SIEBENTER VORTRAG
Den
Haag, 26. März 1913
Gestern versuchte ich, auf zwei Legenden, auf die
Paradieseslegende und die Gralslegende hinzuweisen, versuchte
ich darauf aufmerksam zu machen, wie diese beiden Legenden
eigentlich okkulte Imaginationen darstellen, welche wirklich
erlebt werden können, wenn ein entsprechender Augenblick
eintritt. Wenn der Mensch unabhängig von seinem physischen
und ätherischen Leibe — wie er unbewußt im
Schlafe ist — bewußt hellseherisch wahrnimmt und
sich für die Wahrnehmungen anregt von seinem physischen
Leib, dann ergibt sich die Paradieseslegende; wenn er sich
anregt von seinem ätherischen Leibe, dann ergibt sich die
Gralslegende. Nun muß darauf aufmerksam gemacht werden,
daß ja solche Legenden gewissermaßen wie Dichtungen
oder wie religiöse Legenden gegeben werden und in einer
gewissen Art in einem bestimmten Zeitalter der Menschheit
zugänglich gemacht werden. Der erste Ursprung solcher
Legenden, die uns da in Form von Dichtungen oder in Form von
religiösen Schriften entgegentreten in der physischen
Entwicklungsgeschichte der Menschheit, geht eben von den
Mysterien aus, in denen ihr Inhalt erst durch hellseherische
Beobachtungen festgestellt worden ist. Und bei der Abfassung
solcher Legenden ist besonders notwendig, daß die
allergrößte Sorgfalt darauf verwendet werde, gerade
jenen Inhalt und jenen Ton zu treffen, welcher dem Zeitalter
und dem Volk, dem solche Legenden gegeben werden, besonders
angemessen ist.
Wir
haben nämlich ausgeführt in den Vorträgen, die
gehalten worden sind, wie durch anthroposophisch-okkulte
Entwicklung der Mensch gewisse Veränderungen erleidet an
seinem physischen Leib, an seinem Ätherleib. Wir werden
den astralischen Leib und das Selbst noch genauer zu betrachten
haben und dann mit einigen Worten noch zurückkommen auf
den physischen und Ätherleib. So sehen wir, daß der
Mensch, wenn er diese Selbstentwicklung sich angedeihen
läßt, um weiterzukommen durch die Aufnahme
spirituellen Weisheits- und Wahrheitsgutes, dadurch dann
Veränderungen in den Gliedern seiner geistigen und
physischen Organisation hervorruft. Nun wissen wir aus der
Darstellung, die aus der Akasha-Chronik von den verschiedensten
Entwickelungsgebieten gegeben worden ist, daß da auch im
Laufe der ganz normalen geschichtlichen Menschheitsentwicklung
diese verschiedenen Glieder der Menschennatur gleichsam
naturgemäß eine Veränderung erleiden.
Wir
wissen, daß in der uralt indischen Zeit, der ersten
Kulturperiode, die auf die große atlantische Katastrophe
folgte, in Betracht kamen die Vorgänge des menschlichen
Ätherleibes; wir wissen, daß dann während der
urpersischen Kulturperiode in Betracht kamen die
Veränderungen des menschlichen Astralleibes, während
der ägyptisch-chaldäischen Zeit die
Veränderungen der menschlichen Empfindungsseele und
während der griechisch-lateinischen Zeit die
Veränderungen der menschlichen Verstandes- oder
Gemütsseele. In unserer Zeit kommen besonders in Betracht
die Veränderungen der menschlichen Bewußtseinsseele.
Und nun ist es wichtig, daß, wenn irgendeinem Zeitalter
— sagen wir, jenem Zeitalter, in dem die Verstandes- oder
Gemütsseele eine besondere Veränderung erleidet, wo
die Tatsachen innerhalb dieser Verstandes- oder
Gemütsseele besonders wichtig sind —, wenn einem
solchen Zeitalter eine Legende gegeben wird, daß sie so
gegeben wird, daß auf dieses Zeitalter ganz besondere
Rücksicht genommen wird; daß man sich sagt innerhalb
der Mysterienstätten, aus denen jene Legenden
ausfließen: Die Legende muß so geartet sein, daß
die Veränderungen, die vorgehen während unseres
Zeitalters in der menschlichen Verstandes- oder
Gemütsseele, gewappnet sind gerade gegen etwaige
schädliche Einflüsse dieser Legende und daß sie
ganz besonders für die günstigen Einflüsse
dieser Legende geeignet sind.
Also es kann sich nicht darum handeln, daß der betreffende
Angehörige eines Mysteriums, dem die Aufgabe zufällt,
eine solche Legende der Welt mitzuteilen, sozusagen nur seinem
innersten Impuls folgt, sondern er muß dem folgen, was ihm
sein Zeitalter diktiert. Wir werden, gerade wenn wir
einschlägige Betrachtungen in dieser Richtung anstellen,
die Veränderungen besser verstehen, die namentlich mit dem
menschlichen Astralleib vor sich gehen, wenn der Mensch eine
esoterisch-okkulte Entwicklung durchmacht.
Dieser Astralleib, der lebt ja abgesondert bei dem Esoteriker
oder bei demjenigen, der eine ernsthafte anthroposophische
Entwicklung durchmacht, der Anthroposophie zu seinem
Lebensinhalte macht. Er lebt aber bei dem gewöhnlichen
Menschen nicht so lose, so selbständig wie bei dem
geschilderten in Entwicklung begriffenen Menschen. Dieser
Astralleib wird in einer gewissen Weise selbständig,
trennt sich ab bei demjenigen, der eine Entwicklung durchmacht.
Er geht nicht unbewußt in eine Art Schlafzustand
über, aber er wird selbständig, trennt sich ab, macht
gleichsam auf andere Weise das durch, was der Mensch sonst im
Schlafzustand durchmacht; dadurch kommt dieser astralische Leib
in seinen ihm gemäßen Zustand. Beim gewöhnlichen
Menschen, der draußen in der exoterischen Welt lebt, ist
dieser Astralleib mit den anderen Leibern verbunden; die
anderen Leiber üben ihren entsprechenden Einfluß auf
ihn aus. Da kommt die einzelne hervorstechende Eigenschaft
eines solchen menschlichen Gliedes nicht in Betracht. Wenn aber
dieser Astralleib herausgerissen wird, dann macht er seine
Eigentümlichkeiten geltend. Und was sind denn die
Eigentümlichkeiten des astralischen Leibes?
