Gefühl die Aufmerksamkeit hinlenken will, da verschwindet
es in der Seele; es entzieht sich gleichsam die Seele der
Beobachtung des Menschen.
«Ja sogar» — sagt er — «sie
können ihm unter der Hand zerrinnen. Ein leichter
körperlicher Schmerz wird durch die Beobachtung
gesteigert.»
Er
meint also: Schmerz ist ein seelisches Erlebnis; ja, wie
können wir ihn aber beobachten? Wie können wir
dahinterkommen, was da ist, wenn Schmerz so in der Seele lebt,
daß, wenn wir anfangen, ihn zu beobachten, er stärker
wird. Also er verändert sich. Wir verändern durch die
Beobachtung das, was wir beobachten wollen. Oder:
«Das Hersagen des allergeläufigsten Memorierstoffs
kann ins Stocken oder in seinem Ablauf in Verwirrung geraten,
wenn die Beobachtung den Gang dieses Ablaufs festzustellen
bemüht ist.»
Er
meint: Das ist ja eine seelische Erscheinung, wenn wir etwas
aufsagen, was wir im Gedächtnis haben. Wenn wir aber jetzt
anfangen wollen, zuzuschauen, was da eigentlich geschieht,
während wir aufsagen, da geht es nicht. Also können
wir diese seelische Erscheinung des Aufsagens nicht beobachten.
Oder weiter sagt er:
«Starke Gefühle oder gar Affekte, wie Angst und Zorn,
machen zur Beobachtung der eigenen psychischen Phänomene
unfähig. Oft fälscht die Beobachtung das Ergebnis,
indem sie in das Gegebene erst das hineinträgt, was sie zu
finden erwartet. Es scheint fast unmöglich, sich die
psychischen Erlebnisse des gegenwärtigen Augenblicks so zu
vergegenständlichen, daß man sie zum Objekt einer
gleichzeitigen Beobachtung macht; entweder läßt das
Erlebnis die gleichzeitige Beobachtung nicht aufkommen, oder
die Beobachtung fälscht und verdrängt das
Erlebnis.»
Wir
sehen hier eine Persönlichkeit, die gewissermaßen
zurückzuckt vor der Beobachtung des Seelischen unter dem
Einfluß des Denkens. Will ich das Seelische erfassen, so
verändere ich gerade durch diese seelische Tätigkeit
des Erfassens das Seelische. Und deshalb ist eine Beobachtung
eigentlich gar nicht möglich — so meint
Hartmann.
Nun
ist dies in der Tat ein außerordentlich interessantes
Beispiel für die Irrwege, welche gerade diese Forschung
aus einem gewissen Unvermögen einschlagen kann. Denn was
würde man eigentlich gewinnen, wenn man, sagen wir, ein
zartes Gefühl wirklich beobachten könnte? Ein zartes
Gefühl würde, wenn es beobachtet würde, in der
Seele ganz dasselbe bleiben, was es ist. Wir würden durch
die Beobachtung dieses zarten Gefühls nichts anderes
erfahren, als was dieses zarte Gefühl ist. Nichts
über die Seele; gar nichts über die Seele. Und ebenso
ist es mit Bezug auf die anderen Beispiele, welche Hartmann
anführt. Denn es kommt darauf an, daß sich das, was
wir eigentlich Seele nennen sollten, niemals zeigt in dem, was
der Augenblick bietet. Sondern das Seelische kann erst wirklich
vor uns auftreten, wenn wir gerade die Veränderungen
erleben der einzelnen seelischen Erlebnisse. Würden wir
beobachten wollen, was in einem Augenblick in der Seele
vorhanden ist, so würden wir etwa dem gleichen, der in
einer gewissen Jahreszeit hinausgeht aufs Feld und die braune
Ackererde sieht, weit ausgebreitet, und sich sagt: diese braune
Ackererde ist dasjenige, was da eigentlich ausgebreitet ist.
Nach einer gewissen Zeit geht er wieder hinaus. Jetzt ist
überall grün Sprossendes herausgekommen. Wird, der
also beobachtet, wenn er vernünftig ist, dann nicht sagen:
Ja, dann hat mir eben die braune Ackererde, die ich
kürzlich gesehen habe, nicht alles gezeigt, was eigentlich
da vorhanden ist. Erst dadurch, daß ich zu verschiedenen
Zeitpunkten die Veränderung, die vor sich gegangen ist,
beobachtet habe, komme ich dahinter, um was es sich eigentlich
handelt: daß da nicht bloß Ackererde ausgebreitet
ist, sondern daß diese Ackererde in sich soundso viele
Samenkörner, die sprießen und sprossen, enthalten
hat.
So
stellt sich das Seelische erst dar, wenn wir aufmerksam werden:
ein zartes Gefühl wird ausgelöscht, wenn ich einen
starken Gedanken der Beobachtung darauf lenke. Dieses
Zusammenwirken des zarten Gefühls und des starken
Gedankens, der beobachtet, das ist erst das Wirken und Wesen
und Wellen des Seelischen. Also Eduard von Hartmann bedauert,
dasjenige nicht beobachten zu können, was sich
verändert, während er gerade die
Veränderung beobachten sollte. Würde er von einem
Gesichtspunkte ausgehen, der tiefer, als er es vermag, in das
seelische Leben und in den Zusammenhang des seelischen Lebens
mit dem körperlichen Leben hineinblicken läßt,
dann würde er zum Beispiel über das Memorieren sich
folgendes sagen. Er würde erkennen, daß das
Memorieren darauf beruht, daß ein Seelisches dadurch,
daß ich es oftmals betätigt habe, in das
körperliche Geschehen sich eingegraben hat, so daß im
Aufsagen des Memorierten, gewissermaßen ohne daß das
Seelische dabei sein muß, der Körper automatisch
ablaufen läßt, was zu geschehen hat, damit das zu
Memorierende wieder hervorkommt. Derjenige, der seelische
Erlebnisse zu beobachten versteht, der weiß, daß
durch das Memorieren das Seelische gewissermaßen tiefer
herunter rückt in die leibliche Organisation, daß es
dadurch zu einer Betätigung mehr im Leiblichen kommt, als
wenn wir durch unmittelbares Nachsinnen gegenwärtige
Gedanken bilden, die wir nicht memoriert haben. Wenn wir
unmittelbar Gedanken ausbilden, so betätigen wir uns, ich
möchte sagen, um eine Schicht höher im Seelischen,
als wir uns betätigen, wenn wir das Memorierte hersagen,
wo wir das, was das Seelische in das Leibliche eingegraben hat,
wiederum mehr oder weniger automatisch hervorbringen. Dann
aber, wenn wir nun automatisch ablaufen lassen, was wir
eingegraben haben vom Seelischen aus ins Leibliche, stören
wir diesen Automatismus, wenn wir mit einem unmittelbar
gegenwärtigen Gedanken eingreifen, der um eine Schicht
höher, nämlich im Seelischen, entsteht. Es ist, wenn
wir mit unseren Gedanken vom Seelischen aus hereinfahren in den
Automatismus des Leibes, der sich abspielt beim Hersagen eines
Memorierstoffes, geradeso wie wenn wir etwa mit einem Stock in
eine gehende Maschine hereinführen und ihr Ablaufen
stören würden.
Man
wird, wenn man solche Dinge erfaßt, die Hartmann bedauert,
gleich sehen, wie die verschiedenen Betätigungsarten des
Seelischen und auch des Leiblichen im Menschen
zusammenwirken.
Und
Eduard von Hartmann sagt: «Die Beobachtung fälscht
oftmals das Seelische.» Nun, es ist im Grunde die
landläufige Wissenschaft im Laufe der letzten Jahrzehnte
mehr oder weniger abgekommen von einer eigentlichen Beobachtung
des Seelischen, wenigstens von einem methodischen Beobachten
des Seelischen. Aber gewisse Lichtblitze sind hervorgetreten.
Und solche Lichtblitze haben gerade diejenigen gehabt, die von
den regulären Schulphilosophen nicht so recht anerkannt
werden. So hat manchen solcher Lichtblitze zum Beispiel
Nietzsche gehabt. Nietzsche hat in einem gewissen, immer
mehr zum Krankhaften sich steigernden genialen Erfassen des
seelischen Lebens erkannt, wie das, was an der Oberfläche
desselben verläuft, sich gar sehr unterscheidet von dem,
was in den Tiefen des Menschenlebens sich abspielt. Man braucht
nur so etwas zu lesen wie Nietzsches Auseinandersetzungen
über das asketische Ideal, dem sich manche Menschen
hingeben, und man wird sehen, was hier eigentlich gemeint ist.
Wie schildert man oftmals das asketische Ideal? Nun, man
schildert es so, daß man dabei das im Auge hat, was der
sich einbildet, der sich der Askese im gewöhnlichen Sinne
hingibt: wie der Mensch sich immer mehr und mehr trainiert
dazu, nichts selber mehr zu wollen, seinen Willen auszuschalten
und immer mehr gerade dadurch willenlos, selbstlos zu werden.
Aus der Verfolgung dieses Gedankenganges bildet sich dann das,
was man das asketische Ideal nennt. Nietzsche fragt: Was steckt
denn eigentlich hinter diesem asketischen Ideal in der Seele
drinnen? Und er findet: Derjenige, der so recht nach einem
asketischen Ideal lebt, der will Macht, Erhöhung der
Macht. Würde er nur sein gewöhnliches Seelenleben, so
wie er einmal ist, entwickeln, so hätte er eine geringere
Macht — wie er verspürt —, als er haben will.
