BERICHT
über den anthroposophischen Hochschulkurs in
Berlin
Aus dem Mitgliedervortrag in Dornach, 18. März
1922
Meine lieben Freunde!
Gestatten Sie, daß ich heute einiges über den Verlauf des Berliner
Hochschulkurses sage. Der Berliner Hochschulkurs hatte sein
Programm in einer besonderen Weise angeordnet. Es sollten
dargestellt werden die Beziehungen gewisser Lebens- und
Wissenschaftszweige in der Gegenwart zur anthroposophischen
Weltanschauung. Der einzelne Tag sollte immer einem besonderen
Wissenschafts- oder Lebenszweige in der Hauptsache gewidmet sein.
Und die Woche war so eingeteilt, daß begonnen wurde mit dem
Sonntag, der der anorganischen Naturwissenschaft gewidmet sein
sollte. Der Montag sollte dann gewidmet sein der organischen
Naturwissenschaft und der Medizin, der Dienstag der Philosophie,
der Mittwoch der Erziehungswissenschaft, der Donnerstag der
Volkswirtschaft und der Freitag der Theologie. Der Sonnabend sollte
der Sprachwissenschaft gewidmet sein, und dann sollte am Sonntag
das Ganze durch die Eurythmievorstellung im Deutschen Theater einen
gewissen Abschluß erlangen.
Es war das Programm so
gedacht, daß jeder Tag mit einem kurzen Vortrag von mir beginnen
sollte. Nur der erste Sonntag konnte nicht so beginnen, da ich
damals noch nicht in Berlin sein konnte. So mußte ich am Montag in
meinen einführenden Worten sowohl die anorganische wie die
organische Naturwissenschaft zusammenfassen. Dann sollte der Tag
also einen einheitlichen Charakter tragen. Es fanden anschließend
an meine Einführungsworte dann zwei weitere Vorträge am Vormittag
statt. Dann fand eine halbstündige Imbiß pause statt, zu der man
aber — das war schon angekündigt — in den Räumen der Singakademie
keinen Imbiß bekam. Und von l bis 2 Uhr sollte dann eine Diskussion
stattfinden. Daran sollte sich dann der letzte Vortrag des
Vormittags anschließen von 2 bis 3 Uhr. Es war ein etwas
anstrengendes Programm. Am Abend schlössen sich daran Vorträge, die
zum Teil m der Philharmonie von mir gehalten wurden, zum Teil von
anderen in den Räumen der Berliner Universität; jeden Abend einen
Vortrag und bei den ändern Vorträgen, außer meinem, war immer noch
nach diesen Vorträgen abends auch eine Art von Aussprache. Es waren
die Tage also außerordentlich reichlich besetzt.
Nun, die ganze Gliederung
des Programmes darf tatsächlich interessant genannt werden,
namentlich durch die Formulierungen, welche die einzelnen
Tagesprogramme erfahren hatten. Gewissermaßen hatte jeder Tag einen
Gesamttitel, und die Formulierungen dieser Gesamttitel für die Tage
sind nun wirklich interessant, denn sie verraten so manches
Bedeutungsvolle: Jeder einzelne Tag hatte nämlich in seiner
Formulierung etwas Positives, nur der Freitag nicht, der der
Theologie gewidmet war. Das ist schon bedeutsam, nicht so sehr aus
dem Zeitbewußtsein heraus, sondern aus der Art und Weise, wie man
sich zu der Entwicklung des Anthroposophischen auf Seiten
derjenigen stellte, die das Programm formuliert haben. Man fühlte
sich einfach gedrängt, die anderen Tagesprogramme in positivem
Sinne zu formulieren, und wir brauchen uns nur diese Formulierungen
anzuschauen, um das Bedeutungsvolle herauszufinden.
Sonntag, den 5. März: «Von
lebensfeindlicher Mechanistik zu wahrer Phänomenologie». Es wird
also die Hoffnung ausgesprochen in der Formulierung des Programmes,
daß man durch Anthroposophie dazu kommen wird, eine Phänomenologie
als Grundlage der Naturwissenschaft, der anorganischen
Naturwissenschaft zu finden.
Noch positiver ist dann
das Programm vom Montag zusammengefaßt: «Wege anthroposophischer
Menschenerkenntnis in Biologie und Medizin», und ebenso positiv das
Programm vom Dienstag über Philosophie: «Die Begründung der
Anthroposophie aus dem philosophischen Bewußtsem der
Gegenwart.»
Ebenso positiv das
Programm vom Mittwoch: «Von modernen pädagogischen Forderungen zu
ihrer Verwirklichung durch Anthroposophie» — also auch hier der
Gedanke: Es bestehen solche pädagogischen Forderungen in der
Gegenwart, die durch Anthroposophie verwirklicht werden
können.