Nun, meine lieben Freunde, ich habe schon vielleicht zum
Entsetzen manches hier Sitzenden auf diese
Eigentümlichkeit hingewiesen. Diese Eigentümlichkeit
des menschlichen Astralleibes auf der Erde ist nämlich der
Egoismus. Und wenn der Astralleib, abgesehen von den
übrigen Einflüssen, die von den ändern Gliedern
der Menschennatur herkommen, seine ureigenste Eigenschaft
geltend macht, so ist dies eben der Egoismus, das Streben, in
sich und bei sich ausschließlich zu sein. Das kommt dem
Astralleib zu. Und für den Astralleib als solchen
wäre es schlecht und schlimm, es stellte eine
Unvollkommenheit in ihm dar, wenn er nicht von der Kraft des
Egoismus sich durchdringen könnte, wenn er nicht zu sich
sagen könnte: Ich will im Grunde genommen alles nur durch
mich erreichen, will alles, was ich arbeite, in mir
verarbeiten, will einzig undallein alle Sorgfalt auf mich
selber verwenden. Das ist die richtige Stimmung des
Astralleibes. Wenn wir diese in Betracht ziehen, so werden wir
verstehen, wie esoterische Entwicklung gerade nach dieser
Richtung hin einzelne Gefahren hervorrufen kann. Es können
zum Beispiel durch eine esoterische Entwicklung, weil diese
notwendigerweise den Astralleib etwas freimachen muß,
solche Menschen, die — sagen wir — ohne Beachtung
alles dessen, was wahre Theosophie geben will, sich auf den
Boden einer nicht ganz ernsthaften Theosophie stellen, es
können gerade solche Menschen diese Eigenschaft des
Astralleibes, den Egoismus, im Verlaufe ihrer esoterischen
Entwicklung besonders hervorkehren. Diese Beobachtung kann
gemacht werden in vielen theosophischen und okkulten
Gesellschaften, daß, während als ein Moralgrundsatz
wohl gepredigt und immer wiederholt wird Selbstlosigkeit,
allgemeine Menschenliebe, durch die naturgemäße
Loslösung des Astralleibes gerade der Egoismus blüht.
Für den Seelenbeobachter hat es ohnedies etwas auf der
einen Seite durchaus Berechtigtes, auf der anderen Seite
Bedenkliches, wenn geradezu zum oft ausgesprochenen Grundsatz
— wohlgemerkt, ich sage nicht zum Grundsatz, sondern zum
oft ausgesprochenen Grundsatz — gemacht wird allgemeine
Menschenliebe; denn unter gewissen Voraussetzungen des
Seelenlebens sagt das der Mensch am liebsten und am
häufigsten, was er am wenigsten hat, wovon er merkt,
daß es ihm am meisten fehlt, und wir können oft
bemerken, daß Grundsätze dort am meisten betont
werden, wo sie am meisten fehlen.
Allgemeine Menschenliebe sollte ja ohnedies in der
Menschheitsentwicklung etwas werden, was die Seelen völlig
beherrscht, in den Seelen lebt wie etwas
Selbstverständliches und demgegenüber man das
Gefühl hat: Du sollst es nicht so oft eitel nennen, du
sollst es nicht überflüssigerweise zu oft im Munde
führen. Gerade so wie ein ja überall bekanntes Gebot
davon spricht: Du sollst den Namen des Gottes nicht eitel
aussprechen, — so könnte es ein Gebot werden echter,
wahrer Menschlichkeit und Humanität: Du sollst die
Forderung der allgemeinen Menschenliebe, die den Grundlebenszug
deiner Seele ausmachen soll, nicht zu oft eitel aussprechen.
Dennwenn das Schweigen über manche Dinge ein viel besseres
Erziehungsmittel ist als das Sprechen, so gilt es insbesondere
bei solchen Dingen, daß das Schweigen und
Still-im-Herzen-Kultivieren ein viel, viel besseres Mittel ist,
die betreffende Eigenschaft zu entwickeln, als das oftmalige
Aussprechen.
Nun
hat zunächst die Vertretung dieses exoterischen
Grundsatzes nichts zu tun mit dem, wovon eben gesprochen worden
ist als der ureigensten Eigenschaft des astralischen Leibes:
Egoismus, Streben in sich zu sein, bei sich zu sein, durch sich
zu sein. Es fragt sich jetzt: Wie ist es denn möglich,
diese — gebrauchen wir ruhig den Ausdruck —
zunächst uns abscheulich erscheinende Eigenschaft des
astralischen Leibes, daß er ein absoluter Egoist sein
will, in einem richtigen Licht zu sehen? Gehen wir einmal so
vor, daß wir von einfachen Tatsachen des Lebens
ausgehen.
Es
gibt Fälle, wo der Egoismus sich erweitert schon im
gewöhnlichen Leben, und wo wir gewissermaßen es als
eine notwendige Einrichtung des Lebens ansehen müssen,
daß der Egoismus sich erweitert. Betrachten Sie zum
Beispiel den Grundzug mancher Mutterliebe und versuchen Sie zu
verstehen, wie da der Egoismus sich erweitert von der Mutter
auf das Kind. Man darf sagen: Je mehr man hineindringt in
weniger gebildete Volksmassen und — man möchte sagen
— die Löwenart, mit der die Mütter ihre Kinder
verteidigen, beobachtet, desto mehr merkt man, wie der Mutter
der Angriff auf ihr Kind einen Angriff auf sich selbst
bedeutet. Ihr Selbst ist erweitert auf das Kind, und es ist so,
daß die Mutter eine Attacke auf ein Glied von ihr selbst
nicht mehr empfinden würde als eine Attacke auf ihr Kind.
