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Die soziale Frage als Bewußtseinsfrage

Schmidt-Nummer: S-3661

Online seit: 30th April, 2013

ZWEITER VORTRAG

Dornach, 16. Februar 1919

Was ich immer wieder betonen möchte und jetzt auch in Anknüpfung an das gestern im Zusammenhange mit unserem Aufruf Gesagte, ist, daß es mir als das Nächste in der heutigen Lebenslage der Menschheit darauf ankommt, in möglichst vielen Menschen richtiges soziales Verständnis hervorzurufen. Sie müssen nicht vergessen, daß die Lebens Verhältnisse, wie sie sich in der neueren Zeit entwickelt haben, über einen großen Teil der zivilisierten Welt eine Art von Chaos hervorgebracht haben; ein Chaos, dem nur beizukommen sein wird von den Menschenseelen selbst aus. Äußere Mittel — seien sie nun gesetzgeberisch gedacht oder in Form einer bloß äußeren Ordnung des Wirtschaftslebens — werden, so wie die Lage nun einmal gekommen ist, nicht in durchgreifender Weise der Menschheit helfen können. Gewiß, es kann in einzelnen Territorien noch eine Weile gehen, aber es wäre heute falsch zu glauben, daß damit irgendwelche Verhältnisse vorliegen, die für Einzelterritorien auf die Dauer bleiben können inmitten der sozialen Welle, die sich als eine die ganze Menschheit umfassende entwickeln muß. Von anderswoher als aus dem sozialen Verständnis, aus den Begriffen der Menschenseelen gegenüber den sozialen Verhältnissen, von anderswoher kann keine Hilfe kommen.

Man kann das, was ich jetzt etwas komplizierter gesagt habe, ja auch einfacher sagen. Man kann sagen: es wird dasjenige, was jetzt in Unordnung hineinstrebt, nicht wieder in eine Ordnung streben, wenn die Menschen sich nicht geeignet erweisen, diese Ordnung zu machen. Und sie werden sich nur geeignet erweisen, diese Ordnung zu machen, wenn sie wirkliches soziales Verständnis erwerben, von dem die heutige Menschheit — man kann sagen, die heutige Menschheit aller Parteirichtungen — so weit als nur irgend möglich entfernt ist. Dieses soziale Verständnis zu verbreiten, das ist es, woran man zuerst denken muß. Die Tatsache ist von durchgreifender Wichtigkeit, daß es etwas ganz anderes ist, was in den Seelen der Millionen und aber Millionen Proletarier selbst lebt, als das, was in deren Führern lebt. Die Führer tragen in sich zum großen Teil die Erbschaft der bürgerlichen Lebensauffassung, die sie anwenden wollen — nur in einer etwas agitatorischen Form — auf die Lebensverhältnisse des Proletariats.

Dies ist eine durchgreifende Tatsache. Und man trägt dieser Tatsache nur Rechnung, wenn man sich entschließt, zunächst auf soziales Verständnis hinzuwirken. Selbst wenn man sich gestehen muß, daß die äußeren Verhältnisse zunächst noch verworrener werden, als sie schon sind, so würde man doch von einer falschen Voraussetzung ausgehen, wenn man glauben wollte, daß man durch irgendwelches Pfuschen da oder dort etwas erreichen könne. Was den Menschen heute fehlt, das ist ja soziales Verständnis. Aus dem Grunde fehlt es den Menschen, weil die ganze Entwicklung des Denkens, die ganze Entwickelung des Fühlens und Wollens der Menschheit in der neueren Zeit es sich nicht hat angelegen sein lassen, soziales Verständnis wirklich herbeizuführen. Das soziale Verständnis ist auch bei vielen derjenigen Personen, in denen der soziale Impuls heute mächtig ist, außerordentlich gering.

Fassen Sie das nicht so auf, als ob es besonderer, weitgehender Kenntnisse, weitmaschiger Wissenschaft bedürfe, um soziales Verständnis zu entwickeln. Nicht daran liegt es, sondern es liegt daran, daß einfach die elementarsten Richtlinien nach dem sozialen Verständnis hin der heutigen Menschheit fehlen. Die Menschen denken an ganz andere Dinge, als an diejenigen, an die gedacht werden muß, wenn es sich um die Erwerbung des primitivsten sozialen Verständnisses handelt. Und auf dieses primitivste soziale Verständnis kommt es zunächst an. Es ist ganz richtig, wenn man heute vor allen Dingen seine Aufmerksamkeit darauf richtet, den Weg zu finden von den abstrakten, schwarmgeistigen Begriffen, bei denen sich viele Menschen heute beruhigen; die Menschen glauben, daß die heutige Zeit die Möglichkeit habe, von irgendeinem ethischen oder religiösen Standpunkte aus das, was das soziale Problem ist, zu ordnen. Das ist nicht der Fall. Man kann heute den Leuten noch so gute religiöse, ethische Lehren predigen; die können das Gemüt erwärmen und haben manche Wirkung — gerade in einem egoistischen Sinne. Es müssen die Begriffe fähig gemacht werden, einzugreifen in das soziale Getriebe der Menschen.

Also auf die Erwerbung des Verständnisses kommt unendlich viel heute an. Ich sagte: die Menschen, in denen auch der soziale Impuls heute mächtig wogt und sprüht, haben vielfach primitive Begriffe. Nicht wahr, es gibt ja noch viele Menschen — auf der einen Seite den leitenden Kreisen angehörig, auf der anderen Seite der proletarischen Welt angehörig die sich vorstellen, daß eine einfache Umschichtung eine wirkliche Änderung bringen könne. Also zum Beispiel, wenn diejenigen, die bisher oben waren, die Minister und Staatssekretäre, herunterpurzeln und die anderen, die bisher in irgendwelchen Proletarierpositionen waren, hinaufsteigen, wenn also einfach eine Um- Schichtung stattfindet; daß dadurch die Dinge anders werden könnten, das wäre eine ganz irrtümliche Vorstellung. Es werden manche Leute ablehnen, daß sie eine solche Vorstellung haben. Und dennoch haben sie sie eigentlich. Sie sind nur umnebelt von allerlei Parteianschauungen, und dadurch kommt ihnen nicht zum Bewußtsein, daß sie eigentlich solche Vorstellungen haben, wie ich sie jetzt angedeutet habe. Worum es sich handelt, ist, daß in wirklich einfacher Weise die Menschen sich ein Verständnis erwerben für das, was ich Ihnen jetzt öfter hier und auch in öffentlichen Vorträgen vorgebracht habe; ein Verständnis erwerben für die notwendige Dreigliederung des sozialen Organismus; daß alle Einzelheiten in den sozialen Maßnahmen sich so entwickeln, daß Rechnung getragen werde der Notwendigkeit, die in dieser Dreigliederung liegt — darauf kommt es an. Ob man nun die Maßnahmen zu treffen hat mit Bezug auf, sagen wir, den Bau einer Eisenbahn, die einer Privatgesellschaft oder dem Staate übertragen werden soll, oder ob man zu entscheiden hat über die Art und Weise, wie man bei irgendeiner Gelegenheit Leistungen entlohnt — ich sage nicht Arbeitskräfte, sondern Leistungen bei allen diesen Dingen kommt es darauf an, daß man seinen Maßnahmen die Richtung gibt nach dieser Dreigliederung, nach der Verselbständigung des geistigen Lebens, des rechtlichen Lebens — dem Staate, dem eigentlichen politischen Leben — und des wirtschaftlichen Lebens.

