sozialen
Frage». Es ist nur in Form einer persönlichen Nuance
geschildert, aber in dieser persönlichen Nuance verbirgt
sich dasjenige, was meine objektive Überzeugung ist mit
Bezug auf das Verhältnis des Menschen zum Erfassen der
sozialen Ordnung, die er im heutigen Zeitalter völlig
bewußt, das heißt aber, aus dem Geiste heraus
gestalten muß. Das ist das eine.
Das
andere aber — ich führe nur Beispiele an von den
Lebens fruchten anthroposophischer Forschung, ich könnte
vieles dergleichen anführen —, das andere, das ich
noch anführen will, kann sich uns entgegenstellen, wenn
wir den menschlichen Organismus betrachten. Wir haben diesen
zunächst vor uns in bezug auf seine äußere
Gestalt. Von dieser wollen wir absehen. Die Umhüllung
dieser äußeren Gestalt verbirgt die inneren Organe.
Diese inneren Organe erforschen wir in Physiologie, in Biologie
nach ihrer Gestaltung, nach ihrer Struktur. Wir können
nicht anders, wenn wir uns zunächst auf dem Boden der in
der neuen Zeit gewohnten Naturforschung bewegen. Aber in
Wirklichkeit sind Lungen, Magen, Herz, Leber, Nieren, sind alle
Organe des Menschen nicht dasjenige, als was sie sich dem Blick
darstellen, wenn dieser Blick sie anschaut in ihrer
umschlossenen Gestalt, mit ihrer, ich möchte sagen, in der
Hauptsache doch ruhenden Struktur, insbesondere ruhend für
das menschliche sinnliche Anschauen. Nein, diese Organe
täuschen nur diese Gestalt vor, denn im lebendigen
Menschen sind diese einzelnen Organe in einer fortdauernden
lebendigen Bewegung. Sie sind gar keine ruhig gestalteten
Organe, sie sind lebendige Prozesse, und wir sollten eigentlich
gar nicht sprechen von Lunge, Herz, Nieren, Leber. Wir sollten
sprechen von einem Herzprozeß, von einer Summe von
Herzprozessen, von einer Summe von Lungenprozessen, von einer
Summe von Nierenprozessen; denn, was sich da abspielt, ist eine
fortdauernde Metamorphose, die sich nur in solcher
Verschlossenheit abspielt, daß das Ganze für eine
Gestalt gehalten werden kann, ja, für die äußere
Anschauung gehalten werden muß. Vordringen aber von dem
Anschauen dieser Gestalt, die eigentlich nur das
Äußere offenbart, zu dem, was lebendiger Prozeß
ist, zu dem, was im Grunde genommen in jedem Augenblick ein
anderes wird in diesen Organen, zu demjenigen, was den
Lebensprozeß von diesen Organen aus eigentlich macht,
vordringen zu dem kann man nicht mit dem Anschauen der Sinne,
sondern mit dem bewegten inneren Anschauen, das in der
imaginativen Erkenntnis da ist.
Wenn die sozialen Prozesse so sind, daß sie
gewissermaßen in ihrer Komplikation sofort uns entlaufen,
wenn wir mit den naturwissenschaftlichen Vorstellungen an sie
herankommen, so sind die Prozesse in Lungen, Herz, Leber,
Nieren so, daß sie durch dasjenige, was wir für diese
gewöhnlichen naturwissenschaftlichen Begriffe erfassen,
eigentlich ihr inneres Wesen verbergen. Und man kommt hinein in
die so verdichteten Prozesse mit der Imagination. Auf der einen
Seite ist die Imagination in der Lage — wenn ich mich
trivial ausdrücken darf —, nachzulaufen den
flüchtigen, komplizierten sozialen Prozessen. Auf der
andern Seite ist sie in der Lage, dasjenige, was uns ruhende
Gestalt vortäuscht in den menschlichen Organen, in das
bewegte Leben der Organprozesse aufzulösen, die dann,
unmittelbar angeschaut, nicht erspekuliert, nicht erschlossen
werden. Denn das Denken muß stehenbleiben, wenn
Sinnenforschung vorliegt, bei demjenigen, was in den
Phänomenen da ist, und von da aus muß es sich
umwandeln zu lebendiger übersinnlicher Anschauung. Dann
dringt es erst in die wirklichen Vorgänge ein, die sich
der Sinnesanschauung auch in dem einzelnen menschlichen
Organprozesse verbergen.