Der Donnerstag, der der
Sozialwissenschaft gewidmet war, hatte ja sogar einen sehr
verheißungsvollen Titel in der Gesamtformulierung des Programmes,
obwohl das, was dann gehalten worden ist, weniger verheißungsvoll
war. Der Donnerstag trug sogar den außerordentlich
verheißungsvollen Titel, der sehr positiv klingt:
«Nationalökonomische Ausblicke».
Der Sonnabend, der der
Sprachwissenschaft gewidmet war, trug den Titel: «Von der toten
Sprachwissenschaft zur lebendigen Sprachwissenschaft».
Sie sehen also, überall
liegt diesen Titelformulierungen zugrunde: Man will hinweisen auf
den Weg, der aus dem Gegenwärtigen hineinführt in die
anthroposophische Gestaltung des betreffenden geistigen Weges. Man
hat eine Vorstellung davon, wie die einzelnen Disziplinen ihren
Ausgangspunkt nehmen von den gegebenen wissenschaftlichen
Formulierungen der Gegenwart und hineinlaufen in gewisse andere
Erkenntnisse, welche durch Anthroposophie gegeben werden sollen;
überall also absolut konkretes Vorstellen über mögliche Wege. Nur —
wie gesagt — der Donnerstag trägt den außerordentlich
verheißungsvollen Titel: «Ausblicke», sogar «Nationalökonomische
Ausblicke», was eine abstrakte Formulierung ist, was aber in der
Abstraktheit gerade hinweist darauf, daß man — ich möchte sagen —
nicht gehen, sondern springen möchte.
Wenn wir dann den Freitag
uns ansehen in der allgemeinen Formulierung des Tagesprogrammes, so
lautet dieses so: «Der Untergang der Religion in der gegenwärtigen
Theologie und die Neubegründung durch Anthroposophie». — Also hier
wird zuerst ganz negativ formuliert: Der Untergang der Religion in
der gegenwärtigen Theologie und die Neubegründung durch
Anthroposophie. — Es wird also nur hingewiesen, auch noch in
negativer Weise, daß es etwas gibt wie Anthroposophie, und daß
dadurch Theologie und Religion eine Erneuerung erfahren können. Es
wird in diesem Titel nicht in so konkreter Weise gezeigt, wie der
Weg aus den gegenwärtigen Wirrnissen heraus in die
anthroposophische Gestaltung hineinführen kann.
Wenn Sie nun das zum
Beispiel mit der Formulierung am Sonntag vergleichen: «Von
lebensfeindlicher Mechanistik zu wahrer Phänomenologie», so haben
Sie hier sogar schon in dem Worte «Phänomenologie» eine ganz
konkrete Bezeichnung für das, was werden soll. Ebenso haben Sie in
dem Worte: «Menschenerkenntnis» vom Montag auf etwas durchaus
Konkretes hingewiesen. Bei der Philosophie haben Sie auf das
philosophische Bewußtsein in der Gegenwart, also auch auf etwas
Konkretes hingewiesen, bei der Erziehungswissenschaft auf die
pädagogischen Forderungen der Gegenwart, und bei der
Sprachwissenschaft wird gesagt: «Von der toten Sprachwissenschaft
zur lebendigen Sprachwissenschaft», also auch eine ms Konkrete
gehende Formulierung.
Nun, es ist das
außerordentlich bezeichnend, daß dieser Hochschulkursus, der im
wesentlichen sowohl innerlich wie äußerlich in der
Freitags-Veranstaltung gegipfelt hat, und der im Grunde genommen —
insbesondere die Empfindung konnte das ergeben — einen
theologischen Charakter hatte, daß dieser Hochschulkurs, der ja
auch sonst außerordentlich gut besucht war, am Freitag, am
theologischen Tag, einen solchen Besuch hatte, daß es «brechend
voll», übervoll war, und es ist außerordentlich bezeichnend, daß
dieser Kursus gerade in der Tagesformulierung für das theologische
Programm etwas Negatives hatte. Natürlich gingen diese
Formulierungen aus dem hervor, was eben einmal vorliegt, und man
versuchte in einer durchaus ehrlichen und aufrichtigen Weise, diese
Formulierungen so zu geben, wie sie eben auf der einen Seite aus
dem Bewußtsein der Gegenwart hervorgehen können, und auf der ändern
Seite aus einer Vorstellung darüber, was aus diesem Bewußtsein der
Gegenwart durch Anthroposophie werden kann.
