ELFTER VORTRAG
Bern, 11. September 1910
Auf
die Versuchungsgeschichte, die wir darstellen konnten als
Impuls für eine besondere Art der Einweihung, folgte das,
was der Christus Jesus zunächst seinen Jüngern als
Verbreiter der alten Lehren in einer vollständig neuen
Form werden konnte, sodann, was er werden konnte nicht nur als
Verbreiter von Lehren, sondern, wenn der Ausdruck gebraucht
werden darf, als Kraft, als gesundende Kraft der Menschen. Das
ist dargestellt in den Heilungen. Dann haben wir gestern jenen
Übergang gemacht, der, wie ich sagte, einigen guten Willen
zum Verständnis voraussetzt, guten Willen, der sich
ergibt aus einer Verarbeitung der
geisteswissenschaftlichen Erkenntnisse, wie man sie im Laufe
von Jahren in sich aufgenommen haben kann. Wir haben den
Übergang gemacht zu jener eigentümlichen Art
von lebendiger Belehrung durch Übergabe von Kräften,
die ausgingen von dem Christus Jesus und sozusagen in die
Seelen seiner Jünger einstrahlten. Und wir haben versucht,
so gut es ging, ein gewaltiges Mysterium mit
Menschenworten auszudrücken. Wir haben versucht,
darauf aufmerksam zu machen, wie diese Lehre war, die der
Christus Jesus seinen Jüngern zu geben hatte. Er war eine
Art Sammelpunkt, ein Sammelwesen für Kräfte, die aus
dem Makrokosmos in die Verhältnisse der Erde
einflössen und zu den Seelen der Jünger
hinströmen sollten, und die nur durch jene Kräfte
gesammelt werden konnten, die in der Wesenheit des Christus
Jesus vereinigt waren. Die Kräfte, welche sonst den
Menschen nur unbewußt während des Schlafzustandes
zuströmen, sie strömten aus Weltenweiten durch die
Wesenheit des Christus Jesus den Jüngern zu als die
belehrenden und belebenden Kräfte des Kosmos selber. In
den Einzelheiten kann man natürlich diese Kräfte,
welche aufklärende Kräfte über das Weltendasein
sind, nur charakterisieren, wenn man sich einläßt auf
die verschiedenen Konstellationen im Kosmos. Und auf dieses
Mysterium werden wir heute noch, insofern es das
Matthäus-Evangelium darstellt, hinzuweisen haben.
Vorerst aber haben wir uns klarzumachen, wie die Jünger
zunehmen mußten an Weisheit gegenüber den
Verhältnissen der Erde dadurch, daß die Kräfte
des Christus Jesus auf sie hinüberstrahlten. Sie
mußten sozusagen in sich selber, in ihrem Leben, in ihrer
lebendigen Weisheit wachsen, wachsen in der
verschiedensten Weise.
Nun
wird uns gerade eine eigentümliche Art in dem Wachstum
eines der Jünger oder Apostel dargestellt. Aber wir werden
dieses einzelne, besonders Bedeutsame in dem Leben eines
Apostels nur verstehen, wenn wir es aus einem großen
Zusammenhange herausholen. Da müssen wir uns
klarmachen, daß der Mensch ja in der
Menschheitsevolution fortschreitet. Wir machen nicht
umsonst Inkarnation nach Inkarnation durch. So haben wir
in der nachatlantischen Zeit nicht umsonst Inkarnationen
durchgemacht innerhalb der ersten nachatlantischen
Kulturperiode, der indischen, dann in der persischen
Kulturperiode, in der ägyptisch-chaldäischen, in der
griechisch-lateinischen und so weiter, sondern diese
Inkarnationen machen wir durch als die große
Lebensschule, damit wir in jeder dieser Inkarnationen aus
den Verhältnissen, die in diesen Kulturperioden
vorhanden sind, etwas aus der Umgebung aufnehmen. Dadurch
wachsen wir allmählich. Und worin besteht dieses Wachstum
des Menschen durch die einzelnen Epochen der
Menschheitsevolution hindurch?
Der
Mensch hat ja, wie wir aus den elementarischen Anschauungen der
Anthroposophie wissen, verschiedene Glieder seiner Wesenheit.
Wenn wir sie in unserem Sinne aufzählen wollen, haben wir
physischen Leib, Ätherleib, Astralleib, mit dem Astralleib
verknüpft die Empfindungsseele, dann die Verstandes-
oder Gemütsseele, die Bewußtseinsseele. Dann
haben wir an höheren Gliedern der menschlichen
Natur, zu denen wir uns hinaufentwickeln: Geistselbst,
Lebensgeist und den Geistesmenschen. Nun wurde uns in der Tat
in jeder der nachatlantischen Kulturepochen etwas gegeben
für diese einzelnen Glieder unserer Menschennatur. So
wurde in der ersten Epoche, in der altindischen Kultur,
dem Menschen etwas an Kräften eingefügt, wodurch er
in seinem Ätherleibe mehr wurde, als er früher war.
Was ihm in dieser Beziehung eingeprägt werden sollte in
seinen physischen Leib, das wurde ihm schon in den letzten
Zeiten der atlantischen Periode eingefügt. Mit dem
Ätherleibe dagegen beginnen jene Gaben, die dem Menschen
während der nachatlantischen Zeit zukommen sollten. So
wurden ihm in der altindischen Zeit die Kräfte gegeben,
die seinem Ätherleibe eingepflanzt werden sollten; dann in
der urpersischen Zeit die Kräfte, die seinem astralischen
Leibe, dem Empfindungsleibe, eingepflanzt werden sollten;
während der ägyptisch-chaldäischen Zeit die
Kräfte für die Empfindungsseele. Während der
vierten Kulturperiode, der griechisch-lateinischen Zeit, wurden
ihm eingeprägt die Kräfte der Verstandes- oder
Gemütsseele; und jetzt leben wir in dem Zeitalter, wo die
entsprechenden Kräfte, die in diese Linie gehören,
nach und nach der Bewußtseinsseele eingeprägt werden
sollen. In diesem Einprägen ist die Menschheit noch
nicht sehr weit vorgeschritten. Dann wird ein sechster
nachatlantischer Zeitraum kommen, wo in die Menschennatur
eingeprägt werden die Kräfte des Geistselbst und im
siebenten Kulturzustande die Kräfte des
Lebensgeistes. Und dann blik- ken wir auf ferne Zukünfte
hin, wo uns der Geistesmensch oder Atma in dem normalen
Menschentum eingeprägt werden soll.