Daher trainiert er seinen Willen, scheinbar um ihn
herabzusetzen. Aber in den Tiefen der Seele will er gerade
dadurch, daß er den Willen herabsetzt, große Macht,
große Wirkungen erlangen. Wille zur Macht steckt hinter
dem Ideal der Willenlosigkeit, der Selbstlosigkeit. So meint
Nietzsche. Und darin liegt in der Tat ein richtiger Lichtblitz,
der gar wohl berücksichtigt werden sollte bei der
Beurteilung, namentlich bei der Selbsterkenntnis des
Menschen.
Nehmen wir ein näherliegendes Beispiel, als das ist, das
Nietzsche in der Askese besprochen hat. Mir schrieb einmal und
sagte auch oftmals eine Persönlichkeit: Ich widme mich
einer gewissen wissenschaftlichen Richtung; eigentlich habe ich
nicht die geringste Sympathie für diese wissenschaftliche
Richtung, aber ich betrachte es als eine Mission, als eine
Pflicht, mich in dieser Richtung zu betätigen, weil das
die Menschheit in der Gegenwart braucht. Ich würde ja
eigentlich alles lieber tun als gerade dasjenige, was ich da
ausführe. — Ich genierte mich nicht, dem
betreffenden Manne immer wiederum zu sagen, nach dem, wie er
mir erschiene, sei das eine oberflächliche Anschauung
seiner Seele über sich selber. Tief im Unterbewußten,
in jenen Schichten des Seelenlebens, von denen er nichts
weiß, da lebt in ihm eine Gier, gerade das
auszuführen, von dem er sagte, daß es ihm eigentlich
unsympathisch ist, daß er es nur als eine Mission
hinnehme. Und in Wahrheit, so sagte ich, erscheint mir die
ganze Sache so, daß er das als eine Mission ansieht aus
dem Grunde, weil er aus den egoistischsten Motiven heraus
gerade diese Dinge ausbilden will. Da kann man sehen, ohne nun
tiefer in das Seelenleben einzugehen, daß das
oberflächliche Seelenleben das unterbewußte geradezu
fälscht. Aber in diesem Fälschen liegt gerade ein
merkwürdiges Betätigen der Seele.
Gerade Eduard von Hartmann hat aus solchen Gedankengängen
heraus, wie ich sie angeführt habe, und aus einer nicht
weitergehenden Verfolgung solcher Gedankengänge, wie ich
sie dar angeschlossen habe, zu seiner Hypothese des
Unbewußten gegriffen. Er sagt: Aus dem, was sich in der
Seele abspielt als Denken, Fühlen und Wollen, was man da
in der Seele als Bewußtsein hat, könne man eigentlich
keine Ansicht über die wirkliche Seele gewinnen. Aber weil
man nur das hat, so muß man überhaupt auf eine
Anschauung über das wirkliche Seelenleben verzichten und
kann nur eine Hypothese aufstellen. — Deshalb stellt
Hartmann die Hypothese auf: Hinter dem Denken, Fühlen und
Wollen liegt das Unbewußte, das man niemals erreichen
kann. Und aus diesem Unbewußten wogen herauf die Gedanken,
die Gefühle und Willensimpulse. Aber was da unten im
Unbewußten ist, darüber kann man sich nur Gedanken
machen, die eine mehr oder weniger größere
Wahrscheinlichkeit haben, die aber nur Hypothesen sind. —
Man muß sagen: Wer so denkt, verbaut sich eben selbst den
Zugang zum Seelenleben, zu demjenigen, was jenseits des
gewöhnlichen Seelenlebens ist. Denn das hat Hartmann
richtig eingesehen, daß alles, was in das gewöhnliche
Bewußtsein hineinfällt, nichts anderes ist als
bloßes Bild. Und das gehört gerade zu den Verdiensten
Hartmanns, daß er im eminentesten Sinne immer wieder
betont hat: Was ins gewöhnliche Bewußtsein
hineinfällt, das entsteht dadurch, daß die Seele
gewissermaßen aus dem Körper heraus ihren eigenen
Inhalt gespiegelt erhält, so daß wir in dem, was wir
in Denken, Fühlen und Wollen erleben, nur Spiegelbilder
haben. Und darüber zu reden, daß in diesen
Spiegelbildern des Bewußtseins eine Wirklichkeit enthalten
sei, das gleicht ganz der Behauptung, daß die Bilder, die
wir aus einem Spiegel wahrnehmen, Wirklichkeit seien. Das hat
Hartmann immer wieder und wiederum betont. Wir werden gerade
auf diese Sache nochmals heute zurückkommen. Aber
Hartmann, und mit ihm unzählige Denker, unzählige
Menschen überhaupt der letzten Jahrzehnte und der
unmittelbaren Gegenwart, sie verbauten sich selbst die
Möglichkeit, ins Seelische einzudringen, weil sie, ich
möchte sagen, vor dem Wege, der ins Seelische eindringen
kann, eine unbeschreibliche Furcht hatten. Nur bleibt diese
Furcht auch im Unterbewußten; ins gewöhnliche
Bewußtsein ragt sie so herauf, daß man sich
zahlreiche Gründe vor die Seele gaukelt, die einem
besagen: man kann nicht über gewisse Grenzen des Erkennens
hinausschreiten.
Wer
nämlich wirklich in das Seelenleben eindringen will, der
hat nötig, nicht bei dem gewöhnlichen Bewußtsein
stehenzubleiben, sondern zu demjenigen überzugehen, was
ich in den Vorträgen, die ich hier gehalten habe, das
«schauende Bewußtsein» genannt habe, ein
gewissermaßen höheres Bewußtsein gegenüber
dem gewöhnlichen Bewußtsein. Ich habe folgenden
Vergleich gewählt: Der Mensch lebt im Schlafe in Bildern.
Die Bilder des Traumes, der aus dem Schlafe sich heraus erhebt,
werden bis zu einem gewissen Grade bewußt. Ich habe in
vorigen Vorträgen gesagt: Das Wesentliche ist, daß
der Mensch in diesen Bildern, die er im Traume erlebt, nicht in
der Lage ist, seinen Willen in eine Beziehung zu den Dingen in
der Umgebung zu setzen. Im Augenblick des Aufwachens, wenn der
Mensch aus dem Traumbewußtsein ins Wachbewußtsein
eintritt, bleibt ja dasjenige, was Bilder, was Vorstellungen
sind, im Grunde genommen gerade so, wie es im Traume auch ist;
nur tritt jetzt der Mensch mit seinem Willen in Beziehung zur
Umgebung, und er gliedert das, was im Traume sonst bloß
als Bilder abläuft, in seine sinnliche Umgebung ein. So
wie nun der Mensch aufwacht aus dem Traumbewußtsein in das
gewöhnliche Wachbewußtsein, so kann er durch gewisse
Verrichtungen der Seele sich dahin bringen, aus dem
gewöhnlichen Wachbewußtsein zu einem «schauenden
Bewußtsein» aufzuwachen, wodurch er sich nun nicht
eingliedert in die gewöhnliche Sinneswelt, sondern mit
seinen seelischen Kräften in die geistige Welt. Dieses
schauende Bewußtsein, das ist es allein, durch das der
Mensch in das Jenseits der Seelenerscheinungen eindringen
kann.
Es
glauben gerade die, ich möchte sagen, erleuchtetsten
Geister der Gegenwart, daß man geradezu eine Sünde
wider die Erkenntnis begehe, wenn man von einem Aufsteigen des
Menschen zu einem solchen schauenden Bewußtsein spricht.
Und für manche insbesondere der philosophischen Geister
der Gegenwart ist einfach dieses schauende Bewußtsein
damit verurteilt, daß ein solcher Mensch sagt: Ja, das ist
ja so wie die Hellseherei! — Nun liegt die Sache so,
daß — um an etwas anzuknüpfen — man es
vielleicht am besten charakterisieren kann, wenn man den
ungeheuren Fortschritt charakterisiert, der in der Stellung des
Menschen zur Wirklichkeit geschehen ist von Kant zu Goethe.
Damit begeht man allerdings eine Sünde wider den Geist so
mancher Philosophen. Aber diese Sünde muß schon
einmal begangen werden. Der Kantianismus ist ja dasjenige, was
begonnen hat, innerhalb der kontinentalen Geistes-entwickelung
Schranken der menschlichen Erkenntnis aufzurichten. Das
«Ding an sich» soll als etwas absolut Jenseitiges
hingestellt werden, an das die menschliche Erkenntnis nicht
herankommen kann. So will es der Kantianismus, und so wollen es
mit dem Kantianismus viele Menschen des 19. Jahrhunderts, bis
in die Gegenwart, auch im 20. Jahrhundert. Goethe hat in
wenigen kurzen Sätzen etwas ungeheuer Bedeutungsvolles
gegen dieses Prinzip des Kantianismus vorgebracht. Und man
könnte eigentlich, wenn man das deutsche Geistesleben
recht bewerten will, den kleinen Aufsatz Goethes
«Über anschauende Urteilskraft», der
gewöhnlich in den naturwissenschaftlichen Schriften
Goethes gedruckt ist, als eine der größten Taten der
neueren Philosophie ansehen, aus dem einfachen Grunde, weil in
dem, was in diesem kleinen Auf satze lebt, der Ausgangspunkt
gegeben ist für eine gewaltige Entwickelung des
menschlichen Geisteslebens. Goethe sagt in diesem Aufsatz
«Über anschauende Urteilskraft» ungefähr:
Ja, Kant schließt den Menschen aus von dem Ding an sich
und läßt nur gelten, daß hereinragt in die Seele
der kategorische Imperativ, der ihm befiehlt, was er tun soll.
