NEUNTER VORTRAG
Kristiania, 15. Juni 1910
Wenn unter Ihnen
Zuhörer sind, die den Vortrag von gestern philosophisch
analysieren wollten, so könnten Sie vielleicht Schwierigkeiten,
scheinbare Schwierigkeiten haben, und zwar aus dem Grunde, weil Sie
ja aus früheren Darstellungen, die über ähnliche
Themen gegeben worden sind, gehört haben, daß unser
gesamter nachatlantischer Zeitraum und eigentlich schon die letzten
Zeiten der atlantischen Entwickelung dazu da waren, das menschliche
Ich als solches nach und nach zu entwickeln, immer mehr und
mehr zur Bewußtheit zu bringen. Im Zusammenhang damit
wurde gesagt, daß gewissermaßen die Angehörigen der
alten indischen Kultur die allerersten waren, welche, nachdem sie in
der alten Atlantis noch durch das in der Menschheit sich findende
alte Hellsehen den Einblick in eine geistige Welt hatten, unmittelbar
aus diesem Hellsehen heraus in die physische Welt versetzt waren. Sie
sahen diese physische Welt so, daß nun die Stimmung über
die ganze erste nachatlantische Kulturperiode kam: Dasjenige ist die
wahre Wirklichkeit, was hinter uns liegt in der geistigen Welt
darinnen. Draußen aber in der Welt ist Maja oder Illusion. Nun
wurde gestern auseinandergesetzt — wie es auch den
Tatsachen entspricht —, daß die Angehörigen dieser
alten indischen Kultur gewissermaßen eine reiche
Seelenentwikkelung durchgemacht hatten, und es wurde gesagt,
daß sie sie erlangt hatten mehr oder weniger bei schlafendem
Ich, das heißt, daß das Ich erst erwacht ist, nachdem diese
reife Seelenentwickelung schon erreicht war.
Sie könnten
sich jetzt vielleicht fragen: Was hat es denn eigentlich für diese
indische Bevölkerung in der Zwischenzeit gegeben? Da muß ja
sozusagen die indische Bevölkerung in einer ganz anderen Weise
diese ganze Seelenentwickelung durchgemacht haben, als die
europäische, namentlich die germanische Bevölkerung,
die mit dem Ich dabei war, während sich die Fähigkeiten
nach und nach entwickelten, die zugesehen hat, wie die
göttlich-geistigen Mächte in ihre Seele hereingewirkt
haben. Das könnten Sie vielleicht schwer in Einklang bringen mit
dem Gesagten, wenn Sie über den gestrigen Vortrag philosophisch
denken wollten. Nur für diejenigen, die nicht aus völliger
Unbefangenheit, sondern aus einem solchen philosophischen
Denken heraus den Vortrag analysieren wollen, muß ich noch etwas
in Parenthese zur Aufklärung sagen.
Sie werden den
scheinbaren Widerspruch sofort auflösen, wenn Sie wie folgt zu
Werke gehen, wenn Sie sich sagen: In bezug auf das Ich und seine
Erkennbarkeit ist der Mensch in einer ganz anderen Lage als in bezug
auf ein jegliches anderes Objekt. Wenn Sie irgendein anderes Objekt
erkennen, einen anderen Gegenstand oder ein anderes Wesen als das
Ich, dann haben Sie es eigentlich in der Erkenntnistätigkeit
immer mit zweierlei zu tun: mit dem Erkenner, der Erkenntniskraft,
und mit dem, was erkannt wird. Ob das, was erkannt wird, Mensch,
Tier, Baum oder Stein ist, darauf kommt es nicht an für den rein
formalen Erkenntnisakt. Anders steht die Sache aber in bezug
auf das Ich. Da ist dasjenige, was erkennt, und das, was
erkannt wird, ein und dasselbe. Das Bedeutungsvolle ist, daß in
der menschlichen Evolution, der menschlichen Entw ickelung,
diese zwei Dinge auseinanderfallen. Diejenigen, die die reife
indische Kultur in der nachatlantischen Periode entwickelt hatten,
die entwickelten das Ich subjektiv als ein erkennendes, und dieses
subjektive Hinaufheben des Ich auf eine gewisse Höhe innerhalb
der menschlichen Seelenkraft kann lange vorhanden sein, ehe der
Mensch auch die Fähigkeit erlangt, das Ich objektiv, als