Nun
betrachten wir diese menschliche Entwickelung in bezug auf den
einzelnen Menschen. Wie wir jetzt den Menschen betrachten
müssen, so betrachten ihn stets die, welche von den
wahren Verhältnissen dieser Dinge aus den heiligen
Mysterien heraus etwas wußten. So mußten ihn auch
nach und nach betrachten lernen die Jünger durch die
belebende, belehrende Kraft, die ausströmte von dem
Christus Jesus und auf sie überging. Wir können daher
sagen: Wenn wir den Menschen betrachten - jetzt oder auch zur
Zeit des Christus Jesus -, so liegen in ihm Anlagen, wie zum
Beispiel in einer Pflanze Anlagen liegen, die auch schon dann
vorhanden sind, wenn die Pflanze nur die grünen
Blätter und noch nicht Blüte und Frucht hat. Eine
solche Pflanze, die nur grüne Blätter hat, schauen
wir an und wissen: So wahr die Pflanze da ist, hat sie schon in
sich die Anlage zur Blüte und zur Frucht, die sie
entwickeln wird, wenn alles regelmäßig geht. So wahr
aus der Pflanze, auch wenn sie erst die grünen
Blätter hat, herauswachsen Blüte und Frucht, so
gewiß ist es, daß aus dem Menschen, der, wie es zur
Zeit des Christus Jesus der Fall war, nur Empfindungsseele und
Verstandes- oder Gemütsseele hat, die
Bewußtseinsseele herauswächst, die sich dann
öffnet dem Geistselbst, damit die oberste Drei- heit als
Neues wie eine göttlich-geistige Gabe dem Menschen
zufließen kann. Deshalb können wir sagen: Der Mensch
entfaltet sich aus dem, was seine Seeleninhalte, was seine
Seeleneigenschaften sind. So, wie sich die Pflanze, die nur
grüne Blätter hat, zu Blüte und Frucht
entfaltet, so entfaltet sich der Mensch in der Weise,
daß er aus Empfindungsseele, Verstandesseele und
Bewußtseinsseele etwas wie eine Blüte seines Wesens
dem entgegenhält, was ihm als ein Göttliches von oben
herunterkommt, damit er durch den Empfang des Geistselbst einen
weiteren Weg in die Höhen der Menschheitsentwickelung
durchmachen kann.
In
dieser Weise konnten die Menschen, die zur Zeit des Christus
Jesus bloß das Äußere ganz normal entwickelt
hatten, sagen: Ja, jetzt ist erst normalerweise die Verstandes-
oder Gemütsseele entwickelt, die noch nicht ein
Geistselbst in sich aufnehmen kann, aber es wird sich aus
demselben Menschen, der jetzt die Verstandes- oder
Gemütsseele als Höchstes entwickelt hat,
herausentwickeln als sein Kind, als sein Ergebnis, die
Bewußtseinsseele, die sich dann öffnen kann dem
Geistselbst.
Und
was der Mensch nach seiner ganzen Wesenheit sozusagen als seine
Blüte entfalten mußte, was da aus ihm herauswuchs,
was sich ergab aus seiner Natur, wie nannte man das in
den Mysterien? Wie mußte man es daher auch in der Umgebung
des Christus Jesus nennen, wenn die Jünger wirklich
vorwärtskommen wollten? Man nannte es - wenn wir es in
unsere Sprache übersetzen wollen - mit dem Ausdruck
«Sohn des Menschen»; denn das griechische Wort
hat durchaus nicht die
eingeschränkte Bedeutung unseres «Sohn» als
«Sohn eines Vaters», sondern dessen, was sich ergibt
als Nachkomme einer Wesenheit, was herauswächst aus einer
Wesenheit wie die Blüte aus einer bisher nur
blättertragenden Pflanze. Daher konnte man, als die
normalen Menschen noch nicht in der Bewußtseinsseele
jene Blüte ihrer Wesenheit entwickelt hatten, noch nichts von dem
in sich hatten, sagen:
Ja, die normalen Menschen haben noch nichts von dem «Sohn
des Menschen» entwickelt, aber es muß ja immer
Menschen geben, die ihrem Geschlechte voranschreiten, die schon
in einer früheren Zeit das Wissen und das Leben einer
späteren Epoche in sich haben. Unter den Führern der
Menschheit muß es solche geben, die im vierten Zeitraum,
wo normalerweise nur die Verstandes- oder
Gemütsseele entwickelt ist, trotzdem sie
äußerlich ausschauen wie die anderen Menschen, doch
innerlich schon die Möglichkeit der
Bewußtseinsseele entwickelt haben, in die hineinleuchtet
das Geistselbst. - Und solche «Menschensöhne»
gab es. Und die Jünger des Christus Jesus sollten daher
heranwachsen zum Verstehen, welches die Natur und Wesenheit
dieser Führer der Menschheit ist.
Da
fragte der Christus Jesus, um sich zu überzeugen, wie sie
darüber denken, zunächst seine intimen Schüler,
seine Jünger: Sagt mir etwas davon, von welchen Wesen, von
welchen Menschen man sagen kann, daß sie
Menschensöhne sind diesem Geschlecht? - So etwa
müßte man die Frage stellen, wenn man sie im Sinne
der aramäischen Urschrift des
Matthäus-Evangeliums stellen wollte; denn ich habe schon
darauf aufmerksam gemacht, daß in der griechischen
Übertragung, wenn man sie gut versteht, zwar noch alles
besser ist, als es heute ausgelegt wird, daß aber
trotzdem notwendigerweise manches bei der Übertragung aus
der aramäischen Urschrift undeutlich geworden ist. Also
müssen wir uns den Christus Jesus vor seinen Jüngern
stehend denken und sie fragend: Was herrscht als Anschauung
darüber, wer von jenen Menschen des vorangegangenen
Geschlechts, die schon in den griechisch-lateinischen Zeitraum
hineingehörten, Menschensöhne wären? Da
zählten sie ihm auf: Elias, Johannes der Täufer,
Jeremias und sonstige Propheten. Das wußten die
Jünger durch die belehrende Kraft, die ihnen durch den
Christus geworden war, daß jene Führer Kräfte in
sich aufgenommen hatten, durch die sie hinaufgewachsen waren
bis zum Insichtragen des Menschensohnes. Bei derselben
Gelegenheit gab einer der Jünger, der Petrus
gewöhnlich genannt wird, noch eine andere Antwort (Matth.
16,13-16).
Um
diese andere Antwort zu verstehen, müssen wir uns ganz
fest in die Seele geschrieben sein lassen, was wir gerade in
den verflossenen Tagen als die Mission des Christus Jesus im
Sinne des Matthäus-Evangeliums gezeigt haben:
daß durch den Christus-Impuls für die Menschen
die Möglichkeit gegeben war, das volle Ich-Bewußtsein
auszubilden, das, was in dem «Ich bin» liegt,
zur höchsten Blüte zu bringen. Mit anderen Worten:
Auch in der Initiation sollten die Menschen gegen die
Zukunft hin so in die höheren Welten hineinwachsen,
daß das Ich-Bewußtsein, das wir als normale Menschen
heute nur für die physische Welt haben, voll
erhalten bleibt bei allen Wegen in die höheren Welten
hinauf. Daß dies sein kann, wurde ermöglicht durch
das Dasein des Christus Jesus in der physischen Welt. So
dürfen wir sagen: Es ist der Christus Jesus der
Repräsentant derjenigen Kraft, welche der Menschheit das
volle Bewußtsein des «Ich bin» gegeben hat.