Sie können dann gewiß die Frage aufwerfen: Wie soll das eine oder das andere geschehen? Das sind zum großen Teil falsch aufgeworfene Fragen in dem Stadium, in dem heute die Sache steht. Der Geist desjenigen, was in dieser Dreigliederung lebt, der läßt sich etwa in der folgenden Weise umschreiben. Nicht wahr, es gibt zum Beispiel, um etwas herauszugreifen, das beste Besteuerungssystem. Nun handelt es sich heute gar nicht darum, dieses beste Besteuerungssystem auszudenken, sondern es handelt sich darum, hinzuarbeiten auf die Dreigliederung. Und wenn diese Dreigliederung sich immer mehr und mehr verwirklicht, so wird durch die Tätigkeit dieser Dreigliederung des sozialen Organismus das beste Steuersystem entstehen. Es handelt sich darum, die Bedingungen herzustellen, unter denen die besten sozialen Einrichtungen entstehen können. Denn daß irgendeiner den Gedanken hat, das Beste auszuspintisieren, darum kann es sich gar nicht handeln, das hat gar keinen Wirklichkeitswert. Bedenken Sie doch nur einmal, Sie wären — irgendeiner von Ihnen — ein so großes Genie, wie es noch gar nicht dagewesen ist in der menschheitlichen Entwicklung, und dadurch, daß Sie ein so großes Genie wären, würden Sie in der Lage sein, das beste Steuersystem auszudenken. Wenn Sie da nun aber allein in der Welt stehen mit ihrem Gedanken des besten Steuersystems, und die anderen wollen das nicht, sie wollen vielleicht das falsche, aber sie wollen das Ihrige nicht — das ist es, worauf es ankommt. Nicht darauf kommt es an, das Beste zu denken, sondern dasjenige zu finden, auf Grund dessen die Menschheit in ihrer Gesamtheit das Beste tun wird. Nun, so können Sie allerdings sagen: Ja, aber irgendwo muß man doch anfangen. Man muß die Dreigliederung einrichten, auch wenn die Menschen sie nicht wollen!

Das ist etwas anderes, meine lieben Freunde; denn da handelt es sich nicht um etwas, was so wie irgendein Steuersystem die Menschen wollen können oder nicht wollen können, sondern da handelt es sich um etwas, was eigentlich im Grunde genommen alle Menschen wollen, wenn sie es nur verstehen. Das ist dasjenige, was Sie den Menschen, wenn Sie den richtigen Weg finden, wirklich zum Verständnis bringen können, weil die Menschen im Unterbewußten wollen, daß es sich eben realisieren soll in den nächsten Jahrzehnten des Lebens der Menschheit über die zivilisierte Welt hin. Das ist nicht ausgedacht, sondern das ist beobachtet, was die Menschen wollen. Und nicht deshalb weisen es heute noch zahlreiche Menschen zurück, weil sie es nicht wollen, sondern nur, weil sie voller Vorurteile noch sind und eigentlich gegen die Sache arbeiten, die sich durchaus realisieren will. Das andere ergibt sich als Konsequenz. Sie müssen auf das Primäre gehen. Das Primäre ist dasjenige, wofür — mag es nun kürzer oder länger dauern — Verständnis wird erweckt werden können, wenn nur erst einiges von dem, was heute noch dieses Verständnis hindert, beseitigt sein wird. Es sind ja natürlich noch immer gewisse Führerpersönlichkeiten da, die sich in den Weg stellen. Diese Führerpersönlichkeiten werden nicht zu überzeugen sein; die müssen erst selbst ihre Köpfe blutig schlagen an den Widerständen, die sich ihnen bieten werden. Und solche Widerstände wird es viele geben. Deshalb darf die Sache auch nicht, wenn sie heute nicht gleich auf den ersten Anhieb so geht, wie man es sich vorstellt, als eine vergebliche bezeichnet werden. Die Sache muß vorbereitet sein. Sie muß da sein, wenn im Leben das, was sich jetzt realisiert — falsch realisiert —, sich selbst ad absurdum geführt haben wird, wenn vieles von dem, was jetzt in die Welt tritt, ebensowenig mehr da sein wird, wie die deutschen Fürsten zum Beispiel jetzt noch da sind, die auch noch 1913 sich nicht träumen ließen, daß sie 1919 nicht mehr da sein würden. Wenn das weg ist, was jetzt die Leute oftmals noch bejubeln, dann muß wenigstens etwas da sein in den Köpfen, in den Herzen der Leute, auf das zurückgegriffen werden kann. Es muß vorbereitet werden, der Boden muß geschaffen werden. Das ist es, woran Sie bei diesen Dingen denken müssen, meine lieben Freunde. Sie werden, wenn Sie einmal genügend lange und genügend gründlich auf diese Dreigliederung in Geistesleben, in politisches Leben, in wirtschaftliches Leben eingedrungen sind, dann schon das Bedürfnis haben, weiter in den Sachen ein gewisses Verständnis sich zu entwickeln. Dieses Verständnis ist eben durchaus notwendig, sonst redet man über die Dinge so, daß man ja allen guten Willen in seine Rede hineinversetzen kann, aber es kann keine Realität daraus werden. Der soziale Organismus ist ebenso bestimmten Gesetzen unterworfen wie der natürliche menschliche Organismus. Handeln Sie gegen diese Gesetze des sozialen Organismus mit den allerschönsten Prinzipien, so können Sie nichts erreichen. Sie können höchstens die Menschen in eine Sackgasse hineinführen. — Das ist es, worauf es ankommt.

Sagen Sie nun nicht: Ja, was ist dann die Freiheit des Menschen, wenn der Mensch hineingestellt sein soll in einen sozialen Organismus, der bestimmte Gesetze hat? — Die Frage ist nicht klug; denn dieselbe Frage könnten Sie auf einem anderen Gebiete so stellen: Kann denn der Mensch frei sein, wenn er täglich gezwungen ist zu essen? — Es steht ihm gar nicht frei, zu essen. Die Dinge, die in der Welt einer gewissen Gesetzmäßigkeit unterliegen, auch wenn der Mensch hineingestellt ist in diese Gesetzmäßigkeit, die haben schließlich mit dem Problem der Freiheit nicht das geringste zu tun, geradesowenig wie es mit dem Problem der Freiheit zu tun hat, daß wir nicht den Mond herunterfassen können. Aber etwas anderes hat zu tun mit dem, was notwendig ist als soziales Verständnis. Das ist, daß man sich in die Lage versetzt, auf das Fundamentale, auf das Primäre zurückzugehen und nicht von dem Sekundären oder Tertiären, von dem, was nur Folgeerscheinung ist, sein soziales Verständnis abhängig macht. Nicht wahr, man kann aus einer gewissen Lebenslage heraus sagen: innerhalb dieser Lebenslage braucht der Mensch im Minimum so und so viel an Werten — also sagen wir, an Geld, weil wir schon einmal die Werte in Geld umgesetzt haben um sein Leben versorgen zu können. Man kann von einem Existenzminimum reden in einer bestimmten Lebenslage. Aber man kann von diesem Existenzminimum so reden, daß man auf der einen Seite etwas scheinbar höchst Selbstverständliches und auf der anderen Seite einen völligen Unsinn sagt. Das will ich Ihnen an einem Beispiel versuchen, klarzumachen.

