MOSES
Berlin, 9. März 1911
Bei
der Betrachtung jener großen geschichtlichen
Individualitäten, mit denen wir es in den
vorhergehenden Vorträgen zu tun hatten, bei
Zarathustra, Hermes, Buddha, standen wir Erscheinungen
gegenüber, welche uns als Menschen interessieren,
insoweit wir fühlen, daß wir Anteil haben mit
unserem ganzen Seelenleben an der Gesamtentwickelung der
Menschheit und die Gegenwart nur dann verstehen
können, wenn wir auf diejenigen geistigen
Großen der Vergangenheit zurückblicken, die
mitgebaut haben an dem, was in unsere Gegenwart
hereinragt. Bei Moses, dessen Persönlichkeit
wir heute zu betrachten haben, steht die Sache noch ganz
anders. Bei alledem, was sich an den Namen des Moses
knüpft, fühlen wir, daß Unendliches
davon noch unmittelbar fortlebt in dem, was Bestandteil,
geistiger Inhalt unserer eigenen Seele ist. Wir
fühlen gleichsam in unseren Gliedern noch immer die
Impulse nachwirken, die von Moses ausgegangen sind. Wir
fühlen, wie er noch hereinlebt in unsere Gedanken
und Empfindungen, und wie wir gewissermaßen, wenn wir uns
mit ihm auseinandersetzen, uns mit einem Stück
unserer eigenen Seele auseinandersetzen. Daher ist uns auch die
fortlaufende Uberlieferung, welche an Moses sich
anfügt, in einer ganz anderen Weise
gegenwärtig, steht uns unmittelbarer vor Augen
als die fortlaufende Oberlieferung, die sich an die anderen
betrachteten Größen anschließt. Das macht
es auf der einen Seite leicht, die Persönlichkeit
des Moses zu behandeln, denn ein jeder kennt heute aus der
Bibel diese mächtige, in die Zeiten hineinragende
Gestalt. Wenn auch die gewissenhafte Forschung, die ernste
Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten und Jahren so
manches an die Oberfläche geworfen hat, was in
gewisser Beziehung dieses oder jenes neue Licht auch auf die
Geschichte des Moses werfen kann, insofern wir sie aus der
Bibel entnehmen, so müssen wir doch sagen,
wenn wir genau zusehen: An dem Gesamtbilde des Moses, das wir
in uns tragen und aus der Bibel gewonnen haben, hat sich
eigentlich ungemein wenig geändert. Wir sprechen
daher, wenn wir über ihn sprechen, wie
über etwas in weitesten Kreisen Bekanntes. Das macht
die Betrachtung gewissermaßen leicht. Auf der andern Seite
aber dürfen wir wieder sagen, daß gerade durch
die Art und Weise der Ãœberlieferung, die wir in der
Bibel über Moses haben, diese Betrachtung wieder
schwierig gemacht wird. Das kann man schon an dem Schicksal der
Bibelforschung im neunzehnten Jahrhundert sehen. Es darf ja
immer wieder und wieder betont werden, daß — selbst
wenn wir die Naturwissenschaften ins Auge fassen — uns
kaum irgendein Zweig menschlicher Gelehrsamkeit,
menschlichen ernsten wissenschaftlichen Wollens eine so
tiefe Achtung, einen so heiligen Respekt abfordern kann
wie die Bibelforsdiung des neunzehnten Jahrhunderts. Jenem
Fleiß, jenem Scharfsinn, der darauf verwendet worden ist,
um zum Beispiel die einzelnen Partien der Bibel in bezug auf
ihren Stil, auf das, was man über ihre Herkunft
vermeint wissen zu können, kennenzulernen, —
jener selbstlosen wissenschaftlichen Hingabe, wie sie
geübt worden ist, kann sich eigentlich
für den, der die Bibelforschung genauer kennt,
nichts an die Seite stellen. Dennoch kann man etwas Tragisches
in dieser Bibelforschung des neunzehnten Jahrhunderts
sehen. Denn je weiter sie es gebracht hat, desto mehr hat sie
uns eigentlich — wenn man so sagen darf — die Bibel
aus der Hand genommen. Denn sie hat uns
gewissermaßen — davon kann sich jeder
überzeugen, der nur die landläufigen
Bücher über die Resultate der
Bibelforschung in die Hand nimmt — die Bibel, vor allem
das Alte Testament, zerstückelt, um uns zeigen
zu wollen, wie das eine Stück einem andern Strom der
Uberlieferung gefolgt ist als das andere, wie alles das
gewissermaßen im Laufe der Zeit zusammengebracht worden
ist zu einem Ganzen, das die Gelehrsamkeit erst wieder zerlegen
müßte, um es zu verstehen. Und in
gewissem Sinne ist das Resultat dieser Forschung deshalb
ein tragisches zu nennen, weil es eigentlich im Grunde genommen
ganz negativ ist, weil es nichts beigetragen hat zum
Auflebenlassen dessen, was die Bibel aufleben lassen
kann, was sie durch Jahrtausende aufleben ließ in den
Herzen und Seelen der Menschen.
Da
ist es in einer gewissen Weise in unserer Zeit die
Aufgäbe jener Geistesrichtung, die wir die
Geisteswissenschaft nennen müssen, welche
gegenüber den anderen
WissenSchäften in unserer Zeit oftmals die
Aufgabe des Aufbauens hat, nicht nur der bloßen Kritik,
daß wir vor allem die Bibel selber wieder verstehen
lernen, vor allen Dingen der Bibel gegenüber die
Frage auf werfen: Ist es denn nicht nötig, erst
einmal in den Gesamtsinn der Ãœberlieferungen in
ihrer ganzen Tiefe einzudringen, und dann erst, nachdem
man sie voll verstanden hat, nach ihrem Ursprung zu fragen? Das
ist nun keineswegs leicht, insbesondere dem Alten Testament
gegenüber, und besonders schwierig auch denjenigen
Partien des Alten Testamentes gegenüber, die von der
Persönlichkeit, von der großen Gestalt des
Moses handeln. Denn was zeigt uns die Geisteswissenschaft als
eine Eigentümlichkeit der biblischen Schilderungen?
Sie zeigt uns, daß Ã¤ußere Geschehnisse,
äußere Tatsachen, die sich an diese oder jene
Persönlichkeit, an dieses oder jenes Volk
knüpfen, so dargestellt werden, wie sie eben
verlaufen für die äußere
geschichtliche Betrachtung, so daß wir also die
Persönlichkeit des Moses in der Bibel so dargestellt
erhalten, daß uns seine Erlebnisse in der
äußeren physischen Welt, wie sie sidh im
Räume und in der Zeit abspielen,
vorgeführt werden. Dann aber zeigt sich — und
es kann im Grunde genommen nur die geisteswissenschaftliche
Vertiefung in die Bibel dieses Resultat ergeben daß
eine Schilderung, die zunächst von
äußeren Vorgängen und
Erlebnissen in der äußeren Welt handelt,
sich in der biblischen Darstellung unmittelbar fortsetzt in
eine Schilderung ganz anderer Art, die man nur schwer von dem
unterscheiden kann, was vorhergeht. Es werden Reisen und
sonstige äußere Erlebnisse erzählt,
die wir einfach als solche zu nehmen haben. Dann wird so
fortgesetzt, daß wir zunächst gar nicht merken,
daß wir mitten im Weiterlesen in einer Schilderung ganz
anderer Art drinnen sind, als ob eine Reise weiterginge von
einem Orte zum andern, und als ob die weiteren Erlebnisse
geradeso wie äußere physische Erlebnisse
zu nehmen wären wie die vorhergehenden. Und dann
sind wir mitten drinnen in einer Schilderung des Seelenlebens
der betreffenden Persönlichkeit, in einer
Schilderung, die sich gar nicht auf
äußere Ereignisse bezieht, sondern auf innere
Seelenkämpfe, Seelenüberwindungen,
Seelenerlebnisse, wodurch die betreffende
Persönlichkeit dann zu einer höheren
Stufe der Seelenentwickelung, der Erkenntnis, zu einer
höheren Stufe der Tatkraft oder zu einer Mission in
der Weltentwickelung hinaufsteigt. Es laufen gewissermaßen
die Schilderungen der äußeren Ereignisse
unvermittelt über in sinnbildliche Darstellungen,
die ganz im Stile der früheren
äußeren Ereignisse gehalten sind, die aber gar
nicht äußere Erlebnisse meinen, sondern innere
Seelenerlebnisse. Es muß gesagt werden, daß diese
Behauptung für jeden so lange eine Behauptung
bleiben wird, als er sich nicht an der Hand
geisteswissenschaftlicher Darstellungen immer mehr und mehr in
die Eigentümlichkeit der Schilderungen der
Bibel hineinlebt, insbesondere auch der Partien, die von Moses
handeln. Wenn man sich aber in diese
Eigentümlichkeit hineinlebt, lernt man
fühlen, wie an solchen Punkten, wo eine
äußere Schilderung physischer Erlebnisse
in eine Schilderung seelischer Erlebnisse und Entwickelungen
übergeht, allerdings der ganze Stil, der ganze
Grundton sich ändert, daß plötzlich
ein neues Element cier Darstellung auftritt,
demgegenüber wir uns fragen: Warum ist das? Dieses
Warum läßt sich dann in keiner anderen Weise
beantworten als durch die Ãœberzeugung, die aus
der Seele selbst gewonnen werden kann. Wir haben es mit jener
Eigentümlichkeit der Darstellung zu tun, die eben
jetzt charakterisiert worden ist. Das findet man im Grunde
genommen bei allen alten religionsgeschichtlichen Darstellungen
und besonders dann, wenn Persönlichkeiten
geschildert werden sollen, die eine gewisse Höhe des
Erkennens, des Seelenwirkens erreicht haben, und man macht sich
vertraut mit einem solchen Stil, wenn man sich immer mehr und
mehr in die Geisteswissenschaft einlebt. Das macht es sozusagen
wieder schwierig, aus der biblischen Darstellung heraus ein
volles Verständnis dessen zu gewinnen, was an
den einzelnen Stellen bei der Schilderung des Moses gemeint
ist.