Ich
habe schon besonders darauf hingewiesen, wie die
Evangelieninterpretationen der freisinnigen oder gar
evangeliengegnerischen Richtungen gerade das Wichtige
gewöhnlich nicht betonen. Sie weisen immer darauf
hin, daß einzelne Wortfolgen der Evangelien und so weiter
schon früher irgendwo vorgekommen sind. So zum Beispiel
könnten sie darauf hinweisen, daß selbst der Inhalt
der Seligpreisungen schon früher da war. Aber, was
nicht da war - darauf müssen wir immer wieder hinweisen
was früher nicht unter Aufrechterhaltung des
Ich-Bewußtseins der Menschen erreicht werden konnte, das
wird durch den Christus-Impuls für die menschliche
Eigenheit erreicht werden können! Das ist
außerordentlich bedeutsam. Ich habe die einzelnen Glieder
der Seligpreisungen auseinandergelegt und habe gezeigt,
daß es im ersten Satze heißen muß: «Selig
sind die Bettler um Geist», weil nach der
Menschheitsevolution derjenige Mensch arm an Geist ist, der
nicht mehr hineinschauen kann in die geistige Welt im Sinne des
alten Hellsehens. Aber den Trost und die Aufklärung gibt
ihnen der Christus : Wenn sie auch nicht mehr durch die
alten Hellseherorgane hineinschauen können in die
geistige Welt, so werden sie jetzt durch sich selbst, durch ihr
Ich hineinschauen können, denn: «Durch sich selber
werden sie finden die Reiche der Himmel!» (Matth. 5,3).
Ebenso der zweite Satz: «Selig sind, die da Leid
tragen» (Matth. 5,4). Sie brauchen nicht mehr
hineinzuwachsen durch das alte Hellsehervermögen in die
Sphären der geistigen Welt; sie werden ihr Ich so
entwickeln, daß sie hinaufwachsen können in die
geistige Welt. Aber dazu muß das Ich immer mehr und mehr
die Kraft aufnehmen, die in dem Christus als in einer
einzigartigen Wesenheit einmal auf der Erde verankert war.
Es
sollten die gegenwärtigen Menschen ein klein wenig gerade
bei solchen Sachen wirklich überlegen: Nicht umsonst steht
in diesen Seligkeiten der Bergpredigt überall in
jedem einzelnen Satze ein griechisches Wort, das sehr
wichtig ist:
.
Wenn wir also den ersten Satz nehmen:
«Selig sind die Bettler um Geist», so würde es
dann weiter heißen: «In ihnen selbst» - oder
«durch sich selbst werden sie haben die Reiche der
Himmel.» Auf dieses «in ihnen selbst» wird
immer hingedeutet; im zweiten Satz, im dritten Satz und so
weiter, immer wird darauf hingewiesen. - Verzeihen Sie,
wenn ich Sie jetzt auf etwas Großes in bezug auf unsere
Zeit in einer sehr trivialen Weise hinweise. Unsere Zeit wird
sich entschließen müssen, das Wort
«auton» - was in unserem
«Automobil» liegt - nicht bloß auf
Maschinen anzuwenden, nicht immer nur in der
äußerlichsten Weise zu verstehen, sondern sie wird
sich entschließen müssen, auch auf dem
geistigen Gebiete die Eigenheit des
der Inbetriebsetzung zu verstehen. Das ist etwas, was unsere Zeit
wohl als eine Mahnung aufnehmen darf: In bezug auf Maschinen
liebt sie das Durch-Eigenheit-in-Betrieb-Setzen; aber in bezug
auf das, was früher außerhalb des
Ich-Bewußtseins war, und was in allen alten Mysterien bis
zum Christus-Ereignis hin außerhalb des
Ich-Bewußtseins erlebt wurde, sollte die Menschheit
auch lernen das Durch-Eigen- heit-in-Betrieb-Setzen, so
daß der Mensch nach und nach der
selbstschöpferische Urheber von alledem werden kann.
Und das wird gerade die heutige Menschheit verstehen
lernen, wenn sie sich mit dem Christus-Impuls durchdringen
wird.
Wenn wir dies ins Auge fassen, werden wir sagen: Es bedeutet
die Frage, welche der Christus Jesus nach der anderen Seite an
die Jünger stellte, noch etwas ganz Besonderes. Erst
fragte er: Wer könnte von denen, welche die Führer
waren dieses Geschlechtes, als ein Menschensohn
bezeichnet werden? Und die Jünger wiesen hin auf einzelne
der Führer. Dann fragte er noch etwas anderes. Er wollte
es allmählich dahin bringen, daß sie seine eigene
Natur verstehen, daß sie verstehen, was er
repräsentiert für die Ichheit. Das liegt in der
anderen Frage: «Und was denkt ihr, daß ich bin?»
Und das «Ich bin» muß in jedem einzelnen Falle
gerade in dem Matthäus-Evangelium besonders betont werden.
Da gab Petrus eine Antwort, die dahin ging, daß er jetzt
den Christus nicht bloß bezeichnete als Menschensohn,
sondern daß er ihn bezeichnete - und wir können das
Wort immer so übersetzen, wie es gebräuchlich ist -
als den «Sohn des lebendigen Gottes». Was ist im
Gegensatz zum «Menschensohn» der «Sohn des
lebendigen Gottes»? Um diesen Begriff zu verstehen,
müssen wir die Tatsachen ergänzen, die wir vorhin
ausgesprochen haben.
Der
Mensch, haben wir gesagt, entwickelt sich so hinauf, daß
er in seiner Wesenheit die Bewußtseins seele entfaltet, in
der das Geistselbst erscheinen kann. Wenn er aber die
Bewußtseinsseele entwickelt hat, müssen ihm
Geistselbst, Lebensgeist und Geistesmensch gleichsam
entgegensteigen, damit seine sich öffnende Blüte
diese obere Dreiheit aufnehmen kann. Diese Hinaufentwickelung
des Menschen können wir auch graphisch darstellen
gleichsam wie eine Hinaufentwickelung von einer Art Pflanze:
In
der Bewußtseinsseele öffnet sich der Mensch, und es
kommt ihm entgegen das Geistselbst oder Manas, der Lebensgeist
oder die Budhi und der Geistesmensch oder Atma. Das ist also
etwas, was gleichsam dem Menschen als das Geistbefruchtende von
oben entgegenkommt. Während der Mensch mit den anderen
Gliedern von unten heraufwächst und sich öffnet
zur Blüte des Menschensohnes, muß ihm, wenn er
weiterschreitet und das vollständige Ich-Bewußtsein
aufnehmen will, von oben entgegenkommen, was ihm entgegenbringt
Geistselbst, Lebensgeist und Geistesmensch. Und der
Repräsentant dessen, was ihm von oben heruntergebracht
wird, was in die fernste Menschenzukunft hindeutet, wer
ist das ? Die erste Gabe empfangen wir als das Geistselbst.
Wessen Repräsentant ist der, der die Gabe bringen wird des
herunterkommenden Geistselbst ? Das ist der Sohn des Gottes,
der lebt, der Lebensgeist, der «Sohn des lebendigen
Gottes»!
Also es fragt der Christus Jesus in diesem Augenblick: Was
muß durch meinen Impuls an den Menschen herankommen?