Aber wenn man sich im Sittlichen, meint Goethe, erheben soll zu
Gedanken über Freiheit, Unsterblichkeit, warum sollte es
dem Menschen verschlossen sein, sich unmittelbar auch in der
Erkenntnis hineinzuheben in jene Welt, in welcher
Unsterblichkeit und Freiheit selber wurzeln? — Solch eine
Urteilskraft, die sich in eine solche Welt versetzt, nennt
Goethe die anschauende Urteilskraft. Nun hat Goethe in seiner
Betrachtung der Naturerscheinungen diese anschauende
Urteilskraft fortwährend geübt. Und er hat in der Art
und Weise, wie er Pflanzen und Tiergestalten betrachtete, ein
großartiges Beispiel gegeben des Gebrauches der
anschauenden Urteilskraft. Kant stand diese anschauende
Urteilskraft wie etwas Dämonisches vor Augen, das man ja
liegen lassen solle, an dem man ja vorbeigehen solle. Er nannte
den Gebrauch dieser anschauenden Urteilskraft «das
Abenteuer der Vernunft». Goethe stellte dem entgegen:
Warum sollte man, wenn man sich so bemüht hat, wie ich, zu
erkennen, wie der Geist in den Naturerscheinungen lebt und
webt, warum sollte man nicht dieses Abenteuer der Vernunft
mutig bestehen?
Damit ist allerdings erst ein Anfang gegeben, aber der Anfang
einer Entwickelung, die so läuft, wie ich es in diesen
Vorträgen charakterisiert habe. Ich will auch heute
wiederum darauf hinweisen, daß Sie in meinen Schriften, in
«Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren
Welten?», in «Die Geheimwissenschaft im
Umriß», in meinem letzten Buche «Vom
Menschenrätsel» Angaben und Andeutungen darüber
finden, was die Seele in sich vorzunehmen hat, um
gewissermaßen in sich die Kraft zu finden, um aus dem
gewöhnlichen Wachbewußtsein zum schauenden
Bewußtsein so aufzuwachen, wie aufgewacht wird aus dem
Traumbewußtsein ins gewöhnliche Tagesbewußtsein.
So wie die Seele sich erkraften muß vermöge der ihr
gegebenen Naturkräfte, um aus dem Traumleben, in dem der
Mensch passiv dem Ablauf der Bilder hingegeben ist, aufzuwachen
in das Tagesbewußtsein, so kann sie, indem sie sich selbst
in die Hand nimmt und alles das auf sich anwendet, was ich
beschrieben habe in dem Buche «Wie erlangt man
Erkenntnisse der höheren Welten?», erkraften, um
aufzuwachen innerhalb einer Welt, die nun ebenso eine andere
ist im Vergleich zum gewöhnlichen Tagesbewußtsein,
wie die gewöhnliche Sinnenwelt des Tagesbewußtseins
eine andere ist gegenüber dem, was man in der bloßen
Bilderwelt des Traumes erlebt. Heraus aus dem gewöhnlichen
Wachbewußtsein, hinein in eine Welt des schauenden
Bewußtseins: das ist der Weg, den gerade die
hervorragendsten Denker der neueren Zeit so sehr gemieden
haben. Und man hat die eigentümliche Erscheinung vor sich,
daß eben wiederum die erleuchtetsten Köpfe bei Kant
stehengeblieben sind und den Weg nicht gefunden haben von Kant
zu Goethe, um auf Goethe fußend lebendig
vorwärtszudringen ins schauende Bewußtsein hinein,
das nur die Ausbildung dessen auf einer anderen Stufe ist, was
Goethe mit anschauender Urteilskraft gemeint hat.
Dann aber, wenn der Mensch aufsteigt zu solchem Erwachen im
schauenden Bewußtsein, dann gelangt er zunächst zu
dem, was ich auch schon in meinen Vorträgen
charakterisiert habe als die imaginative Erkenntnis, die nicht
«imaginativ» genannt wird, weil sie nur etwas
Eingebildetes darstellt, sondern weil sie in Bildern lebt; aber
in Bildern, die nicht aus der sinnlichen Außenwelt,
sondern aus einer gewaltigeren, intensiveren Wirklichkeit, als
der äußeren sinnlichen Wirklichkeit, entnommen sind.
Wenn der Mensch sich in sich selber so erkraftet, daß er
zu dieser imaginativen Erkenntnis aufrückt, dann bedeutet
das, daß er wirklich in dem lebt, was ich in früheren
Vorträgen im Sinne der Geisteswissenschaft das
Ätherische genannt habe. Durch das gewöhnliche
Wachbewußtsein kommt uns die äußere Sinneswelt
zum Bewußtsein. Im imaginativen Bewußtsein treten wir
ein in eine ganz andere Welt, in der gewissermaßen anderes
lebt und webt als in der gewöhnlichen Sinneswelt.
Nun
ist es für den, der noch keine Ahnung hat von diesem
schauenden Bewußtsein, ja gewiß schwierig, sich eine
Vorstellung davon zu machen. Und darauf wird es ja wohl auch
beruhen, daß mir manche verehrten Zuhörer gesagt
haben in den letzten Zehen, daß gerade diese
Vorträge schwierig zu verstehen seien. Sie sind es nicht
mit Bezug auf das Mitgeteilte, aber sie sind es aus dem Grunde,
weil sie reden von etwas, was allerdings für das
gewöhnliche Bewußtsein nicht da ist.
Sie
reden von Vorstellungsergebnissen, die auf einer Forschung des
schauenden Bewußtseins beruhen. Aber eine annähernde
Vorstellung kann man sich auch im gewöhnlichen
Bewußtsein verschaffen von dem, was eigentlich das
allererste des schauenden Bewußtseins ist. Versetzen Sie
sich einmal — und das kann im Grunde genommen jeder
— in einen recht lebendigen Morgentraum, aus dem Sie
aufwachen, und versuchen Sie, sich zu erinnern an einen solchen
Traum, bei dem Sie sich bemüht haben, ich möchte
sagen, im Traume so recht drinnen zu leben, mehr oder weniger
unterbewußt sich bemüht haben, so recht drinnen zu
leben. Da werden Sie erfahren haben, daß dasjenige, was
Sie als Gedanken so wie an Ihren Leib gebannt spüren,
wovon Sie sich sagen müssen: meine Gedanken fühle ich
als von mir gedachte, daß Sie das gewissermaßen
ausgebreitet denken müssen über das gleichsam
Hinflutende der Bilder des Traumes. Sie können sich nicht
unterscheiden von dem, was in den Bildern des Traumes
hinflutet, wie Sie sich unterscheiden können im sinnlichen
Bewußtsein, so daß Sie sagen können: «Ich
stehe hier und ich denke über die Dinge, die da
draußen sind.» Sie nehmen nicht außen etwas wahr
und denken darüber nach, sondern Sie haben unmittelbar das
Erlebnis: In dem, was da auf- und abflutet, leben die
Kräfte, die sonst in meinem Denken leben. Es ist, wie wenn
Sie selber eintauchen würden in flutendes Leben, so
daß das Fluten, die Form des Flutens, alles, was da ist,
wie webende, lebende Gedankenkräfte gebildet ist:
objektives Leben und Weben der Gedankenkräfte. Dieses, was
im Traumesleben, ich möchte sagen, nur ahnend vorgestellt
werden kann, das ist im schauenden Bewußtsein als ein
erster Eindruck ganz besonders wahrnehmbar. Da hört
wirklich die Möglichkeit auf, zu denken: Da draußen
sind die Gegenstände und da drinnen in meinem Kopfe denke
ich über die Gegenstände nach. Nein, da fühlt
man sich eingebettet in etwas, was man nennen möchte ein
wogendes substantielles Meer, in dem man selber eine Woge ist.
Und das, was Gedankenkraft ist, ist nicht nur in einem, das ist
draußen, das treibt dieses Wellende und Wogende, das geht
nach außen, nach innen. Das heißt: man fühlt
sich bald mit ihm verbunden, bald so, daß das, was
Gedankenkraft ist, draußen ohne einen
dahinströmt.
Was
man so erreicht — wobei gewissermaßen ein
Substantielles verbunden ist mit dem, was sonst nur in uns lebt
als Gedanke —, das ist dasjenige, was in Wirklichkeit
Äther genannt werden sollte. Denn der Äther ist
nichts anderes als ein feineres Substantielles, das aber
überall so durch-seelt ist, daß in ihm flutender
Gedanke wirkt, daß in Wirklichkeit Gedanken draußen
den Äther selbst erfüllen. Nur auf diese Weise, durch
Ausbildung des Bewußtseins, gelangt man zu dem, was man in
Wirklichkeit Äther nennen sollte. Dann aber gelangt man
auch zu einem intimeren Verhältnis zwischen der eigenen
Seele und der Umgebung. Im sinnlichen Anschauen kann man
niemals in ein so intimes Verhältnis zu der Umgebung
treten, wie in diesem Erleben des schauenden Bewußtseins,
das nun wirklich keine Grenzen hat zwischen Innen und
Außen, sondern wo hinein- und hinausflutet — in das
eigene Seelenleben hinein und aus dem eigenen Seelenleben
hinaus — dasjenige, was gedankenerfüllter und
gedankendurchseelter Äther ist.