Wenn Sie die gegebenen Lebensverhältnisse auf irgendeinem Territorium nehmen, so können Sie vielleicht schon aus der Empfindung heraus, aus der instinktiven Empfindung heraus sagen: Derjenige, der einfach arbeitet, handarbeitet, der braucht so und so viel als Existenzminimum, sonst kann er nicht leben in dieser Gemeinschaft. Das kann ein scheinbar ganz selbstverständlicher Gedanke sein. Aber bedenken Sie, mag der Gedanke auch noch so selbstverständlich sein, wenn er aber so, wie Sie ihn ausdenken müssen, nach den Voraussetzungen, die ich eben angegeben habe, sich nicht verwirklichen läßt innerhalb des sozialen Organismus, in dem irgend jemand lebt; wenn ihn zu verwirklichen eine Unmöglichkeit 1st — was dann? Das ist es, was Sie sich vor allen Dingen beantworten müssen: was dann, wenn das zu verwirklichen unmöglich ist?

Es ist das eben, wenn man so überlegt, wie ich es jetzt eben dargestellt habe, nicht ein primärer Gedanke. Man geht nicht an die fundamentalen Dinge zurück, sondern man knüpft an etwas Sekundäres an, an etwas, was bloß eine Folgeerscheinung ist. Man muß immer in der Lage sein, zu seinem sozialen Verständnis an die fundamentalen Dinge anzuknüpfen. So ist eine fundamentale Sache, daß man sich eine Ansicht verschaffen kann, eine lebenfördernde Ansicht, wie gerade nach den Lebensbedingungen des sozialen Organismus das Existenzminimum sein kann; und mit Leben-fördernd meine ich in diesem Falle eine solche Ansicht, daß eine mögliche soziale Lage und ein mögliches soziales Zusammenleben der Menschen daraus folgt. Das ist das Primäre. Und nun kommt man da allerdings auf gewisse Vorstellungen, die der heutigen Menschheit zum großen Teil recht unbequem sind, weil versäumt worden ist in den letzten Jahrhunderten, die primitive Schulbildung, die auf solche Dinge hingehen soll, nach solchen Dingen wirklich hinzuleiten. Es dürfte heute schon bald den Menschen klarwerden, daß man nicht bloß wissen soll, um ein halbwegs gebildeter Mensch zu sein, daß drei mal neun siebenundzwanzig ist, sondern daß man auch wissen sollte, was denn eigentlich zum Beispiel das Ding ist, das man «Grundrente» nennt. Nun frage ich Sie, wieviele Menschen heute eine deutliche Vorstellung haben von dem, was Grundrente ist. Ohne aber den sozialen Organismus in bezug auf solche Dinge zu überblicken, läßt sich überhaupt eine gedeihliche Fortentwickelung der Menschheit nicht herbeiführen.

Diese Dinge sind allmählich in große Verwirrung gekommen. Und die verworrenen Verhältnisse, die führen heute die Menschen zu ihren Vorstellungen, nicht dasjenige, was wahre Verhältnisse auf diesem Gebiete sind. Sehen Sie, die Grundrente, die man irgendwie bewerten kann nach der Produktivität, die auf irgendeinem Territorium ein Stück Boden hat, diese Grundrente, die ergibt nun, sagen wir, eine bestimmte Summe für ein staatlich begrenztes Territorium. Der Boden ist nach seiner Produktivität, das heißt, nach der Art oder nach dem Grade der rationellen Ausnützung gegenüber der Gesamtwirtschaft so und so viel wert. Für die Menschen ist es heute sehr schwierig, diesen einfachen Bodenwert in klaren Begriffen zu denken, weil sich im heutigen kapitalistischen Wirtschaftsleben der Kapitalzins oder das Kapital überhaupt konfundiert hat mit der Bodenrente, weil der wirkliche volkswirtschaftliche Wert der Bodenrente zu einem Truggebilde gemacht worden ist durch das Hypothekenrecht, durch das Pfandbriefwesen, durch das Obligationenwesen und dergleichen. Dadurch ist alles im Grunde genommen in unmögliche, unwahre Vorstellungen hineingetrieben worden. Es ist natürlich nicht möglich, im Handumdrehen wirklich eine Vorstellung von dem zu bekommen, was eigentlich Grundrente ist. Aber denken Sie einfach als Grundrente den volkswirtschaftlichen Wert des Grund und Bodens eines Territoriums, des Grund und Bodens als solchem, aber mit Bezug auf seine Produktivität. Nun besteht ein notwendiges Verhältnis zwischen dieser Grundrente und dem, was ich vorhin als Existenzminimum des Menschen angegeben habe. Nicht wahr, es gibt heute manche Sozialreformer und Sozialrevolutionäre, die träumen von einer Abschaffung der Grundrente überhaupt, die glauben, daß zum Beispiel die Grundrente abgeschafft ist, wenn man den gesamten Grund und Boden, wie sie sagen, verstaatlicht oder vergesellschaftet. Dadurch, daß man etwas in eine andere Form bringt, ist aber die Sache nicht abgeschafft. Ob nun die ganze Gemeinschaft den Grund und Boden besitzt, oder ob ihn so und so viele besitzen, das ändert gar nicht das Vorhandensein der Grundrente. Sie maskiert sich nur, sie nimmt andere Formen an. Grundrente so definiert, wie ich es vorhin definiert habe, ist eben immer da. Wenn Sie auf einem bestimmten Territorium die Grundrente nehmen, sie dividieren durch die Einwohnerzahl des betreffenden Territoriums, so bekommen Sie einen Quotienten heraus, und dieser Quotient ergibt das allein mögliche Existenzminimum. Das ist ein Gesetz, das, wie meinetwillen das Boyle-Mariottesche Gesetz in der Physik ein ganz bestimmtes Gesetz ist, das nicht anders sein kann. Das ist aber eine primäre Tatsache, das ist etwas Fundamentales, daß eigentlich niemand in Wirklichkeit mehr verdient in irgendeinem sozialen Organismus, als die gesamte Grundrente dividiert durch die Einwohnerzahl. Was sonst mehr verdient wird, wird verdient durch Koalitionen und durch Assoziationen, wodurch Verhältnisse geschaffen werden, durch die auf eine Persönlichkeit mehr Werte kommen als auf die andere Persönlichkeit. Aber wahrhaftig, in den mobilen Besitz eines einzigen Menschen übergehen kann gar nichts mehr als dasjenige, was ich jetzt bezeichnete. Und aus diesem Minimum, das überall wirklich existiert, wenn auch die realen Verhältnisse es zudecken, geht alles wirtschaftliche Leben, insofern dieses wirtschaftliche Leben sich bezieht auf dasjenige, was man als einzelner an mobilem Besitz hat, hervor. Von dieser fundamentalen Tatsache muß ausgegangen werden. Darauf kommt es an, daß man nicht von einer sekundären, sondern von dieser primären Tatsache ausgeht. Sie können diese primäre Tatsache vergleichen mit irgendeiner anderen primären Tatsache, sagen wir zum Beispiel mit der primären Tatsache, die auch für das Wirtschaftsleben eine solche ist, daß auf einem bestimmten Territorium nur eine bestimmte Menge eines Rohproduktes ist. Da könnten Sie es natürlich auch als wünschenswert bezeichnen, wenn dieses Rohprodukt mehr vorhanden wäre, und könnten ausrechnen, wieviel man dann mehr haben würde auf diesem Territorium. Aber das Rohprodukt können Sie nicht vermehren. Das ist eine primäre Tatsache. Ebenso ist es eine primäre Tatsache, daß in Wirklichkeit in einem sozialen Organismus niemand mehr verdient — man verdient nicht durch Arbeit, auch wenn man noch so viel arbeitet — als dasjenige, was dieser Quotient, den ich angeführt habe, ergibt. Alles übrige ist durch Koalitionen und so weiter unter den Menschen bewirkt.