Dasjenige, was das belebende Geistprinzip von oben ist,
muß an den Menschen herankommen! So stehen sich
gegenüber der «Menschensohn», der von unten nach
oben wächst, und der Gottessohn, der «Sohn des
lebendigen Gottes», der von oben nach unten
wächst. Die müssen wir unterscheiden. Aber wir
müssen es begreiflich finden, daß diese Frage
für die Jünger eine schwierigere war. Diese Frage
wird Ihnen in ihrer ganzen Schwierigkeit für die
Jünger besonders dann vor die Seele treten, wenn Sie
bedenken, daß die Jünger ja alles das erst empfingen,
was die einfachsten Menschen nach der Zeit des Christus Jesus
schon eingepflanzt erhalten haben durch die Evangelien.
Die Jünger mußten es alles erst durch die lebendigen
Lehrkräfte des Christus Jesus in sich aufnehmen. Es war in
den Kräften, die sie bereits entwickelt hatten, keine
Verständnisfähigkeit für das, was Antwort geben
konnte auf die Frage: Wessen Repräsentant bin ich selber?
Da wird daraufhingewiesen, daß einer der
Jünger, der Petrus hieß, die Antwort gab: «Du
bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes» (Matth.
16,16). Das war in diesem Augenblicke eine Antwort, die, wenn
wir so sagen dürfen, nicht aus den normalen
Geisteskräften des Petrus heraus war. Und der Christus
Jesus - versuchen wir die Sache dadurch lebendig
darzustellen, daß wir etwa in gewissem Sinne an die
Anschaulichkeit appellieren -, er mußte sich sagen,
indem er den Petrus ansah: Es ist viel, daß aus diesem
Munde diese Antwort gekommen ist, die sozusagen auf eine
fernste Zukunftszeit hindeutet. - Und wenn er dann auf das
blickte, was in dem Bewußtsein des Petrus war, was in ihm
bereits so war, daß er mit dem Intellekt oder mit den
Kräften, zu denen er es durch die Einweihung gebracht
hatte, eine solche Antwort geben konnte, dann mußte der
Christus sich sagen: Aus dem, was der Petrus bewußt
weiß, ist es nicht heraus; da reden jene tieferen
Kräfte, die im Menschen sind und die der Mensch erst nach
und nach zu bewußten Kräften macht.
Wir
tragen in uns physischen Leib, Ätherleib, Astralleib und
Ich. Wir kommen hinauf zum Geistselbst, Lebensgeist und
Geistesmenschen durch Umwandlung der Kräfte des
astralischen Leibes, des Ätherleibes und des physischen
Leibes. Das ist in der elementaren Geisteswissenschaft oft
dargestellt worden. Aber die Kräfte, die wir einmal in
unserem Astralleibe als Geistselbst entwickeln werden, sind in
unserem Astralleibe schon darinnen; nur sind sie von
göttlich-geistigen Mächten darinnen und nicht
von uns entwickelt. Und ebenso ist in unserem Ätherleib
schon ein göttlich-geistiger Lebensgeist darinnen. Daher
sagt der Christus, indem er auf Petrus sieht: Was da
gegenwärtig ist in deinem Bewußtsein, das hat nicht
aus dir gesprochen; sondern es hat etwas gesprochen, was du
erst in der Zukunft entwickeln wirst, was zwar in dir ist, aber
wovon du noch nichts weißt. Was schon in deinem Fleisch
und Blut ist, kann noch nicht so sprechen, daß das Wort
zutage tritt: «Du bist Christus, der Sohn des lebendigen
Gottes», sondern da reden die tief unter der Schwelle des
Bewußtseins liegenden göttlich-geistigen Kräfte,
die tiefsten sogar, die in dem Menschen drin- nenstecken. - Das
geheimnisvolle Höhere im Petrus, was der Christus den
«Vater im Himmel» nennt, die Kräfte, aus denen
Petrus zwar geboren ist, deren er sich aber noch nicht
bewußt ist, die haben in diesem Augenblick aus ihm
gesprochen. Daher das Wort: «Was du als Mensch aus Fleisch
und Blut gegenwärtig bist, hat dir das nicht eingegeben,
sondern der Vater in den Himmeln» (Matth. 16,17).
Dabei mußte aber der Christus noch etwas anderes sagen. Er
mußte sich sagen: In dem Petrus habe ich eine Natur vor
mir, einen Jünger, dessen ganze menschliche Konstitution
so ist, daß durch die Kräfte, die schon das
Bewußtsein entwickelt hat, daß durch die ganze Art
und Weise, wie die Geistestätigkeit wirkt, nicht
gestört wird die Vaterkraft in ihm; sie ist so stark,
diese unterbewußte Menschenkraft, daß er auf sie
bauen kann, wenn er sich dieser unterbewußten
Menschenkraft überläßt. Das ist das
Wichtige in ihm, konnte sich der Christus sagen. Was so in ihm
ist, das ist aber auch in jedem Menschen. Nur bewußt ist
es noch nicht weit genug, das wird sich erst in der Zukunft
entwickeln. Soll sich das, was ich der Menschheit zu geben
habe, und wofür ich der Impuls bin, weiter entwickeln und
die Menschen ergreifen, so muß es sich auf das
begründen, was da in dem Petrus eben gesprochen hat:
«Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes!»
Auf diesen Felsen im Menschen, den noch nicht zerstört
haben die brandenden Wogen des schon entwickelten
Bewußtseins, was da als die Vaterkraft spricht, darauf
will ich das bauen, was immer mehr und mehr hervorsprießen
soll aus meinem Impuls. - Und wenn die Menschen diese Grundlage
entwickeln, wird sich das ergeben, was die Menschheit des
ChristusImpulses sein wird. - Das liegt in den Worten:
«Du bist der Petrus, und auf diesen Felsen will ich bauen,
was eine Menschengemeinde ergeben kann, was eine Summe von
Menschen ergeben kann, die sich zum Christus-Impuls
bekennen!» (Matth. 16,18).
So
leicht, wie die Diskussionen heute fließen - denn ein
besonderer Streit herrscht fast in der ganzen Welt über
diese Worte so leicht sind diese Worte, die im
Matthäus-Evangelium stehen, wahrhaftig nicht zu nehmen.
Sie sind nur zu verstehen, wenn man sie aus der Tiefe jener
Weisheit, die zugleich die Mysterienweisheit ist,
herausschöpft.
Und
jetzt soll klar und deutlich noch etwas anderes gezeigt werden:
daß nämlich wirklich auf die tiefere,
unterbewußte Kraft in Petrus von dem Christus Jesus gebaut
wird. Denn im nächsten Augenblick redet der Christus von
den nächsten Ereignissen, die sich abspielen sollen. Von
dem, was als das Mysterium auf Golgatha geschehen soll,
beginnt er zu reden. Und jetzt ist der Augenblick schon
vorbei, wo das tiefer in Petrus Liegende spricht; jetzt spricht
das in Petrus, was in ihm schon bewußt ist. Jetzt kann er
nicht verstehen, was der Christus damit meint, kann nicht
glauben, daß Leiden und Sterben eintreten sollen.
