ANLAGE, BEGABUNG UND ERZIEHUNG
DES MENSCHEN
Berlin, 12. Januar 1911
Wenn wir den Blick auf das richten, was sich wie eine Art
Leitmotiv durch die bisherigen Vorträge dieses
Winterzyklus' gezogen hat, wenn wir auf jenes im Menschen
lebende Wesenhafte sehen, das wir nicht nur einmal zwischen
Geburt und Tod beobachten, sondern das wir als in wiederholten
Erdenleben daseiend voraussetzen, so wird uns die Frage nach
dem, was der Entwickelung eines Menschen in seinem einen Leben,
in einer Erdenverkörperung zugrunde liegt, als eine ganz
wesentliche insbesondere in unserer Gegenwart erscheinen. Denn
der Mensch der Gegenwart steht gewiß fragend und
forschend dem eigentümlichen In-die-Erscheinung-Treten von
Anlage, Begabung und Erziehung des Menschen gegenüber. Da
er aber wenig geneigt ist, den Bück von dem abzuwenden,
was uns da erscheint als sich in einem Leben ausgestaltend, und
auf den eigentlichen Erbauer, den eigentlichen Schöpfer im
Menschen diesen Blick hinzurichten, so werden schon die Fragen
dieses Gegenwartsmenschen leicht den Charakter der
Halbheit, der Unbestimmtheit in sich tragen. Setzt man
nämlich voraus, daß es etwas in der menschlichen
Natur gibt, was sich wie das eigentliche innerlich Belebende
durch viele Leben hindurchzieht, dann wird einem erst das ganz
Rätselhafte, ganz Fragenswerte dieses Menschenwesens
entgegentreten. Und man wird die Fragen nach Anlagen,
nach der Begabung und Erziehung in einem neuen Lichte
betrachten wollen, in einem ganz andern Lichte, als sie
betrachtet werden können, wenn man bloß im Auge
hat, was die Gegenwart so häufig betont: die
Vererbung, die von den Vorfahren vererbten Eigenschaften. Nicht
als ob die Geisteswissenschaft den Blick von demjenigen
abwenden wollte, was in solchen vererbten Anlagen sich
ausspricht, als ob sie die sorgfältigen Beobachtungen
alles dessen, was die äußeren Sinne und der auf sie
gerichtete Verstand sagen können, außer acht
ließe; aber die Geisteswissenschaft weiß, daß
dies alles sich zu dem eigentlich Wesenhaften des Menschen wie
etwas verhält, was von diesem letzteren so benutzt wird,
in sich aufgenommen wird, wie die äußere
Materie im physischen Leben aufgenommen wird von dem
kleinen Keim eines Lebewesens, der seine Form aus sich selbst
heraus bestimmt, aber dasjenige, was ihm möglich
machen soll, diese Form im äußeren Leben darzuleben
— das Substantielle, das Materielle aus seiner Umgebung
sich aneignet. So werden wir im großen und ganzen in der
Art, wie sich ein Mensch darlebt, einen Zusammenfluß
dessen zu erkennen haben, was mit seiner Geburt ins Dasein
tritt, und desjenigen, in welches das "Wesenhafte und
Individuelle des Menschen hineingebettet wird und woraus es
seine geistig-seelische Nahrung zieht.
Wenn wir zum Beispiel als Erzieher mit Aufgaben einer
Menschenseele, die ins Dasein tritt, die von Stunde zu Stunde,
von Woche zu Woche immer mehr und mehr von ihren inneren
Fähigkeiten ausprägt, wenn wir einem
heranwachsenden Menschen gegenüberstehen wie einem
heiligen Rätsel, das wir zu lösen haben, das von der
Unendlichkeit her zu uns gekommen ist, damit wir ihm die
Möglichkeiten geben, sich zu entfalten und zu entwickeln,
dann wird sich für alles, was menschliche
Verhältnisse im Dasein sind, eine ganze Summe von neuen
Aufgaben, neuen Anschauungen, neuen Möglichkeiten
überhaupt ergeben. Wir sehen also einen Menschen mit der
Geburt ins Dasein treten und setzen voraus, daß er in
einer gewissen Weise das Kernhafte seines Wesens durch seine
Geburt ins Dasein hereinbringt. Auch die äußere
Wissenschaft zeigt uns, wenn wir nicht auf Schlagworte und
Theorien, sondern auf Tatsachen sehen, wie dieser
geistig-seelische Wesenskern des Menschen auch noch nach der
Geburt am Kinde arbeitet, wie das, was uns als körperhafte
Organisation entgegentritt, sich verändert, plastisch
unter dem Einfluß des Geistig-Seelischen gebildet wird.
Auch die äußere Wissenschaft kann uns zum Beispiel
zeigen, wie das, worin wir zunächst das Werkzeug für
äußere Tätigkeiten zu sehen haben, wie das
Gehirn eine noch unbestimmte, durchaus noch plastisch bildsame
Materie beim Menschen ist, wenn er durch die Geburt ins Dasein
tritt, und wie dann das, was er sich aus dem Geistesschatze
seiner Umgebung aufzunehmen bemüht, formend und bildend
wie ein Künstler auf die plastische Masse unseres Gehirns
eindringt und sie bearbeitet. Wenn wir die Voraussetzung machen
— was ja eine Tatsache ist und in anderen
Zusammenhängen öfter erwähnt wurde —,
daß der Mensch, wenn er nach der Geburt hilflos auf eine
einsame Insel hinausversetzt würde, die Fähigkeit der
Sprache nicht erringen kann, so müssen wir sagen: Der
geistig-seelische Inhalt, der in die Sprache gekleidet an uns
von der Geburt an herantritt, ist nicht etwas, was aus dem
Inneren des Menschen herausdringt, was bloß in seiner
Anlage haftet, was der Mensch sozusagen ohne die Einflüsse
seiner geistig-seelischen Umgebung erhält, wie er etwa
seine zweiten Zähne um das siebente Jahr herum durch die
innere Veranlagung erhält, sondern die Sprache ist etwas,
was an dem Menschen arbeitet. Sie ist wirklich wie ein
Plastiker, der gleichsam das Gehirn formt. Wir können
diese Formung des Gehirns in den ersten Zeiten, ja Jahre
hindurch, auch äußerlich wissenschaftlich wohl
verfolgen. Wenn dann anatomisch, physiologisch
nachgewiesen wird: die Sprachfähigkeit des Menschen, das
Gedächtnis für gewisse Sprachvorstellungen sei an
dieses oder jenes Organ gebunden, jedes Wort sei
gleichsam aufgehoben wie ein Buch in der Bibliothek, so
dürfen wir auf der anderen Seite fragen: Was hat das
Gehirn erst dazu geformt? Und wir können antworten:
Dasjenige, was als Geistig-Seelisches in dem Sprachschatz der
Umgebung des Menschen da war.
Das
zeigt uns, daß wir beim Menschen in bezug auf seine ganze
Seelenentwickelung alles, was er in seinen Gedanken,
Vorstellungen und Empfindungen erlebt — auch in seinen
Willensimpulsen und Gefühlen, was sozusagen bloß
innerliches Erleben bleibt-, von etwas anderem
unterscheiden müssen, was so innerliches Erleben
bleibt, daß es eingreift in die äußere physische
Organisation, dieselbe plastisch gestaltet und erst zum
Werkzeuge macht für zukünftige
Geistesfähigkeiten oder zukünftiges
geistig-seelisches Leben. Das können wir ganz anschaulich
am besten sehen, wenn wir eine Fähigkeit des
Menschen durch sein Leben hindurch verfolgen, die ganz
verschiedene Seiten zeigt, obwohl diese verschiedenen Seiten
von der äußeren Seelenwissenschaft mehrfach
zusammengeworfen wurden: wenn wir unser
Gedächtnis verfolgen.
Wenn wir uns etwas durch das Gedächtnis aneignen, wenn wir
memorieren, so eignen wir uns dies durch die Mittel an, von
denen eines der hauptsächlichsten die Wiederholung
ist. Wir haben es dann zu unserem Eigentum gemacht, können
es von uns geben. Nun kennt jeder eine mißliche Sache: das
Vergessen. Denn die Dinge vergessen sich wieder, schwinden so
aus unserem Gedächtnis, daß wir nicht wieder imstande
sind, sie in einer späteren Zeit zu reproduzieren. Oder
können Sie sich nicht erinnern, wieviel Sie in Ihrer
Jugend haben auswendig lernen und hersagen müssen, und
wieviel Sie jetzt davon nicht mehr auswendig hersagen
können? Aber schwindet denn wirklich alles, was wir
gedächtnismäßig aufgenommen haben?