Und
hier liegt der Weg zu der Befruchtung unserer durchaus von der
Geisteswissenschaft voll anerkannten äußeren Medizin
durch dasjenige, was Geistesforschung zu dieser
äußeren Medizin hinzufügen kann.
Geistesforschung will nicht an die Seite der Kurpfuscherei,
nicht an die Seite des Mystelns auf therapeutischem Gebiet
treten. Geistesforschung will rechnen auch auf diesem Gebiete
mit echter, wahrer Forschung, mit echter, wahrer
Sinneserkenntnis, diese aber fortführen bis zu denjenigen
Geheimnissen des Daseins, die wir doch auch erforschen
müssen, wenn wir in das Gesamtleben eindringen wollen, so
daß uns dieses Eindringen wiederum Früchte liefert
für das unmittelbare Leben am gesunden oder am kranken
einzelnen Menschen oder an der menschlichen Sozietät. Das
führt zu einer Anschauung der Lebensfrüchte, die sich
aus der übersinnlichen anthroposophischen Erkenntnis
ergeben.
All
das schließt sich dann zu etwas zusammen, das ich in der
folgenden Weise charakterisieren mochte. Die Menschen glauben
vielfach, den Materialismus dadurch zu überwinden,
daß sie die ganze Welt der Materie, ich möchte sagen,
draußen in der Welt liegen lassen, von ihr im Geiste
Abschied nehmen und sich nun in ein Geistiges, Abstraktes, in
ein Wolkenkuckucksheim erheben und dadrinnen herummysteln, sich
recht so benehmen, daß sie das materielle Leben als ein
niedriges ansehen, über das man sich erheben muß.
Dann erhebt man sich allerdings zu einem Geiste, in dem sich
wohlgefällig leben läßt, zu einer Art humanem
Sonntags vergnügen im Geiste neben der groben Arbeit der
Wochentage, der man sich hingibt innerhalb eben der Materie,
innerhalb welcher man schon einmal leben muß. Auf diesem
Boden kann eine wirkliche anthroposophische Erkenntnis nicht
stehen. Diese versucht den Geist so zu fassen, daß sie,
wenn sie ihn hat in seinem Schaffen, in seiner
schöpferischen Tätigkeit, ihn hineinverfolgen kann
bis in die äußersten Ranken des materiellen Lebens.
So ist es für diese Geisteswissenschaft, die hier gemeint
ist, nicht etwa bloß wichtig, zu konstatieren, daß es
neben dem menschlichen Leibe, der aus Gehirn, Lunge, Leber und
so weiter besteht, auch eine Seele und einen Geist im Menschen
gibt. Das führt kaum zu weiterem als zu einem Herumreden
in Worten, denn es führt zu Abstraktionen mit Bezug auf
die Welt, in der wir zwischen Geburt und Tod drinnenstehen. Was
Geisteswissenschaft anstrebt, das ist, mit dem Geiste, mit dem
sie sich durchdrungen hat, nun überall unterzutauchen, zu
sagen, wie lebt geistige Artung, geistig Wesenhaftes in jedem
einzelnen Organ des Menschen, wie ist die Wesenheit von Lunge,
Leber, Herz, Magen und so weiter geistig durchschaut, wie
durchdringen Geist und Seele den gesamten menschlichen
Organismus, mit dem Geiste hineinzuleuchten bis in die
einzelnsten Zellen, so daß nichts mehr übrigbleibt,
was nicht von dem Lichte des Geistes durchleuchtet ist. Dann
hat man gar nicht mehr auf der einen Seite Materie, auf der
andern Seite den abstrakten Geist; dann ist zur Einheit
zusammengewachsen dasjenige, was Geist auf der einen Seite in
Abstraktion und Materie auf der andern Seite in Abstraktion
ist. Und ebenso geht es mit dem sozialen Leben.