Aber erst wenn man in dieses schauende Bewußtsein
eingetreten ist, kann es zu einer höheren Selbsterkenntnis
kommen. Und hier habe ich nun etwas zu berühren, was
wiederum zu den bedeutungsvollen Ergebnissen der
Geistesforschung gehört; es wird aber übergehen auch
in die naturwissenschaftliche Forschung, insofern diese ebenso
die Bestätigung dafür finden wird, wie sie die
Bestätigung jener Ergebnisse der Geistesforschung finden
wird, die ich in vorigen Vorträgen vorgebracht habe. Der
Mensch ist nämlich ein kompliziertes Wesen, auch wenn wir
ihn bloß äußerlich-leiblich ansehen. Wäre
Goethe'sche Anschauungsweise schon früher fruchtbar
geworden, wäre sie nicht überwuchert worden von der
geist- und seelenfeindlichen Anschauungsweise des Materialismus
des 19. Jahrhunderts, so würde Goethes Metamorphosenlehre
auch angewendet worden sein auf den Menschen selber. Goethe hat
sehr schön unterschieden, wie bei der Pflanze das
grüne Laubblatt und das gefärbte Blumenblatt dasselbe
sind, nur auf verschiedenen Stufen des Daseins, das eine nur
ein Verwandlungsprodukt, eine Metamorphose des anderen. Wenn
man nicht von einem bloß theoretischen Aufnehmen, sondern
von der Anschauung ausgeht, die in Goethe gelebt hat, indem er
die Metamorphosen-Idee auf das einfachste, auf die Pflanze
zunächst anwendete, und nun diese Metamorphosen-Anschauung
anwendet auf den Menschen in der ganzen Kompliziertheit seines
Wesens, so kommt man dazu, anzuerkennen, daß der Mensch,
indem er einen Kopf trägt und einen übrigen
Organismus hat, dadurch ein sehr merkwürdiges Wesen
ist.
Wenn man nämlich den Menschen betrachtet, wie er sich von
klein auf, von der ersten Kindheit auf immer weiter entwickelt,
so tritt einem manches entgegen von dem vielerlei
Bedeutungsvollen, das von der Wissenschaft heute lange nicht
genug gewürdigt wird. Es soll nur das eine herausgehoben
werden, daß in der allerersten Kindheit das leiblich
Entwickeltste am Menschen das Haupt ist. Das Haupt wächst
im ganzen Leben so, daß es sich viermal
vergrößert, während der ganze übrige
Organismus so wächst, daß er sich zwanzigmal
vergrößert gegenüber dem, was er in der Kindheit
ist. Denken Sie also, wie verschieden das Tempo ist im Wachsen
des Hauptes und im Wachsen des übrigen Organismus. Das
rührt davon her, daß Haupt und übriger
Organismus zwei verschiedene Metamorphosen ein und desselben
sind, aber auf eine ganz eigentümliche Art. Das Haupt
tritt beim Menschen, indem er seinen physischen Lebenslauf
beginnt, sogleich in einer gewissen Vollkommenheit auf; der
übrige Organismus dagegen tritt mit der denkbar
größten Unvollkommenheit auf, muß sich erst
langsam entwickeln zu dem Grad von Vollkommenheit, den er im
physischen Leben erreichen soll. Also ganz verschiedene
Entwickelungszeitläufe machen Haupt und übriger
Organismus durch. Ich habe schon früher erwähnt, wie
die Geisteswissenschaft zeigt, woher dieses kommt. Das Haupt
des Menschen weist zurück auf eine lange vorhergehende
geistige Entwickelung. Wir gehen, indem wir in unser physisches
Dasein durch Empfängnis und Geburt eintreten, als
seelisch-geistiges Wesen aus einer geistigen Welt heraus. Was
wir während einer geistigen Entwickelung in der geistigen
Welt durchmachen, das enthält eine Summe von Kräften,
die zunächst sich vorzugsweise im Haupt ausprägen;
daher weist das, was als so vollkommen und sich nur mehr wenig
vervollkommnend sich im Haupte darstellt, auf eine Entwickelung
hin, die der Mensch hinter sich hat.
Der
übrige Organismus ist gleichsam dasselbe auf einer
anfänglichen Stufe. Er ist im Anfange daran, die
Kräfte zu entwickeln, welche, wenn sie zur vollkommenen
Entwicklung kommen könnten, bestrebt wären, aus dem
ganzen übrigen Organismus dasselbe zu machen, was physisch
im Haupte ist. So paradox das klingt, es ist doch so. Das Haupt
zeigt, daß es ein umgewandelter übriger Organismus
ist; der übrige Organismus, daß er ein noch nicht
gewordenes Haupt ist. Gewissermaßen so wie das grüne
Blatt ein noch nicht gewordenes Blumenblatt ist, und das
gefärbte Blumenblatt ein umgewandeltes Laubblatt. Und
dasjenige, was der Mensch durch seinen übrigen Organismus
ausbildet, das verleibt sich der Seele ein. Und wenn der Mensch
durch die Pforte des Todes geht, tritt das in eine geistige
Welt ein, macht eine Entwickelung zwischen dem Tod und einer
neuen Geburt durch, und wird in einem späteren Leben zu
den Kräften, die dann im Haupte sich ausbilden, so wie das
Haupt der Gegenwart sich aus dem Organismus eines früheren
Erdenlebens herausgebildet hat.
Nun
können Sie sagen: Wie kann denn so etwas gewußt
werden? — So etwas kann gewußt werden, sobald der
Mensch ins schauende Bewußtsein eintritt. Denn da tritt
wirklich das auf, was dazu nötigt, den Menschen als diese
Zweiheit zu betrachten: den Hauptesmenschen und den Menschen
des übrigen Organismus. Und das Haupt ist
gewissermaßen ein Werkzeug der ätherischen Welt, wie
ich sie eben beschrieben habe, und der übrige Organismus
ist auch ein Werkzeug dieser ätherischen Welt.
Der
Mensch hat seinen physischen Organismus nicht bloß
gewissermaßen wie einen Ausschnitt aus der ganzen
physischen Welt an sich, sondern er hat, durch den physischen
Organismus zusammengehalten, einen Ätherorganismus in
sich, der nur wahrgenommen werden kann, wenn man, wie ich es
beschrieben habe, zur imaginativen Erkenntnis aufsteigt. Dann
aber, wenn einem wirklich das, was ätherisch ist,
anschaulich wird, dann tritt einem der große Unterschied
entgegen zwischen dem, was als Ätherleib des Menschen
zugrunde liegt dem Haupte, und als Ätherleib zugrunde
liegt dem übrigen Organismus. Und gerade so, wie das Haupt
und der übrige Organismus ganz verschiedenes Tempo haben
mit Bezug auf ihr Wachstum, so hat dasjenige, was kraftet und
lebt im Ätherleib des Hauptes, und was lebt im
Ätherleib des übrigen Organismus, ganz
verschiedene innere Kraftentwickelungen, die verschiedene
innere Imaginationen hervorrufen. Und kommt man überhaupt
zur imaginativen Welt, dann tritt einem die Imagination des
Ätherleibes des Kopfes in Wechselwirkung mit der
Imagination des Ätherleibes des übrigen Organismus
entgegen. Und dieses lebendige Zusammenwirken im menschlichen
Ätherorganismus ist dasjenige, was der Inhalt einer
höheren Selbsterkenntnis ist. Dadurch, daß der Mensch
auf diese Weise dazu kommt, sich nun wirklich zu erkennen,
gelangt er auch dazu, gewisse Seelenerlebnisse in der richtigen
Weise bewerten zu können. Wäre das, was ich
angeführt habe, nicht so, wie ich es geschildert habe, so
würde der Mensch niemals das haben können, was man
eine Erinnerung nennt. Der Mensch würde sich nach den
Sinneseindrücken Vorstellungen bilden können, die
würden aber immer vorübergehen. Daß der Mensch
sich an das einmal Erlebte erinnern kann, das beruht darauf,
daß, indem der Ätherleib des Hauptes in
Wechselwirkung tritt mit dem Ätherleib des übrigen
Organismus, dasjenige, was im Ätherleib des Hauptes wirkt,
in dem Ätherleib des übrigen Organismus
Veränderungen hervorruft, die bleibend sind, und die
herauf wirken bis in den physischen Organismus. Jedesmal, wenn
etwas im Menschen Platz greift in seinem seelisch-leiblichen
Leben, was dem Gedächtnis angehört, tritt
zunächst in dem durch die imaginative Erkenntnis
vorstellbaren Ätherorganismus eine Veränderung auf;
die aber setzt sich fort in den physischen Organismus. Und
dadurch allein haben wir die Möglichkeit, wiederum
heraufzuholen gewisse Gedanken, daß sich das, was vom
Ätherorganismus des Hauptes in den übrigen
Ätherorganismus hineingesendet wird, ausprägt in der
physischen Leiblichkeit. Nur dadurch, daß irgend etwas bis
in unsere physische Leiblichkeit Eindrücke gemacht hat,
sind wir imstande, es gedächtnismäßig zu
behalten. Aber das, was da vom Ätherorganismus aus in der
geschilderten Weise im physischen Organismus geschieht, das
kann jetzt wiederum nur mit dem schauenden Bewußtsein
beobachtet werden. Das kann nur beobachtet werden, wenn
das schauende Bewußtsein jene Übungen weiter
fortsetzt, die in den angeführten Büchern
charakterisiert sind, wenn das schauende Bewußtsein
aufsteigt von der bloßen imaginativen Erkenntnis zu dem,
was ich da genannt habe «inspirierte Erkenntnis».