Wir
wollen jetzt nur das betrachten, wovon der Mensch später
sagt: ich habe es vergessen, — was er also nicht mehr
heraufholen kann, so daß er es reproduzieren kann. Ist es
gar nicht mehr da? Es ist auf eine ähnliche Weise da wie
etwas, was wir auch schon erwähnt haben, was im normalen
Menschenleben immer vergessen wird: wie die wunderbaren,
reichen ersten Erlebnisse der Kindheitsjahre vergessen werden.
Bis zu einem gewissen Zeitpunkt erinnern wir uns im normalen
Menschenleben nur zurück. Vor diesem Zeitpunkt aber
haben wir unendlich viele Eindrücke gehabt. Wer würde
das nicht zugeben, wenn er wirklich unbefangen die Entwickelung
eines Kindes in den ersten Lebensjahren beachtet. Aber es ist
in dem Sinne vergessen, wie wir gewöhnlich von
vergessen sprechen. Ist es aber gar nicht da? Spielt es
gar keine Rolle mehr in der Menschenseele? Ja, es spielt eine
bedeutende Rolle in der Menschenseele. Denn wie die ersten
Kindheitseindrücke sind, ob wir Freudiges oder Trauriges
erleben, Liebe oder Gleichgültigkeit, diese oder jene
äußeren Eindrücke, davon hängt unendlich
mehr, als der Mensch im späteren Leben vermag, von der
Gesamtstimmung und der gesamten Verfassung seiner Seele
ab, als man gewöhnlich annimmt. Wichtiger ist es, was man
in den ersten Jahren vergessen hat, was uns formt und bildet im
Seelenwesen, als gewöhnlich zugestanden wird. So ist es
auch mit dem, was wir später lernen, wir vergessen es dem
Wortlaut, dem Gedanken nach, aber es bleibt in uns als eine
gewissen Seelenstimmung zurück. Wenn zum Beispiel ein
Mensch in einem gewissen Alter Balladen gelernt hat oder andere
Dichtungen von großen Helden mit ganz bestimmten Aufgaben,
ganz bestimmten Eigenschaften, so mag er die Gedanken, die
Begebenheiten und so weiter vergessen, so daß er sie nicht
wieder reproduzieren kann; zurück bleibt aber, was er
gelernt hat, im Gefüge seines eigenen Charakters
vielleicht als Seelenstärke, als eine Art, sich zum Leben
zu stellen und Lust und Leid an sich herankommen zu lassen. Zu
Stimmungen, Gefühlswerten, ja zu Willensimpulsen, zu dem,
was mehr oder weniger nicht bewußt in unserem Seelenleben
ruht, was aber in uns schafft und formt, wird das, was wir
vergessen. Nur manchmal zeigt es sich durch ganz bestimmte
Vorgänge im späteren Leben, daß ein so
Vergessenes doch nicht ganz vergessen ist, daß sich der
Mensch, wenn man nämlich die gehörigen Anstalten
trifft und ihm etwas Verwandtes vor die Seele bringt, dann doch
an etwas Vergessenes erinnert, so daß man nachweisen kann,
daß sich nur etwas wie eine Decke in unterbewußten
Schichten seines Seelenlebens darübergeschoben hat,
daß es aber doch in ihm vorhanden ist. So sehen wir
förmlich, wie das, was wir vergessen, was uns aus dem
Gedächtnis schwindet, bildend und gestaltend an
unserer Seele schafft und sich dann an unserer Stimmung Lust
und Leid gegenüber zeigt, an unserm Mut, an unserer
Tapferkeit oder Feigheit oftmals, oder auch an unserer
Furcht und Angst dem Leben gegenüber. Was wir so gleichsam
aus dem Gedächtnisschatze in das Unterbewußtere
heruntersinken sehen, wird dann schöpferisch an unserer
Seele selber. Wir sind es im Grunde genommen selbst, was die
Dinge, die wir vergessen haben, aus uns gemacht haben. Denn was
ist der Mensch im Konkreten anderes, als die Art,
wie er sich freuen, tapfer sein kann und so weiter! Wenn
wir den Menschen nicht abstrakt, sondern ganz konkret ins Auge
fassen, müssen wir sagen: Er ist das harmonische
Ineinanderweben und Ineinanderspielen seiner Eigenschaften, so
daß der Mensch selber von dem bedingt wird, was in tiefere
Schichten seines Bewußtseins herunterfließt.
Das sehen wir während des Lebens.
Aus
allem, was bisher berücksichtigt wurde und was noch
angeführt werden soll, kann hervorgehen, daß
dasjenige, was so geistig-seelisch in tiefere Schichten sinkt,
dann noch tiefer sinkt, wenn der Mensch durch die Pforte des
Todes schreitet. Denn jedesmal, wenn der Mensch durch das, was
er aufnimmt, an seiner äußeren physischen
Organisation formen will im Leben, findet er in diesem Leben
schon eine bestimmte Organisation vor. Die ist so oder so
beschaffen, mit diesen oder jenen Anlagen kommt er ins Leben
herein. Dagegen muß anstürmen, was in unserer Seele
schöpferisch ist. Nehmen wir an, durch das, was wir in uns
aufnehmen, könnte eine Eigenschaft der Tapferkeit in uns
herangebildet werden. Wenn wir aber eine Organisation haben,
die sich mehr zum Hasenfuß als zum tapferen Menschen
eignet, so müssen wir mehr oder weniger gegen etwas
anstürmen, was wir im Leben von unserer Organisation
haben. Und wenn wir die Zeit zwischen dem Tode und einer neuen
Geburt durchmachen, so liegt das Wesentliche dieser
menschlichen Entwicklung darin, daß wir uns das Urbild,
die Urgestalt unseres neuen physischen Leibes, unserer neuen
physischen Erdenorganisation vorbilden. Da haben wir keine
solchen Grenzen und Widerstände, wie sie sich unserer
Organisation im Leben zwischen Geburt und Tod darbieten, da
bauen wir plastisch mit dem, was wir uns im Leben erworben
haben, die Grundlage, die Grundkräfte für eine neue
Körperlichkeit innerhalb weiterer Grenzen auf, als
es zwischen Geburt und Tod der Fall ist. Daher dürfen wir
sagen: Was so an vergessenen Vorstellungen während des
Lebens zwischen Geburt und Tod nur an unserer Seele arbeitet,
das arbeitet, wenn wir durch die Pforte des Todes schreiten,
bis zur Zeit der Wiederverkörperung an der Gestaltung
unserer nächsten Organisation, arbeitet sich selbst
in das hinein, was mit unserer neuen Leibesorganisation
zusammenhängt; so daß wir durch die Geburt mit
solchen Anlagen zum neuen Dasein schreiten, die in noch tiefere
Schichten unseres Wesens heruntergehen als die vergessenen
Vorstellungen im Leben zwischen Geburt und Tod.
Aus
alledem wird es durchaus verständlich sein, daß der
Mensch, weil er aus dem Leben, aus der unmittelbaren
Umgebung die Ursachen zur Organisation einer neuen
Körperlichkeit hergeholt hat, in der Tat auch
dieselben Bedingungen in einer gewissen Weise wieder
braucht. Anders ist es beim Tier, das seine Organisation, wie
wir aus den Betrachtungen über «Menschenseele und
Tierseele» und «Menschengeist und Tiergeist»
gesehen haben in der Vererbungslinie bestimmt hat. Da
tritt das Tier mit den ganz bestimmten, plastisch sich
gestalten wollenden Tendenzen auf, weil die Tendenzen
nicht aus der Umgebung des Tieres genommen sind. Bedenken wir,
wie wenig das Tier durch die Erziehung, durch die Dressur sich
aus der äußeren Welt aneignet, hereinnimmt, wie
wenig es daher einen Schauplatz braucht, der in der
äußeren Welt liegt, um das wieder herauszubringen,
was an Bildungsprinzipien hereingenommen ist. Der Mensch
aber braucht einen solchen Schauplatz. Daher tritt er
ungeschickt in die Welt, tritt so in die Welt, daß wir
auch da nur wieder die letzte Hand anzulegen haben an die
feinere Ausgestaltung seiner Organisation. Daher das
Leben und Weben der Individualität des Menschen, seiner
eigentlichen Grundwesenheit, in den ersten Jahren seines
Daseins! Daher tritt plastisch bestimmbar, formbar sein
Geistesorgan, das Gehirn, ins Dasein, und wird daher im Grunde
genommen erst nach der Geburt mit den letzten entscheidenden
Bahnen, Linien und Richtungen versehen, wie sich die
Anlagen ausleben sollen.