So
haben wir gewissermaßen die Bibel auf der einen Seite
— so haben wir aber auch auf der andern Seite
Schwierigkeiten durch ihre Art der Darstellung, wo sie in
besondere Tiefen eindringt. Das hat es gemacht, daß
man in bezug auf die Auffassung der Bibel zuweilen recht sehr
zu weit gegangen ist. Wenn man zum Beispiel ins Auge faßt
die Auffassung der althebräischen Geschichte durch
jenen Philosophen, der in der Zeit der Begründung
des Christenturns gelebt hat, Philo, dann sieht man, wie
er die ganze Geschichte des althebräischen Volkes
als eine Allegorie darstellen will. Eine symbolische
Darstellung der Gesdiiditsauffassung will er geben, so daß
die ganze Geschichte eine Art Symbolik der Seelenerlebnisse
eines Volkes sein würde. Das wäre zu weit
gegangen. Philo ging darum so weit, weil ihm der
geisteswissenschaftliche Takt fehlte, um zu wissen, wo die
äußeren Erlebnisse einlaufen in die seelischen
Erlebnisse.
An
Moses soll nun gezeigt werden, wie in den lebendigen Gang der
Menschheitsentwickelung eine Persönlichkeit
eingreift, die etwas Allerhöchstes,
Allerbedeutsamstes der Menschheit zu bringen hatte. Wenn wir
von diesem Bedeutsamen fühlen, daß wir
mit ihm noch immer Verwandtes in unserer Seele haben, so
wird uns das volle Verständnis des Moses-Impulses zu
einer ganz besonderen Notwendigkeit. Daher
können wir gewissermaßen ohne weitere
Umstände gleich eingehen in die Mission des
Moses. Aber man kann diese Mission des Moses nicht verstehen,
wenn man nicht voraussetzt, daß im Grunde genommen der
biblischen Darstellung zunächst das Bewußtsein
einer Tatsache zugründe liegt, welche wir bei
Betrachtung der Individualitäten des Hermes,
des Buddha und des Zarathustra schon ins Auge fassen konnten:
daß die Menschheitsentwickelung in bezug auf das
Seelenleben des Menschen im Laufe der Zeiten einen
Ãœbergang von einem alten hellseherischen Zustand zu
dem heutigen Zustande unseres intellektuellen
Bewußtseins durchgemacht hat. Noch einmal sei es
erwähnt, daß in uralten Zeiten die
Menschenseele in gewissen Zwischenzuständen
zwischen Wachen und Schlafen in eine geistige Welt
hineinschauen konnte, daß das, was auf diese Weise in der
geistigen Welt geschaut wurde, in Bildern dargestellt worden
ist, und daß uns diese Bilder in den Mythologien und
Legenden der alten Zeiten erhalten geblieben sind. Wenn jemand
fragt: Wie kann man das alte hellseherische Bewußtsein
auch äußer lich beweisen ohne die
Geisteswissenschaft?, so kann er sich die Antwort auf
diese Frage durch gewissenhafte Forschungen verschaffen, die
auch schon in unserer Zeit gepflogen worden sind, die aber nur
noch nicht ihre volle Anerkennung gefunden haben. Da ist darauf
zu verweisen, daß gewisse Mythenforscher in bezug auf
mythenähnliche Bildungen, Sagen und so weiter,
die sich noch in verhältnismäßig
später Zeit bei einzelnen Völkern
herausgebildet haben, sich in die Notwendigkeit versetzt
fühlten, eine ganz andere Art und Weise des
menschlichen Bewußtseinszustandes für die
Entstehung solcher Mythen anzunehmen. Ich habe in
früheren Zeiten öfter auf ein
interessantes Buch hingewiesen, das von einem
Mythenforscher herrührt, der als solcher der
bedeutsamste Mythenforscher der neueren Forschung genannt
werden muß: ich meine Ludwig Laistner und sein Buch
«Rätsel der Sphinx». Dieses
Buch gehört zu den bedeutendsten auf seinem
Gebiete. Darin wird gezeigt, daß sich gewisse Mythen
ausnehmen wie Fortsetzungen der Ereignisse der Traumwelt,
die typisch erlebt werden. Laistner ging nicht bis zur
Geisteswissenschaft, er hatte kein Bewußtsein davon,
daß er die ersten Bausteine lieferte zu einem wirklichen
Erkennen der alten Mythologien. Aber man kann die Mythen und
Sagen nicht so begreifen als die Umgestaltung typischer
Träume, wie Laistner sie aufgefaßt hat, sondern
man muß sie verstehen als hervorgehend aus einem
früheren menschlichen Bewußtseinszustand,
der in Bildern die geistige Welt sah und sie deshalb auch in
Bildern zum Ausdruck brachte. Niemand kann die alten Sagen,
Mythen und Legenden wirklich verstehen — deshalb
geschieht auch so wenig zum Verständnis der alten
Sagen und Mythen! — der nicht voraussetzt —
zunächst wie eine Hypothese daß die alten
Mythologien aus einem andern menschlichen
Bewußtseinszustande heraus geschöpft
sind. Dieser alte vormenschliche, oder wenigstens
vorgeschichtliche Zustand der Seelenverfassung ist in den
jetzigen Bewußtseinszustand übergegangen,
der kurz dahin charakterisiert werden kann, daß man sagt:
Wir wechseln in bezug auf unser Bewußtsein ab zwischen
Wachen und Schlafen. Im Wachbewußtsein
bemächtigen wir uns der Wahrnehmungen der
äußeren Welt durch unsere Sinne und
verknüpfen die Wahrnehmungen, kombinieren sie
durch unsern Intellekt. Das sinnlich-intellektuelle
Bewußtsein, das durch unseren Verstand, durch unsere
Vernunft wirkt, hat die alte hellseherische
SeelenVerfassung abgelöst. So haben wir einen
Zug der Geschichte damit charakterisiert, wie sich die
Geschichte darstellt, wenn man die Menschheitsentwickelung in
ihren Tiefen betrachtet.
Aber noch etwas anderes liegt solchen Darstellungen
zugründe, wie sie in der Bibel gegeben sind.