Gehen wir dann die
einzelnen Tage durch, so treffen wir natürlich auf Dinge, die uns
zum größten Teil bekannt sind. Sonntag: Von lebensfeindlicher
Mechanistik zu wahrer Phänomenologie. — Da handelt es sich also
darum, daß darauf hingewiesen wird, wie alles Spekulieren über
Atomistik, über eine mechanistische Auffassung der leblosen Natur
überwunden werden soll, und wie man zu einem reinen Betrachten
dessen, was in den Phänomenen, in den Erscheinungen vorliegt,
kommen soll, wie diese Erscheinungen selber für sich sprechen
sollen, wie sie selber ihre Theorie liefern sollen. Also es ist in
dieser Formulierung zum Ausdrucke gebracht, daß man Goetheanismus
treiben will in der Naturwissenschaft.
Es ist dann in der
organischen Naturwissenschaft zum Ausdrucke gebracht, daß man den
gesamten Umfang der organischen Naturwissenschaft auf
Menschenerkenntnis bauen müsse, daß man also notwendig hat, nicht
so zerstückelt die Natur in ihren Reichen zu betrachten, wie man
das gegenwärtig tut, sondern daß man vor allen Dingen darauf
auszugehen hätte, den Menschen kennenzulernen, und daß man vom
Menschen aus die anderen Reiche der Natur zu erforschen
hätte.
Was dann die Philosophie
betrifft, so handelte es sich am Dienstag darum zu zeigen, wie das
philosophische Bewußtsein an einer Art von Ende angekommen ist. Es
ist interessant, diese Formulierung im Zusammenhang zu denken zum
Beispiel mit dem Hegeltum. Hegel hat ja bereits in seiner
Philosophie im Beginne des 19. Jahrhunderts gesagt, daß alle
Philosophie der Gegenwart ein Ende sei, und daß man im Grunde
genommen in der Philosophie nur auf den Hergang zurückblicken kann,
daß aber eine Weiterentwicklung nicht möglich sei. Nun sollte eben
an diesem Dienstag gezeigt werden, wie aus dem Ende der Philosophie
ein Anfang, ein neuer Anfang hervorgehen kann, wenn man diesen
Anfang in anthroposophischem Sinne gestaltet.
In der
Erziehungswissenschaft wollte man darauf hindeuten, daß eigentlich
alle wirklich denkenden Menschen der Gegenwart gewisse pädagogische
Forderungen aufstellen, die aber nicht zu erfüllen sind mit dem,
was man gegenwärtig an Pädagogik entwickelt, daß also diese
Forderungen, die im Grunde genommen alle denkenden Menschen
aufstellen, nur zu erfüllen sind durch Anthroposophie.
In der Sprachwissenschaft
sollte gezeigt werden, wie die Sprache selber als lebendiger
Organismus im Zusammenhange mit dem Menschen erfaßt werden soll,
nicht bloß aus den toten Urkunden heraus, wie das bei der
gegenwärtigen Sprachwissenschaft der Fall ist.
Von der Sozialwissenschaft
ist ja nur zu sagen, daß in einer außerordentlich lichtvollen Weise
Emil Leinhas aus seinen tüchtigen Kenntnissen heraus über das
Geldproblem der Gegenwart ganz Bedeutendes gesagt hat; aber es läßt
sich ja über das Geldproblem der Gegenwart, wie Sie wohl selbst
manchmal fühlen werden, nicht gerade außerordentlich viel Positives
sagen. Das werden Sie schon hier in der Schweiz fühlen, in dem
beinahe höchstvalutigen Lande; daß sich aber nicht viel Positives
über das Geldproblem sagen läßt, wenn Sie über die Grenze
hinüberkommen, das werden Sie ja glauben. Also das ist schon so,
daß da nicht sehr viel Positives gesagt werden konnte. Solches
Positive haben dann auch die nächsten beiden Vorträge nicht
gebracht, und es hat ja gerade dieser nationalökonomische Tag
gezeigt, wie im Grunde genommen die Pflege des Nationalökonomischen
innerhalb unserer anthroposophischen Bewegung etwas ist, was
eigentlich durch und durch versagt. Denn wir haben im Grunde
genommen es nicht dazu bringen können, trotzdem immer wieder und
wiederum die Notwendigkeit gerade auf diesem Gebiete betont wurde,
daß in der Wirtschaftswissenschaft von Seiten derjenigen, die im
Wirtschaftsleben selber drinnenstehen, auch wirklich
Zukunftssicheres vorgebracht worden wäre, namentlich solches nicht,
das den so außerordentlich schwierigen Anforderungen der Gegenwart
genügen würde. Und so war für diesen Tag der Titel
«Nationalökonomische Ausblicke» im Grunde genommen etwas wie ein
tanzendes Versprechen; aber was dann der Tag gebracht hat, das war
ein mehr oder weniger hinkendes Nachbewegen zu diesem tanzenden
Versprechen.