Durch die imaginative Erkenntnis tauchen wir ein in eine Welt
des wogenden Äthers, der beseelt ist von ihn
durchdringenden Gedanken. Setzen wir die Übungen weiter
fort, erkraften wir uns mehr noch in unserem Seelenleben, als
zu dieser imaginativen Erkenntnis nötig ist, dann kommen
wir dazu, nicht nur wogendes Gedankenleben im Äther
wahrzunehmen, sondern innerhalb dieses wogenden Gedankenlebens
Wesen, wirkliche Geistwesen wahrzunehmen, die nun nicht in
irgend einem physischen Leibe sich offenbaren, sondern die sich
nur im Geistigen offenbaren. Dadurch aber, daß wir zur
wirklichen Wahrnehmung einer geistigen Welt kommen, dadurch
kommen wir auch zur Möglichkeit, das zu erreichen, was man
nennen kann: die eigentliche menschliche Wesenheit wie die
Dinge von außen zu betrachten, sich selber wirklich
gegenüberzutreten, nicht bloß das zu erfühlen,
was ich jetzt das eigene Gedankenleben im wogenden Äther
genannt habe, im eigenen Ätherorganismus, sondern sich
selber unter anderen Geistwesen als ein Geistwesen in der
geistigen Welt wahrzunehmen. Kommt man dazu, dann tritt etwas
ein, was schon schwierig ist auch nur zu charakterisieren, was
aber mit einigem guten Willen verstanden werden kann.
Wenn man vorstellt, und das Vorgestellte in der Seele bleibt,
und später dieses Vorgestellte aus der Seele wieder
heraufgeholt wird, so sagt man, man erinnere sich. Aber diesem
liegt, wie ich eben auseinandergesetzt habe, etwas zugrunde,
was im physischen Organismus vorgeht. Man kann es nur nicht
verfolgen mit dem gewöhnlichen Bewußtsein. Steigt man
aber ins schauende Bewußtsein auf, dann kommt man
gewissermaßen dazu, zu sehen, was hinter der Erinnerung
vorgeht, was im Menschen vorgeht in der Zeit, die abläuft
von da an, wo er einen Gedanken gefaßt hat, der nun wie
verschwunden ist, und nur unten im physischen Organismus lebt,
bis er wieder heraufgeholt wird. Alles das, was da jenseits des
Gedankens, der erinnert wird, lebt, das nimmt man nicht wahr,
wenn man sich nicht durch das schauende Bewußtsein aus
sich selbst herausheben kann, und gewissermaßen sich von
der anderen Seite schaut. So daß man nicht nur sieht, ein
Gedanke geht hinunter, und spürt, er kommt wieder herauf,
sondern alles das wahrnimmt, was dazwischen geschieht,
während der Gedanke hinuntergegangen ist und wieder
heraufkommt. Das ergibt sich nur dem inspirierten
Bewußtsein; das ergibt sich der Anschauung, die es sich
ermöglicht hat, nicht nur im physischen Leibe lebend nach
außen zu schauen, sondern im Geiste lebend selbst nach dem
leiblichen Innern des Menschen zu schauen. So gelangt der
Mensch auf der einen Seite zu einem Jenseits der Seele, das ihn
vergewissert darüber, daß er im Geiste lebt. Aber
auch zu dem Jenseits der Seele gelangt der Mensch, das da
arbeitet in dem, was unbewußt lebt von dem Verschwinden
eines Gedankens bis zum Wiederauftreten desselben, was da unten
lebt als das, was Eduard von Hartmann das
«Unbewußte» nennt, und von dem er glaubt, man
könne es niemals mit dem Bewußtsein erreichen. Man
kann es nicht mit dem gewöhnlichen Bewußtsein
erreichen, weil sich der Gedanke vorher im Organismus spiegelt;
aber wenn man hinter diese Spiegelung kommt, wenn man
außer sich hinausgeht und im schauenden Bewußtsein
lebt, dann erlebt man das, was zwischen dem Fassen des
Gedankens und der Erinnerung wirklich im Menschen vorgeht. Und
dies wollen wir jetzt festhalten, was da der Mensch
gewissermaßen jenseits jenes Stromes wahrnehmen kann durch
das schauende Bewußtsein, der ihm für gewöhnlich
durch die Erinnerung begrenzt ist. Denn wir sehen wohl: da
treten wir durch das schauende Bewußtsein in ein Jenseits
der Seele ein.
Behalten wir diesen Gedanken im Auge, und sehen wir uns von
demselben Gesichtspunkte aus manches andere an, was an
Bestrebungen im naturwissenschaftlichen Zeitalter
hervorgetreten ist.
Die
naturwissenschaftliche Weltanschauung gelangt nicht nur, ich
mochte sagen, zu so irrigen Wegen zum Seelenleben, wie ich es
charakterisiert habe, sondern auch in gewisser Beziehung zu
irrigen Wegen, wenn sie erforschen will, was jenseits der Sinne
liegt. In dieser Beziehung ist in der Tat die
naturwissenschaftliche Forschung, wenn sie sich eine
Weltanschauung bildet, in der Gegenwart in einer
merkwürdigen Lage. Sie ist eigentlich darauf gekommen,
daß alles das, was im Bewußtsein lebt, nur Bilder
sind einer Wirklichkeit. Sie geht dabei von einem schiefen
Gedanken aus; aber dieser schiefe Gedanke gibt trotz seiner
Schiefheit eine gewisse Anschauung, die richtig ist,
nämlich daß alles, was im Bewußtsein lebt,
Bilder sind. Die naturwissenschaftliche Forschung geht aus von
dem Gedanken, daß da draußen eine ganz geist- und
seelenlose Wirklichkeit von schwingenden gedankenlosen
Ätheratomen ist. Wir haben den Äther gefunden als
wogendes Gedankenleben; die naturwissenschaftliche
Weltanschauung geht von dem gedankenlosen, unbeseelten
Äther aus. Diese Schwingungen machen Eindruck auf unsere
Sinne, da entstehen Wirkungen in uns, die zaubern uns die
farbige, tönende Welt hervor, während draußen
alles finster und stumm ist. Nun will aber doch das Denken, das
dieser Weltanschauung zugrunde liegt, hinter diese Bilder
kommen. Was tut es? Was es da tut, das ist zu vergleichen
damit, daß jemand — nun, sagen wir ein Kind —
in einen Spiegel hineinschaut. Da kommen ihm Spiegelbilder
entgegen, sein eigenes und die Bilder der Umgebung. Und jetzt
will das Kind wissen, was da eigentlich diesen Spiegelbildern
zugrunde liegt. Was tut es? Ja, das, was da zugrunde liegt, ist
doch hinter dem Spiegel, sagt es; also wird es entweder hinter
den Spiegel schauen wollen. Da sieht es aber etwas ganz
anderes, als was es eigentlich gesucht hat. Oder es
schlägt gar wohl den Spiegel ein, um zu sehen, was hinter
dem Glase ist. Dasselbe macht im Grunde die
naturwissenschaftliche Weltanschauung. Sie hat den ganzen
Teppich der Sinneserscheinungen vor sich, und sie will wissen,
was hinter den Sinneserscheinungen eigentlich lebt. Sie geht so
weit, daß sie an den Stoff, an die Materie herankommt. Nun
will sie wissen, was da — abgesehen von den Sinnen
— draußen ist. Das ist aber lediglich so, wie wenn
sie den Teppich, der wie ein Spiegel ist, einschlagen wollte.
Sie würde hinter dem nicht das finden, was sie sucht. Und
wenn einer nun sagt: Da habe ich durch das Auge das Rot, und
dahinter sind gewisse Schwingungen im Äther, so redet er
gerade so wie einer, der glaubt, daß der Ursprung von dem,
was im Spiegel scheint, hinter dem Spiegel ist. Denn gerade so,
wie wenn man vor einem Spiegel steht, man das Bild von sich
selbst aus dem Spiegel sieht, und man zusammen ist mit dem, was
in der Umgebung ist, und mit dem, was sich auch von einem
selbst spiegelt, so ist man in der Seele zusammen mit dem, was
hinter den Sinneserscheinungen ist. Wenn ich wissen will, warum
sich da mit mir anderes spiegelt, da kann ich nicht hinter dem
Spiegel suchen, sondern da muß ich die anschauen, die
links und rechts von mir sind, die mit mir gleicher Natur sind,
die sich auch spiegeln. Will ich erforschen, was da
draußen hinter den Sinneserscheinungen ist, so muß
ich das erforschen, in dem ich selbst darinnen bin; nicht
dadurch, daß ich den Spiegel zerschlage, sondern indem ich
das erforsche, in dem ich selber drinnen bin.