Dann aber, wenn man in dieser Weise den Geist in die
Wirklichkeit untertauchen läßt und mit ihm selber in
diese Wirklichkeit untertaucht, dann vertieft sich die
menschliche Seele so, daß jene Seile und Schnüre, von
denen ich gesprochen habe an diesen Abenden, die da führen
von dem innersten Menschenwesen hinaus in das innerste
Weltenwesen, daß diese Schnüre, diese Seile, dieser
geistige Zusammenhang zwischen dem Menschen und der Welt in das
Bewußtsein des Menschen so hereintritt, daß eine
lebendige Strömung, ich möchte sagen, ein Ein- und
Ausatmen der Welt entsteht. Was sonst in theoretischen, in
abstrakten Begriffen erfaßt wird, das wird in freier
Geistigkeit selber als lebendiges Erlebnis so durchsichtig, wie
nur Ideen sind, und so lebendig aber auch auf der andern Seite,
wie nur das Leben ist, und so frei, wie nur die freieste
Handlung sein kann, deshalb aber durchaus objektiv, wenn auch
das Objektive in diesem Falle in freier Geistigkeit erfaßt
werden muß. Deshalb ist es nötig, diejenigen
Fähigkeiten, die sonst beim Menschen unbewußt sich an
die Oberfläche ringen, von dieser Geistesforschung, von
dieser Geisteserkenntnis aus zu beleben.
Mit
Bezug auf die gewöhnliche äußere Wissenschaft
haben diejenigen, welche Künstler sind, mit Recht eine Art
von Scheu. Und die moderne Ästhetik, die aus dem Denken
der neueren Zeit, das man an der Naturwissenschaft gewohnt
worden ist, hervorgegangen ist, sie ist etwas, was die
Künstler meiden, und mit Recht, denn sie ist etwas
Abstraktes, etwas, was von der Kunst eher wegführt als in
sie hinein. Was Geisteswissenschaft ist, führt nicht zu
solchen abstrakten Begriffen, bringt dasjenige, was erst nur
Begriff, Idee ist, zum Leben, das wiederum belebt die andern
menschlichen Fähigkeiten. Dadurch ist es möglich,
daß aus dem Boden, aus dem diese Geisteswissenschaft
hervorwächst, zu gleicher Zeit wirklich
Künstlerisches auf naturgemäße Weise
hervorwächst. Niemals hat man es zu tun bei der Kunst, die
in Dornach gepflegt ist und von der ich morgen auch in Bildern
einige Proben vorzuführen habe, niemals auch bei etwas,
zum Beispiel wie bei Eurythmie, das hervorgeholt ist aus
demselben Boden, aus dem die Geisteswissenschaft hervorgeholt
ist, mit der Übersetzung von irgendwelchen Ideen in
künstlerische Anschauung. Nein, der Boden ist nur ein
gleicher, der Boden ist der des lebendigen Schaffens des
Vollmenschen. Das eine Mal gestaltet er Ideen aus als den einen
Ast, das andere Mal aus derselben Wurzel, geht der andere Ast,
der künstlerische, hervor. Deshalb war es mir auch immer
außerordentlich unsympathisch, wenn Allegorisierendes oder
Symbolisierendes innerhalb der anthroposophischen Bewegung
aufgetaucht ist. Was künstlerisch ist, wird zwar aus
derselben Quelle stammen müssen, aus der Anthroposophie
stammt, aber es ist nicht in Kunst übersetzte
Anthroposophie. Damit wird auf künstlerischem Gebiete eine
gewisse Lebensfrucht gezeitigt, wie die angedeutete auf
sozialem oder medizinischem Gebiete.