Das ist, daß einem jeden Volke, einem jeden Stamme, einer
jeden Menschenrasse, wie sie im Laufe der
Menschheitsentwickelung auftreten, sozusagen eine gewisse
Mission zuerteilt ist. Die alten hellseherischen
Bewußtseinsformen traten in verschiedenen Arten, in
den verschiedensten Gestalten auf, je nach den Begabungen, dem
Temperament der einzelnen Völker. Daher haben wir
die Einheit des alten hellseherischen Bewußtseins in
den verschiedenen Mythologien und heidnischen
Religionsbekenntnissen der einzelnen Völker
überliefert. So können wir sagen:
Es ist nicht bloß eine abstrakte Einheit dieser alten
Auffassung der Welt da, sondern es sind verschiedensten
Völkern und Rassen die verschiedensten
Missionen übergeben worden, und dadurch ist das
gemeinsame Bewußtsein in der verschiedensten Art
ausgestaltet. Dann aber müssen wir dabei
darauf Rücksicht nehmen, wenn wir diese
Menschheitsentwickelung verstehen wollen, daß sie nicht
eine sinnlose Aufeinanderfolge von Kulturen ist, sondern
daß ein Sinn durch den ganzen Werdegang der Menschheit
durchgeht, so daß irgendeine Bewußtseinsform sich in
einer bestimmten Kultur später auslebt, weil das
Spätere etwas wie ein neues Blatt, eine neue
Blüte zu dem Früheren
hinzuzufügen hat, weil sich der Gesamtsinn der
Menschheitsentwickelung in aufeinanderfolgenden
Ausgestaltungen auslebt. So begreifen wir im
geisteswissenschaftlichen Sinne ein Volk am besten
dadurch, daß wir uns sagen: Diese betreffenden
Völker — seien es die alten Inder, Perser,
Babylonier, Griechen oder Römer — haben alle
eine bestimmte Mission gehabt; auf eine ganz besondere Art hat
sich das, was im Menschheitsbewußtsein leben kann,
bei ihnen ausgestaltet. Wir verstehen diese
Völker nicht, wenn wir nicht ihre ganz
besondere, individuelle Eigenart als ihre Mission
aufzufassen in der Lage sind. Nun aber geht die
Gesamtentwickelung der Menschheit so vor sich, daß
sozusagen einer jeden solchen Mission eine Zeit zugeteilt
ist. Wenn diese Zeit abgelaufen ist, ist diese
betreffende Mission erfüllt. Die betreffende Mission
war einem Volke zugeteilt. Es kann sozusagen die Stunde
abgelaufen sein für die betreffende Volksmission.
Was in ihr keimhafl; enthalten ist, hat seine
Früchte getrieben, hat sich ausgelebt. Dann kann
aber der Fall eintreten, daß dieses oder jenes Volk die
entsprechende Eigenart, das, was in seinem Temperament, in
seinen sonstigen Anlagen liegt, weiterbehält.
Dann überspringt sozusagen das betreffende
Volk den Zeitpunkt, in dem eine neue Mission eintreten soll an
die Stelle der alten, lebt sich hinüber mit seiner
Eigenart in die spätere Zeit, während der
objektive Gang der Menschheitsentwickelung etwas Neues an ihre
Stelle gesetzt hat.
So
etwas kann man besonders betrachten bei den
Ägyptern, deren Eigenart wir kennengelernt
haben in dem Vortrage über Hermes. Die
Ägypter hatten eine hohe Mission im Gesamtwerdegang
der Menschheit. Aber diese Mission hat alles, was in ihr lag,
einmal aus sich herausgebildet. Was weiter kommen sollte, war
zwar keimhaft in der ägyptischen Kultur gelegen,
aber das ägyptische Volk als solches behielt sein
Temperament, seine Eigenart, war nicht imstande, aus sich
selbst heraus die neue Mission zu formen. Daher mußte die
Lenkung und Leitung der Menschheit an ein anderes
Menschheitselement übergehen. Das mußte zwar
herauswachsen aus dem ägyptischen Element, aber es
mußte doch ein anderes sein. So sehen wir denn etwas wie
eine Richtungsänderung im Gesamtsinn der
Entwickelung der Menschheit. Man muß sich dazu in den
Werdegang der ägyptischen Mission hineindenken. Was
aus derselben herausgeholt werden konnte, das ließ
Moses zunächst auf seine Seele wirken. Das wirkte
auch hinein in die Seelen seines Volkes. Aber er hatte den
Beruf nicht, die alte ägyptische Mission
fortzusetzen, sondern aus ihr heraus etwas ganz Neues der
Menschheitsentwickelung einzuimpfen. Und weil dieses Neue so
gewaltiger, so umfassender und so einschneidender Natur war,
deshalb ist die Persönlichkeit des Moses eine so
mächtige für den Gesamtgang der
menschlichen Geschichte, und deshalb ist die Art, wie die
Mission des Moses sich aus der abgelaufenen Entwickelung des
ägyptischer» Volkes hervorentwickelt hat,
so interessant und so fruchtbar zu betrachten noch
für unsere Zeit. Denn was Moses aus dem
ägyptischen Volke herausgeholt hat, was er dann wie
aus ewigen Höhen der Geistesentwickelung dazugetan
hat» das wirkt fort bis in unsere Seelen herein.
Daher wurde Moses als eine Persönlichkeit empfunden,
welche gewissermaßen das, was sie der Menschheit zu
geben hatte, nicht aus irgendeiner Zeit, nicht aus irgendeiner
Spezialmission unmittelbar zu nehmen hatte, sondern es wurde
Moses als eine Persönlichkeit aufgefaßt, die in
ihrer Seele berührt sein mußte von den Wogen
des Ewigen, das immer wieder und wieder durch neue
Kanäle sich in die Menschheitsentwickelung
hereinsenkt, um dieselbe zu befruchten. Was gleichsam als der
ewige Kern in des Moses Seele vorhanden war, das mußte
seinen Boden finden und ausreifen auf dem, was er
herausbekommen konnte aus der ägyptischen
Kultur.
Daß man es mit Moses zu tun hat als mit einer Seele, die
das Höchste, was sie zu geben hatte, aus ewigen
Quellen heraus zu bieten hatte, das wird uns nach der Art
alter Darstellungen symbolisch angedeutet in dem
Eingeschlossensein des Moses in dem Kästchen
bald nach seiner Geburt. Wer solche Darstellungen in der
religiösen Entwickelung kennt, weiß, daß
sie immer auf ein Bedeutsames hindeuten wollen. Aus
früheren Darstellungen dieses Vortragszyklus wissen
wir, daß der Mensch, wenn er zu höheren,
geistigen Welten sein Erkennen hinaufbringen will, gewisse
Stadien seiner Seelenentwickelung durchzumachen hat, indem er
sich völlig von aller Umwelt abschließt und die
elementarsten geistigen Kräfte seiner Seele
wachruft. Wenn nun dargestellt werden soll, daß ein
solcher Mensch sich bereits durch die Geburt jene geistigen
Güter mitbringt, die zu den Höhen der
Menschheit hinaufführen, so kann das nicht besser
dargestellt werden, als daß gesagt wird: Für
diese Persönlichkeit war es notwendig, sozusagen bis
ins Physische hinein ein Erlebnis durchzumachen, wodurch
ihre Sinne, alles, was sie an Auffassungsgaben hat, gleichsam
abgeschlossen ist von der physischen Welt. — Es klingt
uns dann verständlich, wenn wir hören,
daß die ägyptische Königstochter,
die Tochter des Pharao, selber den Knaben aus dem Wasser holte
und ihn «Moses» nannte, weil sie sagte:
«Denn ich habe ihn aus dem Wasser
gezogen.» Das liegt für den, der den
Namen Moses versteht — wie es auch die Bibel andeutet
—, schon in dem Namen selber. Es sollte damit gesagt
werden, daß die Vertreterin der ägyptischen
Kultur, die Tochter des Pharao, hineinlenkte das Leben in eine
Seele, die mit Ewigkeitsgehalt angefüllt ist. So
wird uns wunderbar angedeutet, wie das Ewige, das Moses der
Menschheit zu bringen hatte, in die äußere
Hülle der ägyptischen Kultur und
Mission eingehüllt wird.