Und wo der bewußte Petrus spricht, der schon die
bewußten eigenen Kräfte in sich entwickelt hat,
da muß ihn der Christus zurechtweisen, indem er sagt:
Jetzt redet nicht irgendein Gott, sondern jetzt spricht
das, was du schon als Mensch entwickelt hast; das ist unwert,
daß es emporwächst; das ist aus einer Lehre der
Täuschung; das ist aus Ahriman, das ist des Satans! - Das
liegt in dem Wort: «Hebe dich, Satan, von mir! Du bist mir
ärgerlich; denn du meinest nicht, was göttlich,
sondern was menschlich ist» (Matth. 16,23). Der Christus
nennt ihn gleich den Satan; er wendet gerade das Wort Satan an
für Ahriman, während sonst in der Bibel Diabolus
steht für alles Luziferische. Da gebraucht der Christus in
der Tat für die Täuschung, der sich Petrus noch
hingeben muß, das richtige Wort.
So
verhalten sich die Dinge wirklich. Was hat nun die moderne,
populäre Bibelkritik daraus gemacht? Sie hat
gefunden: Es ist doch ganz unmöglich, daß der
Christus Jesus gegenübersteht dem Petrus und von ihm das
eine Mal sagt: Du hast allein begriffen, daß ein Gott dir
gegenübersteht! - während er gleich darauf ihn das
andere Mal einen Satan nennt. Und die Bibelkritiker sagen nun:
Also muß man daraus schließen, daß das Wort
Satan, das Christus zu Petrus gesprochen haben soll, von einem
anderen später eingeschoben worden ist, daß es also
eine Fälschung ist. - Richtig ist dabei nur, daß die
Meinung, die man in der Gegenwart über den tieferen Sinn
dieser Worte aus der philologischen Forschung hat, gar nichts
wert ist, wenn nicht vorangeht das sachliche
Verständnis der biblischen Urkunden. Erst auf Grundlage
des sachlichen Verständnisses der Bibel ist es
möglich, daß der Mensch wirklich auch etwas sagen
kann über die geschichtliche Entstehung der entsprechenden
Urkunden.
Aber zwischen diesen beiden Worten, die ich angeführt
habe, liegt noch ein anderes. Und das werden wir nur verstehen
können, wenn wir ins Auge fassen eine uralte und doch
immer neue Mysterienlehre, die Lehre, daß der Mensch, so
wie er auf der Erde ist, und nicht nur der Mensch selbst,
sondern eine jede Menschengemeinde, eine Art Abbild ist
für dasjenige, was im großen Kosmos, im Makrokosmos
vor sich geht. Wir haben das insbesondere schildern können
bei der Besprechung der Abstammung des Jesus von Nazareth. Wir
haben gesehen, wie jenes Wort, das zu Abraham gesprochen
ist, eigentlich bedeutet: «Deine Nachkommenschaft
soll sein ein Abbild der Ordnung der Sterne am Himmel»
(l.Mose 22,17). Was am Himmel ist als die Ordnung der
zwölf Sternbilder und als der Gang der Planeten durch den
Tierkreis, das soll sich wiederholen in den zwölf
Stämmen und in dem, was das hebräische Volk
durchmacht durch drei mal vierzehn Generationen hindurch. Also
in der Aufeinanderfolge der Generationen mit der
eigentümlichen Vererbung durch die Blutsverbände in
den zwölf Stämmen soll ein Abbild der makrokosmischen
Verhältnisse gegeben werden. Das ist dem Abraham
gesagt worden.
In
dem Augenblick, da der Christus Jesus den Petrus gegenüber
hat, der in seiner tieferen Natur begreifen kann, was
eigentlich mit dem Christus-Impuls gegeben ist - die
hinunterfließende geistige Kraft durch den Sohn des
lebendigen Gottes da weiß der Christus, daß er die
Umstehenden darauf hinweisen kann, daß jetzt auf der Erde
etwas Neues beginnt, ein neues Abbild gegeben werden kann.
Während für Abraham in der Blutsverwandtschaft das
Abbild der kosmischen Verhältnisse gegeben war, soll
jetzt in den ethisch-moralisch-geistigen Verhältnissen ein
Abbild dessen geformt werden, was der Mensch durch sein Ich
werden kann. Wenn die Menschen verstehen werden in demselben
Sinne, wie es die bessere Natur in Petrus versteht, was der
Christus ist, dann werden sie nicht nur solche Gemeinschaften,
solche Ordnungen einführen, die auf Blutsverwandtschaft
beruhen, sondern solche, welche bewußt von Seele zu Seele
das Band der Liebe spinnen. Das heißt: Wie in dem
jüdischen Blute, in den Fäden, die durch die
Generationen hindurchgingen, zusammengefügt war, was im
Menschengeschlecht zusammengefügt werden sollte nach
dem Vorbild des Makrokosmos, und wie das, was
auseinandergelöst war im Menschengeschlecht, eben
auch auseinandergelöst war nach den Ordnungen am
Himmel, so sollte jetzt aus dem bewußten Ich heraus in den
ethisch-moralisch-geistigen Verhältnissen dasjenige
entstehen, was die Menschen trennt oder in Liebe
zusammenhält. Die Ordnungen der Menschen sollten geformt
werden oder harmonisiert werden aus dem bewußten Ich
heraus. Das liegt in den Worten, die der Christus Jesus spricht
als Fortsetzung der Antwort, die er dem Petrus gegeben hat:
«Was du auf Erden binden wirst - was die tiefere Natur in
dir bindet -, das ist dasselbe, was im Himmel gebunden
ist, und was dieselbe Natur hier unten löst, das ist
etwas, was auch im Himmel gelöst wird» (Matth.
16,19).
In
den alten Zeiten lag alle Bedeutung des
Menschenzusammenhanges in der Blutsverwandtschaft. Immer
mehr und mehr aber soll der Mensch hineinwachsen in die
geistigen, moralischen, spirituellen Verbände. Wenn
wir das ins Auge fassen, müssen wir sagen: Es muß dem
Menschen dasjenige, was er als Gemeinde gründet, etwas
werden. Wenn wir anthroposophisch sprechen, können wir
sagen: Das Einzel- karma des Menschen muß sich verbinden
mit dem Karma von Gemeinschaften. Sie können es
schon durchaus wissen aus dem, was in den verflossenen Jahren
ausgeführt worden ist. Wie es nicht der Karma- idee
widerspricht, wenn ich einem Armen etwas schenke,
ebensowenig widerspricht es der Karmaidee, wenn einem
Menschen dasjenige, was er als sein Einzelkarma hat, von
einer Gemeinde abgenommen wird. Die Gemeinde kann
mittragen das Los des einzelnen. Das Karma kann so verbunden
werden, daß die Gemeinde mitträgt an dem Karma des
einzelnen. Es kann mit anderen Worten folgendes im moralischen
Zusammenhange eintreten: Das einzelne Glied innerhalb dieser
Gemeinde begeht etwas Unrechtes. Das wird ganz gewiß in
das Karma der einzelnen Persönlichkeit eingeschrieben
sein, und es muß im großen Weltzusammenhange
ausgetragen werden. Aber es kann sich ein anderer Mensch
finden, der sagt: Ich helfe dir das Karma austragen! -
Erfüllt muß das Karma werden, aber der andere kann
ihm helfen. So können ganze Gemeinden dem helfen, der ein
Unrecht begangen hat. Es kann der einzelne sein Karma so
mit der Gemeinde verflochten haben, daß er, weil die
Gemeinde ihn als eines ihrer Glieder betrachtet, etwas,
was ihn betrifft, bewußt abgenommen erhält, daß
die ganze Gemeinde mitfühlt und mit will den einzelnen
bessern; so daß die Gemeinde sprechen kann: Du einzelner
hast unrecht getan, aber wir treten für dich ein! Wir
übernehmen das, was zur Ausbesserung des Karma
führt. - Will man die Gemeinde «Kirche» nennen,
so legt sich die Kirche damit die Verpflichtung auf, die
Sünden des einzelnen auf sich zu nehmen, sein Karma
mitzutragen. Es handelt sich nicht um das, was man heute
Sündenvergebung nennt, sondern um ein reales Band, um ein
Aufsichnehmen von Sünden. Und darum handelt es sich,
daß die Gemeinde dies bewußt auf sich nimmt.