Und
wenn man bedenkt, wie die Art und Weise ist, wie da der Mensch
mit seinem ewig Unsterblichen zusammengeführt wird mit
jenen Kräften, die ihn selber eigentlich als Menschen aus
der geistigen Welt heraus gestalten, dann wird man auch
einsehen, wie zusammenhängt das, was der Mensch hat durch
Anthroposophie an erlebter Erkenntnis, an erkennendem Erleben,
mit religiöser Vertiefung. Wir brauchen in unserem
religiös so gleichgültig gewordenen Zeitalter
wiederum religiöse Elementarkräfte. Wir brauchen Wege
hinein in diejenigen Stätten geistigen Erlebens, aus denen
sich des Menschen Sittlichkeit, aus denen sich des Menschen
künstlerisches Schaffen, aus denen sich alles dasjenige,
was Menschenwert und Menschenwürde ist, als aus dem
göttlichen Zentrum heraus befruchten läßt. Man
verleumdet Anthroposophie, wenn man ihr sektiererische
Bestrebungen zuschreibt, die sie durchaus nicht bilden will.
Man verleumdet sie, wenn man glaubt, daß sie eine neue
Religionsbildung sein will. Nein, das will sie nicht sein,
einfach aus dem Grunde, weil sie sich bemüht, den Gang der
Menschheitsentwickelung in seiner wahren Gestalt zu verstehen.
Da muß man sagen: Diejenigen göttlichen Mächte,
welche die Welt gestaltet und die Menschheitsentwickelung
geleitet haben, sie wurden in älteren Zeiten nach dem
Sinne älterer Bevölkerungen verstanden. Wir
müssen zu andern Metamorphosen des Erkennens und der
Handlungsmotive vorschreiten; wir müssen dasjenige, was
ewig ist im Sinne der neuesten Zeit, unseren Seelen
nahebringen. Gewiß wird Geisteswissenschaft nicht von
einem andern Christus sprechen als von demjenigen Christus, der
durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist; aber
Geisteswissenschaft muß sprechen von Stufen derjenigen
Erkenntnis, die sie für notwendig hält im 20.
Jahrhundert, auch gegenüber dem Christus-Ereignis.
Denjenigen, die da glauben, vom Boden irgendeines bestehenden
Bekenntnisses aus Furcht haben zu müssen, daß ihnen
der Boden abgegraben werde durch Anthroposophie, denen muß
immer wiederum gesagt werden: Ist denn derjenige der echte
Bekenner des Christentums, der bei jeder Gelegenheit
Furcht hat, daß die Wahrheiten des. Christentums
beeinträchtigt werden können? Oder ist es derjenige,
der weiß — mögen noch Millionen von
Erkenntnissen auf physischem, auf seelischem, auf geistigem
Boden erstehen —, daß die wirklichen Wahrheiten des
Christentums dadurch nur um so glänzender vor die
Menschenseele werden hintreten können? Niemand wird
fragen, warum von Amerika nichts in der Bibel steht, und
derjenige, der etwa die Entdeckung Amerikas hätte
bekämpfen wollen vom Standpunkt der Bibel aus, der gliche
dem, der heute vom Standpunkt der Bibel aus die Anschauungen
anthroposophischer Geisteswissenschaft bekämpfen will.
Diese Dinge müssen in aller Ehrlichkeit durchschaut und
durchdacht werden. Sonst wird dasjenige, was in den
Bekenntnissen liegt, immerzu ein Hemmschuh werden müssen
für wirkliche Forschung, während diese, wenn sie bis
zum Geiste vordringt in der Art, wie anthroposophische
Geisteswissenschaft das will, durchaus gerade auch die
Lebensfrucht bringt, die in einer Belebung des religiösen
Seins der Menschenseele besteht. "Wir müssen dasjenige,
was wir erforschen in den verschiedenen Welten, in Einklang
bringen mit dem, was unser religiöses Empfinden und
Fühlen bildet. Und man nimmt den Religionen nichts, wenn
man ihre Wahrheiten versucht in Harmonie zu bringen, in
berechtigte Harmonie, in erkenntnismäßige Harmonie
mit dem, was sich als die Erkenntnisse verschiedener Epochen
ergibt. So wird gerade unser Zeitalter auch diese Lebensfrucht
von anthroposophischer Forschung haben, die in einer Vertiefung
des gleichgültig gewordenen religiösen Lebens
besteht. Wenn diese Frucht reift, dann wird von dieser Seite
herkommen jene Wärme, jener Enthusiasmus, die wir als
Christen brauchen, wenn wir in unserer Zeit des Niedergangs
vorwärtskommen wollen. Und was wir auch sonst einsehen im
sozialen Leben, in der menschlichen Organisation, was wir
hervorbringen können künstlerisch: fortentwickeln
kann das alles die Menschheit nur, wenn es getragen wird von
der Wärme innerster menschlicher Wesenheit und
Schaffenskraft. Die ist aber enthalten in den wahrhaftigen
religiösen Empfindungen der Menschheit.