Dann werden uns dargestellt in der Entwickelung des Moses
äußere Erlebnisse. Da sehen wir wieder, wie die
Bibel ihre Darstellung so gibt, daß sie
äußere Erlebnisse meint. Was wir in der Bibel
über die Schicksale des Moses lesen und
über alles, was er an Schmerzen über das
Geknechtetsein seines Volkes im Ägypterlande
erlebt, das können wir als eine Darstellung
äußerer Verhältnisse ansehen. Dann
geht aber wieder die Darstellung — man muß sagen
unvermerkt — über in eine Schilderung innerer
Seelenerlebnisse des Moses. Das geschieht da, wo Moses
die Flucht ergreift und zu einem Priester
geführt wird, zu dem midianitischen Priester
Jethro oder Reguel. Wer eine solche DarStellung
aus der Gepflogenheit alter geistiger Darstellungen erkennen
kann, der findet bis auf die Namen hin heraus, daß hier
die Schilderung in die Beschreibung von Seelenerlebnissen
des Moses übergeht. Das ist nicht etwa so
gemeint, als wenn Moses nicht wirklich eine solche Reise
nach einer Tempelstätte, einer priesterlichen
Lehrstätte angetreten hätte, aber
die Darstellung ist kunstvoll so gegeben, daß das
Äußere verwoben wird in die Erlebnisse, die
des Moses Seele durchmacht. So sind die äußeren
Erlebnisse, die uns da gegeben werden, an dieser Stelle,
überall Andeutungen von dem, wozu Moses sich
durchkämpft, um zu einer erhöhteren
Stellung der Seele hinaufzugelangen. Was ist in Jethro
angedeutet? Man kann aus der Bibel leicht entnehmen, daß
es eine der Individualitäten ist, zu denen wir immer
wieder und wieder geführt werden, wenn wir das
Menschheitswerden durchgehen, die sich in hohem Grade zu einer
überschauenden Erkenntnis durchgerungen haben, zu
einer Erkenntnis, die man nur gewinnen kann, wenn man sich
langsam und allmählich und durch innere
Seelenkämpfe in das einlebt, was erst jenen
Geisteshöhen Verständnis geben kann, auf
denen solche Menschen wandein. Angeregt werden sollte
Moses zu seiner Mission dadurch, daß er
gewissermaßen der Schüler einer solchen
geheimnisvollen Gestalt wurde, die sich mit ihrem Sinnen
für die übrige Menschheit
zurückziehen und nur die Lehrer der
Führer der Menschheit sind. Ich weiß wohl,
daß hiermit etwas gesagt wird, was bei vielen Menschen
heute Anstoß findet. Aber es ist etwas, was jedem tieferen
Betrachter des geschichtlichen Menschheitswerdens schon
äußerlich auffallen sollte, daß es
solche Geheimnisse und geheimnisvolle
Persönlichkeiten gibt.
Was
Moses nun als Schüler dieses großen
Priesterweisen erleben sollte, wird uns so dargestellt,
daß er zunächst an dem Orte, wo er den Priester
aufsucht, bei einem Brunnen — wieder ein Symbol, ein
Symbol für den Weisheitsquell — die sieben
Töchter des Priesterweisen trifft. Wer verstehen
will, was in einer solchen Schilderung Tieferes liegt, muß
sich vor allem daran erinnern, daß in aller mythischen
DarStellung immer, zu allen Zeiten, das, was die Seele an
höheren Erkenntnissen und Seelenkräften
überhaupt in sich entwickeln kann, durch das Symbol
von weiblichen Gestalten dargestellt wird — bis
herunter zu Goethe in seinen Worten am
Schlüsse des «Faust» vom
«Ewig-Weiblichen». So erkennen wir in den
«sieben Töchtern» des
Priesters Jethro die sieben menschlichen
Seelenkräfte wieder, über welche die
Weisheit des Priesterweisen zu verfügen hatte. Da
muß man bedenken, daß in jenen alten Zeiten, die noch
durchaus von dem Bewußtsein des alten Hellsehens belebt
waren, andere Anschauungen über das herrschten, was
die Menschenseele mit ihren einzelnen Kräften ist.
Wir können uns über dieses
Bewußtsein nur eine Vorstellung bilden, wenn wir von
Begriffen ausgehen, die wir heute selber haben. Wir sprechen
heute von der menschlichen Seele und ihren Kräften,
dem Denken, Fühlen und Wollen, in der Weise —
und es ist richtig vom Standpunkte des intellektualistischen
Bewußtseins aus so zu sprechen ×´, daß wir
in uns haben dessen Kräfte, daß sie gleichsam
Einschlüsse der Seele bilden. Anders dachte der alte
Mensch unter dem Einflüsse der hellseherischen
Begabung. Er fühlte zunächst einmal in
seiner Seele kein solches einheitliches Wesen und in seinem
Denken, Fühlen und Wollen nicht solche
Kräfte, die aus dem Zentrum des Ich wirken und
einheitlich die Seele organisieren. Sondern der alte Mensch
fühlte sich wie hingegeben an den Makrokosmos und
die einzelnen Kräfte, und die einzelnen
Seelenkräfte fühlte er wie im
Zusammenhange stehend mit besonderen
göttlich-geistigen Wesenheiten. Wie wir
— was wir aber nicht tun — uns vorstellen
können, daß unser Denken befruchtet wird,
getragen wird von einer anderen geistigen Weltenkraft als unser
Fühlen und unser Wollen, so daß sich
verschiedene Strömungen, verschiedene geistige
Kräfte aus dem Makrokosmos in unser Denken,
Fühlen und Wollen hineinergössen, und
daß wir mit diesen in Beziehung stünden —
so fühlte der alte Mensch nicht die Seele als ein
Einheitliches, sondern der Mensch sagte sich: Was in mir ist,
das ist nur der seelische Schauplatz, und
geistig-göttliche Kräfte aus dem
Universum sind es, welche sich ausleben auf diesem
Schauplatz.
Sieben solcher Seelenkräfte waren es, die bei Moses
gegeben sind, die hereinwirkten auf den Schauplatz des
Seelenlebens. Wenn wir sehen wollen, wie
überhaupt für die Entwickelung des
menschlichen Bewußtseins die ganzen Anschauungen
abstrakter und abstrakter, intellektueller und intellektueller
wurden, so können wir zum Beispiel auf Plato
hinschauen, dessen Ideen lebendige Wesen sind, die ein Dasein
führen wie für den heutigen Menschen nur
die Stoffe. Und die einzelne Seelenkraft hat etwas, was sich
auswirkt auf dem Schauplatze der gesamten Seele. Aber immer
mehr und mehr werden die Fähigkeiten der Seele zu
abstrakten Begriffen, und die Einheit des Ich tritt immer mehr
und mehr in ihre Rechte. Wir können — so
sonderbar es klingt — in einer abstrakten Form das, was
uns die sieben Töchter des midianitischen
Priesterweisen symbolisieren sollen, als die sieben lebendigen
Geistkräfte, die auf dem Schauplatz der Seele wirken
sollen, noch in den mittelalterlichen sieben freien
Künsten erkennen; wie da die sieben freien
Künste aus der menschlichen Seele sich hervorleben,
das ist der letzte abstrakte Nachklang des Bewußtseins,
daß sieben Fähigkeiten sich in dem Seelischen
ausleben, daß diese sieben Fähigkeiten eben die
Seele zu ihrem Schauplatz haben.
Wenn wir dies berücksichtigen, werden wir vor die
Tatsache geführt, daß Moses mit seinem
Seelischen vor dem Gesamtaspekt der sieben menschlichen
Seelenkräfte stand, daß er aber vorzugsweise
die Aufgabe hatte, eine einzige derselben ganz und gar wie
einen Impuls der menschlichen Entwickelung einzuimpfen. Das
konnte er dadurch, daß es der besonderen Blutanlage und
dem Temperament seines Volkes gegeben war, dieser Seelenkraft,
die in ihren Wirkungen bis zu uns herunterreicht, ein
besonderes Interesse entgegenzubringen. Das war die
Seelenkraft, welche die übrigen, vorher getrennt
gedachten Seelenkräfte in ein einheitliches inneres
Seelenleben zusammenschließt, in ein Ich-Leben. Darum wird
erzählt: Eine der Töchter des Jethro
heiratet Moses. Das heißt: in seiner Seele machte sich
insbesondere eine der Seelenkräfte wirksam, machte
sich so wirksam, daß sie unter seinem Impulse
für eine lange Zeit der Menschheitsentwickelung die
tonangebende Seelenkraft wird, welche die anderen zu einer
einheitlichen Ich-Seele zusammenfaßt.