Gegen eine solche Tatsache können die sozialen, können die politischen Einrichtungen handeln. Sie können dagegen verstoßen. Darum handelt es sich, daß man das ganze organisierende Denken in die Richtung bringt, in der die Tatsachen laufen. Darauf kommt es an. Zufriedenheit unter Menschen kann nur dadurch entstehen, daß solche Dinge eingesehen werden. Denn bringt man das ordnende, das in die Wirklichkeit sich umsetzende Denken in solche Richtungen, die die Natur des sozialen Organismus fordert, dann richtet sich das andere danach, dann kann es gar nicht eintreten, daß der eine sich benachteiligt glaubt gegenüber dem anderen. Das ist dasjenige, was als ein Gesetz dem sozialen, dem wirklichen Leben des sozialen Organismus zugrunde liegt. Aber in der richtigen Weise können Sie über solche Dinge nur denken — ich habe Ihnen dieses Beispiel von der Beziehung des Existenzminimums zu der Grundrente angegeben —, über solche Dinge können Sie nur Begriffe bekommen, die in die Wirklichkeit eingreifen, wenn Sie ausgehen von der Dreigliederung, die wir als das Fundamentale haben. Denn nur unter dem Einflüsse dieser Dreigliederung ist es möglich, daß die Menschen solche Maßnahmen treffen, daß nun wirklich das Zusammenleben der Menschen über ein Territorium sich in der produktivsten Weise entwickelt. In der produktivsten Weise wird sich nämlich das Leben entwickeln, wenn es in der Richtung der Gesetzmäßigkeit verläuft, nicht gegen diese Gesetzmäßigkeit; also im Sinne des sozialen Organismus leben, das ist es, worauf es ankommt.

Nun muß man allerdings sich folgendes klarmachen. Aus der äußeren Beobachtung des Lebens gewinnen Sie nicht die Einsicht in das Fundamentale der Dreigliederung, geradesowenig wie Ihnen — würden Sie noch so viele rechtwinklige Dreiecke betrachten — der pythagoräische Lehrsatz aufginge; aber wenn Sie ihn einmal haben, dann ist er überall anwendbar, wo ein rechtwinkliges Dreieck ist. So ist das mit diesen fundamentalen Gesetzen. Sie sind überall anwendbar, wenn man sie einmal in der richtigen Weise wirklichkeitsgemäß erfaßt hat. Und Sie, meine lieben Freunde, haben ja noch Gelegenheit, die Notwendigkeit dieser Dreigliederung aus den Fundamenten der Geisteswissenschaft heraus zu begreifen. Sie haben auch folgende Möglichkeit noch. Bedenken Sie, was als diese Dreigliederung angegeben wird. Wenn ich so sagen darf, das Leben der irdischen Geistigkeit: Kunst, Wissenschaft, Religion und, wie ich gesagt habe, auch Privat- und Strafrecht, das ist das eine Gebiet. Das zweite Gebiet ist das politische Zusammenleben der Menschen, das sich bezieht auf das Verhältnis von Mensch zu Mensch. Das dritte ist das wirtschaftliche Leben, das sich bezieht auf das Verhältnis des Menschen zu dem, was gewissermaßen untermenschlich ist, was der Mensch braucht, damit er sich erheben kann zu seiner eigentlichen Menschlichkeit. Diese drei

Gebiete sind diejenigen, die angeführt werden, wenn von der Dreigliederung gesprochen wird. Gemäß diesen drei Gliedern soll der Mensch hineingestellt sein in den sozialen Organismus. Er muß so hineingestellt sein, denn diese drei Glieder haben alle drei einen ganz anderen Ursprung in der menschlichen Wesenheit als solcher.

Alles was irdisches Geistesleben ist, das ist gewissermaßen der Nachklang desjenigen — was ich jetzt sage, gilt für unseren Zeitraum —, was der Mensch erlebt hat in dem Leben vor dem Heruntersteigen durch die Geburt ins physische Dasein. Da lebte der Mensch als geistige Individualität in geistigem Zusammenhange mit den höheren Hierarchien, in geistigem Zusammenhange mit den entkörperten Seelen, die eben in der geistigen Welt sind, die nicht augenblicklich auf Erden verkörpert sind. Dasjenige, was der Mensch hier als Geistesleben entwickelt — sei es, daß er religiös tätig ist oder religiöser Übung sich hingibt, in religiöser Gemeinschaft lebt; sei es, daß er künstlerisch tätig ist; sei es, daß er als Richter über einen, der irgendwie das Gesetz übertreten hat, oder der einem Menschen ein Unrecht zugefügt hat, zu urteilen hat —, das alles, was in diesem Geistesleben sich auslebt, rührt von den Kräften her, die sich der Mensch angeeignet hat in dem Zusammenleben in der geistigen Welt, bevor er heruntergestiegen ist durch die Geburt ins physische Dasein. Da müssen Sie unterscheiden zwischen dem Zusammenleben mit anderen Menschen gemäß dem Einzelschicksal, und dem Zusammenleben mit anderen Menschen gemäß dem, was ich jetzt eben charakterisiert habe. Wir Menschen im irdischen Dasein kommen mit dem einen oder mit dem anderen Menschen in individuelle Verhältnisse hinein. Die sind abhängig von unserem individuellen Karma; die führen zurück in frühere Erdenleben oder weisen hin auf spätere Erdenleben. Aber von diesen individuellen Beziehungen zwischen Mensch und Mensch müssen Sie andere unterscheiden. Das sind diejenigen, in die Sie kommen, wenn Sie zum Beispiel einer gewissen religiösen Gemeinschaft angehören. Da denken Sie oder fühlen Sie mit einer Anzahl von anderen Menschen innerhalb dieser religiösen Gemeinschaft gleich. Oder nehmen Sie an, ein Buch erscheine. Die Menschen lesen das Buch, nehmen gleiche Gedanken durch das Buch auf — das ist auch eine Gemeinschaft, die man hier eingeht. Und in solchem besteht ja eigentlich das irdische Geistesleben, ob es sich nun auf Erziehung und Unterricht oder auf anderes bezieht, daß man zu Menschen in Beziehung tritt, mit Menschen Gemeinschaften entwickelt, um durch diese Gemeinschaft selber im Geiste weiterzukommen. Das alles aber ist ein Ausleben von Verhältnissen, in denen man in ganz anderer Form drinnensteckte, bevor man herunterstieg in das irdische Geistesleben. Das hat nichts zu tun mit dem individuellen Karma, sondern das hat zu tun mit dem, was sich vorbereitete in der in der geistigen Welt erlebten Zeit zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. So daß man die Quelle für dasjenige, was ich im Speziellen bezeichnet habe als das geistige Gebiet, zu suchen hat in dem Leben schon, das der Mensch durchgemacht hat, bevor er sich anschickte, durch die Geburt ins irdische Dasein herunterzusteigen.