Was
sich nun aber in unserer Zeit gerade diesen
geisteswissenschaftlichen Forschungsarten besonders stark
entgegenstellt, das hängt doch tief zusammen damit,
daß man allmählich den Zusammenhang verloren hat mit
der Wirklichkeit, indem man auf der einen Seite hinsieht auf
die entgeistigte Natur, die man daher nicht in ihrer wahren
Gestalt, sondern nur in ihrer äußeren sinnlichen
Gestalt haben kann für die moderne Wissenschaft, auf der
andern Seite hinschaut auf die geistige Welt, vielleicht nur in
einer Empfindungsgewißheit — ich habe darüber
gestern gesprochen —, aber dann doch nicht über
Abstraktionen hinauskommt. Das alles zusammen hat eben seine
Wurzel darinnen, daß man allmählich dazu gekommen
ist, zu bequem zu sein, um in geistiger Freiheit, im freien
geistigen Erleben, in innerlicher Aktivität das Geistige
erfassen zu wollen, so daß man es bis in die Schlupfwinkel
des materiellen Geschehens hinein verfolgen kann. Weil die
naturwissenschaftlichen Wahrheiten in engster Anlehnung an die
äußeren Geschehnisse gefunden werden, weil sie
überall gebildet werden an der Beobachtung, an dem
Experiment, weil man nichts mehr zu denken unternimmt als
dasjenige, was das Zufallsexperiment, die Zufallsbeobachtung
ergeben, hat man sich gewöhnt, an die Stelle des
ehemaligen Dogmas der Offenbarung — wie ich mich in
meinen allerersten Schriften ausgedrückt habe — das
Dogma der Erfahrung, nämlich der äußeren
sinnlichen Erfahrung zu setzen. Dadurch ist man in seiner
inneren Seelenverfassung unbefriedigt geworden. Man hat sich
abgewöhnt, dasjenige, was die Seele erleben kann, als
Objektives und nicht in Anlehnung an ein Äußeres zu
erleben, sondern in freiem innerem Erleben. Dieses freie innere
Erleben ist dasjenige, was wir vor allen Dingen suchen
müssen, wenn wir zu einer wirklichen Geistesforschung
kommen wollen. Und das ist dasjenige, dem sich die Menschen
jetzt am meisten widersetzen.