Man
muß solche Darstellungen in unserer heutigen Zeit mit
aller Reserve geben. Denn unsere Zeit hat sozusagen kein
rechtes Organ, um einzusehen, daß diejenigen
Schilderungen, die wie äußere, physische
Erlebnisse sich ausnehmen, gerade deshalb gegeben werden,
um zu zeigen, daß in der Zeit, für welche das
geschildert wird, die betreffende Seele eine innere Entwicklung
durchmacht, das heißt zu ihrer Mission besonders
herangezogen wird. So sehen wir, wie das, was die alten
Ägypter nicht hatten: diese Inspiration des
Moses mit der menschlichen Ichkraft, mit dem Mittelpunkt der
menschlichen Seelenkräfte, gerade für ihn
das Maßgebende ist. Wir dürfen daher sagen: Es
lag in der Mission des altägyptischen Volkes, eine
Kultur mit der Mission des alten Hellsehens noch zu
begründen. Alles, was uns als ihr Bestes die
ägyptische Kultur überliefert hat, ist
noch aus der besonderen Art hellseherischer Kräfte
entSprüngen, welche die ägyptischen
Priesterweisen und die Führer des
ägyptischen Volkes hatten. Aber es war
gleichsam die Weltenuhr für diese Mission
abgelaufen, und die Menschheit sollte zur Entfaltung derjenigen
Seelenkraft aufgerufen werden, die für eine lange
Zeit der Menschheitsentwickelung das alte dumpfe
Hellsehen ersetzen soll. Ich-Bewußtsein,
Intellektualität, Rationalismus, Vernunft und
Verstand, die auf die äußere Sinneswelt
gerichtet sind, sollten an Stelle des alten Hellsehens
hineingesetzt werden in die Menschheit. Ich habe aber auch
schon erwähnt, daß für die Zukunft
sich die beiden Arten verbinden werden: die hellseherische
Kraft mit dem intellektuellen Bewußtsein, so
daß die Menschheit einer solchen Zukunft
entgegengeht, wo eine von hellseherischer Kraft
durchwobene Intellektualität für die
Menschen allgemein sein wird.
Was
wir also heute als das wichtigste Element für das
Kulturleben betrachten, hat seinen ersten Impuls durch Moses
erhalten, daher das Fortwirken-Fühlen des Impulses
des Moses noch in unserer eigenen Seelenkraft. Das
intellektualistische Denken, das Wirken in Verstand und
Vernunft war es, was dem Moses gegeben war. Ihm aber war es
noch in ganz besonderer Weise gegeben. Denn alles, was
später in seiner besonderen Eigenart auftreten soll,
muß vorher in der Eigenart der alten Zeiten gegeben
werden. Hier liegt nun eine wunderbare Tatsache vor uns
ausgebreitet. Was die spätere Menschheit dem Moses
verdankt, ist die Kraft, Vernunft und Intellekt zu entfalten,
aus dem Ich-Bewußtsein heraus im vollen Wachzustande
intellektuell über die Welt zu denken,
über die Welt sich intellektuell
aufzuklären. Dem Moses mußte das
Bewußtsein von der Intellektualität so gegeben
werden, daß in ihm selber das intellektuelle
Bewußtsein noch auf die Art der alten Hellseher
aufleuchtete. Das heißt also: Moses hatte zwar den ersten
intellektualistischen Impuls, aber bei ihm war er noch ein
Hellsehen. Bei ihm war er der erste der neuen und der letzte
der alten Impulse. Was die spätere Menschheit
außerhalb des Hellsehens hatte, das hatte er
innerhalb desselben. Die Erkenntnis für die reine
Vernunft und den Verstand war ihm gegeben, indem seine Seele in
hellseherische Zustände durch den Einfluß
versetzt wurde, den er bei dem midianitischen Priester erhalten
hatte, so zum Beispiel bei dem Erlebnis vor dem
«brennenden Dornbusch», der aber in
solchem Feuer erglühte, daß er nicht dabei
verbrannte. Da offenbarte sich in neuer Art der Weltengeist vor
Moses, wie er sich für die hellseherische Erkenntnis
der Ägypter nicht hatte zu erkennen geben
können.
Wer
mit den Tatsachen bekannt ist, der weiß, wie im Verlaufe
der Entwickelung die Menschenseele dazu kommt, die
äußeren Gegenstände
allmählich verändert zu erblicken, so
daß sie auf dem Hintergrunde durchwoben erscheinen von den
Urbildern, aus denen sie hervorsprossen. Und das Bild, das uns
grandios in der Bibel mit dem «brennenden
Dornbusch» entgegengestellt wird, erkennt jeder, der
zu einem geistigen Erkennen aufrückt, als etwas
wieder, wodurch man hineinsieht in eine geistige Welt. So
begreifen wir, wie das, was dem Moses auf hellseherische Art
gegeben werden mußte, ein neues Bewußtsein von dem
Weltengeiste sein mußte, der die Welt durchwebt und
durchlebt. Während die früheren
Völker zu der Mehrheit der
Weltenkräfte so aufgeschaut haben, daß
diese in die menschliche Seele in der Weise hereinwirken,
daß die einzelnen Seelenkrafte nicht eine Einheit, sondern
eine Mannigfaltigkeit darstellen, und die Menschenseele nur ihr
Schauplatz ist — so sollte Moses nun einen solchen
Weltengeist erkennen, der sich nicht bloß für
eine einzelne Seelenkraft offenbart, der nicht neben Geistern
gleichen Wertes steht, die in andere Seelenkräfte
hereinwirken; sondern jenen Weltengeist sollte Moses erkennen,
der sich nur offenbaren kann im tiefsten, allerheiligsten
Mittelpunkte des Seelenlebens, der sich nur auslebt in dem Ich
selber, wo die menschliche Seele sich ihres Zentrums
bewußt wird. Wenn die menschliche Seele fühlt,
daß sie in dem Ich so in dem Weben und Leben des Geistigen
steht, wie die Völker einst gefühlt
haben, daß sie mit ihrem Wesen in den geistigen
Weltenkräften stehen, dann fühlt die
Seele, was sich dem Moses zuerst durch hellseherisches Erkennen
offenbarte und was als der Weltengrund beachtet werden
sollte, von dem die Völker durch Moses den Impuls
bekamen, und den man mit dem Verstände, der
die Erscheinungen der Welt kombiniert, begreifen kann als
das, was als eine Einheitlichkeit der Welt
zugründe liegt. Wenn der Mensch heute auf den
Mittelpunkt seines Seelenlebens blickt, so ist dieser selbst
noch etwas, was ihm recht arm an Inhalt erscheinen muß,
trotzdem es das Stärkste ist, was der Mensch erleben
kann. Auf diesen Mittelpunkt ihres Seelenlebens haben sich
insbesondere hochbegabte Naturen im Verlaufe ihres Lebens
hingewiesen gefühlt, so zum Beispiel Jean
Pauly der in seiner
Selbstbiographie erzählt: «Nie
vergeß' ich die noch keinem Menschen erzählte
Erscheinung in mir, wo ich bei der Geburt meines
Selbstbewußtseins stand, von der ich Ort und Zeit
anzugeben weiß. An einem Vormittag stand ich als ein sehr
junges Kind unter der Haustür und sah links nach der
Holzlege, als auf einmal das innere Gesicht <ich bin ein
Ich> wie ein Blitzstrahl vom Himmel auf mich fuhr und
seitdem leuchtend stehenblieb: da hatte mein Ich zum ersten
Male sich selber gesehen und auf ewig. Täuschungen
des Erinnerns sind hier schwerlich gedenkbar, da kein fremdes
Erzählen sich in eine bloß im verhangenen
Allerheiligsten des Menschen vorgefallene Begebenheit, deren
Neuheit allein so alltäglichen
Nebenumständen das Bleiben gegeben, mit
Zusätzen mengen konnte.» — Was das
«verhangene Allerheiligste» ist,
erscheint dem Menschen zwar als das Stärkste, als
das Kraftvollste des Seelenlebens, aber er kann sich dessen
nicht so bewußt werden wie der mannigfaltigen anderen
Seelenerlebnisse: es ist nicht so reich. Wenn sich der Mensch
auf diesen Mittelpunkt zurückzieht, so
fühlt er, daß in dem wunderbaren Worte
«Ich bin» mächtig und
intensiv, aber eben mit geringem Wortinhalt, dieser
Mittelpunkt seines Seelenlebens erklingt.