Dann gibt es etwas, was man durchmacht bloß dadurch, daß man hier auf der Erde lebt zwischen Geburt und Tod. In dieses Leben wächst man allmählich erst hinein. Tritt man durch die Geburt ins Dasein, ist man Kind, dann trägt man noch viel — wenn ich mich eines recht törichten Vergleiches bedienen darf, denn es ist ja nicht hart, was man trägt — von den Eierschalen der geistigen Welt. Das Kind ist sehr geistig, trotzdem es gerade den physischen Leib am meisten auszubilden hat. Aber in seiner Aura hat es viel Geistiges; was es mitbringt, ist sehr verwandt mit dem, was das irdische Geistesleben ist. Allmählich tritt man aber immer mehr und mehr ein in das Leben, das nur angehört der Zeit zwischen der Geburt und dem Tode. In diesem Leben, das zunächst auf nichts im Geistigen hinweist, da liegen die Quellen zu dem Leben des politischen Staates. Der politische Staat hat es nur zu tun mit demjenigen, was der Mensch durchlebt zwischen Geburt und Tod. Daher soll sich auch in das politische Staatsleben nichts hineinmischen, was etwas anderes angeht als das Verhältnis von Mensch zu Mensch, insofern wir Wesen sind zwischen Geburt und Tod. Mischt sich irgendetwas anderes hinein — breitet zum Beispiel der Staat seine Fittiche aus über das geistige Leben, über Kirche und Schule —, so unterliegt das dem Urteil, das an den Orten, wo man über solche Dinge urteilsfähig war, die Leute so fällten, daß sie gesagt haben: Mischt sich der Staat in irgend etwas hinein, was sich auf etwas anderes bezieht, als auf das öffentliche Rechtsleben zwischen Geburt und Tod, so herrscht der widerrechtliche Fürst dieser Welt. In all dasjenige, was Gegenstand staatlicher Organisation ist, gehört eben nichts anderes hinein als dasjenige, was sich auf das Leben zwischen Geburt und Tod bezieht.

Das dritte Glied ist dasjenige, was ich als das wirtschaftliche bezeichnet habe. Dieses wirtschaftliche Leben, welches wir führen müssen dadurch, daß wir essende und trinkende Menschen sein müssen, daß wir uns kleiden müssen und so weiter, dieses wirtschaftliche Leben zwingt uns Menschen, daß wir in das Untermenschliche hinuntertauchen. Das fesselt uns Menschen an etwas, was eigentlich unter dem Niveau unseres Vollmenschentums steht. Indem wir uns beschäftigen müssen mit dem Wirtschaftsleben, indem wir untertauchen müssen in das Wirtschaftsleben, leben wir etwas aus, was sozial betrachtet mehr in sich hat, als man gewöhnlich meint. Indem man im Wirtschaftsleben drinnensteht und das Wirtschaftsleben treibt, kann man nicht dem Geistigen, kann man nicht einmal dem Rechte leben, sondern man muß untertauchen in ein Untermenschliches. Aber gerade dadurch, daß man in ein Untermenschliches untertaucht, entwickelt sich etwas in uns, was nur dadurch Gelegenheit hat, sich zu entwikkeln. Während wir das wirtschaftliche Leben organisieren, während wir im wirtschaftlichen Leben betätigt sind und die höheren Gedanken schweigen müssen, auch das Verhältnis von Mensch zu Mensch nur hereinspielt aus einem anderen Gebiete, arbeitet sich in unserem Unterbewußtsein dasjenige aus, was wir dann durch die Pforte des Todes durchtragen in die geistige Welt hinein. Während wir im irdischen Geistesleben den Nachklang dessen ausleben, was wir geistig durchlebt haben, bevor wir auf die Erde heruntergestiegen sind, während wir im Rechtsleben des politischen Staates nur ausleben, was zwischen Geburt und Tod liegt, lebt sich, während wir im Wirtschaftsleben stehen, wo wir nicht untertauchen können mit unserem höheren Menschen, etwas aus, bereitet sich etwas vor, was auch geistig ist, was wir durchtragen durch die Pforte des Todes. So sehr die Menschen möchten, daß das Wirtschaftsleben nur für die Erde da sei, es ist es nicht, sondern gerade deshalb, weil wir untertauchen in das Wirtschaftsleben, bereitet sich für uns als Menschen etwas vor, was wiederum auf die übersinnliche Welt Beziehung hat. Daher sollte niemand darauf verfallen, die Organisierung des Wirtschaftslebens für sehr gering zu halten. Gerade dieses äußere materielle Leben hat einen gewissen Bezug auf das nachtodliche Leben, so sonderbar und paradox das erscheint. So daß tatsächlich die drei Gebiete für den Kenner des Menschen auseinanderfallen: Das rein geistige Gebiet weist auf das vorgeburtliche Leben; das politische Staatsgebiet weist auf das Leben zwischen Geburt und Tod; und das Wirtschaftsleben weist auf das Leben nach dem Tode. Wir entwickeln die Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben wahrhaftig nicht umsonst. In all dem, was sich auf dem Grunde des Wirtschaftslebens an Brüderlichkeit entwickelt, liegen Antezedenzien, Vorbedingungen für das Leben, das wir entwickeln nach dem Tode. Ich deute Ihnen dadurch nur skizzenhaft zunächst an — wir wollen davon später weitersprechen —, wie sich auch aus der dreifachen Gliederung der Menschennatur in dieser Beziehung gerade für den Geisteswissenschafter Lichter ergeben, welche eben das soziale Leben notwendig in drei voneinander verschiedene Gebiete gliedern.

Das ist das Eigentümliche der Geisteswissenschaft: läßt man sich auf sie ein, so wird sie unmittelbar praktisch. Sie beleuchtet das Leben um uns herum, und in der heutigen Zeit haben die Menschen keine andere Möglichkeit, das Leben wirklich in seinen realen Verhältnissen zu beleuchten, als auf das Geisteswissenschaftliche irgendwie einzugehen. Daher wäre es wünschenswert, daß gerade von denjenigen, die sich für diese geisteswissenschaftliche Bewegung interessieren, Verständnis ausstrahlen würde auf die anderen; denn der Geisteswissenschafter hat es verhältnismäßig leichter, diese Dinge zu durchschauen. Er kennt so etwas wie vorgeburtliches und nachtodliches Leben von einem geisteswissenschaftlichen Gesichtspunkte aus, und ihm ergibt sich die Notwendigkeit der Dreigliederung des Lebens von diesem Gesichtspunkte aus. Man kann die Notwendigkeit der Dreigliederung schon heute einsehen. Aber gründlicher, umfassender wird man einen Einblick in sie gewinnen, wenn man auch noch so etwas hat, wie die geisteswissenschaftlichen Fundamente, von denen ich hier gesprochen habe.

Sehen Sie, wieviel ist im Laufe der letzten Jahrhunderte in schwärmgeistiger Art gesprochen worden, indem man von einer allgemeinen Sittenlehre und dergleichen gesprochen hat, indem man das Religiöse möglichst getrennt hat von dem äußeren, alltäglichen Leben. Wir stehen jetzt einmal in diesem Zeitpunkt, wo wir Begriffe auszubilden haben, welche untertauchen können in das alltägliche Leben, welche nicht bloß reichen bis zu der Verheißung der Erlösung, bis zu der Forderung der Notwendigkeit: «Kindlein, liebet einander!» — sie tun es ja doch nicht, wenn sie es nicht müssen oder wenn nicht etwas anderes vorliegt! Die Begriffe, die wir in diesen Regionen entwickeln, müssen auch wirklich Trag- und Stoßkraft genug haben, um das heute so kompliziert gewordene Wirtschaftsleben wirklich zu verstehen. Also einfach durch die Erkenntnis der Menschennatur ist die Notwendigkeit der Dreigliederung des gesunden sozialen Organismus gegeben.