Denn das, was sie in ihrem Selbst fühlt,
überträgt sie auf das Kind, und wir könnten
nichts Besseres finden für die Einrichtung der Welt, als
wenn in einer solchen Weise der Egoismus von einem Wesen auf
die anderen sich übertrüge und das eine Wesen das
andere gleichsam zu sich rechnete und gerade deshalb seinen
Egoismus auf dieses Wesen ausdehnte. Wir sehen also, daß
der Egoismus aufhört, seine Schattenseiten zu entwickeln,
wenn sich das Wesen erweitert, wenn das Wesen sein Fühlen
und Denken in ein anderes Wesen hineinverlegt und dieses als zu
sichgehörig betrachtet. Mütter machen dadurch,
daß sie auf der einen Seite ihren Egoismus auf das Kind
ausdehnen, auch wiederum Anspruch auf das Kind als ihr
Eigentum; sie rechnen es auch wiederum durchaus zu sich, sie
machen es so, wie der astralische Leib es macht: Alles, was mit
mir in Zusammenhang steht, durch mich, zu mir, mit mir und so
weiter.
Wir
könnten selbst in trivialeren Fällen, als es die
Mutterliebe ist, noch etwas Ähnliches sehen. Nehmen wir
einen Menschen an, der Haus und Hof und Feld hat und darauf
arbeitet. Nehmen wir an, dieser Mensch hätte — nun,
nennen Sie es meinetwillen die Schrulle —, er hätte
die Schrulle, Haus und Hof und Feld und seine Arbeiter so zu
lieben wie seinen eigenen Leib; er betrachtete gleichsam die
Sache so, daß sich sein Leib fortsetzt und daß er
Haus und Hof und Feld und seine Leute miteinander so liebt, wie
manche Dame, unter gewissen Voraussetzungen, ihr Kleid so liebt
wie das, was zu ihrem eigenen Leib gehört. Da erweitert
sich das eigene Wesen über die Umgebung
gewissermaßen. Wenn sich nun die Sorgfalt des betreffenden
Menschen so auf diese Umgebung erstreckt, daß er alles
das, wovon hier die Rede war, so hütet und jede Attacke so
abwehrt, wie wenn sie seinem eigenen Leibe gälte, dann
— muß man sagen — ist die Tatsache, daß
diese ganze Sphäre mit seinem Egoismus überzogen
wird, etwas der Sache außerordentlich
Förderliches.
Unter Umständen kann das, was man Liebe nennt, sehr
selbstsüchtig sein. Man betrachte nur das Leben einmal;
man versuche zu prüfen, wie oft das, was man lieben nennt,
selbstsüchtig ist. Aber es kann auch ein über die
Person hinaus erweiterter Egoismus sehr selbstlos sein, das
heißt er kann das, was zu ihm gehört, ungeheuer
schützen und hegen und pflegen. Gerade an einer solchen
Sache sollen wir lernen, daß sich das Leben nicht in
Begriffe einpfählen läßt. Wir reden von Egoismus
und Altruismus, und man kann sehr schöne Systeme machen
mit solchen Begriffen wie Egoismus und Altruismus. Die
Tatsachen zermürben solche Systeme; denn wenn der Egoismus
sein Interesse an der Umgebung so erweitert, daß er diese
betrachtet wie zu ihm selbst gehörig und sie so hegt
undpflegt, dann wird der Egoismus zur Selbstlosigkeit. Und wenn
der Altruismus so wird, daß er die ganze Welt nur mit dem
beglücken will, was er gerne hat, wenn er aller Welt seine
Gedanken und Empfindungen mit aller Gewalt aufdrängen will
und übergehen will zu dem Grundsatz: «Und willst du
nicht mein Bruder sein, dann schlag ich dir den Schädel
ein», — dann kann selbst der Altruismus sehr
selbstsüchtig werden. Im Begriffe läßt sich die
Wirklichkeit, die in Kräften und in Tatsachen lebt, nicht
hineinpfahlen, und ein großer Teil desjenigen, was sich
dem Menschheitsfortschritt entgegenstemmt, liegt darin,
daß immer wieder und wiederum der Glaube in unreifen
Köpfen und in unreifen Geistern entsteht, daß sich
die Wirklichkeit in Begriffe irgendwie hineinpfropfen
lasse.
Der
astralische Leib ist dadurch zu charakterisieren, daß er
ein Egoist ist. Die Folge davon ist, daß jede Entwicklung,
die den Astralleib freimacht, damit rechnen muß, daß
sich die Interessen des Menschen erweitern, immer weiter und
weiter werden. Ja, wenn unser astralischer Leib sich in der
richtigen Weise loslösen soll von den übrigen
Gliedern der Menschennatur, dann muß das Interesse unseres
Astralleibes über die ganze Erde und Erdenmenschheit
gehen. Es müssen in der Tat die Interessen der Menschheit
auf der Erde unsere Interessen werden; es muß
aufhören das Interesse, irgendwie an Persönliches nur
anzuknüpfen; es muß alles, was den Menschen betrifft,
nicht nur in unserer Zeit, sondern was den Menschen jemals in
der ganzen Erdenentwicklung betroffen hat, unser tiefstes
Interesse erregen; wir müssen in die Lage kommen, nicht
nur diejenigen, die mit uns blutsverwandt sind, nicht nur das,
was für Haus und Hof und Feld mit uns zusammenhängt,
wie eine Fortsetzung unseres Eigenen zu betrachten, sondern
alles, was die Erdenentwicklung ausmacht, zu unserer
Angelegenheit machen.
Wenn wir in unserem Astralleib Interesse haben für alle
Angelegenheiten der Erde, wenn alle Angelegenheiten der Erde
unsere eigenen Angelegenheiten sind, dann dürfen wir uns
der Egoität unseres Astralleibes überlassen. Das aber
ist notwendig, daß die Interessen der Menschheit auf der
Erde unsere Interessen werden. Betrachten Sie von diesem
Gesichtspunkt aus die zwei Legenden, von denen ich gestern
gesprochen habe! Wenn sie einer Menschheit gegeben werden, dann
werden sie gegeben unter dem Gesichtspunkt, daß der Mensch
hinaufgehoben werde von jedem Einzelinteresse zu dem
allgemeinen Erdeninteresse.