Was nun die Theologie
betrifft: Ebenso interessant, wie die allgemeine Formulierung des
Tagesprogrammes war, ebenso interessant waren auch die drei Titel
der Vorträge, die auf meine einführenden Vorträge folgten. Der
erste Titel, der Titel des Vortrages von Lizentiat Bock hieß: «Der
Untergang der Religion im Psychologismus», der Titel des Vortrages
von Dr. Rittelmeyer hieß: «Der Untergang der Theologie im
Irrationalismus», und der dritte Vortrag, gehalten von Dr. Geyer,
hieß: «Der Untergang der Theologie im Historismus». Wir haben also
dreifach den Untergang der Theologie beziehungsweise der Religion
in diesen Tagen geschildert bekommen.
Es hatte ja in einem
gewissen Sinne die Lage der Zeit es von selbst ergeben, daß
Theologen sprachen, die aus ihren besonderen Denk und
Empfindungserlebnissen heraus darlegten, wie sie innerhalb ihrer
Theologie heute an einen toten Punkt kommen. Es war im Grunde
genommen überall die Tendenz vorhanden bei den Theologen, zu
zeigen, wie sie innerhalb dessen, was ihnen die Theologie darbietet
in der Gegenwart, an einen toten Punkt kommen.
Und wenn man sich dann
besinnt, was in positiver Weise vorgebracht worden ist, so könnte
man zusammenfassend das, was an diesem Freitag gesagt worden ist,
so formulieren: Die theologische Betrachtung der Religion — so
meinte wohl Lizentiat Bock — kommt dazu, nur auf das
seelische Erlebnis zu sehen, das man als religiöses Erlebnis,
vielleicht als Gotteserlebnis bezeichnen kann. Man findet, daß der
Mensch unter den verschiedenen inneren Erlebnissen der Seele auch
das religiöse Erlebnis hat, das Erlebnis, das in gewisser Beziehung
hinweist auf ein Göttliches, daß man aber, wenn man unbefangen ist,
sagen muß: Ja, da hat man eben nur ein subjektives Erlebnis. Man
hat etwas rein Psychologisches. Man kann durchaus keine Gewähr
finden dafür, daß diesem Erlebnis auch irgendetwas in der
objektiven Welt entspricht. Es ist in der modernen Theologie das
subjektive Gotteserlebnis nicht so, daß es zu einer wirklichen
Annahme des Gottes führen kann, geschweige denn zu einer Anschauung
über das Wesen des Göttlichen in der Welt. Es erstickt
gewissermaßen das religiöse Element in dem Bewußtsein des Menschen
in der psychologischen Tatsache: Ja, wir bedürfen eines religiösen
Leben; aber es ist nichts da, was die Gewißheit liefern kann, daß
diesem Bedürfnis auch irgendwie Befriedigung geschaffen werde. Die
psychologische Tatsache ist da, daß der Mensch Religion braucht,
aber die Gegenwart weiß dieser Religion keinen Inhalt zu geben. —
Das wäre etwa das Ergebnis des ersten Vortrages von Lizentiat
Bock.
Dr. Rittelmeyer stellte
dann dar, wie die Theologie überdrüssig geworden ist des
Rationalismus, wie sie dazu gekommen ist, nicht mehr das Wesen des
Göttlichen in der Welt der Gedanken formulieren zu wollen, daß sie
nicht mehr sagen wolle, das oder jenes sei Inhalt des Göttlichen,
das die Welt durchwebt und durchlebt. Der Gedanke sollte
ausgeschaltet werden aus dem Theologischen. Das Rationelle, das aus
der Vernunft Stammende, sollte wegkommen, und das Irrationale, das,
was den Gedanken ausschließt, das sollte Inhalt der Theologie
werden. So daß man also eigentlich zu nichts anderem kommt in der
Theologie, als zu den alleräußersten Abstraktionen. Man getraut
sich nicht zu sagen: Die Gotteswesenheit kann man durch diesen oder
jenen Gedanken erfassen. Man getraut sich nur zu sagen: Die
Gotteswesenheit ist das Unbedingte, das Absolute. Einen ganz
unbestimmten Begriff pfählt man hin, das Irrationale, etwas, was
keine Vernunft erfassen kann.
Nicht wahr, auf jedem
anderen Gebiete des Lebens wäre es sonderbar, wenn man so negativ
charakterisierte. Wenn zum Beispiel jemand fragt: Wer ist der
Vorstand des Goetheanums? —, und man antworten würde: Der Vorstand
ist derjenige, der Vorstand von keiner anderen Institution ist —,
dann würde man keine Auskunft darüber bekommen, wer nun eigentlich
der Vorstand des Goetheanums ist. So bekommt man natürlich auch
keine Auskunft über das Göttliche, wenn man sagt: Die Ratio des
göttlichen Wesens besteht darin, daß der Gott das Irrationale ist,
dasjenige, was keine Vernunft erfassen kann. — Es ist alles nur
Negation. Daran knüpfte dann Rittelmeyer einiges, was diese
gegenwärtigen Irrationalisten zu sagen haben, so zum Beispiel, wie
der Mensch sich innerlich verhält, wenn er zu diesem nur auf
irrationale Weise zu erfassenden Gott sich erheben will. Wie erlebt
er das, dieses Erheben? Er erlebt es schweigend. Das ist nicht etwa
das Schweigen des mystischen Erlebens, das sehr positiv sein kann,
sondern das ist das Nichtssagen, das Aufhören, auch innerlich in
Gedanken zu sich selber zu sprechen. Es wurde dann noch des
weiteren ausgeführt, wie dieses Schweigen im Kultus Platz greift.