Wesenheit, zu schauen. Dagegen entwickelten die Völker Europas
verhältnismäßig außerordentlich früh, noch
als sie im alten Hellsehen darinnen steckten, das Anschauen des
objektiven Ich, das heißt, sie erschauten innerhalb dessen, was
sie hellseherisch überschauten, als ein Wesen unter anderen
Wesen auch das Ich. Wenn Sie dies genau auseinanderhalten, so werden
Sie auch philosophisch, wie mit allen geisteswissenschaftlichen
Dingen, zurechtkommen, wenn Sie es nur richtig machen. Man
könnte es, wenn man gerade seine Freude an philosophischen
Formeln hätte, so ausdrücken: Die indische Kultur
stellt eine solche Seele dar, welche eine Hochblüte des
subjektiven Ich erlangt, lange bevor die Anschauung des objektiven
Ich da war. Die germanisch-europäischen Völker
entwikkelten, lange bevor sie sich des eigentlichen inneren
Antriebes zum Ich bewußt wurden, die Anschauung des Ich. Sie
sahen hellseherisch das Morgenrot des eigenen Ich, das imaginative
Bild des Ich. In der Welt, die sie als eine astralische um sich
hatten, sahen sie das Ich objektiv längst unter den anderen
Wesen, die sie hellseherisch wahrnahmen. — So müssen wir
uns den Gegensatz rein formal vorstellen; dann werden wir auch
begreifen, daß gerade der europäische Boden dazu berufen
war, das Ich des Menschen in einer solchen Weise, wie ich das in
bezug auf die Mythologie gestern hervorhob, in Beziehung zu bringen
zu den anderen Wesenheiten, den Engeln und Erzengeln.
Wenn Sie dies
ins Auge fassen, so begreifen Sie, daß der europäische Boden
dazu bestimmt war, in der verschiedensten Weise dieses Ich auch zu der
Welt, die als sinnenfällige Welt vor den Menschensinn trat, in
Beziehung zu setzen, und daß das Ich, der eigentliche Wesenskern
des Menschen, die verschiedensten Verhältnisse zur
Außenwelt eingehen kann. Früher, bevor der Mensch sein Ich
schaute, bevor er es wahrnahm, waren dem Menschen diese
Verhältnisse durch die höheren Wesen angewiesen, und er
selbst konnte dazu nichts tun. Es war ein instinktives
Verhältnis, in das er zur Außenwelt gesetzt war. Das ist
das Wesentliche in der Entwickelung des Ich, daß es immer mehr
und mehr selbst in die Hand nimmt, die Verhältnisse des Ich zur
Außenwelt zu gestalten. Im wesentlichen war es die Aufgabe der
europäischen Nationen, dieses Verhältnis des Ich zur ganzen
Welt in irgendeiner Weise zu gestalten, und die führende
Volksseele hatte und hat die Aufgabe, den europäischen
Menschen anzuweisen, sein Ich in Beziehung zur Außenwelt und zu
den anderen Menschen und zu der Welt der göttlich-geistigen
Wesenheiten zu setzen, so daß man im Grunde genommen erst
innerhalb der europäischen Kultur anfing, von dem
Verhältnisse des Ich-Menschen zum gesamten Universum zu
sprechen. Daher der ganz andere Grundton, wenn innerhalb der
altindischen Kultur kosmologisch gesprochen wird und wenn innerhalb
der europäisch-mythologischen Kultur kosmologisch
gesprochen wird. Drüben im Orient ist alles unpersönlich,
und vor allen Dingen wird verlangt, unpersönlich zu werden in
seinem Erkennen, zu unterdrücken sozusagen das Ich, um
aufzugehen in Brahma und um in sich selber Atma zu finden. Es ist
also da als eine höchste Forderung diejenige der
Unpersönlichkeit. Hier in Europa wird überall mitten
hineingestellt in das Menschenleben gerade dieses menschliche Ich,
wie es veranlagt ist von Anfang an, und wie es sich nach und nach in
der Evolution ausgestaltet. Daher hat man gerade hier in Europa ein
ganz besonderes Interesse daran, alles das wirklich im
Verhältnis zum Ich zu betrachten, sich alles hellseherisch
klarzumachen im Verhältnis zum Ich, was an dieser
Entwickelung des Ich im Erdendasein einen Anteil
hatte.