Daraus sehen wir, wie das, worauf es in der Entwickelung
ankommt, als ein von früheren Daseinsstufen
Herüberkommendes zu betrachten ist, und daß es
daher weniger darauf ankommen wird, bestimmte, eigensinnige
Erziehungsprinzipien zu haben, als darauf, jedes einzelne
Menschenwesen, jede Individualität als ein Problem, als
ein heiliges Rätsel zu betrachten, das zu lösen ist,
und daß es an uns ist, die Gelegenheiten herbeizuschaffen,
damit dieses Rätsel in der möglichst besten Weise
gelöst werden kann. Unbequem ist eine Erziehung, die
überhaupt keine festen Grundsätze aufstellen
kann, sondern die an ein dem Künstlerischen
verwandtes Prinzip in dem Erzieher appellieren muß,
um zu beobachten, was da aus der Wesenhaftigkeit des Menschen
herauskommt, unbequemer ist es, als wenn man
reglementmäßig sagt: so oder so sind diese oder
jene Fähigkeiten zum Ausdruck zu bringen. Aber nur dann
stehen wir mit der rechten Gesinnung dem heranwachsenden
Menschen gegenüber, wenn wir ihn in jedem einzelnen Falle
als eine Individualität, als etwas Besonderes für
sich betrachten. Wenn man allerdings die Dinge durchaus trivial
nehmen will — manche Leute haben schon einmal die
Begabung, alles trivial zu nehmen —, kann man ja sagen:
Individualität zeigt sich nicht nur beim Menschen, sondern
auch bei einem jeglichen Tier. Gewiß zeigt sie sich. Das
wird aber auch keiner leugnen, der aus den Grundlagen der
Geisteswissenschaft heraus spricht. Ich habe oft gesagt:
wenn man in diesem Sinne von Individualität spricht,
muß man genauer darauf eingehen, muß sich bewußt
sein, daß, wenn man die Sachen trivial nehmen will, man
auch von der Biographie und der Individualität der
Schreibfeder sprechen kann. Ich kannte einen Mann, der —
weil zu seiner Zeit noch die Schreibfedern aus Gänsekielen
geschnitten wurden — schon unterscheiden konnte zwischen
den Schreibfedern, denn da sich jeder seine Feder selbst
zurechtschnitt, so bekam sie immer ein persönliches
Verhältnis zu ihm, und da der Betreffende eine
ausgezeichnete Phantasie hatte, so hätte er sehr wohl eine
Biographie jeder einzelnen Schreibfeder mit allen Einzelheiten
schreiben können. Beim Menschen aber handelt es sich nicht
darum, den Maßstab der Trivialität anzulegen, sondern
den Maßstab, der aus den Tiefen der Erkenntnis
herausgeholt ist.
Nun
können wir — da sich gerade durch solche
Betrachtungen die Art und Weise herausstellt, wie der
Mensch, seine eigentliche Wesenheit formend und gestaltend,
seine Äußerlichkeit, seine äußere
Organisation plastisch bildet und darin seine eigentliche
Wesenheit darlebt — an diesem Darleben wieder
sehen, wie es in den ersten Jahren geschieht und sich mit der
Entwickelung des Menschen umbildet, umgestaltet und, was
es aus der Umgebung aufnehmen kann, benützt. Da
finden wir in den ersten Lebensjahren des Menschen von ganz
besonderer Wichtigkeit, daß wir ihm sozusagen seine
Fähigkeiten erhalten, plastisch, bildsam einzugreifen in
seine körperliche oder leiblich-seelische
Organisation, und daß wir ihm nicht die
Möglichkeit, plastisch einzugreifen, versperren. Am
meisten versperren wir einem Menschen diese Möglichkeit,
wenn wir ihn zu früh mit Begriffen und Ideen
vollpfropfen, die sich nur auf eine äußere
Sinnlichkeit beziehen und welche die strengsten Konturen haben,
oder wenn wir ihn auf eine Tätigkeit festnageln, die
theoretisch in ganz bestimmte Formen eingeschnürt ist. Da
ist keine Variabilität, keine Modifikation, auch keine
Möglichkeit, die geistig-seelischen Fähigkeiten
herauszubilden, wie sich die Seele von Tag zu Tag, von Stunde
zu Stunde betätigt. Nehmen wir an, ein Vater wäre ein
furchtbar eigensinniger Mensch, der sich zum Prinzip gemacht
hat: Mein Junge muß so werden, wie ich war! Ich habe mein
ganzes Leben hindurch die Schuhe so gemacht für
meine Kundschaft, und so muß mein Junge seine Schuhe auch
machen! Wie ich denke, so muß mein Junge auch denken!
— Da wird in die Umgebung dieses Jungen ein
geistig-seelisches Gefüge gebracht, das so an seiner
geistig-seelischen Organisation arbeitet, wie am Vater
gearbeitet worden ist, und der Junge wird dadurch in ganz
bestimmte Formen hineingezwängt, während es sich
darum handeln sollte, die Individualität, die ins Dasein
tritt, zu erforschen, um nach der daraus gewonnenen Erkenntnis
die geistig-seelische Organisation zu formen.
Der
Erzieher-Instinkt der Menschheit hat schon durch das allgemeine
Bewußtsein ein wunderbares Mittel geschaffen,
wodurch der Mensch in den ersten Jahren in die
Möglichkeit versetzt wird, an dem
Veränderlichen, Modifizierbaren, Beweglichen des
Geistig-Seelischen zu arbeiten, so daß freier Spielraum
für die Ausgestaltung des Menschenwesens gelassen
wird. Das ist das Spiel. Das ist auch die Art und Weise, wie
wir ein Kind am besten beschäftigen, daß wir ihm
nicht Begriffe geben, die in feste Konturen
geschnürt sind, sondern solche, die dem Gedanken
Spielraum lassen, so daß er da oder dorthin abirren kann.
Nur dann findet man den Lauf des Gedankens, der vorbestimmt ist
durch die innere Anlage. Erzähle ich ein Märchen, so
daß es die geistige Tätigkeit des Kindes anregt,
daß nicht sich Begriffe in bestimmten Konturen ausbilden,
sondern daß es die Konturen der Begriffe beweglich
läßt, dann arbeitet das Kind so, wie jemand arbeitet,
der probiert und durch das Probieren das Rechte
herauszubekommen sucht. Das Kind arbeitet, um herauszubekommen,
wie seine Geistigkeit sich bewegen muß, damit es in der
besten Weise seine Organisation herausgestaltet, wie sie
innerlich vorgebildet ist. Und so ist es beim Spiel. Das Spiel
unterscheidet sich von der in feste Formen geprägten
Tätigkeit dadurch, daß man in einem gewissen Grade
doch machen kann, was man will, wenn man spielt, daß man
nicht von vornherein scharfe Konturen in den Gedanken und
Beweglichkeiten der Organe hat. Dadurch wird wieder in
einer freien, bestimmbaren Weise auf die
geistig-seelische Organisation des Menschen zurückgewirkt.
Spiel und die eben charakterisierte geistig-seelische
Betätigung für das Kind in den ersten Jahren
entspringen einem tiefen Bewußtsein dessen, was die Natur
und Wesenheit des Menschen eigentlich ist. Wer ein wirklicher
Erzieher werden will, wird auch für die späteren
Jahre durchaus das Bewußtsein haben, daß in der Tat
jede einzelne Fähigkeit sozusagen zuerst studiert,
erkannt, bestimmt werden will an dem sich
herausentwickelnden Menschen. Aber es gibt doch die
Möglichkeit, gewisse große Grundsätze zu
beobachten. Solche Grundsätze führen uns dann erst
auf die Art, wie der Wesenskern des Menschen, der von Geburt zu
Geburt geht, sozusagen das Äußere verwendet, das in
der Vererbungslinie liegt.