Die
Paradieseslegende führt den Menschen unmittelbar hin bis
zu jenem Ausgangspunkt der Erdenentwicklung, wo der Mensch die
erste Inkarnation noch nicht betreten hatte, oder wo er sie
eben betritt, wo Luzifer an ihn herantritt, wo er noch vor der
Gesamtentwicklung steht, wo er tatsächlich alle
menschheitlichen Interessen in seine eigene Brust hereinnehmen
kann. Die größtdenkbare Erziehungslegende, das
größtdenkbare Erziehungsproblem liegt in der
Paradieseserzählung, in jener Erzählung, die den
Menschen hinaufhebt zum Gesichtspunkt der ganzen Menschheit,
die ein Interesse, welches in jedes Menschen Brust sprechen
kann, auch in jedes Menschen Brust hineinprägt. Wenn die
Bilder der Paradieseslegende, so, wie wir sie zu begreifen
versuchten, in die Menschenseele hereindringen, so wirkt das
so, daß der Astralleib sich davon durchdringt, und
daß unter dem Einflüsse dieses den Gesichtskreis
über die ganze Erde erweiternden Menschenwesens der
Astralleib auch alles das, was jetzt in seine Sphäre
hereintritt, zu seinem Interesse machen darf. Er hat
sich dazu erzogen, die Interessen der Erde als seine
Interessen betrachten zu dürfen. Versuchen Sie, meine
lieben Freunde, in vollem Ernst und in voller Würde zu
betrachten, was eigentlich in einer solchen Legende für
eine universelle pädagogische Kraft liegt, was für
ein spiritueller Impuls in einer solchen Legende liegt.
Ähnlich ist es mit der Gralslegende. Während die
Paradieseslegende sozusagen gegeben ist für die Menschheit
der Erde, insofern sich diese Menschheit zurückwendet zum
Ursprung, zum Ausgangspunkt der Erdenentwicklung, während
die Paradieseslegende also dafür gegeben ist, auf den
Horizont der ganzen Menschheitsentwicklung sich hinaufzuheben,
ist die Gralslegende dazu gegeben, ins tiefste Innere des
astralischen Leibes sich zu versenken, in die ureigensten
Interessen dieses astralischen Leibes; weil dieser eben, wenn
er nur sich selbst überlassen wird, ein Egoist wird, der
nur seine ureigensten Interessen betrachtet.
Man
kann eigentlich, wenn es sich um die Interessen des
Astralleibes handelt, nur nach zwei Richtungen hin abirren.
Diese zwei Richtungen sind die Richtung nach dem Amfortas und,
bevor Amfortas zur völligen Erlösung kommt, nach dem
Parzival. Mitten drinnen liegt die richtige Entwicklung des
Menschen, insofern sein astralischer Leib in Betracht kommt.
Dieser astralische Leib strebt also danach, in sich die
Kräfte des Egoismus zu entwickeln. Wenn er aber in diesen
Egoismus persönliche Interessen hineinbringt, dann wird er
angefressen; er wird gleichsam, während er sich über
die ganze Erde ausdehnen sollte, zusammengeschrumpft auf die
einzelne Persönlichkeit. Das darf nicht sein! Denn wenn es
geschieht, wird durch die Wirkung der Persönlichkeit, die
ihren Ich-Ausdruck im Blute findet, die ganze menschliche
Persönlichkeit verwundet: man irrt nach der Amfortasseite
ab. Des Amfortas Grundfehler besteht darin, daß er in die
Sphäre, wo der Astralleib sich die Berechtigung erworben
haben sollte, Egoist zu sein, daß er in diese
hinaufträgt dasjenige, was noch an persönlichen
Begierden und Wünschen im Menschen sein kann. In dem
Augenblick ist es heillos, wenn man in die Sphäre, wo der
astralische Leib von den persönlichen Interessen sich
lösen sollte, persönliche Interessen mitnimmt; dann
ist man der verwundete Amfortas.
Aber auch die andere Abirrung kann zum Unheil führen und
führt nur dann nicht zu Unheil, wenn die Wesenheit, die
diesem Unheil ausgesetzt ist, in solche Unschuld getaucht ist
wie Parzival. Parzival sieht den Heiligen Gral wiederholt
vorübergetragen werden. Er begeht gewissermaßen ein
Unrecht. Jedesmal wenn der Heilige Gral vorübergetragen
wird, hat er die Frage auf den Lippen, für wen eigentlich
diese Speise sei; er fragt aber nicht, und zuletzt ist das Mahl
fertig, ohne daß er gefragt hat. Daher muß er
abziehen nach diesem Mahle, ohne daß er die
Möglichkeit hat, etwas Zurückgelassenes noch zu
holen. Es ist wirklich so, wie wenn der noch nicht völlig
reife Mensch einen Augenblick das Hellsehen hätte in der
Nacht, wie wenn er wie durch einen Abgrund getrennt wäre
von dem, was in der Burg seiner Leiblichkeit enthalten ist, und
er einen Blick hineintun würde, dann aber, ohne daß
er die entsprechende Erkenntnis gewonnen hätte, das
heißt ohne daß er die Frage getan hat, würde
alles sich ihm wiederum schließen. Er würde, auch
wenn er dann erwachte, nicht wieder in diese Burg hineinkommen
können. — Was versäumt eigentlich Parzival?
Wir
haben gehört, was der Heilige Gral enthält. Er
enthält das, wovon sich das physische Instrument des
Menschen auf der Erde nähren muß als dem Extrakt, dem
rein mineralischen Extrakt, der aus allen Nahrungsmitteln
gewonnen wird und der sich verbindet im edelsten Teil des
menschlichen Gehirns mit den edelsten Sinneseindrücken,
Eindrücken, die durch die Sinne in uns hineinkommen. Ja,
wem soll diese Speise gereicht werden? Eigentlich soll sie
gereicht werden — das zeigt sich uns, wenn wir aus der
exoterischen Dichterdarstellung in die esoterische
Mysteriendarstellung eintreten —, eigentlich soll sie
gereicht werden demjenigen Menschen, der ein Verständnis
gewonnen hat für das, was den Menschen reif macht,
wirklich nach und nach bewußt sich zu dem zu erheben, was
dieser Heilige Gral ist. Wodurch erlangt man denn die
Fähigkeit, sich bewußt zu erheben zu dem, was der
Heilige Gral ist?