Bis
hinein in dieses verhangene Allerheiligste wirkt
derjenige Weltengeist, der dem Moses als der einheitliche
Weltengeist klar wurde. Was Wunder, als dieser
Weltengeist sich ihm offenbarte, daß Moses sich
sagte: Wenn ich die Aufgabe erhalte, hinzutreten vor das Volk,
um eine Kultur zu inaugurieren, die auf Selbstbewußtsein
begründet sein soll, wer wird mir glauben? Auf
welchen Namen soll ich meine Mission stiften? Zur Antwort bekam
er: «Du sollst sagen: Ich bin der
ICH-BIN!» — Das heißt: Du kannst den
Namen jenes Wesens, das sich im innersten Allerheiligsten des
Menschenwesens ankündigt, nicht anders
ausdrücken als mit dem Worte, welches das Selbstsein
bezeichnet! So erblickte Moses in der Erscheinung des
brennenden Dornbusches die Jahve- oder Jehova-Natur, und
wir begreifen, daß in der Stunde, da in Moses der Name des
Jahve aufging als «Ich bin», eine neue
Strömung, ein neues Element in die Entwickelung der
Menschheit hereintrat, daß abgelöst
werden sollte die alte ägyptische Kultur, an der
Moses nur seine Seele heranzubilden hatte, um das zu verstehen,
was ihm im Leben als Höchstes begegnen sollte.
Dann haben wir die Unterredung des Moses mit dem Pharao. Der
können wir leicht ansehen, daß sich Moses und
Pharao gegenüberstehen und sich nicht verstehen
können. Die Schilderungen sollen darstellen,
daß alles, was Moses aus einem vollständig
gewandelten Menschenbewußtsein zu sagen hat, dem Pharao
unverständlich bleiben muß, in dem nur die
Fortwirkungen der alten hellseherischen
Ägypterkultur leben können. Das
wird uns anschaulich in der Art dargestellt, wie hellseherische
Urkunden reden. Denn Moses redet eine neue Sprache, kleidet
das, was er zu sagen hat, in Worte, die aus dem
Ich-Bewußtsein der menschlichen Seele entspringen, die
ganz unverständlich bleiben mußten
gegenüber dem, was der Pharao nur denken konnte. So
war das ganze ägyptische Volk bis zu jener
Weltenstunde mit einer Mission bedacht, die es auf Grundlage
des alten hellseherischen Bewußtseins vollbringen
konnte. Aber die Uhr dafür war abgelaufen. Wenn das
ägyptische Volk weiterlebte, so lebte es
weiter mit den Volkseigenschaften, mit dem Temperament und so
weiter, die es vorher hatte, aber es fand nicht den
Ãœbergang aus dem Abgrund, der zwischen der alten
Zeit und der neuen, für die gerade das
hebräische Volk bestimmt war, sich auftat. Diesen
Ãœbergang von der alten in die neue Zeit fand Moses.
Daher wurde das Andenken an das, was Moses mit seinem
Volke gefunden hat, zur Erinnerung des Uberganges von der alten
in die neue Zeit, das Passah, fortgefeiert. Denn dieses Passah
sollte daran erinnern, daß mit Moses die
Möglichkeit gegeben war, den Abgrund von der alten
in die neue Zeit zu überbrücken.
Die Ägypter konnten diesen Abgrund nicht
überbrücken, während sie
als Volk stehenblieben und die Zeit über sie
hinwegging. So haben wir uns das Verhältnis des
Moses zu den Ägyptern und zu seinem eigenen Volke
zu denken.
Was
Moses seinem eigenen Volke zu geben hatte, das war ganz
begründet in der Natur des althebräischen
Volkes. Was war es? Es sollte das alte Hellsehen von dem
intellektuellen Verstandes-Bewußtsein abgelöst
werden. Nun ist in den vorhergehenden Vorträgen
dargestellt worden, wie hellseherisches Bewußtsein
nicht an die äußere Körperlichkeit
gebunden ist, wie es sich frei entfaltet gerade dann, wenn der
Mensch durch seine Seelenübungen frei wird in dem
Seelenleben von dem äußeren
körperlichen Instrument. Das intellektuelle
Bewußtsein aber hat gerade zu seinem Instrument und
Werkzeug den menschlichen Organismus, wie er an das Gehirn und
an das Blut gebunden ist. Was früher gleichsam
über der physischen Organisation schwebte und
seine Fortentwickelung jenseits der Organisation durch die
Beziehung zwischen Lehrer und Schüler gefunden hat,
das mußte sich einleben als gebunden an eine physische
Organisation, das heißt gebunden an das, was mit dem Blute
des Volkes von Generation zu Generation weiterfloß.
Daher konnte das, was Moses geben sollte, weil es der Impuls
war zu einer intellektuellen Kultur, nur einem Volke gegeben
werden, das streng hielt auf das Fortströmen
des Blutes durch die Generationen. An dieses Instrument
war zunächst das Wesen der neuen Kultur
gebunden. Es mußte sich so ausleben, daß es
sich nicht bloß an dem Geistigen auslebte, sondern so,
daß das Volk herausgeholt wurde aus dem anderen Volke,
innerhalb dessen es seine Vorbereitung genossen hatte, und dann
rein für sich in getrennter Generationenfolge, in
getrennter Blutströmung durch die Jahrhunderte
hindurch das äußere Werkzeug entwickelte, das
der intellektuellen Kultur für alle Zukunft die
Grundlage schaffen sollte.
So
zeigt sich uns, wie die Weltgeschichte sinnvoll wird und wie
das Geistige an das äußerliche physische
Werkzeug des Blutes geknüpft ist. Wir
können in der Bibel sehen, wie der Darsteller
bemüht ist zu zeigen, daß der
Ãœbergang von der alten Kultur der
Ägypter zu der Kultur des Moses in seiner
weltgeschichtlichen Bedeutung dargestellt sein sollte, so zum
Beispiel bei dem Durchgang durch das Rote Meer. Hinter dem
Durchgehen der Israeliten durch das Meer und dem Ertrinken der
Ägypter verbirgt sich eine wunderbare Tatsache
für die Entwickelung der Menschheit. Diese Tatsache
wird uns nur erklärlich, wenn wir diese Ereignisse
verstehen.
Da
sehen wir an dem ägyptischen Volke sich
bewahrheiten, was für die
Seelenkräfte notwendigerweise mit dem
zusammenhängt, was man hellseherische Kultur nennt.
Sie werden nach dem, was bis jetzt in diesen
Vorträgen vorgebracht worden ist, nicht
voraussetzen, daß ich den Menschen nahe an die Tiernatur
heranbringen will. Aber was hier klarzumachen ist, das ist am
besten einzusehen, wenn wir den Ausgangspunkt von der
tierischen Organisation nehmen. Wir müssen uns
denken, daß das ganze tierische Vorstellen und das
tierische Seelenleben ein traumhaftes, ein dumpfes ist
gegenüber dem menschlichen, namentlich
gegenüber dem intellektuellen Seelenleben. Obzwar
das alte menschliche Hellsehen durchaus nicht an das tierische
Seelenleben herangebracht werden darf und sich radikal von ihm
unterscheidet, so dürfen wir uns an dem tierischen
Seelenleben, an dem Instinktleben des Tieres doch einen Zug
verdeutlichen, den das alte menschliche Seelenleben auch hatte.