Da
ist es von höchstem Interesse, den Blick hinzulenken auf
die Art, wie der geistig-seelische Wesenskern des Menschen in
ganz verschiedener Weise die Merkmale, die Eigenschaften,
Tugenden und so weiter von Vater und Mutter, von den
väterlichen und mütterlichen Vorfahren benützt,
um ein Neues aufzubauen. Und in der Tat: nicht in gleicher
Weise werden die väterlichen und mütterlichen
Eigenschaften von dem individuellen Wesenskern des Menschen
benützt, sondern da liegt ein ganz bestimmtes Gesetz
zugründe. Gerade dieses Gesetz ist unendlich
lehrreich. Wenn wir versuchen, es in seiner
Vollständigkeit zu fassen, um es zu durchschauen, so
müssen wir darauf sehen, wie in der menschlichen Seele
zweierlei sich geltend macht. Das eine ist die
Intellektualität, zu der wir jetzt auch die Fähigkeit
rechnen wollen, in Bildern, in Vorstellungen schneller oder
langsamer, gescheiter oder dümmer zu denken. Das andere
ist die allgemeine Richtung des Willens und Gefühles, der
Affekte, das Interesse, das wir an unserer Umgebung
nehmen. Die ganze Art und Weise, wie wir imstande sind,
etwas zu leisten, hängt davon ab, ob wir einen beweglichen
oder einen langsamen, einen stumpfen oder einen in die Dinge
dringenden Geist haben, ob wir scharfsinnig sind oder nicht.
Was der Mensch den Mitmenschen leisten kann und wie wir das
leisten, hängt davon ab, ob wir im rechten Sinne unsere
Interessen mit dem zu verbinden verstehen, was in unserer
Umgebung vorgeht. Manche Menschen haben gute Vorbedingungen,
aber sie haben an den Mitmenschen und an der Umwelt wenig
Interesse. Da liegt die Tatsache vor, daß das Interesse
nicht die Fähigkeiten herauslockt. Daher ist es
nötig, daß das Interesse in uns ebenso beachtet werde
wie das, ob uns die Beweglichkeit unserer Intellektualität
gestattet, dieses oder jenes für unsere Mitwelt zu
leisten.
Für die ganze Art des Interesses nun, womit wir auch
verbunden denken können die Art und Weise, wie die
Begierden des Menschen, wie die äußere
Handhabung des ganzen Lebens sich gestaltet, wie der Mensch
geschickt oder ungeschickt sich entwickelt, kurz, die ganze Art
und Weise des seelischen Lebens, die mit unserem Umgang mit der
Außenwelt, mit unserem größeren oder geringeren
Interesse und mit unserer Geschicklichkeit für die
Außenwelt zusammenhängt — dafür entnimmt
der Mensch die wichtigsten Elemente in der Erbschaft von
dem Vater, so daß die Interessen und was aus den
Interessen uns geschickt, fähig macht, unsere Organe,
unseren ganzen Menschen zu gebrauchen, in der Regel
Erbgut vom Vater ist. Die Seele nimmt also vom Vater die
entsprechenden Elemente, damit sie jene
Eigenschaften in sich ausbilden kann. "Was dagegen
intellektuelle Beweglichkeit ist, womit dann auch
Phantasietätigkeit, bildhaftes Vorstellen, Erfindergabe
verbunden ist, nimmt unsere durch die Geburt ins Dasein
tretende Individualität als Erbstück: von den
mütterlichen Eigenschaften. Sie finden schon bei
Schopenhauer in einer gewissen Weise dieses
außerordentlich interessante Kapitel etwas angedeutet; er
hatte eine Ahnung davon, war aber nicht in der Lage, auf die
tieferen Dinge dabei hinzuweisen.
Wir
dürfen aber auf der anderen Seite noch etwas anderes
sagen. Was im Vater als die Art und Weise lebt, wie er sich zu
den Dingen verhält, was er für Interesse, für
Begierden gegenüber den Dingen hat, wie er verlangt,
wünscht, will, ob er ein Mensch ist, der tapfer in die
Lebensverhältnisse eingreift oder der kleinmütig
zurückweicht, ob er pedantisch oder großmütig
ist, also die Eigenschaften, die mit den Willensimpulsen
zusammenhängen, finden wir in einer gewissen Weise vom
Vater entlehnt. Alles dagegen, was Beweglichkeit der Seele, der
Intellektualität ist, finden wir von der Mutter
übergehend. — Nun zeigt sich aber ein interessanter
Unterschied, der nur beobachtet werden kann, wenn man auf den
ganzen Umfang des Lebens eingeht. Dann werden Sie auch die
Belege dafür überall finden. Nämlich in bezug
auf das Geschlecht zeigt sich dabei ein gewaltiger Unterschied.
Man darf sagen: Für einen Sohn ist im Grunde genommen ganz
wunderbar das Verhältnis zu Vater und Mutter in den
Goetheschen Worten geschildert: «Vom Vater hab ich die
Statur, des Lebens ernstes Führen», das heißt
alles, was sich auf den Verkehr des Menschen mit der
äußeren Welt bezieht — «vom
Mütterchen die Frohnatur, die Lust zu fabulieren»,
das heißt die ganze Art und Weise des geistigen Lebens.
Sehen wir aber jetzt auf die Tochter, so zeigt sich in einer
ganz merkwürdigen Weise, daß die
väterlichen Eigenschaften bei der Tochter so auftreten,
daß sie nun um eine Stufe aus der Natur der Willensimpulse
heraufgehoben sind, aus der Natur, die sich mehr ausspricht in
dem Verkehr mit der Umgebung — in das Seelische. Daher
kann man von einem Vater — das gilt natürlich nur
bei gleichen Umständen —, der überall tapfer
zugreift, der reges Interesse für dieses oder jenes hat
und damit in dem Verkehr mit der Umgebung einen gewissen
Ernst auslebt, diese Eigenschaften von der
Individualität der Tochter so übernommen
finden, daß sie ins Seelische heraufgehoben sind, daß
eine Tochter da ist mit einem ernsten seelischen Leben, mit
einem ins Seelische umgesetzten Charakterleben des
Vaters, die beweglicher macht, was vielleicht beim Vater
schwerflüssig ist, so daß die wichtigsten
Eigenschaften, die uns beim Vater mehr äußerlich
entgegentreten, bei der Tochter sich mehr verinnerlicht
zeigen.
Daher können wir sagen: Die Charaktereigenschaften des
Vaters leben weiter in dem Seelischen der Tochter, die
seelischen Eigenschaften der Mutter, die Regsamkeit des
Geistes wie auch Talente und Fähigkeiten, die man
ausbilden kann, leben in dem Sohne weiter. Die Mutter Goethes,
die alte Frau Rat, war eine Frau, die fabulieren konnte, bei
der die Phantasie in der wunderbarsten Weise funktionierte. Das
ging bei dem Sohn um eine Stufe herunter, wurde Anlage,
Organisation, so daß der Sohn Goethe die Fähigkeit
hatte, das der Menschheit zu geben, was in der Mutter lebte. So
sehen wir, wie die mütterlichen Eigenschaften bei den
Söhnen um eine Stufe heruntergeführt werden, so
daß sie zu Organfähigkeiten werden, während die
väterlichen Eigenschäften von den Töchtern
um eine Stufe hinaufgeführt werden, so daß sie uns
verinnerlicht, verseelischt entgegentreten. Dafür
ist vielleicht nichts charakteristischer als der schöne
Gegensatz Goethes zu seiner Schwester Cornelia, die nun ganz
der alte Rat war, die verinnerlicht, verseelischt eine stille,
ernste Natur war und daher dem Dichter schon in der Knabenzeit
das sein konnte, was er brauchte: ein außerordentlich
guter Kamerad. Berücksichtigen Sie das nun und betrachten
Sie, wie Goethe nach seiner Beschreibung kein
günstiges Verhältnis zu seinem Vater gewinnen konnte.
Das war aus dem Grunde, weil die väterlichen Eigenschaften
veräußerlicht waren beim alten Herrn Rat. Was Goethe
brauchte, waren schon diese Eigenschaften, aber er konnte sie
so nicht verstehen, wie sie bei seinem Vater vorhanden waren.
Da waren sie richtig. Zur Seele geworden lebten sie in seiner
Schwester, die ihm deshalb ein so guter Kamerad sein
konnte.
Gehen Sie nun mit mir durch die Geschichte, so werden Sie
sehen, wie ein jeder Schritt das Gesagte bestätigt, und
wie man überall dort, wo man Hindeutungen hat, historisch
eine Bestätigung einer solchen Sache geben könnte.