Es ist aus der absoluten Ohnmacht heraus, irgendwie überhaupt etwas
zu formulieren, daß man die Zuflucht zu dem Schweigen
nimmt.
Dann war es ja
interessant, wie zwei Herren sprachen, ein Privatdozent und ein
Pfarrer, die nun diesen Irrationalismus ihrerseits verteidigten, um
besonders zu zeigen, daß der Irrationalismus wirklich etwas
Herrschendes in der Gegenwart ist. Da mußte man zum Beispiel von
dem Privatdozenten hören: Ja, das wäre ganz richtig; es wäre zum
Beispiel Unsinn zu sagen, aus der Natur könne man weniger den Gott
finden als aus dem Geiste. Die Natur stehe nicht ferner dem Gotte
als der Geist. Geisteserkenntnis liefere nicht mehr als
Naturerkenntnis für den Gott, denn der Gott sei eben das
Unbedingte, das überall durchbricht. — Dies wurde sehr häufig
wiederholt, daß der Gott das Unbedingte sei, das überall
durchbricht.
«Theologie!» — der Faust
würde nicht nur einmal, sondern dreimal «leider» gesagt haben! Der
Faust müßte umgedichtet werden: «Habe nun, ach! Philosophie,
Juristerei, Medizin und leider, leider, leider auch Theologie
studiert ...» —, wenn man so etwas immer wieder hören muß: Der Gott
ist das Unbedingte, das überall durchbricht. Da stellt man sich
also das Überall vor und dann bricht's durch, bricht heraus — aber
eben das Unbestimmte bricht überall durch!
Nun, der letzte Vortrag
war dann der von Dr. Geyer. Der behandelte den Untergang der
Theologie im Historismus. Geyer suchte zu zeigen, wie die Theologie
allmählich dazu gekommen ist, nichts mehr selber Schöpferisches zu
haben, sondern nur zu betrachten, was schon gewesen ist, also immer
die Geschichte zu studieren, was schon gewesen ist, um dadurch zu
einem Inhalt zu kommen. Das aber führt natürlich dazu, daß man
höchstens sagen kann: In der Vergangenheit haben die Menschen ein
religiöses Bewußtsein gehabt, aber heute haben sie nur noch die
Möglichkeit, diese verschiedenen Stufen des religiösen Bewußtseins
in der Vergangenheit zu betrachten, und irgend etwas, was sie noch
behalten wollen, sich zu wählen. — Nur, zum Unglück, indem sie dann
die Wahl treffen, bleibt ihnen nichts übrig von all dem, was ihnen
von den verschiedenen Epochen der Vergangenheit da serviert
wird.
Ich selber habe dieses
Tagesprogramm dadurch eingeleitet, daß ich bemerkt habe, daß
Anthroposophie durchaus nicht religionsbildend auftreten will, daß
sie eine Erkenntnis übersinnlicher Welten sein will, und wenn
Theologie eben von ihr befruchtet werden will, so mag sie das tun.
Anthroposophie wird natürlich sagen, was über die übersinnlichen
Welten zu sagen ist, und sie kann ihrerseits warten, was die
Theologen für sich aus dieser Anthroposophie brauchen
können.
Es ist für denjenigen, der
die Gesamtsituation der Gegenwart zu überschauen vermag, gerade an
diesem Tage ein, aber natürlich aus den Verhältnissen
hervorgehender Mangel sehr stark hervorgetreten. Wenn ein
vollständiges Erschöpfen des Tagesthemas hätte erfolgen können, so
wie das bei den anderen Tagesthemen ja versucht worden ist — und
mit Ausnahme der Sozialwissenschaft bis zu einem gewissen Grade
auch erreicht wurde —, dann hätte natürlich auch noch ein
katholischer Theologe sprechen müssen. Denn alle diese Vorträge,
die gehalten worden sind, sind lediglich aus dem protestantischen
Bewußtsein heraus gesprochen worden. Ein katholischer Theologe wäre
ja in einer ganz anderen Lage gewesen als diese drei
protestantischen Theologen. Ein katholischer Theologe hat nicht nur
eine historisch überbrachte, sondern eine historisch überbrachte
und ewig gültige Theologie, eine Theologie, die in der Gegenwart
unbedingt so lebendig erfaßt werden muß, wie sie erfaßt worden ist,
sagen wir im 3., 2. Jahrhunderte der christlichen Zeitrechung.