Wenn es auch in den betreffenden Schilderungen oft
übertrieben ist, so liegt doch etwas Wahres dem
zugründe, daß dort, wo Erdbeben,
Vulkanausbrüche und so weiter geschehen, die Tiere
tagelang vorher Reißaus nehmen, die Flucht
ergreifen. Während die Menschen, die alles aus ihrem
Intellekt heraus begreifen, sitzenbleiben, werden die Tiere
aufgerüttelt. So sehen wir an das dumpfe
Instinktleben des Tieres ein Verwobensein mit dem
Naturleben gebunden und sehen, wie es wirkt. Die Schilderungen
sind oft übertrieben. Aber wer die
Geisteswissenschaft kennt, der weiß, daß die
tierische Natur so hineinverwoben in das ganze umliegende
Naturleben ist, daß wir beim Tier gewissermaßen
von einem «Wissen» reden
können, das in seinen elementaren Kräften
das Leben des Tieres regelt und das der Mensch deshalb nicht
hat, weil er seinen höheren Intellekt entwickelt,
der ihn befähigt, die Dinge durch Begriffe
zusammenzufassen, der ihn aber auch wieder aus dem Yerwobensein
mit der Natur selber herausgerissen hat.
Nun
müssen wir uns mit dem alten Hellsehen ein solches
instinktives Verwobensein auch des Menschen mit den
Naturtatsachen verbunden denken, ein instinktives
Erkennen, das dem Menschen sagte: Dies und das geschieht;
es bereitet sich dies oder jenes vor, — wie ja auch bei
Menschen, die sich durch die Anstrengungen der Seele zu einer
höheren Erkenntnis hinauferheben, wenn ihre ganze
Anlage dafür günstig ist, ein solches
Hineinschauen in die NaturtatSachen möglich
wird, ein Hineinschauen, für das man keine
«Gründe» angeben kann. Wer an
seiner Seele arbeitet und aus der Konfiguration der Seele
heraus manches zu sagen weiß, was das intellektuelle
Bewußtsein nicht zu sagen weiß, der fühlt
sich unbehaglich, wenn man dann überall fragt: Warum
ist das so? Beweise mir, was du zu sagen hast! — Man
merkt nicht, daß ein solches Wissen ganz andere Wege
einschlägt als das Wissen, das aus der
Verstandeslogik heraus gewonnen ist. Es ist durchaus
treffend, daß Goethe, wenn er zum Fenster hinaussah, oft
für Stunden voraussagen konnte, was für
ein Wetter eintreten würde. Denken wir uns das bei
den alten Menschen so vorhanden, daß sie durch Eintreten
in die geistige Welt die Möglichkeit hatten, mit der
Natur und ihren Tatsachen ganz anders verwoben zu sein als die
heutigen Menschen mit ihrer Wissenschaft, dann werden wir einen
der Grundzüge des alten Hellsehens für
die Lebenspraxis begreifen. Die alte Menschheit hatte keine
meteorologischen Anstalten und Berichte, wo aus Zeitungen
und so weiter die Witterung vorausgesagt werden konnte,
aber sie hatte ein Empfinden, richtete sich nach ihrem Blick,
der ihr in anschaulicher Weise darstellte, was eintreten wird.
Das war ganz besonders in einem hohen Grade bei den alten
Ägyptern der Fall, ohne daß sie unser
zerlegendes Wissen und unsere Wissenschaft hatten; sie
wußten sich so zu benehmen, daß es dem
lebendigen Zusammenhange mit der ganzen Umwelt entsprach.
Aber gerade weil die Weltenzeit für die
ägyptische Kultur abgelaufen war, deshalb war immer
mehr und mehr diese Fähigkeit der
Ägypter in Verfall gekommen, und sie waren immer
weniger und weniger imstande, sich in die Tatsachen der Natur
hineinzufinden, wußten nicht mehr aus den Konstellationen
der äußeren Elemente anzugeben, wie sie sich
verhalten sollten. Denn die Menschen sollten die
Konstellationen der äußeren Elemente mit
dem Verstände durchschauen lernen, und Moses sollte
dafür den Impuls noch aus dem hellseherischen
Bewußtsein heraus geben.
Da
sehen wir Moses mit seinem Volke hingestellt vor das Rote Meer.
Durch ein Wissen, das dem unsrigen ähnlich ist, das
bei ihm ins Hellseherische noch übersetzt ist,
erkennt er, wie durch die natürlichen
Zusammenhänge — durch eine besonders
kombinierte Verbindung von Ostwind und dem ebbe- und
flutartigen Gang des Meeres — eine Möglichkeit
besteht, sein Volk zur günstigen Stunde durch das
Meer hindurchzuführen. Dazu wird uns die
Tatsache geschildert und gezeigt: Moses steht da als der
Begründer der neuen, in tellektualisierten
Weltanschauung, die durchaus noch nicht abgelaufen
erscheint, die den Menschen erst wieder lehren wird, die
Lebenspraxis in Einklang mit den
Naturverhältnissen zu bringen, wie es Moses
getan hat. Die Ägypter waren ein Volk, dessen
Stunde abgelaufen war; sie konnten nicht mehr wissen, was in
später Stunde geschieht. Die alten Naturinstinkte
waren bei ihnen verfallen. So standen sie an derselben Stelle
wie in den alten Zeiten. Aber in den alten Zeiten
hätten sie sich gesagt: Wir können jetzt
nicht mehr hinüber! — Dieses alte, instinktive
Naturfühlen war bei ihnen in Dekadenz gekommen, und
in das neue, intellektuelle Bewußtsein konnten sie
sich nicht hineinleben. Daher standen sie vor dem Roten Meere
ratlos und beirrt da durch ihr nicht mehr maßgebendes
Bewußtsein und verfielen dem Unglück. So
sehen wir, wie das neue Element des Moses recht kontrastiert
mit dem alten Element, sehen das alte Hellsehen so in Verfall
gekommen, daß es an sich irre werden muß und sich
durch das Nicht-mehr-Hineinpassen in die neue Zeit den
Untergang bereiten muß.
Wenn wir durch solche scheinbar äußeren
Schilderungen auf das durchblicken, was der Darsteller
eigentlich sagen will, so finden wir in solchen Angaben die
großen Wendepunkte der Menschheitsentwickelung
charakterisiert und begreifen, daß es gar nicht leicht
ist, aus der ganzen eigenartigen Darstellung der alten
Schriften die Bedeutung soleher
Persönlichkeiten — wie zum Beispiel Moses
— herauszufinden. Daß Moses ganz auf einem
alten Hellsehen fußte, daß bei ihm die neue
intellektuelle Kultur noch hellsehend war, das wird uns auch
noch später da gezeigt, wo es sich entscheiden soll,
ob er nun wirklich sein Volk nach Palästina
hinüberführen soll. Dieses Volk sollte ja
hinübergeführt werden als das, welches
durch die ganze Blutart die intellektuelle Kultur
begründen sollte. Was Moses als Hellsehen
hatte, das konnte den Impuls geben, konnte aber selbst diese
Kultur nicht sein. Denn hellsehend sollte diese Kultur nicht
sein; sie sollte gerade als ein Neues gegenüber dem
alten Hellsehen auftreten. Daher sehen wir, wie Moses sich
berufen fühlte, sein Volk bis zu einem gewissen
Punkte zu führen, es selber aber nicht in das neue
Land führen konnte. Das sollte er denen
überlassen, die zu der neuen Kultur berufen sind.
Klar wird uns das in der Bibel gesagt. Während Moses
der Verkünder des Gottes ist, der bis in die
Ich-Wesenheit hinein sich verkündet, wird uns aber
auch angedeutet, daß Moses nur imstande ist, durch seinen
hellseherischen Blick die Wortgewalt dieses Weltengeistes
zu vernehmen. Und als er in einer Lage ist, wo er — sich
selbst überlassen — seinem Volke helfen soll,
da flicht er zum Zelte hin, wo er hellseherisch seines Gottes
wieder ansichtig werden könnte. Da wird ihm aber
gesagt: Weil du nicht fortführen konntest, was dir
im hellseherischen Denken gegeben ist, so muß ein anderer
dein Volk fortführen. — Daraus spricht
etwas, wodurch er uns aber auch wie in einem Glänze
erscheint, der sagen will, daß der, der hellseherisch ist,
als ein Prophet wie keiner mehr in Israel aufgetreten ist.
Damit ist angedeutet, daß er der letzte war, der ein
solches Hellsehen hatte, und daß die neue Kultur ohne
Hellsehen, auf bloße Ãœberlieferung hin und auf
bloße Intellektualität bei den entsprechenden
Völkern weiterwirken sollte, damit vorbereitet
werden konnte, daß das Ich, dessen sich die Menschheit
jetzt auf dieser neuen Kulturgrundlage bewußt geworden
war, in sich aufnehmen konnte ein neues Element.