Die schönste Bestätigung in dieser Beziehung haben
wir von der Mutter der Makkabäer, die mit einer heroischen
Größe ihre Söhne für das, was sie glaubt
und was ihre Väter glaubten, dem Tode entgegengehen
läßt mit den großen, schönen Worten:
«Ich habe euch die äußere Körperlichkeit
gegeben; der aber, der Welt und Menschen geschaffen hat, hat
euch gegeben, was ich euch nicht geben konnte, und der wird
dafür sorgen, daß ihr es wieder erhaltet, wenn ihr es
um eures Glaubens willen verliert!» Wie oft wird uns in
der Geschichte gerade das mütterliche Element vorgehalten:
von der Mutter Alexanders und der Gracchen-Mutter bis in unsere
Zeit herein, wenn wir sehen, wie Eigenschaften im Menschen
auftreten, daß dieser Mensch fähig ist, auf die
Umwelt zu wirken, daß er die Kräfte und Talente und
auch die leiblich-seelische Organisation dafür hat. Da
könnten wir überall — wo wir wollten —
die Geschichte bedeutender Männer aufschlagen:
überall werden wir die mütterlichen Eigenschaften so
übersetzt finden, daß sie um eine Stufe weiter
heruntergeschritten sind, daß sie Fähigkeiten
geworden sind, die ins Leben hineingestellt sind. Nehmen
wir das Beispiel von Bürgers Mutter und seinem
Vater, von dem er auch die 1Willenseigenschaft
geerbt hatte. Mit dem Vater hatte er im Grunde genommen wenig
gemein; der Vater war froh, wenn er nicht nötig hatte,
sich um die Entwickelung des kleinen Knaben zu kümmern;
die Mutter aber hatte einen wunderbar beweglichen Geist, sie
war es, die grammatisch und stilistisch den richtigen Ausdruck
besaß. Das war wieder nötig für den
Dichter; diese Eigenschaften übernahm er von der
Mutter, und die ergaben sich eben, weil er der nächsten
Generation angehörte. Oder denken wir an Hebbel,
wie er zu seinem Vater stand. Wer den Dichter Hebbel genauer
kennt, wird in all dem herben Eigenartigen und Eigensinnigen
der Interessen schon einen Nachklang fühlen auch von dem
väterlichen Erbteil. Der alte Maurermeister Hebbel hat
schon vieles in dieser Beziehung auf seinen Sohn vererbt.
Aber verstanden haben sich der Sohn und die Mutter, und die
Mutter war es, die den Sohn davor behütete, daß
Hebbel, statt später seine Dramen der Menschheit zu geben,
in seinem Geburtsorte ein Maurermeister geworden wäre. Es
ist rührend zu lesen, wie Hebbel selber in seinen
wunderbaren Tagebüchern erzählt, was ihn mit
seiner Mutter verband.
Diese Beispiele könnten ins Unendliche vermehrt werden.
Wir dürfen aber durchaus nicht — weil wir am Leben
zu beobachten glauben, daß uns da oder dort ein anderes
entgegentritt — daraus den Schluß ziehen,
daß die Dinge falsch sind. Das wäre ebenso, wie wenn
jemand sagte: Die Physiker beweisen uns das Fallgesetz;
ich werde ihnen nun, indem man allerlei Vorrichtungen anbringt,
beweisen, daß man das Gesetz beeinträchtigen kann!
— Gesetze sind aber nicht dazu da, daß wir jeden
Umstand berücksichtigen, sondern das im Auge haben,
was in Frage kommt. So müssen wir es in der
Naturwissenschaft, so müssen wir es in der
Geisteswissenschaft machen. Nur ist die Geisteswissenschaft
heute noch nicht weit genug, um in derselben Weise
vorzugehen. Wenn man das berücksichtigt, wird man
das genannte Gesetz von dem väterlichen und
mütterlichen Erbgut überall bestätigt finden
können. Man wird aber, wenn man auf das Ganze des Menschen
sieht, sich klar sein müssen, daß das, was wir die
menschliche Seele nennen, und was sich auslebt in der ganzen,
auch leiblich-seelischen Organisation des Menschen,
nichts Einfaches ist. Man kann ja wieder rückhaltlos den
Willen zur Trivialität haben und sagen: Warum habt ihr
Anthroposophen durchaus den Spleen, in der Seele drei
Seelenglieder und gar viele Glieder in der menschlichen Natur
zu unterscheiden? Ihr redet da von einer Empfindungsseele, von
einer Verstandesseele und von einer Bewußtseinsseele. Es
wäre doch viel einfacher, von der Seele als einer
einheitlichen Wesenheit zu sprechen, in der gedacht, empfunden
und gewollt wird. — Einfacher ist es gewiß, bequemer
— und trivial auch. Aber das ist auch zugleich etwas, was
die wissenschaftliche Betrachtung des Menschen nicht in
Wahrheit fördern kann. Denn nicht aus der Sehnsucht,
einzuteilen und viele Worte zu machen, entspringt die
Gliederung der menschlichen Seele in Empfindungsseele,
das heißt in denjenigen Teil, der zunächst mit der
Umgebung in Verbindung tritt und die Wahrnehmungen und
Empfindungen von außen erhält, in dem sich auch die
Begierden und Instinkte entwickeln, und der dann von dem Teil
zu trennen ist, in dem schon in einem gewissen Sinne das
Gewonnene verarbeitet ist. Unsere Empfindungsseele bringen wir
in Tätigkeit, indem wir der Außenwelt
gegenüberstehen, von ihr Farben- und
Toneindrücke empfangen, aber auch auftauchen lassen,
was wir als normale Menschen zunächst nicht in der Hand
haben: unsere Triebe, Begierden und Leidenschaften. Wenn wir
uns aber zurückziehen und das, was wir durch die
Wahrnehmungen und so weiter aufgenommen haben, in uns
verarbeiten, so daß das durch die Außenwelt in
uns Angeregte sich zu Gefühlen umformt, dann leben wir in
dem zweiten Seelengliede, in der Verstandes- oder
Gemütsseele. Und insofern wir unsere Gedanken lenken
und leiten und nicht am Gängelbande geführt werden,
leben wir in der Bewußtseinsseele.
In
der «Geheimwissenschaft» oder in der
«Theosophie» werden Sie sehen, daß die drei
Seelenglieder noch viel mehr Beziehungen haben — in
anderer Art — zu dem, was in der Außenwelt ist,
nicht weil wir an der Einteilung Freude haben, sondern weil
das, was wir Empfindungsseele nennen, in ganz anderer Weise zum
Kosmos zugeordnet ist als das, was wir Bewußtseinsseele
nennen.
Die
Bewußtseinsseele ist es, die den Menschen isoliert, die
ihn sich so recht als ein innerlich geschlossenes Wesen
empfinden läßt. Was wir Verstandesseele nennen,
bringt ihn zu der Umgebung und zum ganzen Kosmos in Beziehung,
dadurch ist er ein Wesen, das wie ein Extrakt, wie ein
Zusammenfluß der ganzen Welt erscheint. Durch die
Bewußtseinsseele lebt der Mensch in sich, isoliert
sich. Das Hauptsächlichste, was man in der
Bewußtseinsseele erlebt, ist das, was man am
spätesten unter seinen Anlagen als Mensch zur Entwickelung
bringt: die Fähigkeit des logischen Denkens,
daß wir Meinungen, Gedanken und so weiter haben. Das ruht
in der Bewußtseinsseele. In bezug auf diese
Eigenschatten ist der individuelle Wesenskern des
Menschen, der durch die Geburt ins Dasein tritt, in der Tat am
meisten zur Isolierung veranlagt. Dieser innerste Wesenskern
arbeitet sich am spätesten beim Menschen heraus.
Während seine Umhüllung, seine leibliche Organisation
sich am frühesten herausschält, schält sich
seine eigentliche Individualität am spätesten heraus.
Aber wie der Mensch gegenwärtig ist — er war in der
Vergangenheit anders und wird in der Zukunft anders sein
—, entwickelt er in der Tat seine Meinungen, Begriffe,
Vorstellungen in dem isoliertesten Teil seines Wesens. Diese
haben daher am wenigsten auf den ganzen Aufbau und die
Ausgestaltung seiner Gesamtpersönlichkeit Einfluß und
kommen auch erst als Anlage heraus, wenn die
Gesamtpersönlichkeit fest gestellt, plastisch gebildet
ist.