Wenn man in dieser Art und Weise das «Binden» und
«Lösen» versteht, dann müßte man bei
jeder Sündenvergebung, wenn man sie richtig versteht, an
die Verpflichtung denken, die der Gemeinde da heraus
erwächst. So spinnt sich dadurch, daß die Fäden
der einzelnen verwoben werden in das Karma der ganzen
Gesellschaft, ein Netz. Und dieses Netz soll durch das, was der
Christus heruntergebracht hat aus geistigen Höhen, in
seiner Charakteristik ein Abbild sein der Ordnung am
Himmel, das heißt, nach der Ordnung der geistigen Welt
soll das Karma des einzelnen mit dem Gesamtkarma verbunden
sein, nicht in beliebiger Weise, sondern so, daß der
Gemeindeorganismus ein Abbild der Ordnung im Himmel
werde. Damit beginnt diese Szene des sogenannten
Petrus-Bekenntnisses für die, welche anfangen sie zu
verstehen, einen unendlichen tiefen Sinn zu haben. Es ist
sozusagen die Stiftung der auf die Ich-Natur gebauten
Menschheit der Zukunft. Das ist es, was in diesem vertraulichen
Gespräch zwischen dem Christus und seinen nächsten
Schülern sich abspielt, daß der Christus
überträgt die Kraft, die er aus dem Makrokosmos
herunterbringt, auf das, was die Jünger stiften sollen.
Und von jetzt ab ist es im Matthäus-Evangelium
Schritt für Schritt ein Hinaufführen der Jünger
zu dem, was in sie einfließen kann von der Sonnenkraft und
Kosmoskraft, welche die Christus-Wesenheit sammelt, um sie auf
die Jünger zu übertragen. Wir wissen ja, daß die
eine Seite der Initiation ein Hinausgehen in den
Makrokosmos ist. Und weil der Christus der Impuls zu
einer solchen Initiation ist, deshalb führt er seine
Jünger, indem er sie führt, hinaus in den Kosmos. Wie
der einzelne zu Initiierende, wenn er diese Initiation
durchmacht, bewußt hineinwächst in den Makrokosmos
und Stück für Stück von ihm kennenlernt, so
schreitet der Christus gleichsam den Makrokosmos ab,
zeigt überall die Kräfte, die da spielen und
hereinströmen, und überträgt sie auf die
Jünger.
Ich
habe gestern schon an einer Stelle darauf hingewiesen, wie das
geschieht. Stellen wir uns so recht die Szene vor: Ein Mensch
schläft ein. Dann liegen im Bette physischer Leib und
Ätherleib, während von ihm astralischer Leib und Ich
ausgegossen sind in den Kosmos und die Kräfte des Kosmos
in diese Glieder eindringen. Träte nun der Christus da zu
ihm, so würde er die Wesenheit sein, die ihm bewußt
diese Kräfte heranzieht und beleuchtet. So ist es aber
gerade mit der Szene, die uns dargestellt wird: Die Jünger
fahren hin in der letzten Nachtwache; da sehen sie, daß
das, was sie erst für ein Gespenst angesehen haben,
der Christus ist, der die Kraft des Makrokosmos in sie
einfließen läßt (Matth. 14,25-26). Es ist
handgreiflich dargestellt, wie er die Jünger hinführt
zu den Kräften des Makrokosmos.
Und
die nächsten Szenen des Matthäus-Evangeliums stellen
nichts anderes dar, als wie der Christus die Jünger
hinausführt Schritt für Schritt die Wege, die der zu
Initiierende geht. Es ist so, wie wenn der Christus selbst das
durchmachte und Schritt für Schritt seine Jünger an
den Händen führte an die Stätten, wohin der zu
Initiierende geführt wird. Ich will Ihnen eines sagen, an
dem Sie so recht sehen können, wie Schritt für
Schritt der Christus die Jünger hinausführt in den
Makrokosmos.
Wenn man lebendige Anschauungen hat von der geistigen Welt, und
wenn die hellseherischen Kräfte heranwachsen, lernt man so
manches kennen, was man vorher nicht kennen kann. So
lernt man erkennen, wie eigentlich zum Beispiel der
Zusammenhang in den fortschreitenden
Wachstumsverhältnissen der Pflanze ist. Der
materialistische Sinn wird von der Pflanze sagen: Hier
habe ich eine Blüte - nehmen wir an eine Blüte, die
Früchte trägt da wird sich Same entwickeln. Den
Samen kann man herausnehmen, kann ihn in die Erde versenken,
das Samenkorn verfault, und es erscheint eine neue Pflanze, die
auch wieder Samen trägt. So geht es von Pflanzensproß
zu Pflanzensproß weiter. Der materialistische Sinn
wird dabei denken, daß irgend etwas von dem verfaulenden
Samenkorn übergeht in die neue Pflanze. Der
materialistische Sinn kann gar nicht anders denken als, wenn es
auch noch so klein, noch so winzig ist, so muß doch irgend
etwas materiell übergehen. Aber so ist es nicht.
Tatsächlich wird in bezug auf das Materielle die ganze
alte Pflanze zerstört. Es geschieht ein Sprung in bezug
auf das Materielle, und die neue Pflanze ist materiell
etwas ganz Neues. Es geschieht tatsächlich eine
Neubildung.
Man
lernt nun die wichtigsten Verhältnisse in der Welt dadurch
kennen, daß man dieses eigentümliche Gesetz begreifen
und anwenden lernt auf den ganzen Makrokosmos, daß
in der Tat in bezug auf die materiellen Verhältnisse
Sprünge geschehen. Das hat man in den Mysterien in
ganz besonderer Weise ausgedrückt. Man hat gesagt: Es
muß der zu Initiierende beim Hinaus schreiten in den
Kosmos auf einer Stufe die Kräfte kennenlernen, die diese
Sprünge bewirken. Nun lernt man etwas kennen im Kosmos,
wenn man in irgendeiner Richtung geht, die dadurch
ausgedrückt wird, daß man die Sternbilder zu Hilfe
nimmt. Die sind dann wie Buchstaben. Wenn wir so in einer
bestimmten Richtung hinauswachsen, erleben wir das
Überspringen von dem Vorfahren zu dem Nachkommen, sei es
auf dem Gebiet des Pflanzlichen, des Tierischen, des
Menschlichen, oder sei es auf dem Gebiete des planetarischen
Daseins; denn auch zum Beispiel beim Übergang vom Saturn
zur Sonne ging alles Materielle verloren. Das Geistige blieb,
alles Materielle zerstob. Das Geistige war es, das den Sprung
bewirkte. Ebenso war es beim Übergang von Sonne zu
Mond, vom Mond zur Erde. Im kleinsten und im größten
ist das so. - Es gibt nun zwei Zeichen, ein altes, wodurch man
bildlicher, mehr in imaginativer Schrift darstellte, und dann
ein neueres Zeichen als Darstellung für das Sprunghafte.