Es
sind ja in der Tat scharfsinnige, wunderbare Gedankengänge
entwickelt worden über den Äther in
naturwissenschaftlicher Beziehung. Allein alle diese
Gedankengänge haben zu nichts anderem geführt, als
dazu, daß man doch nichts anderes erkannt hat, als
daß man auf dem Wege der physikalischen Forschung nur zu
dem Gleichen kommt, das man auch in der Sinnesanschauung vor
sich hat, nur daß man, weil manches eben zu fein ist oder
dergleichen, oder zu schnell verläuft, durch die Sinne es
nicht wahrnehmen kann. Man kommt zu keinem Äther. Das ist
heute durch-schaubar nach den schönen Forschungen mit den
ausgepumpten Röhren, den Vakuumröhren, wo man
glaubte, den Äther handgreiflich zu haben; denn man
weiß heute, daß durch diese Experimente nichts
anderes zustande kommt als strahlende Materie, nicht das, was
Äther genannt werden kann. Gerade die Ätherforschung
ist heute, ich möchte sagen, in der allergrößten
Revolution. Denn man wird niemals auf dem Wege der
physikalischen Forschung zu etwas anderem kommen als zu dem,
was spiegelt. Will man weiter kommen, dann muß man
dasjenige ins Auge fassen — aber das kann man nur mit dem
schauenden Bewußtsein —, was sich mit einem
gemeinschaftlich spiegelt. Und das ist das, was im wirklich
gedankenbeseelten Äther lebt. Daher findet man, wenn man
nach dem Jenseits der Sinne fragt, nur eine Antwort wiederum
durch das schauende Bewußtsein. Denn, erkennt man den
wogenden gedankenbeseelten Äther in sich durch die
imaginative Erkenntnis, dann gelangt man auch dazu, ihn hinter
dem Rot, hinter dem Ton, hinter allem äußeren
sinnlichen Wahrnehmen zu suchen; nicht mehr den toten
Äther der heutigen, eben verglimmenden physikalischen
Anschauung, sondern den lebendigen, gedankenbeseelten
Äther. Hinter dem, was die Sinne wahrnehmen, lebt das
Gleiche, das in uns gefunden wird, wenn wir hinunterdringen in
dasjenige, was da lebt in uns selbst zwischen dem Fassen eines
Gedankens und dem Wiedererinnern eines Gedankens. Nicht auf dem
Wege, auf dem die Physik heute vorgeht, gelangt man zu dem
Jenseits der Sinne, sondern indem man das, was jenseits der
Sinne ist, im eigenen Wesen findet, indem man erkennen lernt:
da arbeitet im eigenen Wesen zwischen dem Fassen eines
Gedankens und dem Wiedererinnern eines Gedankens derselbe
Prozeß, der da draußen lebt und der an mein Auge
dringt, wenn ich Rot wahrnehme. Hinter diesem Rot ist dasselbe,
was in mir ist zwischen dem Fassen eines Gedankens und dem
Wiedererinnern eines Gedankens. Das Jenseits der Sinne und das
Jenseits der Seele führt in das Geistige hinein.
Ich
mußte Sie heute durch einen abgezogenen Gedankengang
führen, weil ich im Zusammenhang dieser Vorträge
über die Perspektive etwas sagen wollte, welche sich durch
die Geisteswissenschaft ergeben muß. Ich wollte zeigen,
wie wirkliche Selbsterkenntnis führt ins Jenseits der
Seele, wie aber, wenn man ins Jenseits der Seele tritt, man
auch im Jenseits der Sinne steht, wie man dadurch den Weg
findet, durch das schauende Bewußtsein, in die geistige
Weithinein. Und in dieser geistigen Welt drinnen, da entdeckt
sich weiter für das intuitive Bewußtsein dasjenige,
was auch in unserem seelischen Leben spielt, und was ich
geschildert habe in den vorangehenden Vorträgen als
dasjenige, was als unser Schicksal in unseren Erlebnissen auf-
und abwogt. Da gliedert sich das Schicksalerleben mit dem
Moralischen, im Schicksal Geschehenden zusammen. Wenn wir erst
wissen, daß hinter dem Erleben der Sinne nicht eine
geistlose Wirklichkeit, sondern eine geistbeseelte Wirklichkeit
steht, dann wird unser moralisches Leben ebenso Platz haben in
dieser geistigen Welt, die jenseits der Seele und
jenseits der Sinne liegt, wie die materielle Welt, die wir
rings um uns wahrnehmen, in dieser äußeren Welt Platz
hat.
Geisteswissenschaft wird heute noch, wenn sie diese Dinge
entwickelt, als etwas Paradoxes angesehen; die Dinge, die ich
geschildert habe, werden gewissermaßen als eine Narretei
angesehen; und doch können sie ebenso als Tatsachen, die
einfach angeschaut werden, betrachtet werden, wie wenn man eine
äußere Begebenheit schildern wollte. Aber dieses
Vorgehen der Geisteswissenschaft ist nur das Graben in einem
Erkenntnistunnel von der einen Seite; von der anderen Seite
gräbt die Naturwissenschaft in den Berg hinein. Erstreben
die beiden die rechte Richtung, dann treffen sie in der Mitte
zusammen. Und ich möchte sagen: In einer Art negativen
Weise kommen die naturwissenschaftlich Anbauenden den
geisteswissenschaftlich Anbauenden schon entgegen; denn es
haben sich merkwürdige Dinge ergeben unter den
naturwissenschaftlichen Denkern der letzten Zeit. Zwar
diejenigen, die auf der naturwissenschaftlichen Forschung
meinen fest zu stehen, weil sie das wissen, was bis vor zwanzig
Jahren entdeckt war, die wissen noch nicht viel von dem, was
naturwissenschaftliche Denker eigentlich machen. Sieht man aber
genauer zu, dann macht man doch in dem Gang des
naturwissenschaftlichen Denkens ganz merkwürdige
Entdeckungen. Ich habe gerade deshalb heute Eduard von Hartmann
angeführt als einen Denker, der wenigstens hinweist auf
ein Jenseits der Sinne und ein Jenseits der Seele. Nur gibt er
nicht zu, daß es dem schauenden Bewußtsein
möglich sei, zu dem Jenseits der Sinne und dem Jenseits
der Seele vorzudringen. Deshalb sagt er, indem er es in eine
allgemeine Erkenntnis-Sauce — Erkenntnis-Tunke sagt man
wohl jetzt! — taucht: Was jenseits der Sinne und jenseits
der Seele liegt, das ist das Unbewußte. Darüber
stellt er ja nun recht fragwürdige Hypothesen auf. Aber
das sind nur Gedankenwahrheiten. Der Gedanke reicht nicht
hinein in diese Welten. Einzig und allein das schauende
Bewußtsein reicht hinein, wie ich es geschildert habe.
Aber immerhin: Hartmann dringt vor wenigstens bis zu der Ahnung
davon, daß im Jenseits der Sinne und im Jenseits der Seele
etwas Geistiges ist, wenn er es auch nicht zum Bewußtsein
brachte. Er hat, als er seine «Philosophie des
Unbewußten» im Jahre 1868 veröffentlichte, eine
Kritik des ja schon damals hochflutenden, materialistisch
ausgedeuteten Darwinismus gegeben. Der «materialistisch
ausgedeutete Darwinismus» — nicht das, was Darwin an
einzelnen Tatsachen gefunden hat, das soll hier nicht
besprochen werden — glaubt, mit Hinweglassung alles
Seelischen erklären zu können, wie aus unvollkommenen
einfachsten Lebewesen die vollkommeneren entstehen, wie man
sagt: durch bloße Auslese, durch bloßen Kampf ums
Dasein. Dadurch, daß die Vollkommenen sich zufällig
entwickeln und die zufällig unvollkommen Gebliebenen
überwinden, bleiben allmählich die Vollkommenen
über; dadurch entsteht so etwas wie eine
Entwickelungsreihe vom Unvollkommenen zum Vollkommenen.
Hartmann hat schon 1868 erklärt, daß ein solches
Spiel der rein äußeren Naturnotwendigkeiten, die man
auch Zufall nennen kann, nicht hinreiche, um die Entwickelung
der Organismen zu erklären, sondern daß gewisse, wenn
auch unbewußt bleibende Kräfte wirksam sein
müssen, wenn das Lebewesen sich vom Unvollkommenen zum
Vollkommeneren entwickelt. Kurz, er hat ein Geistiges in der
Entwickelung gesucht, jenes Geistige, das jenseits der Sinne
und jenseits der Seele wirklich gefunden werden kann, hat er
hypothetisch angenommen. Er hat es nur hypothetisch angenommen,
denn zum schauenden Bewußtsein war man dazumal noch nicht
vorgedrungen.
Als
nun die «Philosophie des Unbewußten» erschienen
war, die in einer scharfsinnigen Weise Kritik geübt hat an
der darwinistischen Zufallstheorie, da haben sich eine
große Anzahl naturwissenschaftlich Denkender gefunden,
welche aufgetreten sind gegen diesen «dilettantischen
Denker» Eduard von Hartmann. So ein dilettantischer
Philosoph, der nichts versteht von dem, was der Darwinismus
gebracht hat, und der da so hineinredet von seinem geistigen
Standpunkt aus! Und unter denen, die damals Hartmann kritisiert
haben, war auch Oscar Schmid, Professor in Jena. Es war
auch Haeckel selber. Haeckel selber und zahlreiche
seiner Schüler waren nun höchst erstaunt
darüber, daß unter den vielen Schriften, die nach
ihrer Ansicht glänzend widerlegten diesen Eduard von
Hartmann, der solch laienhaften Unsinn redete, auch eine
Schrift erschien von einem Anonymus — von einem Manne,
der sich nicht nannte. Und Haeckel sagte: Er nenne sich uns!