Da
sehen wir, wie die Begabung des Menschen in einer bestimmten
Reihenfolge sich entwickelt. Wir sehen zunächst auftreten,
was in dem wenigst isolierten, abgesonderten Element des
Menschen, in der Empfindungs- oder Triebseele lebt. Das
hat aber dafür auch die größte Kraft, in die
ganze menschliche Organisation einzugreifen. Daher können
wir sehen, wie wir am wenigsten mit Meinungen, Theorien,
Ideen an das Kind herankommen, wenn diese
Empfindungsseele am intensivsten von innen heraus
gestalten will. Wir können nur dann an das Kind
herankommen, wenn wir auf die Empfindungsseele wirken lassen
— dargestellt in meiner Schrift «Die Erziehung
des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft»
—, worauf man besonders in den ersten Lebensjahren zu
sehen hat, daß nicht Theorien, Lehren entwickelt werden,
sondern daß das Kind zur Nachahmung angehalten
wird, daß man ihm vorlebt, was es nachleben soll. Das ist
von unendlicher Wichtigkeit, weil dieser Nachahmungstrieb als
eine der allerersten Anlagen auftritt, auf die man wirken kann.
Die Ermahnungen und Lehren wirken in dieser Zeit am wenigsten.
Was das Kind sieht, das macht es nach, weil es sich so bildet,
wie es sich in Gemäßheit seines Zusammenhanges mit
der Außenwelt bilden muß. Wir legen den ersten
Grundstock für das ganze persönliche Wesen des
Kindes, wenn wir ihm in den ersten sieben Jahren vorleben, was
es nachleben darf, wenn wir erraten, wie wir uns in der
Umgebung des Kindes benehmen müssen. Das ist
allerdings ein für viele höchst merkwürdiger
Erziehungsgrundsatz. Die meisten Menschen werden fragen, wie
sich das Kind benehmen solle, und jetzt kommt die
Geisteswissenschaft mit ihren Anforderungen: die Menschen
sollen vom Kinde 1ernen, wie man sich in der Umgebung des
Kindes zu benehmen habe — bis auf die Worte,
Gesinnungen und Gedanken hin! Denn das Kind ist in seiner Seele
viel empfänglicher, als man gewöhnlich glaubt, vor
allem empfänglicher als der erwachsene Mensch. Es gibt ja
solche Menschen mit einer gewissen Sensitivität, die es
sofort merken, wenn zum Beispiel ein Mensch hereinkommt,
der die gute Stimmung verdirbt. Das ist beim Kinde,
trotzdem es heute wenig beachtet wird, in einem ungeheuren
Maße der Fall. Und es kommt viel weniger darauf an, was
man im einzelnen unternimmt, als darauf, was man für ein
Mensch zu sein sich bemüht, was man für Gedanken,
für Vorstellungen hegt. Es genügt nicht, daß man
es vor den Kindern verschweigt und sich Gedanken gestattet, die
nicht für das Kind sein sollten, sondem unsere Gedanken
müssen so ausgelebt werden, daß wir das Gefühl
haben: das darf in dem Kinde weiterleben und soll weiterleben.
— Das ist unbequem, aber doch richtig!
Dann kommt, wenn der Zahnwechsel eingetreten ist, das in
Betracht, was wir nennen können: das Bauen auf das —
jetzt nicht was der Mensch tut, sondern was der Mensch als
Persönlichkeit in sich birgt —, das Bauen auf
Autorität. Das ist das Allerwichtigste, daß
das Kind in den ersten Lebensjähren nachleben kann,
was wir sprechen, tun und denken, und daß es in der
zweiten Epoche in uns einen Menschen fühlt, auf den es
bauen kann, so daß es sagen kann: Das ist gut, was der
tut! — Nicht daß wir vom siebenten bis zum
vierzehnten, sechzehnten Lebensjahre dem Kinde die
Ermahnung geben aus dem Prinzip heraus, eine Moraltheorie
zu entwickeln, ihm zeigen: das muß getan werden, das
muß unterlassen werden, — sondern den besten Schatz
geben wir dem Kinde mit, wenn es für die Verstandes- oder
Gemütsseele die Empfindung haben kann: Gut ist es,
was der Mensch neben mir tut; unterlassen muß ich, was er
unterläßt! — Das ist von einer
unendlichen Wichtigkeit.
Erst mit dem Eintreten des vierzehnten, sechzehnten Jahres
beginnt die Möglichkeit, daß der Mensch auf den
isoliertesten Teil seiner Wesenheit, auf die
Bewußtseinsseele baut, das heißt auf das, was
sich in der Bewußtseinsseele bildet: auf seine
Meinungen, Begriffe und Ideen. Die müssen aber erst einen
festen Grund und Boden haben, und der muß geschaffen
werden. Schaffen wir ihn nicht, indem wir die Gelegenheit
herbeiführen durch die Erziehung, wie die
Individualität sie uns erkennen läßt, schaffen
wir dadurch der Entwickelung nicht freie Bahn, dann wird
der Mensch von einem anderen Element ergriffen: von der
Festigkeit seiner Hüllennatur. Dann
veräußerlicht er sich; dann greift nicht seine von
Leben zu Leben gehende Individualität ein, sondern
dann wird er zum Sklaven seiner Leibesorganisation, die von
außen herein den Menschen unterjocht. Das zeigt der Mensch
daran, daß er in seinem geistig-seelischen Teile nicht
Herr ist, sondern ganz abhängig von seiner
leiblich-seelischen Organisation ist, starre Eigenschaften
zeigt, die unveränderlich sind. Ein Mensch dagegen, bei
dem wir achtgegeben haben, daß seine Anlagen
möglichst herauskommen, der behält sein ganzes Leben
hindurch eine gewisse Beweglichkeit, kann sich auch im
späteren Leben noch in neuen Situationen zurechtfinden.
Bei dem anderen dagegen veräußerlicht sich die
Organisation, bekommt starre Formen, und der Mensch
behält sie durch das ganze Leben hindurch. Wir leben in
einer Epoche, wo die Individualität des Menschen wenig
geschätzt wird und wo daher wenig Gelegenheit ist, sich zu
überzeugen, daß die Individualität im
späteren Leben noch beweglich und regsam ist und sich in
neue Situationen und Wahrheiten hineinfinden kann. Da kommen
wir auf ein Kapitel, an dem wir einsehen können, wie sich
manche Menschen einfach zum Leben stellen müssen.
Wie
viele bemühen sich, wenn sie in eine Weltanschauung
hineingeblickt haben, so daß sie davon überzeugt
sind, nun auch andere davon zu überzeugen. Sie glauben, es
ist ein sehr löbliches Bemühen, wenn sie sagen: Da
ich es so klar einsehe, müßte ich doch eigentlich
einen jeden zu dieser Überzeugung bringen können! Das
ist aber eine Naivität. Unsere Meinungen hängen gar
nicht davon ab, ob uns etwas logisch bewiesen wird. Das ist in
den wenigsten Fällen möglich. Denn des Menschen
Meinungen und Überzeugungen sind aus ganz anderen
Untergründen seiner Seele — aus seiner Willensnatur,
seiner Gemüts- und Gefühlsnatur heraus gebildet, so
daß ein Mensch ganz gut Ihre logischen
Auseinandersetzungen verstehen kann, Ihre scharfsinnigen
Schlüsse begreifen kann und sie hinterher gar nicht
aufnimmt aus dem einfachen Grunde, weil das, was ein
Mensch glaubt und wozu er sich bekennt, nicht aus seiner Logik
und seinem Verstehen fließt, sondern aus der
Gesamtpersönlichkeit kommt, das heißt aus jenen
Gliedern, wo Wille, wo Gemüt aufsteigen. Unsere Gedanken
sind aber dasjenige von uns, was am spätesten von allen
unseren Anlagen herauskommt, wenn die
Körperorganisation längst abgeschlossen ist. Das ist
das isolierteste Feld. Dort finden wir am wenigsten den Zugang
zu den anderen Menschen. Mehr können wir erreichen, wenn
wir sie in den Teilen ergreifen, die tiefer liegen: in dem
Gemüt, im Willen. Da wird noch eingegriffen in die
Organisation. Wenn aber ein Mensch in einer sehr
materialistischen Sphäre aufgewachsen ist, sagen wir da,
wo man nur die Materie, den Stoff gelten läßt, da
bildet sich während der Zeit seines Aufwachsens eine Summe
von Gemüts- und Willensimpulsen, die seine Leiblichkeit
und auch sein Gehirn plastisch gestalten. Später kann er
sich dann ein ganz gutes logisches Denken aneignen, das greift
aber nicht mehr in die Plastik seines Gehirns ein. Logische
Gedanken sind das Allerohnmächtigste in der menschlichen
Seele. Daher hängt es besonders davon ab, daß wir den
Zugang zu anderen Menschen auch in der Seele finden, nicht
bloß in der Logik. Wenn jemand sein Gehirn schon in einer
gewissen Weise ausgebildet hat, dann formt dieses Gehirn, das
nur immer wieder und wieder die alten Vorstellungen
reflektiert, weil es körperlich geworden ist, keine Logik
mehr um. Daher kann man für solche Weltanschauungen, die
auf die reinste, die schärfste Logik gebaut sind wie die
Geisteswissenschaft, nicht hoffen, daß man auf die Weise
wirken kann, daß man vom einen zum anderen Menschen geht,
um ihn zu überzeugen. Wenn jemand, der den
geisteswissenschaftlichen Impuls versteht, glauben
wollte, er könnte durch Überredung oder durch Logik
die Menschen überzeugen, wer etwa glauben wollte,
daß sich der Geisteswissenschaftler dieser Illusion
hingibt, der irrt sich sehr! Denn es gibt in unserem Zeitalter
eine große Anzahl von solchen Menschen, die vermöge
ihrer Gesamtpersönlichkeit, ihrer Willens- und
Gemütsnatur nicht nach dem sehen, was geistige Welt und
geistige Forschung ist. Aus der großen Masse derer, die um
uns leben, werden sich diejenigen herauswählen, die
den Zug haben zu der Geisteswissenschaft, werden zu dem gehen,
was sie dunkel ahnen, was sie schon in der Seele haben. Eine
Selektion, eine Auswahl nur kann stattfinden in bezug auf eine
Weltanschauung, die auf das gebaut ist, was rein die Logik, das
menschliche Bewußtsein umspannen kann. Daher geht der
Geisteswissenschaftler heran an die Menschen und weiß zu
unterscheiden: Da ist einer, dem kannst du jahrelang predigen,
er wird nicht auf deine Gedanken eingehen können. Das
mußt du ihm erst zum Bewußtsein bringen; zu seiner
Seele kannst du sprechen, aber er selbst kann es sich nicht aus
seinem ganzen Seelenwerkzeug, aus dem Gehirn heraus
reflektieren. Der andere ist so gebaut, daß er die
Möglichkeit hat, auf das einzugehen, was die
Geisteswissenschaft in ihrer logisch ausgebildeten Weise
zeigt, und der findet sich daher auch hinein in das, was im
Grunde genommen schon in seiner Seele lebt.