Es
wird in der Dichtung gleichsam mit Fingern darauf hingedeutet,
für wen eigentlich der Heilige Gral ist. Wenn man eingeht
auf die Mysteriendarstellung der Gralslegende, dann sogar noch
ganz besonders. In der ursprünglichen Gralslegende ist der
Beherrscher der Burg ein Fischerkönig, ein König
über ein Fischervolk. Ein anderer war auch mit einem
Fischervolk zusammen, der nur nicht König dieser Fischer
sein wollte, sondern etwas anderes unter diesen Fischern; der
es verschmäht hat, wie ein König über sie zu
herrschen, der ihnen etwas anderes gebracht hat als der
herrschende König: der Christus Jesus. Hingedeutet wird
also darauf, daß die Abirrung beim Fischerkönig
— denn das ist eigentlich Amfortas in der
ursprünglichen Legende —, daß diese Abirrung
beim Fischerkönig diejenige ist, welche nach der einen
Seite geht. Er ist sozusagen doch nicht ganz würdig, durch
den Gral wirklich das Heil zu empfangen. Er ist es aus dem
Grunde nicht, weil er mit Machtmitteln beherrschen will sein
Fischervolk; er läßt nicht nur den Geist unter diesem
Fischervolke walten.
Parzival ist zunächst nicht so weit innerlich offen,
daß er in selbstbewußter Weise fragt: Wozu der Gral?
— Was braucht es nun? — Bei dem Fischerkönig
brauchte es, daß er sein persönliches Interesse
abtötete und sein Interesse so weit machte wie das
Interesse der allgemeinen Menschheit bei dem Christus Jesus.
Bei Parzival ist notwendig, daß er hinaufhebt sein
Interesse über das bloß unschuldige Anschauen zum
innerlichen Verstehen dessen, was in jedem Menschen dasselbe
ist, was der ganzen Menschheit zukommt, die Gabe des Heiligen
Gral. So schwebt in einer wunderbaren Weise zwischen Parzifal
und Amfortas oder dem ursprünglichen Fischerkönig
mitten drinnen das Ideal des Mysteriums von Golgatha. Und es
wird in zarter Weise so angedeutet gerade an der entscheidenden
Stelle der Legende, daß auf der einen Seite der
Fischerkönig zuviel Persönlichkeit bis in die
Sphären des astralischen Leibes mitgenommen hat und auf
der anderen Seite Parzival steht, der noch zu wenig allgemeines
Welteninteresse dort hinaufgetragen hat, der noch zu naiv, zu
wenig fühlend ist mit dem allgemeinen Welteninteresse. Das
ist gerade auch das ungeheuer Pädagogische der
Gralslegende, daß sie so in die Seelen hereinwirken konnte
bei den Schülern des Heiligen Gral, daß man etwas vor
sich hatte wie eine Waage: auf der einen Seite das, was bei
Amfortas war, und auf der anderen das, was bei Parzifal war;
daß man dann wußte, das Gleichgewicht ist
herzustellen. Wenn der astralische Leib seinem ureigensten
Interesse folgt, wird er sich hinaufheben zu jenem Horizont
allgemeinster Menschlichkeit, der dann erreicht wird, wenn zur
Wahrheit das Wort gemacht wird: Wo zwei in meinem Namen
vereinigt sind, bin ich mitten unter ihnen, gleichgültig,
wo in der Erdenentwicklung diese zwei sich finden.
Ich
bitte Sie, gerade in diesem Punkte ja nicht einen Teil für
das Ganze zu nehmen, sondern die heutige und morgige
Betrachtung durchaus zusammenzunehmen, denn der einzelne Teil
kann Mißverständnisse hervorrufen; aber es ist
durchaus notwendig, daß an diesem Punkte der menschliche
Astralleib in seiner Entwicklung zum Horizont der Menschheit
hinaufgehoben werde in einer ganz besonderen Weise, so daß
allgemeinste Menschheitsinteressen seineInteressen werden,
daß er sich beleidigt, verletzt, trauernd fühlt in
sich selber, wenn irgendwo die Menschheit verletzt wird. Dazu
ist notwendig, daß der Mensch, wenn er allmählich
dazu gelangt, daß sein astralischer Leib frei,
unabhängig wird von den übrigen Gliedern der
Menschennatur durch die esoterische Entwicklung, daß er
dann sich wappnet und schützt zunächst, namentlich
gegen die beliebigen Einflüsse anderer astralischer
Leiber; denn wenn der astra-lische Leib frei wird, so ist er
nicht mehr geschützt durch den physischen und
Ätherleib, die gleichsam eine feste Burg sind für den
astralischen Leib. Er ist frei, er wird durchlässig und es
können sehr leicht die Kräfte, die in anderen
Astralleibern sind, in ihn hereinwirken. Stärkere
Astralleiber als der eigene können da Einfluß
gewinnen auf ihn, wenn er sich nicht wappnen kann durch seine
eigenen Kräfte. Es wäre verhängnisvoll, wenn
jemand ganz bis zur freien Handhabung seines astralischen
Leibes hinaufkäme und so unschuldig bliebe mit Bezug auf
das Verhältnis des astralischen Leibes, wie Parzival im
Anfang ist. Das geht nicht; denn dann würden alle
möglichen, von Astralleibern ausgehende Einflüsse auf
seinen Astralleib die entsprechende Wirkung haben
können.