Das müßte heute als die allererste Grundlage zu einem Neuaufbau möglichst vielen Menschen eben klarwerden. Dies bloße Reden vom Geiste, auf das ich schon gestern hingewiesen habe, das ist heute vielleicht schädlicher als der Materialismus, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts angefangen hat und sich bis heute weiter verbreitet hat. Denn das bloße Reden vom Geiste, das bloße Hinseufzen zum Geiste, das bloße Anbeten des Geistes, das ist heute nicht mehr unserer Epoche entsprechend. Unserer Epoche entsprechend ist es, daß wir den Geist realisieren, daß wir dem Geiste die Möglichkeit geben, unter uns zu leben. Es genügt heute nicht, daß die Menschen an den Christus glauben, sondern es ist heute notwendig, daß die Menschen den Christus in ihrem Handeln, in ihrem Wirken verwirklichen. Darauf kommt es an. Denn wenn die Menschen in dieser Beziehung auf diesem Gebiete gesundes Denken und Empfinden entwickeln, dann fließt dieses gesunde Denken und Empfinden auch in anderes ein.

Vergessen Sie niemals, so etwas wie das Folgende zu beachten: Ein großer Teil der heutigen offiziellen Vertreter dieses oder jenes christlichen Bekenntnisses redet von dem Christus. Ich habe diese Tatsache von anderen Gesichtspunkten auch schon hier berührt, allein wir müssen von verschiedenen Gesichtspunkten immer wiederum auf diese Dinge zurückkommen. Die Leute reden von dem Christus, wenn man sie aber fragt: warum ist das der Christus, was sie als den Christus bezeichnen, da können sie eigentlich nur eine scheinbare Antwort geben und bewegen sich eigentlich in einer inneren Lüge. Eine große Anzahl der heutigen Theologen redet, weil die Evangelien allmählich mehr oder weniger zerzaust worden sind von der sogenannten Forschung, redet von dem Christus — allein, wenn man sie fragen würde: Wodurch unterscheidet sich das, was Sie in Ihren Begriffen haben als das Christus-Wesen von dem Jahve-Gotte, von dem einfachen Gotte, der die Welt durchwest und durchwellt? — sie würden keine Antwort geben können. Der große Theologe Harnack in Berlin hat ein Buch geschrieben über «Das Wesen des Christentums», aber das, was er da als das Wesen des Christus schildert, das ist der alttestamentliche Jahve, denn der hat gerade diese Eigenschaften. Und deshalb ist es eine innere Lüge, den Jahve als den Christus zu bezeichnen. Und so ist es bei Hunderten und aber Hunderten, bei Tausenden von denjenigen, die heute das Christentum predigen, daß sie eigentlich nur den Gott im allgemeinen predigen, den Gott, von dem man sagen kann «Ex deo nascimur». Den Christus hat man erst gefunden, wenn man eine Art innerer Wiedergeburt erlebt hat. Von dem Gotte, auf den man hinweist, wenn man sagt: «Ex deo nascimur», muß man reden, wenn man einfach gesund ist in seinem ganzen Menschenwesen. Atheist sein heißt in Wirklichkeit krank sein. Aber von dem Christus kann man nur reden, wenn man eine Art Wiedergeburt des seelischen Lebens erlebt hat — was nicht einfach dadurch da ist, daß man als Mensch geboren ist —, wenn man eine solche Wiedergeburt des seelischen Lebens gerade im Sinne des gegenwärtigen Menschheitszyklus erlebt hat.

Man kann das, wenn man sich sagt: Heute ist der Mensch einmal so, wie er geboren wird, notwendig mit Vorurteilen behaftet. Wir werden gar nicht anders geboren, als daß wir mit Vorurteilen behaftet sind. Das ist das Wesen des heutigen Menschen. Und bleibt der Mensch so, wie er heute geboren ist, dann trägt er die Vorurteile durch das ganze Leben hindurch. Er lebt einseitig. Man kann sich heute nur retten, wenn man innere Toleranz hat, wenn man einzugehen vermag auf die Meinungen — selbst wenn man sie für Irrtümer hält — anderer Menschen. Wenn man Verständnis, innigstes Verständnis hat für die Meinungen anderer Seelen, auch wenn man sie für Irrtümer hält, wenn man liebevoll dasjenige, was der andere denkt und fühlt, ebenso aufnehmen kann, wie dasjenige, was man selbst denkt und fühlt — eignet man sich diese Fähigkeit, diese innere Toleranz an, dann kommt man allmählich über die uns heute in unserem Menschheitszyklus angeborenen Vorurteile hinaus. Und man lernt sich sagen: Was du verstanden hast in einem der geringsten meiner Brüder, das hast du von mir verstanden — denn der Christus hat nicht nur in der Zeit gesprochen zu den Menschen, als das Christentum entstanden ist, der Christus hat sein Wort wahr gemacht: «Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Erdenzeiten.» Und er offenbart sich auch immer. Nicht nur hat er einmal gesagt: «Was ihr einem der geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan», sondern heute sagt er zu dem Menschen: Was du in einem der geringsten deiner Brüder mit innerer Toleranz verstehst, auch wenn es ein Irrtum ist, das hast du von mir verstanden, und ich werde dich die Vorurteile überwinden lassen, wenn du diese deine Vorurteile abschleifst an dem toleranten Aufnehmen desjenigen, was der andere denkt und fühlt. — Das ist das eine. Das ist mit Bezug auf das Denken der Weg, zu dem Christus zu kommen: daß der Christus einzieht, daß wir nicht nur Gedanken über den Christus haben, sondern daß der Christus in unseren Gedanken lebt. Nur auf diese Weise wird er in unseren Gedanken leben, wie ich es jetzt eben geschildert habe.

Das zweite hat Bezug auf den Willen. In der Jugend ist der Mensch zuweilen idealistisch. Es ist angeborener Idealismus. Den haben wir einfach dadurch, daß wir als Menschen geboren sind. Heute genügt er nicht in unserem Menschheitszyklus, dieser Menschheitsidealismus. Heute brauchen wir noch einen anderen Idealismus, einen solchen, den wir uns selbst anerziehen, den wir nicht einfach dadurch, daß wir Menschen sind, haben — zu dem wir uns hinbändigen. Solch einen Idealismus brauchen wir. Wir brauchen einen Idealismus, den wir uns selber erworben haben. Das ist dann der Idealismus, der auch nicht mit den Jugendjahren verschwindet, sondern der durch das ganze Leben uns jung und idealistisch erhält. Eignen wir uns einen solchen Idealismus an, den wir uns selber anerziehen, dann liegt in einem solchen Idealismus auf Grund eines jetzt nicht logischen, sondern Wirklichkeitsgesetzes, daß wir die Stoßkraft aufbringen, nicht bloß als einzelne egoistische Menschen zu handeln, sondern uns hineinzustellen in den sozialen Organismus, um in diesem sozialen Organismus drinnen zu handeln. Keiner, der sich heute nicht herbeiläßt oder der nicht erzogen wird zum selbsterworbenen Idealismus, wird wirkliches soziales Verständnis erwerben.