Und andere sagten ebenfalls: Er nenne sich uns und wir
betrachten ihn als einen der Unsrigen! Es ist so
großartig, daß eine naturwissenschaftliche Schrift in
dieser Weise gegen das Gewäsch der «Philosophie des
Unbewußten» nun erschienen ist! — Und es
erschien eine zweite Auflage dieser Schrift «Das
Unbewußte im Lichte des Darwinismus». Und da nannte
sich der Verfasser — es war Eduard von Hartmann! Sie
sehen, es waren Gründe vorhanden, daß man jetzt nicht
mehr fortdeklamierte: Er nenne sich uns und wir betrachten ihn
als einen der Unsrigen. Man schwieg ihn jetzt tot. — Das
war eine gründliche Lektion, die einmal erteilt werden
mußte denen, die da glauben, derjenige, der vom Geiste
redet, tue das aus dem Grunde, weil er von ihrer Wissenschaft
nichts verstünde. Es wurde jetzt ziemlich still. Aber
etwas anderes merkte man: 1916 ist eine sehr interessante
Schrift erschienen, von der man sagen kann, sie steht auf dem
Gebiete, von dem sie spricht, auf der vollen Höhe dieser
Wissenschaft. Diese Schrift heißt: «Das Werden der
Organismen. Eine Widerlegung von Darwins Zufallstheorie.»
Und diese Schrift — nun, von wem ist sie? Nun, sie ist
von dem oftmals genannten glänzendsten
Haeckelschüler, von Oscar Hertwig, dem Berliner
Professor der Biologie. Wir erleben das merkwürdige
Schauspiel, daß die nächste Schülergeneration
Haeckels, diejenige Schülergeneration, auf die er selbst
am allerstolzesten war, schon Bücher schreibt zur
Widerlegung der Darwin'schen Zufallstheorie, welche in der
Zeit, als man sich gegen Hartmann wendete, gerade die im
Haeckelkreise herrschende war. Und was macht Hertwig, den ich
selber mit seinem Bruder Richard als einen der treuesten
Haeckelschüler kannte? Er nimmt durch, was man nennen kann
«materialistische Ausdeutung der Darwin'schen
Theorie», und widerlegt es Stück für Stück
und zitiert an manchen Stellen Eduard von Hartmann. Hartmann
taucht in der Schrift von Oscar Hertwig «Das Werden der
Organismen. Eine Widerlegung von Darwins Zufallstheorie»
nun wiederum auf, kommt wieder zu Ehren. Dazumal, als man ihn
nicht kannte, sagte man: Er nenne sich uns, und wir betrachten
ihn als einen der Unsrigen. Und jetzt fängt man an, auf
dasjenige, was Hartmann noch ins Unbewußte verlegte,
zurückzukommen. Jetzt fängt man an, das Geistige
anzuerkennen in dem, was sinnlich da ist.
Merkwürdig ist ja allerdings dieses Buch «Das Werden
der Organismen. Eine Widerlegung von Darwins Zufallstheorie von
Oscar Hertwig. Wahrend nämlich alle frühere
materialistische Ausdeutung des Darwinismus darauf hinauslief,
daß man sagte: Wir haben vollkommene Organismen, wir haben
unvollkommene Organismen; die vollkommenen haben sich aus den
unvollkommenen entwickelt durch ihre äußeren
Naturkräfte, kommt Hertwig darauf zurück, wie man im
vollkommenen Organismus, wenn man mikroskopisch zurückgeht
bis zum ersten Keim, nachweisen kann, daß die
Nägelische Anschauung richtig ist, daß in der ersten
Anlage der Keim des vollkommenen Organismus sich schon
unterscheidet vom unvollkommenen Organismus. Denn es steckt im
vollkommenen Organismus schon etwas ganz anderes darinnen als
im unvollkommenen, von dem man glaubt, der vollkommene habe
sich aus ihm entwickelt. Die mikroskopische Forschung ist bis
zu einer Grenze gegangen, aber sie hat auch nichts anderes
erreicht, als daß sie dann auf einen Spiegel
stößt, und nicht weiter kommt als bis an die Grenze
der Sinneswelt. Die Folge wird sein, daß viele Menschen,
die auf dem Standpunkte der naturwissenschaftlichen
Weltanschauung stehen, nicht bloß konstatieren, wie es
Hertwig tut: Die materialistische Ausdeutung des Darwinismus
ist unmöglich. Sie werden vielmehr doch anerkennen: Wollen
wir überhaupt zu irgend etwas kommen, was diese Sinneswelt
erklärt und hinter ihr liegt, dann können wir nicht
beim gewöhnlichen Bewußtsein stehenbleiben; da kommen
wir nicht aus der Sinneswelt heraus, auch nicht durch noch so
viele Fernrohre. Wir kommen allein aus der Sinneswelt heraus,
wenn wir uns mit dem schauenden Bewußtsein bewaffnen.
Aber im allgemeinen sind auch die Philosophen noch nicht sehr
weit, in sich die Seele zu erkraften, daß sie erkennen
würden: das schauende Bewußtsein kann
heraussprießen aus diesem gewöhnlichen
Bewußtsein, so wie das wachende Bewußtsein aus dem
Traume heraussprießt. Die Philosophen sind heute noch
weniger dazu geeignet, zu diesen Dingen vorzudringen. Ich habe
schon öfter gesagt, daß ich nur gegnerisch auftrete
gegen die, die ich im Grunde genommen sehr achte. Daher darf
ich schon sagen: Aus diesem Unvermögen, überhaupt
geist- und wirklichkeitsgemäß zu denken, daß man
nach diesem schauenden Bewußtsein streben würde, ist
es auch allein gekommen, daß Leute heute als große
Philosophen gelten, die im Grunde mit ihrem ganzen
Denken und Sinnen nur herumschwimmen in dem, was in diesem
gewöhnlichen Bewußtsein auf- und abwogt, ohne
überhaupt das Bedürfnis zu haben, über ein
bloßes Gerede von auf- und abwogenden Vorstellungen
hinauszukommen. Und so ist es auch noch gekommen, daß
jemand, der auf der Oberfläche der auf- und abwogenden
Vorstellungen nur so in Wollust schwelgt, wie zum Beispiel
Eucken, heute als ein großer Philosoph angesehen
werden kann. Es gehört eben zu dem, was man so
charakterisieren muß, daß man sagt: Jenes Haften an
dem gewöhnlichen Bewußtsein hat dem Menschen auch die
Schärfe des Denkens genommen, welche ihn einsehen
läßt, daß es nicht solche Grenzen der Erkenntnis
gibt, wie Kant sie konstatiert, sondern solche Grenzen, mit
denen man rechnen muß, um sie durch das schauende
Bewußtsein zu durchschreiten. Daher werden diejenigen, die
deklamieren von allerlei geistigen Welten, die innerhalb des
gewöhnlichen Bewußtseins aber zu nichts anderem
kommen als zu dem, was Eduard von Hartmann längst als
bloßes gewöhnliches, in Bildern tätiges
Bewußtsein erkannt hat, heute als große Philosophen
angesehen.
Und
so könnte manches in der Gegenwart gezeigt werden,
was aufmerksam machen würde darauf, wie, ich möchte
sagen, gerade das bewunderungswürdige
naturwissenschaftliche Anschauen eher abgeführt hat von
den Wegen, die zur Seele hingehen. Manchem ist es ja allerdings
eigentümlich gegangen. Es gibt Menschen in der Gegenwart,
die das ahnen, was ich heute gesagt habe. Es gibt zum Beispiel
eine Persönlichkeit in der Gegenwart, die ahnt, daß
in dem, was da zwischen Geburt und Tod in der Seele lebt als
Denken, Fühlen und Wollen, nur etwas gegeben ist, was
durch den Leib bedingt ist, während das Ewige aus der
geistigen Welt herauskommt, durch die Geburt ins Dasein tritt,
sich im Leibe verwandelt, so daß es im Leibe wirkt, und
wiederum durch den Tod hinausgeht, und daß dasjenige, was
im Leibe wirkt, nicht das wahre Seelische ist. Das erkennt die
Persönlichkeit, die ich meine, an. Allein sie spricht
davon, daß wir in dem, was so im gewöhnlichen
Bewußtsein lebt, eben nur Bilder haben. Diese
Persönlichkeit nennt es «Vorkommnisse». Hinter
dem liegen jene Urfaktoren, die im schauenden Bewußtsein
als Jenseits der Seele und Jenseits der Sinne erlebt werden.
Aber auf dieses schauende Bewußtsein will die
Persönlichkeit, die ich meine, nicht eingehen. Und so
steht sie vor den Vorkommnissen, wiederum, möchte ich
sagen, einen dicken Spiegel immerfort und fort einschlagend,
und sagend: Dahinter müssen die Urfaktoren sein. —
Aber sie rast. Und indem sie rast gegen die Spiegelfläche
und nicht zum schauenden Bewußtsein kommen will, glaubt
sie, alle Philosophie habe nur gerast. Bei Fichte kann man
sehen — ich habe darüber in meinem Buche «Vom
Menschenrätsel» gesprochen —, daß er nicht
gerast hat, sondern daß er in einem wichtigen Punkte
hingedeutet hat auf das schauende Bewußtsein. Jene
Persönlichkeit, die ich jetzt meine, die zwar die
Bildernatur des gewöhnlichen Bewußtseins erkennt,
sagt: «Wer da (bei Fichte) nicht lachen kann, kann auch
nicht philosophieren.» Und indem diese Persönlichkeit
alle Philosophen von Plato und Heraklit bis in die Gegenwart
herein in ihren Zusammenhängen an sich vorüberziehen
läßt, nennt sie diese Philosophien «Die
Tragikomödie der Weisheit». Und ein interessanter
Satz findet sich auf Seite 132, da steht: «Wir haben nicht
mehr Philosophie als ein Tier, und nur der rasende Versuch, zu
einer Philosophie zu kommen, und die endliche Ergebung in
Nichtwissen unterscheiden uns von dem Tier.»