So
ist die Art und Weise, wie wir uns in die großen
Kulturaufgaben der Gegenwart oder der Zukunft
hineinstellen müssen. Nur wenn wir erkennen, wie die
Gesamtpersönlichkeit des Menschen sich zu dem
verhält, was der Mensch nach und nach im Laufe seiner
Entwickelung und Erziehung von neuen Wahrheiten aufnehmen kann,
von solchen Dingen, die sich nun wirklich mit seiner
Persönlichkeit vereinigen müssen, — wenn
man wieder einmal eingesehen hat, wie im Grunde genommen das
Seelisch-Geistige der Former, der Plastiker, der Künstler
ist für das, was Leiblich-Seelisches ist, dann wird
man auch einen größeren Wert darauf legen, die
Entwickelung des Geistig-Seelischen beim Menschen so zu
betreiben, daß er es — besonders in den Jahren, wo
er der Erziehung zugänglich ist — machtvoll in bezug
auf die Art, wie er auf das Leiblich-Seelische wirken kann, in
die Hand bekommt. Wir müssen uns klar sein, daß in
dieser Beziehung viel gesündigt werden kann. Wir sehen ja
aus unseren Darstellungen, wie menschliche Vorliebe und so
weiter viel mehr zur Formung der Anschauungen beiträgt als
die reine Logik. Die reine Logik allein sprechen lassen
könnte man erst, wenn überhaupt Begierden und
Instinkte völlig schweigen. Vorher muß man sich klar
sein, wenn wir glauben, irgendwo auf einem besonderen Gebiete
die Anlagen eines Menschen einseitig gebildet zu haben,
daß dann in einer merkwürdigen Weise dasjenige zutage
tritt, was wir unberücksichtigt gelassen haben.
Nehmen wir an, wir erziehen einen Menschen so, daß wir nur
die abstrakten Anlagen zum Ausdruck bringen, wie es in der
Schule häufig gemacht wird. Dann können die reinen
Begriffe und abstrakten Ideen nicht in das ganze
Gemütsund Gefühlsleben eingreifen. Das bleibt
dann unentwickelt, ungebildet und tritt uns später in
allen möglichen trivialen Lebensführungen hervor.
Zwei Naturen sind dann später oft im Leben sichtbar.
Selbst bei Leuten, die hochstehen, macht sich — wenn sie
nicht in sich haben hineinentwickeln können, was in den
Tiefen der Persönlichkeit sitzt — Vorliebe,
Neigung, Sympathie, die tiefer sitzt, in anderer Weise geltend.
Welcher Prüfling hätte es nicht erfahren, wenn er
einem noch so gescheiten Examinator gegenübersteht, der
vieles in seiner Wissenschaft zu überschauen vermag, wie
diese Einseitigkeit dadurch zum Ausdruck kommt, daß er
eine Vorliebe dafür hat, wie er gerade die
Antworten hören will! Und wehe manchem Prüfling, wenn
er das, was er sagen soll, nicht in die Worte zu kleiden
versteht, wie der Examinator sie haben will!
In
einem Buche über Seelenkunde von Moriz Benedikt ist
gerade über die Fehler der menschlichen Erziehung nach
dieser Richtung hin manches Richtige gesagt. Auch das, was eine
Wahrheit ist: daß einmal zwei Prüflinge geprüft
wurden von zwei Examinatoren, und es stellte sich das
Malheur heraus, daß zum Examinator A. der eine zu
Prüfende die Antworten so gab, wie wenn der Examinator B.
die Fragen gestellt hätte. Hätte er diesem die
Antworten geben dürfen, so hätte er die Prüfung
glänzend bestanden. Und der andere der Kandidaten
war in dem umgekehrten Fall. Daher fielen beide durch!
Das
kann uns zeigen, wie ganz gut in logische Formen einzukleiden
ist, was unanfechtbar ist. Sobald wir aber nicht in der Lage
sind, unsere Begriffe in die Gedankenerziehung
während der Erziehung einzutauchen, ist kein geeignetes
Feld zu finden, um von hier aus am Menschen zu bilden. Wie
müssen wir uns denn dann zum Menschen verhalten? Wir
müssen uns so verhalten, daß wir in der Zeit, wo der
Mensch vorzugsweise noch plastisch gebildet werden soll und wo
abstrakte Begriffe und Ideen am wenigsten wirksam sind, ihm
möglichst wenig mit abstrakten Begriffen und Ideen
kommen, sondern mit solchen Ideen, die möglichst bildhaft
sind. Deshalb habe ich so hervorgehoben, daß das
Bildhafte, das Anschauliche, welches sich möglichst wenig
von dem entfernt, was Bild, Gestalt, Umriß hat, in die
Begriffe aufgenommen wird. Denn was so als Bild, als Gestalt
oder als Gestalt der Phantasie aufgenommen wird, hat eine
große Kraft, in unsere Leibesorganisation
einzugreifen. Daß das Bildhafte, was uns in der
Gestaltung entgegentritt, in die Leibesorganisation
eingreift, können Sie schon daraus entnehmen, daß Sie
sehen, wie wenig es hilft, wenn Sie einem Kranken, der in einer
bestimmten Situation ist, einreden: Das sollst du tun, das
sollst du lassen. — Das hilft sehr wenig. Wenn Sie aber
einen Apparat hinstellen, der einer Elektrisiermaschine
ähnlich ist, so daß sich der Kranke dieses Bild
machen kann, ihm zwei Handgriffe in die Hand geben, gar keinen
Strom durchlassen, — wenn er nur das Bild vor sich hat,
dann verspürt er den Strom, und dann hilft's! Überall
aber, wo so schön deklamiert wird, daß die
Einbildungskraft eine große Rolle spielt, müssen wir
uns klar sein, daß es sich dabei nicht um jede
Einbildungskraft handelt, sondern nur um die
bildliche.