Ich
möchte dafür ein Beispiel anführen, nicht weil
ich diesen Aufsatz, der vor kurzem erschienen ist, hier in
diesen Vorträgen benützen will, um gewissermaßen
abzurechnen mit irgend etwas, was gegen Geisteswissenschaft in
anthroposophischer Hinsicht selber eingewendet wird. Nein, ich
will in diesen Vorträgen in dieser direkten Weise mit
keinem Gegner mich auseinandersetzen, am wenigsten mit dem, was
in diesem Auf satze steht, den ich hier meine. Denn derjenige,
der in diesem Aufsatze spricht, der redet von etwas ganz
anderem als von anthroposophischer Geisteswissenschaft, die er
gar nicht kennt und die er nach dem Hörensagen und nach
dem Hineinblicken, man könnte fast sagen,
zugegebenermaßen nach dem Hineinblicken vielleicht in ein
einziges Buch und nach dem Anhören von gewissen
Nachrichten — für sich allerdings, das muß
gesagt werden, in einer grundehrlichen Weise, so wie es ihm
eben möglich ist — zu charakterisieren versucht. Was
da gegenüber der Geisteswissenschaft auseinandergesetzt
wird, auf das will ich hier nicht eingehen. Ich möchte die
Sache nur in kulturgeschichtlicher, in zeitgeschichtlicher
Weise betrachten. Da redet dieser außerordentlich
angesehene Verfasser von denjenigen Übungen, von denen er
gehört hat, daß ich sie schildere, damit der Mensch
wirklich mit seinem Seelenleben den Weg hinauf in die geistige
Welt gehen kann. Und da hat er offenbar auch gehört oder
gelesen, daß man sich in den anfänglichen, ganz
elementaren Übungen damit befassen soll, fünf Minuten
an einen gleichgültigen Gegenstand zu denken, so daß
man wirklich in innerer Freiheit, ohne daß einen etwas
zwingt, sondern indem man nur dem folgt, was man selber will,
den Gedanken festhält. Deshalb sagte ich, um anzudeuten,
worauf es ankommt: Man kann ja eine Stecknadel oder einen
Bleistift benützen; denn es ist ganz gleichgültig, an
was man denkt. Nicht darauf kommt es an, daß man durch das
Gedachte gefesselt wird, sondern darauf, daß in innerer
Freiheit festgehalten wird das Denken durch fünf Minuten,
daß das Denken versetzt wird in die Sphäre der freien
Tätigkeit. Man ist nicht gewohnt im gewöhnlichen
Leben, in dieser Art das Denken in der Sphäre der freien
Tätigkeit zu halten. Wenn man das Denken an einen
Gegenstand wendet, so will man von dem Gegenstand gefesselt
sein; man denkt so lange daran, als einen der Gegenstand
fesselt. Dadurch kommt man niemals in die Geistesforschung
hinein, im Gegenteil, man kommt immer mehr von
übersinnlicher Forschung und Anschauung dadurch ab. Daher
ist es charakteristisch für einen Menschen, der
eigensinnig ganz in dem gegenwärtig sich offenbarenden
Niedergang drin stehenbleiben will, wenn er sagt: «Jetzt
würde ich das überhaupt nicht fertigbringen; und ich
fürchte, ich fürchte: mit aller
Selbstüberwindung lerne ich das nie. Dagegen habe ich mir
schon vorwerfen lassen müssen, ich könne von einem
Gegenstand, der mich interessiert,... langer als fünf
Minuten so weg sein, daß ich für die übrige Welt
überhaupt nicht mehr vorhanden sei.» Das ist gerade
der umgekehrte Weg. Wenn einen der Gegenstand so fesselt,
daß man nicht mehr für die andere Welt vorhanden ist,
dann gibt man sich an den Gegenstand hin, dann
veräußert man seine Freiheit an den Gegenstand. Das
ist es, worauf es ankommt: daß einen der Gegenstand nicht
fesselt, daß man einen Gegenstand nimmt, der einen nicht
fesselt, und daß man aus innerer freier Kraft das
Bewußtsein auf dem Gegenstand durch fünf Minuten
festhält. Daher ist es ungeheuer charakteristisch, wenn
hier gesagt wird: «Da überlasse ich diese
Fähigkeit doch lieber Menschen, denen nichts in ihrem
wirklichen menschlichen Leben so viel ernstes Interesse
einflößt, daß es sie fünf Minuten
festhält.»
Für diesen Mann hier, der ein berühmter Mann der
Gegenwart ist, ist so unendlich viel da, das ihn unfrei
fesselt, immer wieder und wiederum fünf Minuten und
wahrscheinlich länger — ich will es zu seiner Ehre
annehmen —, daß er gar nicht dazu kommen kann, aus
innerer Freiheit heraus einen inneren Gedankenkomplex durch
fünf Minuten festzuhalten. Das will er denjenigen Menschen
überlassen, die nicht von der äußeren Welt so
gefesselt werden wie er selber, und das verrät ja auch
sonst, wie er ganz klebt an demjenigen, was sich in der an
diesem Abend charakterisierten Art in der modernen
Anschauungs-, Denk- und Empfindungsweise herausgebildet hat.