Das «Ex deo nascimur» erwerben wir uns dadurch, daß wir geboren werden. Der Weg zu Christus geht auf der einen Seite durch übersinnliche Gedanken, auf der anderen Seite durch den Willen. Durch den Gedanken, indem wir von vornherein überzeugt sind: wir werden heute geboren als vorurteilsvolle Menschen, wir müssen uns die Vorurteile durch das tolerante Abschleifen unserer Vorurteile an den Meinungen anderer erwerben. In bezug auf den Willensweg müssen wir sagen: unser Wille erhält heute nur das richtige soziale Feuer, wenn wir selbsterworbenen Idealismus haben, Idealismus, den wir in uns hineingetrieben haben durch eigene Tätigkeit. Das gibt Wiedergeburt. Und was wir so gefunden haben, indem wir es uns als Mensch erworben haben, das führt erst zum Christus. Nicht der Gott, dem gegenüber wir sagen: «Ex deo nascimur», darf als Christus bezeichnet werden, denn das ist eine innere Unwahrheit. Den Gott konnte auch das Alte Testament haben. Der Gott, der zu uns spricht, wenn wir uns als Menschen während unseres Lebens nach diesen zwei Richtungen, die ich bezeichnet habe, umgewandelt haben, der Gott wird von uns deutlich als ein anderer empfunden als der bloße Vatergott — das ist der Christus. — Von diesem Christus spricht die moderne Theologie eigentlich sehr wenig. Dieser Christus muß als ein sozialer Impuls in die Menschheit hineinkommen. Von dem Christus sprechen heute viele Menschen so, daß ihre Rede nichts weiter ist als eine innere Lüge.

Nun sind solche Dinge ja nicht so einzusehen, wie man heute spintisierend die Dinge einsehen will, daß sich so logisch Glied an Glied gliedert. Ich habe Ihnen neulich einmal gesagt: Es gibt ein Wirklichkeitsverständnis, das ein anderes Verständnis ist als ein bloß äußeres, logisches. Aber wenn der Mensch so etwas in sich entwickelt, wie ich es jetzt als eine Wiedergeburt bezeichnet habe, dann wird heute sein Denken in die Christus-Nähe gebracht, und er lernt so denken und empfinden, wie er denken und empfinden muß, wenn er sich heute zum Heile der Menschheit in die menschliche Gesellschaft hineinstellen soll. Er lernt nämlich dann auch über andere Sachen richtig zu denken und zu empfinden, wenn er über dieses Fundamentale richtig denkt und empfindet. Davon ist aber gerade das geistige Leben der neueren Menschheit furchtbar weit abgekommen. Und der Grund ist vielfach der, daß dieses geistige Leben der neueren Menschheit aufgesogen worden ist von dem politischen Staatsleben. Befreit werden muß das geistige Leben der Menschheit von dem politischen Staatsleben, damit es wieder fruchtbar und impulsiv werden kann für die menschliche Entwickelung. Sonst werden alle Gedanken verrenkt, und nach den verrenkten Gedanken falsche Wirklichkeiten geschaffen.

Ich habe schon einmal angeführt, wie Wilson die Freiheit definiert. Gewiß, es ist nicht besonders bedeutsam, wie heute ein Staatsmann die Freiheit definiert, wenn man auf Philosophie hält. Aber es ist bedeutsam als Symptom, was da lebt in einem Menschen, wenn er diese oder jene Gedanken über die Freiheit hat. Wilson sagt: Dasjenige, was sich innerhalb gewisser Verhältnisse so anpaßt, daß es sich frei bewegen kann, von dem sagen wir, es ist frei. Also in einer Maschine, wenn sich ein Korb frei bewegen kann, wenn er nicht da und dort anstößt, sondern sich frei bewegen kann, sagen wir, der Korb läuft frei; oder ein Schiff, das so konstruiert ist, daß es mit der Windrichtung läuft, bewegt sich frei vorwärts. Würde es gegen die Windrichtung laufen, würde es gefesselt sein, würde es nicht frei sein. So ist auch der Mensch frei, wenn er an die Verhältnisse angepaßt ist im sozialen Mechanismus. — Da kann man ja dann nur von sozialem Mechanismus sprechen.

Es hat nicht so sehr eine Bedeutung, daß solche Gedanken in einem Kopfe leben und realisiert werden, sondern daß das, was realisiert ist, in solchen Gedanken sich auslebt. Daran erkennt man, ob es gesund ist, oder ob es wider das Gesunde läuft. Der Gedanke ist ganz verrenkt. Und warum? Sie brauchen sich jetzt nur einmal mit den Empfindungen, die Sie sich aus der Geisteswissenschaft nehmen, das Folgende zu überlegen: Wenn Sie angepaßt sind — Sie können ganz gut angepaßt sein an die äußeren Lebensverhältnisse, Ihr Leben läuft im Sinne dieser Anpassung an die Verhältnisse, nirgends stoßen Sie an —, so sind Sie frei; wie ein Schiff, das mit dem Winde läuft, sind Sie frei. — Aber so steht der Mensch nicht in der ganzen Welt darinnen, er steht etwas anders in dieser Welt drinnen. Wenn nämlich das Schiff in der Windrichtung läuft, so läuft es frei — aber es muß auch einmal stehenbleiben können. Das ist gerade das, was für den Menschen sehr wichtig ist, daß er sich auch einmal umdrehen kann, um sich gegen die Windrichtung zu stellen, damit er nicht nur den Verhältnissen angepaßt ist, sondern seinem eigenen Inneren angepaßt werden kann. Man kann sich nichts toller Unrichtiges denken, als die Definition der Freiheit, die Wilson versuchte; denn sie widerspricht der Menschnatur, sie sagt das Gegenteil von dem, was der wirklichen Freiheit des Menschen zugrunde liegt. Wenn man den Menschen mit einem Schiff vergleichen will, das frei im Winde läuft, so muß man ihn vergleichen mit einem solchen Schiff, das, wenn es genug gelaufen ist, sich auch umdrehen kann, sich gegen den Wind stellen kann, damit es nun nicht weiter zu laufen braucht. Denn wenn der Mensch immer und immer den äußeren Verhältnissen nachlaufen muß, dann ist er natürlich frei für die Verhältnisse, aber er ist nicht für sich frei. Man hat den Menschen ganz verloren in der heutigen Weltbetrachtung und Lebensauffassung. Man kann gar nicht mehr auf den Menschen bauen. Der Mensch ist herausgefallen aus der Welt- und Lebensauffassung. Er muß wieder hineingestellt werden in die Welt.

Das, was ich jetzt gesagt habe, hat seine sehr, sehr ernsten Seiten; es ist nur symptomatisch erfaßt, aber es hat sehr ernste Seiten. Denn der Mensch steht heute im sozialen Organismus so drinnen, daß er eigentlich nur läuft wie das Schiff mit dem Winde, und die kapitalistische Wirtschaftsordnung, die hat es insbesondere über den Proletarier verhängt, daß er nur mit dem Winde laufen kann und sich niemals einstellen kann, auch stehenzubleiben und gegen den Wind sich zu stellen, damit er Ruhe haben kann. Ich habe im öffentlichen Vortrag in Basel gesagt: innerhalb der kapitalistischen Wirtschaftsordnung braucht der Kapitalist bloß die Arbeitskraft des Arbeiters. In dem gesunden sozialen Organismus muß die Sache so veranlagt sein, daß der Kapitalist auch die Ruhe des Arbeiters braucht, daß er angewiesen ist auf die Ruhe. Das abstrakt-kapitalistische Kapital braucht nur die Arbeitskraft — dasjenige Kapital, das durch die Dreigliederung zurückgegeben wird der rein menschlichen Stoßkraft, das wird auch die Ruhe des Arbeiters brauchen, das wird die Ruhe aller Menschen brauchen. Denn das wird sich sozial hineinstellen müssen in den sozialen Organismus, wird wissen, wie es von dem sozialen Organismus getragen wird und ihn wieder tragen muß.