Sehen Sie, meine lieben Freunde, in gewisser Beziehung kann
auch in der äußeren, exoterischen Welt das Bedeutung
haben, worauf jetzt eben hingedeutet wird. Die Menschen leben
ja über die Erde hin in gewissen einzelnen
Religionssystemen. Diese Religionssysteme haben ihre Kulte, sie
haben ihre Ritualien. Diese Ritualien umgeben den Menschen mit
demjenigen, was ja durchaus Imaginationen sind, die mit Hilfe
des Astralleibes aus höheren Welten genommen sind. In dem
Augenblick, wo solch eine Religionsgemeinschaft einen Menschen
aufnimmt, ist er inmitten von Imaginationen, die seinen
astralischen Leib, während der Ritus auf ihn wirkt,
befreien; wenigstens für kurze Augenblicke wird bis zu
einem gewissen Grade der astralische Leib frei innerhalb
irgendeines religiösen Ritus. Und je stärker der
Ritus ist, je mehr er unterdrückt die Einflüsse des
Äther- und physischen Leibes, je mehr er mit solchen
Mitteln arbeitet, daß der astralische Leib emanzipiert
wird, desto mehr wird während der entsprechenden Zeremonie
der astralische Leib herausgelockt ausdem Äther- und
physischen Leib. Es ist deshalb auch — verzeihen Sie den
Ausdruck, es könnte scheinen, als ob ich den Ausdruck mit
einem gewissen Spott gebrauchen würde, es ist aber kein
Spott —, es ist deshalb nirgends so gefährlich zu
schlafen als in der Kirche, weil im Schlafe ohnedies schon der
astralische Leib sich trennt vom physischen und Ätherleib
und weil das, was im Ritus vorgeht, eben sich einnistet in den
astralischen Leib; denn er ist mit Hilfe von astralischen
Leibern aus den höheren Welten herabgenommen. Also der
sogenannte Kirchenschlaf, der ja in manchen Gegenden bei vielen
eine sehr beliebte Sache ist, der sollte eigentlich vermieden
werden. Es handelt sich da mehr um Kirchen, die einen Ritus
haben, weniger um diejenigen Religionsgemeinschaften, die
vermöge der Anschauungen der Neuzeit schon von einem
gewissen Ritus abgekommen sind oder auf ein Minimum eines Ritus
sich beschränken. Hier werden diese Dinge nicht besprochen
mit irgendeiner Vorliebe oder Nichtvorliebe für dieses
oder jenes Bekenntnis, sondern rein nach Maßgabe der
objektiven Tatsachen. Wenn der Mensch also seinen Astralleib
von den übrigen Gliedern der Menschennatur emanzipiert
hat, so haben auf ihn leicht die Impulse, die Kräfte
Einfluß, die wiederum mit Hilfe von Astralleibern gewonnen
sind. Und hier liegt auch die Möglichkeit, daß eine
Persönlichkeit, die zur freien Benutzung ihres
Astralleibes gekommen ist, wenn sie stärker ist als eine
andere, die auch in gewisser Weise ihren Astralleib
emanzipieren kann, daß die erste Persönlichkeit auf
die zweite einen ungeheuren Einfluß gewinnen kann. Es ist
dann förmlich wie ein Übertragen der Kräfte des
einen Astralleibes der stärkeren Persönlichkeit auf
den der schwächeren Persönlichkeit. Und wenn man dann
hellseherisch die schwächere Persönlichkeit
betrachtet, so trägt sie in ihrem Astralleibe eigentlich
ganz die Bilder und Imaginationen der stärkeren
astralischen Persönlichkeit.
Sie
sehen, wie notwendigerweise die Moral wachsen muß auf
einem Boden, auf dem der Okkultismus gepflegt werden soll; denn
man kann natürlich nicht den Okkultismus pflegen, ohne
daß man in Wirklichkeit anstrebt, die Astralleiber zu
emanzipieren von den übrigen Gliedern der Menschennatur.
Das Verderblichste ist aber, wenn auf dem Felde des Okkultismus
die stärkeren Persönlichkeiten noch irgendwie nach
Macht für ihre persönlichen Interessen und
persönlichen Intentionen streben. Berechtigt, auf okkultem
Felde zu wirken, sind eigentlich nur diejenigen
Persönlichkeiten, die vollständig darauf verzichten,
irgendwelchen persönlichen Einfluß zu haben, und das
größte Ideal desjenigen Okkultisten, der etwas
Berechtigtes erreichen soll, ist, durch seine
Persönlichkeit gar nichts erreichen zu wollen; das,
wofür er persönliche Sympathien oder Antipathien hat,
möglichst von alledem auszuschalten, was er wirken will.
Wer daher Sympathien oder Antipathien für dieses oder
jenes hat und okkult wirken will, der muß diese Sympathien
und Antipathien sorgfältig sozusagen für sein
allerprivatestes Feld nur zusammentragen und auf seinem
allerprivatesten Feld gelten lassen; er darf jedenfalls auf dem
Boden, auf dem eine okkulte Bewegung blühen soll, nichts
von diesen persönlichen Antipathien und Sympathien selber
hegen und pflegen. Und so paradox es eigentlich klingt, so kann
man doch sagen: Das Gleichgültigste für den okkulten
Lehrer ist eigentlich für ihn seine Lehre, das
Allergleichgültigste die Lehre, die er ja schließlich
wirklich nur nach seinen Talenten und Temperamenten geben kann.
Sie wird nur eine Bedeutung haben, wenn ihm an der Lehre als
solcher nicht eigentlich irgendwie persönlich etwas liegt,
sondern lediglich so viel liegt, als diese Lehre Seelen helfen
kann. Daher wird auch kein okkulter Lehrer jemals einem
Zeitalter etwas von seinen Kenntnissen aufdrängen, wenn er
weiß, daß dieser Teil der Kenntnisse für dieses
Zeitalter nichts taugt, daß er nur für ein anderes
Zeitalter tauglich sein könnte. Dies alles kommt in
Betracht, wenn von der eigenartigen Natur des Astralleibes
unter dem Einfluß okkulter Entwicklung gesprochen
wird.
In
unserem Zeitalter, schon als es sich vorbereitete und wie es
sich weiterentwickelt hat, gibt es noch eine Komplikation. Was
ist denn das Wesentliche unseres Zeitalters? Unser Zeitalter
ist das der Entwicklung der Bewußtseinsseele. Nichts ist
so sehr verknüpft mit dem Egoismus, der an die engsten,
persönlichsten Interessen herandringt, als die
Bewußtseinsseele. Daher gibt es in keinem Zeitalter eine
solche Versuchung, die persönlichsten Interessen mit den
allgemeinen Menschheitsinteressen zu verwechseln, wie in
unserem Zeitalter. Dieses Zeitalter mußte ja
allmählich die Menschheitsinteressen gleichsam
zusammenziehen in das menschliche Ich herein, nämlich in
den Teil des menschlichen Ich, der die Bewußtseinsseele
ist. Wir sehen, wie sich gegen unser Zeitalter hin die
menschlichen Interessen nach dem Punkt des Ich, nach dem Punkt
der Egoität zusammendrängen. In dieser Beziehung ist
ungeheuer lehrreich, wenn man sich einmal tiefernst fragt, ob
so etwas, wie es zum Beispiel schon der heilige
Augustinus in seinen Konfessionen geschrieben hat,
jemals möglich gewesen wäre im alten
Griechenland.