Das liegt weit ab von dem, was Geisteswissenschaft gerade
fördern muß: das Sich-Hinein-versetzen in die
Sphäre des freien Denkens.
Ein
anderes Beispiel, das ich gebe, damit der Mensch in eine solche
Sphäre des freien Denkens hineinkommt, ist dasjenige, das
ich im zweiten Teil meiner «Geheimwissenschaft»
beschreibe als das Anschauen des Rosenkreuzes. Sie können
dort nachlesen, wie diese Übung gemacht wird. Dazu sagt
der betreffende Verfasser: «Das Kreuz stellt sich mir
nicht selten ungerufen vor die Seele.» — also
wiederum nicht durch inneren Ruf in Freiheit, sondern ungerufen
kommt es —, «Aber es ist dann kein schwarzes Kreuz,
etwa aus poliertem Ebenholz, sondern ein ganz gemeiner, roher
Galgen von schmutzig-grauer Farbe. Und an diesem Kreuz
hängt nicht ein Kranz von sieben roten, strahlenden Rosen,
sondern ein bleicher, blutiggeschlagener Mensch in Todesqual,
ja in Höllenqual.»
Also man gibt behufs innerlicher Befreiung des Denkens eine
Übung an, und dem Betreffenden fällt nichts anderes
ein als dasjenige, was ihm unter Zwangsgewalten aus seiner
ganzen Erziehung, aus seinen ganzen Lebensgewohnheiten
einfällt, und er betrachtet das sogar als das
Selbstverständliche, als das Richtige. Da kann man niemals
mit solcher Gesinnung herankommen an dasjenige, was
Geistesforschung wirklich bringen kann. Denn derselbe Mann
brauchte gar nicht zu beschreiben das, was ich in meiner
«Geheimwissenschaft» als ein Kreuz darstelle, das man
sich in freier Geistigkeit herausformt, sondern er könnte
zum Beispiel auch erfahren, daß ihm irgendwo einer von
einem Fensterkreuz spricht und ihm das beschreibt. Da wird er
auch sagen: Du hast kein Recht, von einem Fensterkreuz zu
sprechen, denn mir fällt nicht etwa ein rötlich
angestrichenes Fensterkreuz ein, sondern immerzu ein schwarzes
Kreuz als ein gemeiner roher Galgen — und so weiter. Und
wenn man dem Mann erzählen wollte, wie man mit dem Kreuz,
nämlich mit der Abszissen- und Ordinatenachse, in der
analytischen Geometrie arbeitet, so würde er einem das
verbieten. Und wenn ihm Einstein hinzeichnete die Abszissen-
oder Ordinatenachse, so würde ihm der rohe Galgen
einfallen, einzig und allein. Man muß diese Dinge nur in
ihrem wahren Inhalte anschauen, dann wird man sehen, welche
Gewalten da sind in unserer Zeit, um gerade nach der
entgegengesetzten Seite von dem zu führen, was, wie
vielleicht doch die verehrten Zuhörer entnommen haben,
unserer Zeit in sozialer, in religiöser, in
wissenschaftlicher Beziehung so außerordentlich notwendig
ist.