Gewiß, die Konzilien und im 19. Jahrhundert dann der unfehlbar
gewordene Papst haben ja manches hinzugefügt. Das sind aber
einzelne Dogmen, das sind Hinzufügungen. Aber das ganze Wesen der
katholischen Theologie ist etwas, was erstens von der
Zeitentwicklung nicht abhängt, und was in sich durch seine eigene
Erkenntnisart einen perennierenden, einen immerwährenden Charakter
tragen soll. Es würde, wenn ein mehr fortschrittlicher Mann über
katholische Theologie gesprochen haben würde, vielleicht das Ringen
eines solchen katholischen Denkers wie dem Kardinal Newman eine
außerordentlich interessante Auseinandersetzung haben erfahren
können. Wenn ein weniger fortgeschrittener katholischer Theologe
gesprochen hätte, würde er eben das Wesen der ewigen Heilslehre,
also eine katholische Theologie dargestellt haben. Dann würden
Fragen von ungeheurer Bedeutung aufgetaucht sein, zum Beispiel jene
Frage: Was ist nun eigentlich in der katholischen Theologie für den
heutigen Menschen gegeben?
In der katholischen
Theologie ist ja ohne Zweifel, so wie sie heute auftritt, für das
Gegenwartsbewußtsein nichts Lebendes. Aber sie war einmal etwas
Lebendes. Ihr Inhalt beruht ja durchaus auf dem Ereignis alter
geisteswissenschaftlicher, wenn auch atavistischer Erkenntnisse.
Was in der katholischen Theologie enthalten ist, sagen wir über das
Faktum der Schöpfung, über die Erlösung, über den Inhalt der
Trinität, über alle diese Dinge, das sind ja reale Begriffe, das
ist etwas, was Inhalt hat; nur ein Inhalt, den das moderne
Bewußtsein nicht mehr erfassen kann, sondern ihn in abstrakte,
unverständliche Dogmatik kleidet, oder auch gar nicht kleidet,
sondern als unverständliche, trockene Dogmatik hinnimmt.
Es war ja insbesondere die
Entwicklung der katholischen Theologie im 19. Jahrhundert so, daß
nicht mehr erkannt wurde, was in den Dogmeninhalten enthalten ist.
Dafür lag gerade bei diesem Hochschulkurs in Berlin ein
interessantes Erlebnis vor.
Ich hatte am Freitag in
meiner Einleitung aus dem unmittelbaren Erleben heraus folgendes
gesagt, was Sie ja schon kennen, ich hatte gesagt: Wer das erlebt,
was in unserer Naturumgebung ist und in dem, was an diese
Naturumgebung sich anschließt, kommt, wenn er nicht irgendwie
innerlich verkrüppelt ist, zum Bewußtsein des Vater-Gottes.
Derjenige, der dann während seines Lebens das Ungenügende des
Vatergott-Erlebnisses erkennt und eine Art innerer Wiedergeburt
erlebt, der kommt zu dem Erleben des Gott-Sohnes, des Sohnes
Gottes. Und auf dieselbe Weise kommt man dann durch ein
Weiterschreiten zu dem Geist-Erlebnis.
Da dachte nun ein
protestantischer Privatdozent, Lizentiat Tillich: Aha, da ist ja
die Trinität, die muß man konstruieren —, und er nannte das eine
Konstruktion: Er merkte also gar nichts davon, daß da Erlebnisse
zugrunde liegen. Das war ihm ganz fremd. Nun, so fremd sind auch
jene Erlebnisse dem modernen Bewußtsein des 19. Jahrhunderts
geworden, die den katholischen Dogmen zugrunde liegen.
Diese katholischen Dogmen
gehen natürlich ursprünglich zurück auf geistige Realitäten, aber
man versteht nichts mehr davon. Es sind leere Begriffe geworden.