Das
wäre absolut ausgeschlossen gewesen. Der Grieche war
seiner ganzen Natur nach so, daß sein Inneres mit dem
Äußeren in einem gewissen Einklang stand, so daß
äußere Interessen zugleich innere Interessen waren
und innere Interessen nach dem Äußeren
übergriffen. Nehmen Sie die ganze griechische Kultur: Sie
ist so, daß man noch ein gewisses Verknüpftsein des
menschlichen Innern mit dem Äußern überall
voraussetzen muß. Man versteht erst die griechische Kunst,
die griechischen Tragiker, die griechischen Geschichtsschreiber
und Philosophen, wenn man weiß, wie bei den Griechen noch
das Seelische ergossen war in das Äußere und das
Äußere sich wie selbstverständlich
zusammenfügte mit dem Innern. Damit vergleiche man so
etwas wie die Konfessionen des Augustinus. Alles lebt
für ihn; in seinem Inneren sucht er, gräbt er,
forscht er. Man versuche da die ganze persönliche
individuelle Note in den Schriften des Augustinus überall
zu verfolgen; man wird sie finden. Man muß sagen:
Augustinus lebt lange vor dem Hereinbrechen unseres Zeitalters;
aber er bereitet es vor; er ist der Geist, in dessen Schriften
wir, lange vor dem Sonnenaufgang, die erste Morgenröte des
Zeitalters finden, das ganz auf die Bewußtseinsseele
zugeschnitten ist. In jeder Zeile des Augustinus ist das
wahrzunehmen, und jede Zeile des Augustinus unterscheidet sich
für ein feineres Fühlen von alledem, was im alten
Griechentum möglich war.
Und
jetzt, wenn man das weiß: Augustinus lebt entgegen dem
Zeitalter, in dem die Egoität, die Beschäftigung des
Menschen mitseinem eigenen Innern schon innerhalb des
physischen Leibes wie eine Art Charakter dieses Zeitalters
wird, dann kann man begreifen, daß derjenige, der wie
Augustinus wiederum weitere Interessen daneben hat und hinsieht
zu dem gesamten Entwicklungsgang der Menschheit, daß der
ein richtiges Schaudern bekommt, wenn an ihn herantritt eine
Menschenwesenheit, die ahnen läßt, daß bei einer
gewissen Entwicklung nach der Höhe hinauf der Astralleib
naturgemäß zu einer Art Egoismus kommen muß.
Augustinus geht rein und edel und groß auf die
Egoität los. Man möchte sagen, selbstlos geht er auf
die Egoität los. Aber er gerät in das Zeitalter
hinein, wo die Menschheit sich losgelöst hat von den
großen Interessen des Äußeren. Man bedenke, wie
noch im dritten nachatlantischen Zeitraum jeder ägyptische
Mensch seinen Blick hinaufrichtete nach den Sternenwelten und
in den Sternen menschliche Schicksale las, — wie da die
Seele verbunden war mit allgemeinen Interessen. Das konnte man
natürlich nur erreichen, als der Mensch noch fähig
war, seinen Astralleib gesonderter im alten elementaren
Hellsehen zu erhalten von dem physischen Leib. Daher mußte
Augustinus schaudern, wenn ihm ein Mensch gegenübertrat,
der ihn gleichsam erinnerte: mit einer höheren Entwicklung
wächst zunächst der Egoismus! Das kann er begreifen,
das fühlt er, das gibt ihm sein Instinkt: er lebt ja dem
Zeitalter der Egoität entgegen. Da fühlt er, indem
ihm ein Mensch gegenübertritt, der eine
Höherentwicklung darstellt über diejenige im
physischen Leib hinaus: es geht gegen den Egoismus zu. Und er
kann zugleich nicht begreifen, daß dieser Mensch noch
herüberbringt ein allgemein-menschliches Interesse.
Versuchen Sie, diese Empfindung zu gewinnen, wie Augustinus
gegenübersteht nach seinem eigenen Bekenntnis dem
Manichäer-bischof Faustinus — denn ihn habe
ich geschildert. Als er diesem gegenüberstand, da empfand
Augustinus, was ein Mensch empfinden kann, der sozusagen dem
Zeitalter des Egoismus in edler Weise entgegengeht und nur
durch die innere Kraft dieses Zeitalter schützen will
gegen den Egoismus und der sich abwenden muß von einem
Menschen, wie der Manichäerbischof Faustinus einer war.
Erwendete sich ab von ihm, weil er ihm dasjenige darstellte,
was wie etwas, das man nicht anrühren soll, erscheint;
denn er birgt etwas in sich, wofür das Zeitalter der
Egoität nimmermehr Verständnis finden kann im
exoterischen Leben. Es tritt also dem Kirchenvater Augustinus
der Manich'äerbischof Faustinus gegenüber. Ihm, der
dem Zeitalter der Bewußtseinsseele entgegengeht, tritt
eine menschliche Wesenheit gegenüber, die in der Art, wie
so etwas bewahrt werden kann in einer okkulten
Weltenströmung, den Zusammenhang mit der geistigen Welt
bewahrt und damit die Grundeigenschaft des astralischen Leibes,
vor welcher dem Augustinus schaudert, von seinem Gesichtspunkt
aus mit Recht schaudert.