Das neue können Sie in den Kalendern finden. Wenn die
Evolution weitergeht, ringelt das alte sich ein, etwa wie eine
Spirale, und die neue Evolution geht dann wie eine zweite
Spirale aus der alten hervor, indem sie von innen nach
außen weitergeht. Aber es geht die neue Evolution nicht so
weiter, daß sie sich unmittelbar an die alte
anschließt, sondern zwischen dem Ende der alten und dem
Beginn der neuen ist ein kleiner Sprung, dann erst geht
es weiter.
So
erhalten wir diese Figur: Zwei sich ineinanderschlingende
Spiralen, in der Mitte ein kleiner Sprung: das Zeichen
des Krebses, das uns symbolisieren soll das Hinauswachsen in
den Makrokosmos und darstellen soll das Entstehen irgendeines
neuen Sprosses innerhalb irgendeiner Evolution.
Nun
gab es noch ein anderes Zeichen in der Darstellung dieser
Verhältnisse. So sonderbar es ihnen scheinen mag, es
war so gebildet, daß man einen Esel und sein Füllen
abbildete, den Vorfahren und den Nachkommen. Das sollte
darstellen das eigentliche Übergangs Verhältnis
von einem Zustand in den anderen. Und in der Tat wird sogar das
Sternbild des Krebses in alten Abbildungen sehr häufig so
dargestellt, daß man einen Esel und sein Füllen
abbildete. Das zu wissen ist nicht unwichtig. Es ist eine
wichtige Lehre für den Menschen zum Verständnis
dessen, daß auch beim Aufstieg in den Makrokosmos ein
solcher wichtiger Übergang ist, indem der Mensch
hinaufwächst in die geistige Welt, aber dann an ganz neue
Erleuchtungen anknüpfen muß. Das wird ganz richtig
dargestellt, indem man es in der Sternensprache so darstellt,
wie wenn die physische Sonne durchgeht durch das
Sternbild des Krebses und, nachdem sie den höchsten
Punkt erreicht hat, wieder einen Abstieg durchmacht. So ist es
auch, wenn der zu Initiierende erst durchmacht den
Aufstieg in die geistige Welt, um die Kräfte
kennenzulernen, und dann die Kräfte, wenn er sie erkannt
hat, wieder herunterträgt, um sie der Menschheit dienstbar
zu machen.
Daß der Christus Jesus dies den Jüngern
vorführt, wird im Matthäus-Evangelium (Matth.
21,1-11) wie auch in den anderen Evangelien erzählt.
Und es wird so erzählt, daß er nicht durch das
bloße Wort wirkt, sondern daß er seinen Jüngern
vorführt die Imagination, das lebendige Bild dessen, was
er selbst vollzieht, wo er entgegengeht jener Höhe, zu der
in der Zeit die Menschheit durch ihre Entwickelung
hinansteigen soll. Da gebraucht er das Bild des Esels und
seines Füllens; das heißt, er führt die
Jünger an das Verstehen dessen hin, was im geistigen Leben
entspricht dem Sternbild des Krebses. Das ist also ein Ausdruck
für etwas, was sich zugetragen hat in dem
geistiglebendigen, spirituellen Verhältnis zwischen
dem Christus und seinen Jüngern. Und das ist etwas von
solcher Majestät und Größe, daß es nicht
ausgedrückt werden kann, indem man Menschenworte aus
irgendeiner Sprache wählt, sondern nur dadurch, daß
der Christus die Jünger hineinführt in die
Verhältnisse der spirituellen Welt und ihnen in den
physischen Verhältnissen Abbilder schafft für die
makrokosmische Welt. Da führt er sie hinauf bis zu
der Stelle, wo die Kräfte des InitÜerten wieder
nutzbar werden für die Menschheit. Da steht er auf der
Höhe, die nur angedeutet werden kann, indem er sagt: Er
steht in der Sonnenhöhe in dem Zeichen des Krebses! Kein
Wunder daher, wenn das Matthäus-Evangelium an dieser
Stelle darauf aufmerksam macht, daß das Christus-Leben
für seine Erdenzeit auf seiner Höhe angekommen ist,
und mächtig daraufhinweist mit den Worten:
«Hosianna in der Höhe!» Da ist jeder Ton
so gewählt, daß durch das, was da geschieht, die
Jünger heranwachsen, damit wiederum durch das, was in
ihnen vorgeht, in der Menschheit heranwachsen kann, was durch
den Christus Jesus in die Entwickelung der Menschheit hat
hineingebracht werden können.
Und
die nachfolgende Passahgeschichte ist dann nichts anderes als
das jetzt real-lebendige Einfließen dessen, was zuerst
einfließen sollte in die Jünger als eine Lehre und
dann magisch einfließen soll in die Menschheit durch die
Kräfte, die vom Mysterium von Golgatha ausgegangen
sind. So müssen wir den weiteren Fortgang des
MatthäusEvangeliums begreifen. Wir werden dann auch
begreifen, wie der Schreiber des Matthäus-Evangeliums sich
immer bewußt geblieben ist, daß er sozusagen
aufmerksam zu machen hat auf den Kontrast zwischen der
lebendigen Lehre, die aus den kosmischen Höhen gehört
worden ist, und die für die Jünger gilt, und
demjenigen, was den Außenstehenden entgegentreten
kann, die nicht empfänglich sind für die Kräfte
des Christus Jesus selber. Deshalb treten uns jene
Ausführungen entgegen in den Gesprächen mit den
Schriftgelehrten und Pharisäern, die wir morgen
betrachten wollen. Heute aber wollen wir noch darauf aufmerksam
machen, daß der Christus Jesus, nachdem er seine
Jünger so weit geführt hat, als es ging, und sie hat
teilnehmen lassen an den Stätten, wohin der zu
Initiierende geführt wird, er ihnen auch noch in Aussicht
gestellt hat, daß, wenn sie diesen Weg gehen, sie
selber erleben werden das Hineinwachsen in die geistige
Welt des Makrokosmos. Er sagt ihnen, daß sie selber
die Veranlagung zur Initiation haben, daß sie ihnen
bevorsteht, und daß sie sich hinausleben werden in die
makrokosmische Welt, wo sie die wahre Natur des Christus
immer mehr und mehr werden erkennen können als
desjenigen Wesens, das alle geistigen Räume erfüllt,
und das sein Abbild gehabt hat in dem Jesus von Nazareth.