Durch die Mission des Moses war die Menschheit bis dahin
geführt worden, wo sie einsehen konnte, daß der
die Welt durchwebende und durchlebende Weltengeist sich am
deutlichsten, am menschlichsten fühlen
läßt im Ich-bin, im innersten Mittelpunkt der
menschlichen Seele, daß aber erst das Ich-bin sich mit
einem Gehalte anfüllen muß, der nun wieder die
Welt umfassen kann, so daß das arme Wort Ich-bin reichsten
Inhalt erhalten kann. Dazu war aber eine andere Mission
notwendig, die Mission, die dann mit dem bedeutungsvollen Wort
des Paulus ausgesprochen werden konnte:
«Nicht ich — sondern der Christus in
mir!» Bis zur Begründung einer Ich-Kultur
hatte Moses die Menschheit geführt. Einzuleben hatte
sich nun die Ich-Kultur wie eine Gabe von oben, wie eine
Volkskultur, wie ein Gefäß, das neuen geistigen
Inhalt aufnehmen sollte. Es sollte das Ich sich
zunächst im Schöße des
althebräischen Volkes entwickeln, und
hineinfallen sollte in das GefÃ¤ß dasjenige, was
von einem wirklich echten Verständnis der
palästinensischen Ereignisse des Mysteriums von
Golgatha ausgehen konnte. Da sollte das Ich wieder einen neuen
Inhalt bekommen, einen Inhalt, der nun selber aus der geistigen
Welt geschöpft war. Was aus der vorbereitenden
Menschheitsentwickelung des althebräischen Volkes
Neues in das Ich hineingegossen wurde, das können
wir am besten ersehen, wenn wir die wunderbare, aber nur aus
der Eigenart des althebräischen Volkes
verständliche Tragödie des Buches Hiob
uns vor Augen führen.
Da
wird uns erzählt, daß Hiob —
trotzdem er als ein Gerechter festhält an seinem
Gotte und sich bewußt ist, daß alles, was er hat, von
seinem Gotte stammt — Unglück über
Unglück erfährt an seinem Eigentum, an
seiner Familie, an seiner Person selber, so daß an
den Offenbarungen seines Gottes etwas ist, was ihn irre machen
könnte, daß nun wirklich jener Weltengeist, von
dem wir eben gesprochen haben, sich auslebt im
menschlichen Ich. So weit geht es, daß das Weib des Hiob
nicht begreifen kann, warum ihr Mann noch an seinem Gotte
festhält, und ihm daher das bedeutungsvolle Wort
sagt, das von einer unvergleichlichen Bedeutung ist:
«Sage deinem Gotte ab — und stirb!»
Was heißt also im Sinne dieser bedeutungsvollen
allegorischen Tragödie dieses Wort: «Sage
deinem Gotte ab und stirb»? Nichts anderes als: Wenn
der Gott, der der Quell deines Lebens sein soll, dich so
behandelt, so sage ihm ab. Aber gewiß ist es dann,
daß der Tod das Los ist der Absage an Gott, so daß
der, welcher dem Gotte absagt, sich heraushebt aus dem
lebendigen Werdegang. Die Freunde des Hiob können es
nicht begreifen, daß er keine Sünde auf sich
geladen habe, da sich doch die Ergebnisse an der
gerechten Persönlichkeit ausleben
müßten. Ja, der Darsteller selbst kann uns
nicht anders begreiflich machen, daß die
Weltgerechtigkeit dennodi besteht, als dadurch, daß
der tiefgebeugte, ins Elend geworfene Hiob dennodi einen
Ersatz bekommt in der physischen Welt für alles, was
er verloren hat.
So
klingt durch schon in der bedeutungsvollen Allegorie des Buches
Hiob das Moses-Bewußtsein, so daß wir sehen: Es ist
der Mensch gewiesen bis zu seinem Ich. Aber in dem Augenblick,
wo er irren kann, da das Ich sich ausleben kann im Physischen,
da verliert er — oder kann verlieren — das
Bewußtsein des Zusammenhanges mit dem Lebensquell.
Daß aber nicht bloß Ausgleich sein soll in der Welt
des Physischen, sondern daß bei allem Verfall in das Elend
des Physischen, in das Leid und in den Schmerz des Physisdien
der Mensch Sieger sein kann über alles Physische,
weil in sein Ich nicht bloß der Urquell alles in Zeit und
Raum Ausgedehnten hereinscheint, sondern weil in sein Ich
herein die Macht des Ewigen aufgenommen werden kann —
daß der Mensch dies verstehen lernt, das war mit dem
Christus-Impuls gegeben. So war mit dem Worte des Paulus
«Nicht ich — sondern der Christus in
mir» gesagt: Bei Moses wurden die Menschen bis dahin
geführt, daß sie begriffen: Alles, was die Welt
in Raum und Zeit durchlebt und durchwebt, spricht sich in
tiefster Eigenart im menschlichen Ich aus. Man begreift
die Welt, wenn man sie in ihrer Einheit wie aus einem solchen
Ich hervorgehend begreift. Willst du aber das Ewige in
das Ich aufnehmen, so mußt du nicht bloß die
Zusammenfassung des Zeitlichen, nicht bloß die
Jahve-Einheit hinter allem in Raum und
Zeit Ausgebreiteten erkennen, sondern den konzentrisch hinter
aller Einheit selbst gegebenen Christus-Quell!
Damit sehen wir die Persönlichkeit des Moses als die
wahre vorbereitende Persönlichkeit für
das Christentum; sehen, wie dem menschlichen
Selbstbewußtsein durch Moses gleichsam das
GefÃ¤ß eingepflanzt worden ist, das nun in aller
künftigen Menschheitsentwickelung durch die ewige
geistige Substantialität, das heißt — im
rechten Sinne verstanden — durch die
Christus-Wesenheit ausgefüllt werden soll. So
verstehen wir, wie Moses hereingestellt ist in den menschlichen
Werdegang. Gerade durch eine solche Betrachtung gewinnt
alles Anschauen in der Geschichte den tiefsten Sinn. Daß
in diesem oder jenem Zeitpunkt diese oder jene
Persönlichkeiten auftreten, daß durch dieselben
jene ewigen Quellen für die Menschheit fließen,
welche die Menschheit in ihrem Werdegange
vorwärtsbringen, das erzeugt in uns das
Gefühl von dem echten Zusammenhange des Einzelnen
mit der ganzen Menschheitsentwickelung, auf den schon im
vorigen Vortrage über Buddha aufmerksam
gemacht worden ist.
Wenn wir so die Menschheitsentwickelung überblicken,
sagen wir uns: Wir lernen uns in einem lebendigen Sinn der
Entwickelung drinnenstehend erkennen. Wir lernen
erkennen, wie sozusagen die Weltengeister mit unserem
Dasein etwas gemeint haben, und wie das, was sie gemeint
haben, im Leben immer mehr und mehr zum Vorschein kommt. Ja,
gerade die Betrachtungen der größten Geister
und der größten Ereignisse der Weltentwickelung
und der Menschheitsgeschichte statten uns mit jenem
Kraftbewußtsein, jener Zuversicht in unserer Seele
aus, mit jener Hoffnungssicherheit, mit der wir dadurch
allein in der gesamten Menschheitsbestimmung drinnenstehen
können, daß wir die Weltgeschichte so
überblicken und aufs neue das schone Goethe-Wort
empfinden, daß Â«das Beste», was die
Geschichte in uns erzeugen kann, «der
Enthusiasmus» ist. Jener Enthusiasmus aber, der
nicht bloß tote Bewunderung bleibt, sondern der darin
besteht, daß wir die Samen der Vorzeit in unsere Seele
aufnehmen und die Samen für die Zukunft zu
Früchten entwickeln. Und des Dichters Wort belebt
sich in einer etwas veränderten Form, indem wir aus
der Betrachtung der größten
Persönlichkeiten und der größten
Ereignisse die Wahrheit gewinnen:
Die Zeit, sie ist eine blühende Flur,
Ein großes Lebendiges ist der Menschheit Werdegang,
Und alles ist Frucht, und alles ist Same!
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