Wer gesund denkt und dem geistigen Gebiete angehört, der weiß ganz gut, was das einzelne, das individuelle Leben ist; das ist eine Sache für sich, das ist keine Sache für den sozialen Organismus; er hat als solcher ein Einzelleben. Aber insofern der Mensch ein soziales Leben hat, hat er dasjenige, was er geistig ist, aus der menschlichen Gemeinschaft heraus, muß es ihr wieder zurückgeben und wird das Bedürfnis haben, es ihr wieder zurückzugeben.

Das ist es, worauf es ankommt, daß man ebenso den seine Arbeitskraft ersparenden Proletarier braucht, um ihn an dem geistigen Leben teilnehmen zu lassen; daß man den Willen hat, dem Arbeiter so viel Ruhe zu geben, so viel ersparen zu lassen von seiner Arbeitskraft, daß er herankommt, um an dem geistigen Leben teilzunehmen. Darauf kommt es an. Während die bürgerliche Wirtschaftsordnung es allmählich dahin gebracht hat, daß eine tiefe Kluft entstanden ist, wie ich schon gestern angedeutet habe: die bürgerliche Wirtschaftsordnung produziert ein Geistiges, das nur für diese bürgerliche Wirtschaftsordnung gilt, und das gar keinen Zusammenhang hat mit dem proletarischen Leben. Dazu kann man sagen: der Kapitalismus hat es dahin gebracht, nur auf die Arbeitskraft angewiesen zu sein und nicht auf die Ruhe des Proletariers. Solche Dinge scheinen heute noch abstrakt zu sein. Sie werden es nicht mehr sein dürfen. Denn von dem richtigen Verständnis dieser Dinge hängt die heilsame Entwicklung der menschlichen Gegenwart und Zukunft ab.

Nun, ich habe Ihnen heute wiederum einige Andeutungen gemacht gerade über eine Beziehung mancher geisteswissenschaftlicher Fundamentalsätze zu dem sozialen Leben. Man möchte so gern, daß gerade eine geistige Bewegung, wie es die unsrige ist, auch in sich selbst als ein kleiner sozialer Organismus gesundete an dem Durchdringen von praktischen Lebensbegriffen mit geisteswissenschaftlichen, geistig wissenschaftlichen Begriffen, damit jenes schrecklich Bürgerliche, was sich herausgebildet hat zum Unheil der Menschheit, diese Abtrennung des wirtschaftlichen, materiellen Lebens von dem geistigen Leben, damit diese ungesunde Abtrennung aufhöre. Gliedern muß sich der soziale Organismus, damit es nicht mehr Menschen gibt, die auf der einen Seite ihre Coupons abschneiden und in dem Couponabschneiden nichts anderes als Sklavenhalter sind, weil für die Coupons, die sie abschneiden, so und so viel Leute ohne Zusammenhang mit ihnen schwere Arbeit verrichten müssen, und die nachher in die Kirche gehen und zu Gott beten um ihre Erlösung, oder auf die theoretischen Versammlungen gehen, um da über alle möglichen schönen Dinge zu reden; die sich gar keine Begriffe darüber machen, welcher Unsinn darin liegt, ein abstraktes Geistesleben zu führen, einen Zusammenhang mit einem Gott zu suchen, während man auf der anderen Seite durch das Abschneiden der Coupons einfach teilnimmt am Sklavenhalten, an der Ausnützung der Arbeitskraft. In ungesunder Weise trennen Sie die Dinge, wenn Sie nicht darauf eingehen, sie in gesunder Weise zu trennen. Das ist es, worum es sich handelt, was versäumt worden ist und korrigiert werden muß: diese abstrakte Trennung, diese Installierung einer Kluft zwischen einer in Wolkenkuckucksheim schwebenden Religiosität und Ethik und dem äußeren Leben, das man gedankenlos nach der Struktur, die heute der ungesunde soziale Organismus eingenommen hat, einfach weiter treibt. Es kommt darauf an, daß man diese Dinge in der Weise durchschaut und daß man vor allen Dingen durchschaut, daß das Unglück der heutigen Zeit aus dieser bürgerlichen Trennung des Abstrakten und des Konkreten gekommen ist. Man kann schon den Anfang machen gerade in einer solchen Bewegung, wie die unsrige ist, eine Art gesunden kleinen sozialen Organismus hervorzurufen, wenn man sich bestrebt, alles dasjenige, was gerade in einer solchen Bewegung als krankhafte Bildungen sich geltend macht, das Sektiererwesen, auszutreiben. Unter nichts hat man mehr zu leiden gehabt in dieser anthroposophisch orientierten Geistesbewegung, als daran, daß immer wieder und wieder da und dort die Tendenzen zum Sektiererwesen, zu Sektenbildüngen auftauchen; ohne daß die Leute es merken, streben sie nach irgendeiner Sektiererei. Das Gegenteil von irgendwelcher Sektenbildung muß anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft sein. Dann wird sie auch den unbewußten und unterbewußten Forderungen der Gegenwart entgegenkommen, die wahrhaftig nicht darauf hinauslaufen, neue Sekten zu bilden, sondern etwas auszubilden, was aus dem ganzen Menschen für alle Menschen, und aus allen Menschen für den ganzen Menschen sich entwickelt.

Denken Sie nur einmal darüber nach, wie Sie über das innerlich Sektiererische in Ihrer eigenen Seele hinauskommen, meine lieben Freunde. Sektiererisches lebt heute wie ein Atavismus, wie eine ungesunde Erbschaft in zahlreichen Seelen. Und dieses Sektiererische beruht auf dem Unwillen, in die Verhältnisse des äußeren Lebens dasjenige hineinzutragen, was wirkliches Geistesleben ist. Nur durch solche sektiererische Schwarmgeistigkeit konnte es geschehen, daß also zum Beispiel diesem Aufruf, von dem ich Ihnen gestern gesprochen habe und den ich Ihnen vorgelesen habe, vorgeworfen wurde: gerade von dieser Seite hätte man erwartet, daß auf den Geist hingewiesen werde. Das ist mir allerdings immer passiert, daß ich niemals in dem Sinne solcher Schwarmgeister auf den Geist habe hinweisen können. Als im Anfange der neunziger Jahre von Amerika herüber sich die Adler-Unoldsche ethische Bewegung verbreitete, da habe ich mich mit aller Kraft dagegen gewendet, weil ja eine Bewegung für ethische Kultur hätte gegründet werden sollen, die auf gar nichts basierte und mit gar nichts im Leben zusammenhing, als eben nur damit, daß man ethische Grundsätze verbreiten wollte. Lebensverständnis, Verständnis des Lebens aus dem Fundamentalen dieses Lebens heraus, das ist es, was der heutigen Menschheit not tut, nicht Phrasen-Dreschen, man solle die Dinge so oder so machen. Und mit Bezug auf den sozialen Organismus ist die Dreigliederung dasjenige, über das zunächst als über etwas Fundamentales nachgedacht, nachgeforscht, nachgesonnen werden muß, was eigentlich eingehen müßte in die menschlichen Gemüter, so daß sie es so beherrschen, wie man das Einmaleins beherrscht.




Zuletzt aktualisiert: 24-Mar-2024
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