Wir
leben in einem Zeitalter, in welchem es nach und nach Usus
geworden ist, daß dem Grundsatz der
Geisteswissenschaft: daß der Mensch erst zwischen
dem vierzehnten, sechzehnten Jahre und dem
einundzwanzigsten, zweiundzwanzigsten Jahre fähig
wird, Begriffe und Ideen auszubilden, daß man da Begriffe
aufnimmt, die erst später ausgebildet werden sollen
— sehr wenig gehuldigt wird; sondern heute wird der
Mensch schon vor Ablauf dieses Lebensalters reif, um über
und unter dem Strich Zeitungsartikel zu schreiben, die
gedruckt und dann von den Leuten hingenommen werden. Da ist es
dann schwer, abstrakte Begriffe bis zu dem charakterisierten
Zeitalter fernzuhalten und das Bildhafte, das Anschauliche dem
Menschen vor Augen zu führen. Denn das Bildhafte hat die
Kraft, in die leiblich-seelische Organisation einzugreifen.
Was
ich jetzt sage, können Sie immer bestätigt finden,
nur gibt man nicht immer darauf acht. Moriz Benedikt klagt zum
Beispiel darüber, daß viele Gymnasiasten oft im
späteren Leben so ungeschickt sind. Woher kommt das? Weil
die ganze Erziehung so unanschaulich ist, so wenig auf das
Anschauliche eingeht und sich nur an abstrakte Begriffe
hält, sogar bei dem Lehren der Sprachen. Dagegen
können wir Bildhaftes, das an uns herantritt, weil die
Gegenstände selbst uns in Bildern entgegentreten, bis in
die Hand hinein fühlen. Da könnte man sagen: Wenn du
einen Gegenstand vorstellen willst, mußt du dich so
bewegen, daß du mit der Hand im Kreise oder in der Ellipse
das Zusammenwachsen fühlst mit dem Gegenstande in Bildern.
Nicht bloß das Nachahmen in der Handfertigkeit, sondern
das Fühlen und Liebenlernen der Dinge zeigt uns, wie
bildhaftes, anschauliches Vorstellen uns in die Glieder
zuckt, uns die Glieder gelenkig und beweglich macht. Wir
können ja heute viele Menschen finden, die, wenn ihnen ein
Knopf abgerissen ist, sich keinen neuen wieder annähen
können. Das ist ein großer Nachteil. Das Wichtige
ist, daß wir mit allem, was wir haben, eingreifen
können in die Außenwelt. Alles können wir
natürlich nicht lernen. Aber das können wir lernen,
wie das Geistig-Seelische herunterrutscht aus dem Geistigen in
das Leiblich-Seelische und unsere Glieder gelenkig macht.
Und niemand, den wir in der Jugend angewiesen haben,
dasjenige nachzufühlen, was außer ihm ist, wird
später im Leben ein ungeschickter Mensch sein. Denn was
schon unter der Schwelle unseres Bewußtseins liegt, kann
am wesentlichsten an unserer Organisation arbeiten. Das gilt
auch in bezug auf die Sprache. Man lernt eine Sprache am besten
in der Zeit, wo man noch gar nicht in der Lage ist, diese
Sprache grammatisch zu verstehen, denn da lernt man mit dem
Teil der Seelenwesenheit, der tieferen Schichten
angehört.
So
hat sich die Menschheit entwickelt — so muß sich der
einzelne Mensch entwickeln. Ich habe schon an anderer Stelle
darauf hingewiesen, wie Laurenz Müllner bei einer
Rektoratsrede aufmerksam machte auf die Peterskirche in
Rom, wie sie großartig dasteht, wie da
hineingeheimnißt sind die Raumesgesetze in die Mechanik
des Kuppelbaues, so daß man die Raumesmechanik in der
wunderbarsten Weise zum Ausdruck gebracht sieht. Nun wies
er aber darauf hin, daß die Gesetze, welche Michelangelo
darin zum Ausdruck gebracht hat, dann Galilei durch seinen
hochfliegenden Geist gefunden hat und uns dadurch erst
die mechanische Wissenschaft gegeben hat. Ich habe auch darauf
aufmerksam gemacht, daß der Todestag Michelangelos fast
zusammenfällt mit dem Geburtstage Galileis, so daß
die abstrakten Gesetze der Mechanik — was in der
Bewußtseinsseele des Menschen lebt — später
aufgetreten sind als das, was aus den tieferen Seelengliedern
heraus Michelangelo in den Raum hineingebaut hat. Wie
sich die höheren Seelenglieder auf Grundläge
der niederen entwickeln, wie wir auf Grundlage der Anlagen
unsere Glieder ausbilden müssen, um dann auf sie
zurückzuschauen und einen Begriff von ihnen zu
bekommen, so ist es auch im einzelnen Leben. Auch im
einzelnen Leben muß der Mensch von der menschlichen
Gesellschaft umgeben sein, muß sich hineinstellen in das,
was ihn wie in eine Atmosphäre taucht, in das
Geistig-Seelische unserer Umgebung. Dann wird das, was der
Mensch in das Dasein hereinbringt, geformt und gebildet. Aber
der Mensch bringt nicht nur herein, was ihm aus der
Vererbungslinie mitgegeben wird, sondern das wird in der
mannigfaltigsten Weise durch ein Drittes, durch die ewige
Individualität des Menschen bestimmt. Diese
Individualität des Menschen braucht die vererbten
Eigenschaften, muß sie sich aneignen und ausbilden. Das
steht auch höher als das, was mit unserer
Individualität ins Dasein tritt. Wir treten mit der Geburt
ins Dasein: eine schaffende, produktive Geistigkeit eignet
sich, wo wir noch nicht Begriffe bilden können, den
plastischen Stoff aus der Vererbungslinie an. Später erst
wird die Bewußtseinsseele hinzugefügt. So sehen wir
auf ein Individuelles in der Menschennatur, das plastisch die
Fähigkeiten und Talente gestaltet. Wenn wir Erzieher
werden, ist es unsere Aufgabe, daß das, was wir so
als ein geistiges Rätsel betrachten, bei jedem
Menschen von neuem gelöst werden muß.
Das
alles weist uns auf eine Stimmung hin. Als Goethe bei der
Ausgrabung von Schillers Knochen dessen Schädel fand und
sah, wie da die Formen ausgeprägt sind, wie die
menschliche Individualität daran gearbeitet hat, als er
sah: in diese Form mußte sich der flüssige Geist
Schillers hineingestalten, damit er das werden konnte,
was er geworden ist — konnte Goethe das mit den Gedanken
ausdrücken:
Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen,
Als daß sich Gott-Natur ihm offenbare,
Wie sie das Feste läßt zu Geist verrinnen,
Wie sie das Geisterzeugte fest bewahre!
Einen solchen Ausspruch Goethes muß man aus der Situation
heraus verstehen. Wer ihn nimmt, ohne darauf zu sehen, was sich
als Geist-Erzeugtes in der festen Form ausprägt, versteht
ihn falsch. Der aber auch versteht ihn nicht, der nicht
weiß, wie tief Goethe Einsicht in das ewige Weben einer
Individualität hatte, die von Geburt zu Geburt geht
und sich immer wieder neu verkörpert und der eigentliche
Architekt des Menschen ist. Wie wir vom Geiste die Organe
erhalten haben, die wieder Organe des Geistes sind, das kann
man im Grunde genommen durch einen kindlichen Vergleich in
einfacher Weise sagen: Die Uhr zeigt uns die Zeit an, aber wir
könnten sie nicht brauchen, wenn sie nicht erst der
menschliche Geist geformt hätte. — Unser Gehirn
brauchen wir zum Denken in der physischen Welt, aber wir
könnten es nicht zum Denken brauchen, wenn es der
Weltengeist nicht geformt hätte. Und wir würden es
nicht mit einer solchen Individualität ausgebildet
haben, wenn nicht unsere Individualität selbst sich
ausgegossen hätte als ein Geist-Erzeugtes in unser
so aus dem Menschengattungsmäßigen heraus gebildetes
Gehirn. Da verstehen wir tiefer, was wir heute äußern
konnten, und was Goethe meinte, indem er auf dasjenige im
Menschen hinwies, was im Wesen des Menschen für alle seine
Talente und Fähigkeiten bestimmend ist, wie wenn die
Sterne seiber aufgefaßt würden wie irgendeine
Situation der Welt, und wie das, was sich auswirkt im Inneren
des Menschen als ein Ewiges, nur darum durch die Pforte des
Todes geht, um zu neuen Entwickelungsformen vorzuschreiten.
Kurz, wir dürfen zusammenfassen, was wir heute betrachtet
haben, in die Stimmung der Goetheschen Gedanken, die er
äußert in den «Orphischen Urworten»:
Wie an dem Tag, der dich der Welt verlichen,
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist alsobald und fort und fort gediehen
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
So mußt du sein, dir kannst du nicht entflichen,
So sagten schon Sibyllen, so Propheten;
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt!
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