Nun sollte man aber im 19. Jahrhundert wenigstens wiederum dazu
kommen, ein wenig äußerlich beleben zu können, was in der
katholischen Theologie lebt. Sie wissen ja wohl, daß dieser Drang,
wenigstens ein bißchen wieder verstehen zu können, was in der
katholischen Theologie lebt, ganz besonders unter dem Pontifikat
Leos XIII. aufgekommen ist. Daher dazumal die katholische
Verordnung, die römische Verordnung für alle katholischen
Theologen, zurückzukehren zum Studium der Thomistischen
Philosophie, der Philosophie des Thomas von Aquino, weil die ganze
spätere Philosophie nicht mehr brauchbar ist, um so etwas zu
erfassen, wie es in den katholischen Dogmen liegt. Alle auf die
Thomistik folgende Philosophie ist eigentlich nur brauchbar, um das
natürliche Dasein zu verstehen, um der Naturwissenschaft eine
Grundlage zu geben, nicht aber um die geistigen Tatsachen zu
verstehen, von denen man allerdings auch auf katholischer Seite
nichts weiß, aber die doch in den katholischen Dogmen in einer Zeit
formuliert worden sind, als man noch von diesen geistigen Tatsachen
wußte. Um diese geistigen Tatsachen zu verstehen, dazu taugt alle
spätere nach-thomistische Philosophie nichts mehr. Als man daher
das Bedürfnis empfand, wiederum etwas von dem zu verstehen, was in
den katholischen Dogmen liegt, forderte man die Erneuerung des
Studiums der Thomistik, was ja heute das eigentliche philosophische
Bestreben innerhalb des römischen Katholizismus ist. Dem liegen
durchaus historische Realitäten zugrunde. Und wenn man vergleicht,
was eigentlich notwendig ist, um wiederum ins Geistige
hineinzukommen, so sieht man schon ein, daß natürlich auch die
Thomistik nicht genügt, um wieder zu beleben, was in den alten, in
Rom erstarrten Dogmen enthalten ist. Man muß da zu einer ganz
anderen Betrachtung kommen.
Bitte, erinnern Sie sich
nur an die für einen gegenwärtigen Literatur-Historiker so gänzlich
verdrehte Anschauung, die ich hier, bevor ich von Dornach abgereist
bin, in den letzten Vorträgen vorgebracht habe, wo ich mit
Hinweggehen über alles, was Raum und Zeit ist, Ihnen dargestellt
habe, wie Hamlet ein Schüler von Faust ist, wie Hamlet zehn Jahre
lang zu Füßen des Faust gesessen hat; in jenen zehn Jahren, wo
Faust seine Schüler an der Nase herumführte, und wie Hamlet einer
von denen war, die damals grade und krumm und kreuz und quer an der
Nase herumgeführt worden sind. Solche Zusammenhänge sind natürlich
einem gegenwärtigen Literatur-Historiker ein Greuel. Aber man kann
ja heute fast nichts Erhebliches sagen auf geistigem Gebiete, was
den offiziellen Vertretern der Wissenschaft nicht ein Greuel wäre.
Es ist heute ja geradezu das Stigma der wirklichen Wahrheit, daß
sie den öffentlichen Vertretern der Wissenschaft ein Greuel
ist.
Nun, wenn Sie das schon
für ein so profanes Gebiet nehmen, dann werden Sie sehen, was
wirklich notwendig ist, um wiederum zu jener Beweglichkeit des
Geistes zu kommen, die eine Grundlage liefern kann für das Erfassen
dessen, was in den Dogmen bewahrt ist. Wie man zurückgehen muß zu
einer ganz anderen Seelenverfassung, um in die Art hineinzukommen,
wie man in solchen Dogmen lebte, das zeigt ja gerade der
Entwicklungsgang des Kardinals Newman.
Es ist ja vielleicht heute
in Berlin selbstverständlich, daß man bei einem solchen
Hochschulkurs nur von protestantischem Standpunkte aus redet und
den katholischen Standpunkt unberücksichtigt läßt. Aber ein Bild
dessen, was da eigentlich heute waltet, bekommt man natürlich
nicht, wenn man nicht auch den katholischen Standpunkt irgendwie zu
erörtern in der Lage ist, insbesondere heute nicht, wo wir wieder
notwendig haben, mit unserem Blicke über die ganze Welt
hinzuschauen.
Sehen Sie, darüber müssen
wir ja heute hinauskommen, nur Kirchturms-Wissenschaft,
Kirchturms-Weltanschauung zu reden. — Kirchturms-Pohtik kennen Sie,
aber es gibt auch etwas wie Kirchturms-Weltanschauung. Sie tritt
einem stark entgegen, wenn man so etwas sieht wie zum Beispiel an
dem Freitag Abend, wo der Dr. Theberat über das Thema vorgetragen
hat: «Atomistische und wirklichkeitsgemäße Betrachtung chemischer
Prozesse». Das heißt, Dr. Theberat, der ja nun in unserem
Forschungsinstitut in Stuttgart angestellt ist, versuchte zu
zeigen, wie Atomistik verlassen werden muß und wie man eben die
Phänomenologie auch in die Chemie hineintragen muß. Da trat dann in
der Debatte Dr. Kurt Grelling auf. Ich will jetzt nicht über Dr.