Daß sie zu dieser Initiation heranreifen, daß sie
Menschheitsinitiierte werden, das mußte der Christus
seinen Schülern sagen. Er konnte sie noch darauf
aufmerksam machen, daß man zur selbständigen
Initiation nur heranwachsen kann, indem man in Geduld und
Ausdauer das Innere reifen läßt.
Was
muß denn heranwachsen im Inneren des Menschen, wenn das
Innere immer mächtiger wird, und wenn der Mensch die
hellseherische, höhere Kraft entwickelt? Seine
Anlagen müssen so heranwachsen, daß er
aufnehmen kann die Kräfte des Geistselbst, des
Lebensgeistes und des Geistesmenschen. Wann es aber
eintreten wird, daß jene Kraft von oben in ihn her
einleuchten wird, welche den Menschen zum Initiierten, zum
Teilnehmer macht an den Reichen der Himmel, das hängt ab
von dem Augenblicke, in dem der Mensch reif werden kann; es
hängt ab von dem Karma des einzelnen. Wer weiß das?
Nur die höchsten Initiierten wissen das. Das wissen die,
welche auf niederen Stufen der Initiation stehen, noch nicht.
Ist irgendeine Individualität reif, hineinzuwachsen in die
geistige Welt, so kommt auch für sie die Stunde des Hinein
Wachsens. Gewiß, sie kommt, aber sie kommt so, daß es
sich der Mensch nicht versieht, sie kommt «wie der Dieb in
der Nacht» (Matth. 24,43). Aber wie wächst der Mensch
hinein in die geistige Welt?
Die
alten und in gewisser Beziehung auch die neueren Mysterien
hatten drei Stufen für die makrokosmische Einweihung. Die
erste Stufe war die, wo der Mensch so hineinwuchs, daß er
alles wahrnahm, was man durch das Geistselbst wahrnehmen kann.
Da ist er nicht nur ein Mensch im neuen Sinne, sondern da ist
er zu dem hinaufgewachsen, was man im Sinne der
Hierarchien die Engelnatur nennt; das ist die nächste
über dem Menschen stehende Hierarchie. So nannte man in
den persischen Mysterien auch den, der hineinwuchs in den
Makrokosmos, so daß das Geistselbst in ihm
tätig war, entweder einen «Perser», weil ein
solcher nicht mehr ein einzelner war, sondern dem Engel des
persischen Volkes angehörte. Oder man nannte solche
Mensehen direkt Engel oder Gottesnaturen. Die
nächste Stufe ist dann die, wo der Lebensgeist
entsprechend erwacht. Einen Menschen auf dieser Stufe nannte
man entweder einen « Sonnenhelden» im Sinne der
persischen Mysterien, weil er dann aufnahm die Kraft der
Sonne, sich von unten heraufentwickelte zu den Kräften der
Sonne, wo die geistige Kraft der Sonne der Erde entgegenkam,
man nannte ihn aber auch einen «Sohn des Vaters». Und
denjenigen, in den das Atma oder der Geistesmensch hineinragte,
nannte man in den alten Mysterien den «Vater». Das
waren die drei Stufen des zu Initiierenden: Engel, Sohn oder
Sonnenheld und Vater.
Nur
die höchsten Initiierten haben ein Urteil darüber,
wann im Menschen die Initiation erwachen kann. Daher sagte der
Christus: Die Initiation wird kommen, wenn ihr auf den Wegen
weiterschreitet, die ich euch jetzt geführt habe. Ihr
werdet aufsteigen in die Reiche der Himmel, aber die Stunde ist
weder bekannt den Engeln, die mit dem Geistselbst initiiert
sind, noch dem Sohn, dem mit dem Lebensgeist Initiierten,
sondern nur den höchsten Eingeweihten, die mit dem
«Vater» initiiert sind. - Daher spricht hier
wieder ein Wort des MatthäusEvangeliums zu uns, das
absolut konform ist mit der Mysterientradition. Und wir
werden sehen, daß die Verkündigung des Reiches der
Himmel nichts anderes ist als die Voraussage an die
Jünger, daß sie die Initiation erleben werden.
Daß er das meint, darüber spricht sich der Christus
Jesus des Matthäus-Evangeliums noch besonders aus (Matth.
24). Wenn man die Stelle richtig liest, um die es sich da
handelt, kann man es mit Händen greifen, daß der
Christus auf gewisse Lehren hinweisen will, die damals im
Umlauf waren über das Hinaufwachsen in die Reiche der
Himmel. Man hatte dieses Hinaufwachsen in die Reiche der Himmel
materiell genommen, indem man glaubte, daß die ganze Erde
hinaufwachsen würde, während man hätte wissen
müssen, daß nur einzelne zu Initiierende durch ihre
Initiation hinaufwachsen; das heißt, es entstand die
Anschauung bei einzelnen, daß demnächst in
materieller Weise eine Transformation der Erde in den Himmel
stattfinden werde. Und der Christus macht noch besonders
darauf aufmerksam, indem er sagt, daß welche kommen
werden, die das behaupten. Er nennt sie Lügenpropheten und
falsche Messiasse (Matth. 24,24).
Deshalb ist es ganz sonderbar, daß heute noch einige der
Evangelienerklärer davon fabeln, daß die
Anschauung von einem materiell herannahenden Gottesreich
eine Lehre des Christus Jesus selber gewesen sei. Wer das
Matthäus-Evangelium wirklich lesen kann, der weiß,
daß das, was der Christus Jesus meint, ein spiritueller
Vorgang ist, zu dem der zu Initiierende hinaufwächst, zu
dem aber auch im Laufe der Erdenentwickelung die ganze
Menschheit, welche sich an den Christus hält,
hinaufwachsen wird, aber hinaufwachsen wird, indem sich die
Erde selber vergeistigt.
Auch von dieser Seite müssen wir tiefer hineinblicken in
das ganze Gefüge des Matthäus-Evangeliums, und wir
bekommen dann auch vor diesem Evangelium jene große
Ehrfurcht insbesondere auch dadurch, daß wir sozusagen in
keinem anderen Evangelium so leicht dahin geführt
werden können, förmlich zu belauschen, wie der
Christus Jesus zuerst vom Ich-Standpunkte aus seine
Schüler belehrt. Wir sehen seine Schüler um ihn
stehen und sehen, wie durch den Menschenleib das hindurchwirkt,
was die Kräfte des Kosmos sind. Wir sehen, wie er seine
Jünger an der Hand führt, damit sie kennenlernen
können, was der zu Initiierende lernen kann. Wir
belauschen menschliche Verhältnisse, wie sie sich
bilden können um den Christus Jesus. Das macht uns das
Matthäus-Evangelium zu einem so menschlich nahen Produkt.
Wir lernen so recht durch das Matthäus-Evangelium den
Menschen Jesus von Nazareth, den Träger des Christus,
kennen. Wir lernen alles kennen, was er wirkt, indem er sich
herabläßt in die menschliche Natur. Ja, auch
die Himmelsvorgänge sind in den Tatsachen des
Matthäus-Evangeliums in so recht menschliche
Verhältnisse gekleidet.
Wie
dies auch für die anderen, nicht nur für die
Verhältnisse der Initiation der Fall ist, davon in dem
nächsten, letzten Vortrag.
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