Gehen wir ein paar Jahrhunderte weiter. Da tritt uns entgegen
an der Universität in Paris ein Mensch, der in der
Literatur wenig bekannt geworden ist, denn was er geschrieben
hat, gibt keine Vorstellung seiner Persönlichkeit. Was er
geschrieben hat, erscheint pedantisch, aber persönlich
muß er großartig gewirkt haben; persönlich
scheint er vor allen Dingen gewirkt zu haben so, daß er
gleichsam in seine ganze Umgebung etwas wie eine Erneuerung
griechischer Weltanschauung hereingebracht hat. Der rechte
Renaissancemensch war er. Er starb 1518 und wirkte bis dahin an
der Pariser Universität. Diese Persönlichkeit, sie
verhielt sich sozusagen zu dem Wesen des Griechentums —
wenn auch viel exoterischer —, wie sich der
Manichäerbischof Faustinus zu dem Manichäertum
verhielt, das ja vor allen Dingen in seine Traditionen neben
vielem übrigen alle guten und großen Seiten der
dritten nachatlantischen, der ägyptisch-chaldäischen
Kulturperiode aufgenommen hatte.
Es
gibt also diesen Manichäerbischof Faustinus, der uns im
Zusammenhang mit Augustinus entgegentritt und der dadurch,
daß er Manichäer ist, sich gerade die okkulten
Untergründe der dritten nachatlantischen Kulturperiode
bewahrt hat. 1518 stirbt in Paris ein Mensch, welcher gewisse
— wenn auch exoterisch —, gewisse Seiten des
Untergrundes der vierten nachatlantischen Kulturperiode
herüberträgt. Dadurch war er unheimlich denjenigen,
die im traditionellen Christentum dazumal in seiner Umgebung
wirkten. Die Mönche betrachteten ihn als ihren Todfeind,
aber er machte einen großenEindruck auf Erasmus von
Rotterdam, als sich dieser in Paris aufhielt. Nur kam es
Erasmus von Rotterdam vor, als wenn die äußere
Umgebung schlecht taugen würde zu demjenigen, was
eigentlich im Innern dieser merkwürdigen Seele lebte. Und
als Erasmus wiederum wegreiste und nach England gegangen war,
schrieb er einmal an denjenigen, der mittlerweile sein Freund
geworden war, er möge sich doch von seinem physischen
Leib, in dem das Podagra herrschte, einmal freimachen und
möge in der Luft nach England fliegen, da wäre an
Boden viel mehr in der äußeren Umgebung zu finden
für das, was er in seiner Seele empfinde. Daß in
einer anschaulichen Weise diese Persönlichkeit, die
dazumal gewirkt hat, erstehen lassen konnte griechisches
Fühlen, griechisches Empfinden, das geht uns insbesondere
hervor, wenn wir das Verhältnis des feinsinnigen Erasmus
von Rotterdam zu dieser Persönlichkeit ins Auge fassen. So
lebte — man möchte sagen — gerade am
Ausgangspunkt des Zeitalters der Egoität diese
Persönlichkeit, die da 1518 in Paris starb, so lebte sie
als ein Feind derer, welche anpassen wollten das Leben der
Menschenseelen dem Zeitalter der Egoität und welche eine
Art von Schauder empfanden gegenüber einer solchen Seele,
die deshalb so wirken konnte, weil sie ein anderes Zeitalter,
wo sozusagen der Mensch näherstand der Egoität des
astralischen Leibes, das griechische Zeitalter heraufzaubern
wollte. Auf Erasmus von Rotterdam wirkte diese
Persönlichkeit durchaus sympathisch. Diese
Persönlichkeit wurde geheißen Faustus
Andrelinos.
Im
16. Jahrhundert hatte man es in Mitteleuropa mit einer
Persönlichkeit zu tun, welche wie eine Art fahrender
Sänger hingestellt wird, von der das entsprechende
Volksbuch erzählt, daß sie sich abwandte von der
traditionellen Theologie. Diese Persönlichkeit wollte sich
hernach keinen Theologen mehr nennen, nannte sich den
Weltmenschen und Mediziner, legte die Bibel eine Weile unter
die Bank und befaßte sich mit dem Studium der Natur. Nun
ist auch das Studium der Natur gerade in dem Zeitalter, wo der
Übergang von allem möglichen Alten zu allem
möglichen Neuen stattfand, so, daß es dem Menschen
ebenso wie das Manichäertum, wie das alte Griechentum, die
astralische Egoität nahebringt. So brachtedie astralische
Egoität nahe das, was dazumal an der Grenzscheide stand
der alten Alchemie und der neuen Chemie, der alten Astrologie
und der neuen Astronomie und so weiter. Dieses
eigentümliche Flimmern und Schimmern der Naturwissenschaft
zwischen dem alten und dem neuen Standpunkt, das brachte den
Menschen nahe, wenn er die Bibel eine Weile unter die Bank
legte, einer solchen Astralität, wo man sich
auseinanderzusetzen hat mit der Egoität. Kein Wunder,
daß es diejenigen schauderte, die mit ihren Traditionen
zurechtkommen wollten mit dem Zeitalter der Egoität, wo
die Bewußtseinsseele schon vollständig ihren Aufgang
gefunden hatte. Und es entstand in Mitteleuropa die Sage von
dem dritten Faust, von dem Johannes Faust, auch Georg
Faust genannt, der ja eine wirkliche historische
Persönlichkeit gewesen ist. Und das 16. Jahrhundert
schweißte zusammen allen Schauder vor der Egoität des
astralischen Leibes, indem sie die drei Fauste, den des
Augustinus, den des Erasmus und den Faust Mitteleuropas in eine
Gestalt zusammenfügte, in jene Gestalt des
mitteleuropäischen Volksbuches, die dann auch der Faust
des Marlowe wird. Aus diesem Faust machte Goethe mit
völliger Umkehrung seinen Faust, in welchem er uns
klarmachen will: es gibt die Möglichkeit, nicht zu
schaudern vor dem Träger dessen, der einem nahebringt die
Astralität, sondern ihn besser zu verstehen, so daß
er eine Entwicklung zeigen kann, so daß wir aussprechen
können das Wort: «Wir können ihn
erlösen.» Ganze Zeitalter setzten sich auseinander
mit der Frage der Egoität des astralischen Leibes, und in
ganzen Legendendichtungen, ja auch in der Historie klingt nach
des Menschen Schaudern vor der Egoität des astralischen
Leibes und des Menschen Sehnsucht, das Problem dieses
astralischen Leibes in der richtigen Weise zu lösen so,
wie es der weisen Führung der Welt und der esoterischen
Entwicklung der einzelnen Seele entspricht.
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