Kein Wunder, daß der betreffende Verfasser noch etwas
anderes, höchst Merkwürdiges sagt. Ich habe
dasjenige, was ich die Akasha-Chronik genannt habe, hingestellt
als dasjenige, wodurch der Mensch versucht, seine Gedanken so
zu gestalten, daß er das Weltenwerden in innerer
Aktivität überschaue. Gerade darauf mußte ich
rechnen, daß man bei der Schilderung von so etwas sich
seine innere Seelenverfassung aktiv erhält und daß
man diese Seelenverfassung in freier Geistigkeit heraufhebe in
das Übersinnlich-Anschau-bare. Dieser Mann aber spricht
folgendes: «Und — Sie mögen mir das glauben
oder nicht — dieser Verzicht fällt mir nicht einmal
so sehr schwer. Wenn mir Herr Dr. Steiner die Akasha-Chronik in
illustrierter Prachtausgabe verehren wollte — ich
würde sie nicht einmal lesen.» Nun, der Mann denkt
also, es könnte ihm das passieren, daß ihm die
Akasha-Chronik in illustrierter Prachtausgabe verehrt
würde, damit er ja passiv sich hingeben kann, damit ja
nicht irgendwie gerechnet werde auf seine innere
Seelenaktivität.
Es
ist schon durchaus notwendig in unserer Zeit, daß
derjenige, der da mitarbeiten will an den Aufgangskräften,
solche Erscheinungen ohne Haß, ohne Antipathie ins Auge
faßt, aber so, wie sie dastehen, alle die Über-, alle
die Niedergangskräfte. Viele Menschen stehen da und
können nicht einmal bemerken, daß sie diese
Übergangskräfte in sich haben, und denen wieder eilen
zahlreiche andere Menschen nach, Tausende und aber Tausende
Menschen. Sie eilen solchen passiven religiösen Naturen
nach, weil man passiv bleiben will, weil man nicht will
dasjenige, was so notwendig ist: die Objektivität, die
objektive Wesenheit, das heißt, das Übersinnliche in
freier Geistigkeit ergreifen. Dazu gehört eben aktive
innere Seelenverfassung, freie innere Seelenverfassung.
Das
ist es, was ich am Schlüsse noch zusammenfassend sagen
möchte: Anthroposophische Geisteswissenschaft will
übersinnliche Erkenntnisse pflegen, Erkenntnisse, die zu
solchen Ergebnissen führen, wie ich sie in den
vorangehenden Tagen und heute zusammenfassend charakterisiert
habe. Diese anthroposophische Geisteswissenschaft will nicht zu
toten Begriffen führen, die nur von einer toten
äußeren Wirklichkeit künden. Anthroposophische
Geisteswissenschaft will nicht die Wissenschaft, die Erkenntnis
beschränken auf diejenigen Ergebnisse, die wie welke
Blätter durch den abstrakten Verstand an der
äußeren sinnlichen Wirklichkeit gewonnen werden und
die, indem sie in die menschliche Seele versetzt werden als
welke Blätter, verdorren und die innere Kraft des Menschen
durch ihr Verdorren selber herablähmen.
Anthroposophische Geisteswissenschaft will vielmehr in ihren
Ergebnissen bringen wahre Lebensfrüchte, nicht welke
Blätter, Lebensfrüchte, die Geistesnahrung werden
können der lebendigen Seele, wie das Blut in seiner
Zirkulation dem Leibe die Nahrung bringt. Daß das aber
möglich werde, dazu bedarf Geisteswissenschaft der Luft
der Freiheit. Erkenntnis selber muß in die Geistesluft der
Freiheit gerückt werden, jener Freiheit, welche die
tiefsten Tiefen der menschlichen Seele zum Erkennen erwecken
kann, sie aber auch erwecken kann zum wahrhaftig freien
Handeln, zu einem Handeln, das Harmonie, soziale Harmonie
begründen kann unter den Menschen. Denn dasjenige, was am
sozialen Organismus notwendigerweise aus der Gegenwart heraus
in die nächste Zukunft geschehen soll, es muß dann
doch zuletzt hervorgehen aus dem, was der vollbewußte
Mensch in freier Erkenntnis erringt, im Innersten der Seele als
freie Lebensfrucht dieser Erkenntnis erleben kann und wiederum
als soziales Wirken in die ganze menschliche Gesellschaft, in
die ganze menschliche Entwickelung hinaustragen kann, so
daß es die Menschheit aus der Gegenwart heraus in die
nächste Zukunft hinein nicht durch Niedergangs-, sondern
durch Aufgangskräfte führe zu neuem
Menschlich-heilsam-Schöpferischem.
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