Kurt Grelling sprechen, der ja so ungefähr nach dem Rezepte
auftritt: Ja, da wird in der Anthroposophie allerlei gesagt, aber
das ist mir alles noch nicht wahrscheinlich. Sicher aber ist doch,
daß 2 + 2 = 4 ist, und man muß sich doch an das halten, was sicher
ist: 2 + 2 = 4; das ist sicher. — Das hat er ja schon im vorigen
Sommer im Stuttgarter Kursus geltend gemacht und hat dann sogar
zwei Universitätslehrer zu Hilfe gezogen, um dieses, daß 2 + 2 = 4
ist, an einem besonderen Abend geltend zu machen.
Dem konnte man natürlich
nicht widersprechen. Ich meine, ich will damit nur symbolisch
andeuten, was er sagte, denn 2 + 2 ist ja wirklich 4. Ich konnte
nicht widersprechen. Ich konnte nicht einmal widersprechen, als er
am letzten Freitag, ganz aus dem Zusammenhang herausgerissen,
sagte, ich hätte in Stuttgart ja zugegeben, daß 2 + 2 = 4 ist.
Gewiß, ich kann das nicht in Abrede stellen. Ich meine jetzt nicht
gerade 2 + 2 = 4, sondern Dinge, die im ganzen Zusammenhang ebenso
wertvoll sind, die er damals vorgebracht hat. Er sagte dann: Ja,
über die Frage, die da vorgebracht wurde, über Phänomenologie, kann
nicht vom Standpunkte der Naturwissenschaft entschieden werden,
sondern nur vom Standpunkte der Philosophie aus.
Nun, ich will nicht sagen,
daß das gerade bloß «Göttingisch» ist, aber mindestens ist es heute
nicht irgendwie weltmännisch wissenschaftlich gedacht, denn mit
einem solchen Satze, daß etwas nicht naturwissenschaftlich, sondern
nur philosophisch entschieden werden könne, würde man zum Beispiel
in England überhaupt keinen Sinn verbinden können, weil dieser
Unterschied etwas ist, was eben Kirchturms-Weltanschauung ist.
Diese Formulierung, die kennt man nur innerhalb gewisser
mitteleuropäischer Kreise.
Jedenfalls ist es schon
so, daß wir heute, wenn von solchen Fragen die Rede ist, einen
weiteren Gesichtskreis brauchen. Man kann zum Beispiel unmöglich
immer weiter von Mitte, West und Ost sprechen. In den
Formulierungen des Programms zum Wiener Kongreß ist ja fortwährend
von West und Ost und Mitte die Rede, was ich nicht tadle. Ich finde
es ja recht großgeistig, wenn von West und Ost und Mitte die Rede
ist — aber ich meine, man muß dann auch seine Begriffe etwas
erweitern; sie müssen dann wirklich auch diese Gebiete umspannen.
Man kann natürlich nicht von einem eingeschränkten Standpunkte aus
die Welt umfassen.
So fehlte natürlich [in
Berlin bei den Vorträgen über Religion und Theologie] etwas, zum
Beispiel in bezug auf die westliche Entwicklung des religiösen
Lebens, weil man das Katholische ganz ausgelassen hat, denn dieses
westliche religiöse Leben hat gar nichts in sich von dem, was man
berührt, wenn man bloß von der evangelischen Theologie spricht. Man
kam auch gar nicht darauf zu reden, wie etwa der Puritanismus in
England oder die Hochkirche in England oder dergleichen sich
entwickelt haben.
Also das alles bringe ich
nicht als eine Kritik vor, denn selbstverständlich waren die Dinge,
die vorgebracht worden sind, ausgezeichnet. Aber ich möchte doch im
engeren anthroposophischen Kreise über das sprechen, was in
Anknüpfung an die ganzen Vorgänge eben hätte gesagt werden müssen.
Und da würde man eben gezeigt haben müssen, wie das gegenwärtige
Denken eben gar nicht in der Lage ist, an das heranzukommen, was
einmal Quell für den theologischen Inhalt war. Aber es war so, daß
in Berlin keine Brücke zu sehen war zwischen dem, was moderne
evangelische Theologie ist, und dem, was nun aus Anthroposophie
kommen soll zur Belebung des religiösen Bewußtseins. Es waren immer
nur Hinweise, daß das von der Anthroposophie kommen soll; aber wie
es sich gestalten soll, davon war eigentlich im Grunde genommen
nicht die Rede.
Das sind Dinge, die Ihnen
vielleicht ein Bild geben werden von jenem Ringen auf
anthroposophischem Boden, das sich gerade in Berlin jetzt in der
schönsten Weise zum Ausdruck gebracht hat. Es zeigte sich ja gerade
in Berlin auch an der Teilnahme der verschiedenen Kreise — die
Vorträge waren außerordentlich stark besucht, auch die
Vormittagsvorträge —, daß durchaus etwas in der anthroposophischen
Bewegung lebt, was stark und intensiv an das Gegenwartsbewußtsein
heranschlägt.