Das
ist das Urteil einer Persönlichkeit über alle
Philosophie, über alle Versuche, in das Jenseits der Seele
und das Jenseits der Sinne einzudringen! Das ist wirklich ein
Rasender, der in seinem Vorbeirasen glaubt, daß die
anderen rasen. Daher, weil er so schön über die
Philosophie spricht, ist er gegenwärtig
Universitäts-Professor der Philosophie! Philosophie wird
eben in der Gegenwart so versorgt, wie es sich in einer solchen
Erscheinung ausdrückt.
Ich
weiß sehr wohl, daß für manchen das, was ich
sage, als Bitteres erscheint. Ich kann das durchaus
nachfühlen. Ich kann die ganze Bitternis und auch das
ganze Paradoxe nachfühlen. Allein, es muß eben einmal
darauf aufmerksam gemacht werden, wie in der Gegenwart die
Notwendigkeit vorliegt, herauszukommen aus dem, was sich selbst
einschließt in die bloße Sinneswelt, und
unterzutauchen in das, was in das Jenseits der Seele, in das
Jenseits der Sinne hinüberführt. Denn nicht die Welt
ist es, die uns Grenzen des Erkennens aufrichtet. Was die
Grenzen des Erkennens aufrichtet, das ist allein der Mensch
selber.
Manchmal kann man recht interessante Entdeckungen machen, wie
es der Mensch selber ist, wenn er so gar nicht auch nur
hinschauen will auf das, was als schauendes Bewußtsein zum
eigentlichen Wesen der Seele führt. Ich habe eben eine
Probe gegeben einer philosophischen Anschauung eines
Universitätsprofessors Richard
Wähle, der die «Tragikomödie der
Weisheit» geschrieben hat. Ich könnte einen anderen
nennen: den berühmten Jodl. Der Mann würde
ganz gewiß — er lebt nicht mehr — alles, was
heute hier ausgesprochen worden ist, und was überhaupt
hier ausgesprochen wird, als den vollendetsten Wahnsinn
ansehen. Dafür aber spricht er sich über die Seele in
der folgenden Weise aus: «Die Seele hat nicht
Zustände oder Vermögen, wie Denken, Vorstellen,
Freude, Haß und so weiter, sondern diese Zustande in ihrer
Gesamtheit sind die Seele.» Sehr geistreich! Und von
diesem Geistreichtum ist die ganze Philosophie dieses Jodl
durchsetzt. Nur ist diese Definition der Seele nicht mehr wert,
als wenn jemand sagt: Nicht der Tisch hat Ecken und Kanten und
eine Fläche, sondern Ecken und Kanten und eine Fläche
sind der Tisch.
Und
von dieser Qualität sind diejenigen Gedanken zumeist, die
heute in jenem Gestrüpp von bloßen Gedankengespinsten
leben, die allerdings nur eine Hervorbringung des Leibes
sind, weil sie nicht zum schauenden Bewußtsein vordringen
wollen, wo man erst die Seele entdeckt. Man wird heute
allerdings noch finden, daß sich eine solche Anschauung
vielfach rächt. Ich habe die Weltanschauungsrichtung,
welche in diesen Vorträgen vertreten wird, Anthroposophie
genannt. Das ist in Anlehnung an die «Anthroposophie»
des Robert Zimmermann, der auch ein
Universitätsprofessor war, der aber ebenso in Opposition
gegen die Anthroposophie war. Denn was würde Robert
Zimmermann gesagt haben zu der Anthroposophie, die hier
vorgebracht wird? Nun, er würde sagen, was er schon gegen
Schelling gesagt hat: Der Philosoph muß innerhalb
desjenigen bleiben, was durch Gedanken erreichbar ist. Er darf
nicht appellieren an irgend etwas, was eine besondere
Ausbildung der Seele nötig macht! — Man kann so
sprechen, dann treibt man eben eine Anthroposophie, wie Robert
Zimmermann sie gemacht hat. Da finden Sie drinnen ein
Gedankengestrüpp; interessieren wird es Sie nicht, denn
über alle Fragen der Seele und des Geistes ist
darin kein Sterbenswörtchen gesagt. Von dem, was ich in
diesen Vorträgen besprochen habe, was mit dem Jenseits der
Seele und dem Jenseits der Sinne zusammenhängt, was mit
der Unsterblichkeitsfrage der menschlichen Seele, mit der
Schicksalsfrage zusammenhängt, — von alledem ist in
jener Anthroposophie allerdings nichts drinnen. Denn das ganze
Denken dieses letzten Jahrhunderts hat auf der einen Seite zwar
die großen, nicht genug zu bewundernden Fortschritte der
Naturwissenschaft hervorgebracht, aber auf der anderen Seite
auch diejenige Erkenntnisgesinnung, die der jugendliche
Renan, als er aus dem Colleg austrat, als seine
Überzeugung aussprach, als er durch die Erkenntnisse der
modernen naturwissenschaftlichen Denkweise irre geworden war in
seinen religiösen Vorstellungen. Damals sprach er aus:
«Der Mensch der Gegenwart ist sich bewußt, daß
er niemals etwas über seine höchsten Ursachen oder
seine Bestimmung wissen wird.» Das ist schließlich
das Geständnis von vielen heute, nur daß, weil das
Geständnis schon so lange lebt, sehr viele zu einer Art
Betäubung darüber gekommen sind und nicht
fühlen, wie solches Bekenntnis an der Seele frißt,
wenn es neu ist. Verbaut hat sich dieses Bekenntnis die heute
gekennzeichneten Wege zum Jenseits der Seele und zum Jenseits
der Sinne. Ernest Renan war immerhin einer, der gefühlt
hat, wie sich mit einem solchen Verbauen leben läßt.
Und so hat er als alter Mann einen merkwürdigen Ausspruch
getan:
«Ich wollte, ich wüßte gewiß, daß es
eine Hölle gäbe, denn besser die Hypothese der
Hölle als des Nichts.»
Das
Nichtanerkennen des schauenden Bewußtseins führt
ebenso gewiß nicht zu der Erkenntnis des Ursprungs und des
Wesens des Menschen, wie das Einschlagen des Spiegels nicht zu
der Erkenntnis derjenigen Wesen führt, die sich im
Spiegel abspiegeln. Das fühlte Renan. Er fühlte,
daß dort, wo frühere Zeiten gesucht haben den
geistigen Ursprung des Menschen, von seiner Weltanschauung ein
Nichts hingestellt wird. Sein Gemüt protestierte dagegen,
indem er im Alter aussprach, daß es ihm lieber wäre,
zu wissen, daß es eine Hölle gibt, als zu glauben,
daß das Nichts wirklich sei. So lange nur das Gemüt
in solcher Weise protestiert, so lange wird die Menschheit
über die Schranken der Weltanschauung, die bis heute die
Wege zu dem Jenseits der Sinne und dem Jenseits der Seele
verbaut hat, nicht hinauskommen. Erst wenn die Menschheit sich
geneigt erklärt, so starkes Denken und Vorstellen
auszubilden, daß die Seele sich erkraften kann zu dem, was
im schauenden Bewußtsein lebendige Fortbildung dessen ist,
was Goethe angeregt hat in seinem Begriff von der anschauenden
Urteilskraft, auf den Kant wie auf ein Abenteuer der Vernunft
blickt, erst wenn die Menschheit sich entschließt, zu
dieser Erkraftung der Gedanken, der ganzen Seelenwelt
vorzuschreiten, um mit dem schauenden Bewußtsein in die
geistige Wirklichkeit einzudringen, dann wird nicht mehr ein
bloßer Gemütsprotest nur, sondern ein
Erkenntnisprotest sich erheben gegen die Zwangsmächte
jenes sogenannten Monismus, der den Menschen von einer
Erkenntnis seiner eigentlichen Wesenheit abspalten will. Und
ich denke, daß man den inneren Nerv, der in den
geisteswissenschaftlichen Auseinandersetzungen lebt, doch heute
schon so verspüren kann, daß wir leben im
Ausgangspunkte jener Umwälzungen im menschlichen
Seelenleben, welche aus der Erkenntnis des ja schon bewunderten
naturwissenschaftlichen Weltbildes hinaus in das Jenseits der
Sinne und das Jenseits der Seele, in die eigentliche
Ursprungsstätte des Menschen, in den Geist
führen.
Und
damit wird der Mensch auch wiederum in die Lage kommen, das,
was in seinem Schicksal, in seinem moralischen Dasein lebt,
ebenso anzugliedern an den Weltenursprung, wie er angliedern
kann das, was in der äußeren Naturnotwendigkeit lebt.
Und aufsteigen wird der Mensch dadurch zu einer wirklich
einheitlichen und auch wirklich befriedigenden, weil als Geist
zum Geiste sprechenden Natur- und Seelenanschauung.
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