Nun wissen Sie
alle, daß an der Entwickelung des Erdenmenschen, der dazu berufen war,
nach und nach zu seinem Ich zu kommen, zwei Kräfte von
verschiedenen Seiten her Anteil genommen haben. Seit der lemurischen
Zeit prägten sich ein dem Innern des Menschen, in seinen
Astralleib, diejenigen Kräfte, die wir die luziferischen
Kräfte nennen. Von diesen Kräften wissen Sie, daß sie
vor allen Dingen ihren Angriffspunkt innerhalb des Menschen
dadurch gesucht haben, daß sie sich einschlichen in die
menschlichen Begierden, Triebe und Leidenschaften. Dadurch hat sich
der Mensch zweierlei errungen: Erstens hat er die Fähigkeit
errungen, ein selbständiges, freies Wesen zu werden, in
Enthusiasmus zu erglühen für das, was er denkt,
fühlt und will, während er sonst für seine eigenen
Angelegenheiten von göttlich-geistigen Mächten
geführt worden ist. Aber auf der anderen Seite mußte der
Mensch gerade durch die luziferischen Mächte in Kauf nehmen,
durch Triebe, Begierden und Leidenschaften in das Böse zu
verfallen. Luzifer sitzt also in unserem Erdendasein so, daß er
seinen Angriffspunkt im menschlichen Innern hat, da, wo das
menschliche Astrale spielt. Da ist auch das Ich, wo sich das
Astralische eingegliedert hat, von der luziferischen Macht durchsetzt
worden. Sprechen wir also von Luzifer, so sprechen wir von dem, was
den Menschen tiefer hinuntergesenkt hat in das materielle,
sinnliche Dasein, als er ohne diesen Einfluß gekommen wäre.
So ist ein Bestes im Menschen: die Freiheit, und ein
Verfängliches für die Menschennatur: die Möglichkeit
des Bösen, den luziferischen Mächten zu
verdanken.
Nun wissen wir
aber ferner, daß dadurch, daß diese luziferischen Mächte
eingegriffen haben in das ganze Gefüge der Menschennatur,
später andere Mächte in die Menschennatur hereinkommen
konnten, die nicht gekommen wären, wenn Luzifer sich nicht in
des Menschen Organisation hineingesetzt hätte. Der Mensch
würde die Welt anders sehen, wenn er nicht unterworfen worden
wäre dem Einfluß von Luzifer und anderen Wesen, die
in dessen Gefolgschaft waren, wenn er nicht noch eine andere Macht an
sich hätte herankommen lassen müssen, nachdem er der
luziferischen Macht den Zugang möglich gemacht hatte. Ahriman
kam von außen heran und schlich sich ein in den großen
Umkreis der den Menschen umgebenden Sinnenwelt, so daß also der
ahrimanische Einfluß eine Folge des luziferischen Einflusses
ist. Der Mensch wird gleichsam von innen ergriffen von Luzifer, und
infolge davon wird er ergriffen durch das, was von außen auf ihn
wirkt, von Ahriman.
Die
Geisteswissenschaft aller Zeiten, die wirklich die Tatsachen kennt,
spricht auch wirklich von luziferischen und von ahrimanischen
Mächten. Nun werden Sie es höchst merkwürdig finden,
daß in den Anschauungen der verschiedenen Völker, da wo
sich diese Anschauungen mythologisch ausleben, nicht immer in
gleicher Weise ein deutliches Bewußtsein vorhanden ist von
Luzifer auf der einen Seite und Ahriman auf der anderen Seite. Ein
deutliches Bewußtsein davon ist zum Beispiel überall da
nicht vorhanden, wo über das Alte Testament herauf, aus der
ganzen semitischen Tradition heraus, sich eine religiöse
Anschauung bildete. Da hat man nur ein gewisses Bewußtsein von
dem luziferischen Einfluß. Das können Sie schon aus der
Erzählung des Alten Testamentes von der Schlange entnehmen, die
nichts anderes ist als ein Bild für Luzifer. Daraus können
Sie entnehmen, daß ein deutliches Bewußtsein
vorhanden ist davon, daß Luzifer teilgenommen hat an der
Entwickelung. Dieses Bewußtsein ist in allen Traditionen, die
verwandt sind mit der Bibel, deutlich vorhanden. Aber das
Bewußtsein des ahrimanischen Einflusses ist da nicht in gleicher
Weise vorhanden. Nur da ist es vorhanden, wo man
geisteswissenschaftlich unterrichtete. Deshalb haben diejenigen,
welche die Evangelien geschrieben haben, dies auch
berücksichtigt. Sie finden daher, weil zur Zeit der
Evangelienschreiber das Wort «Dämon» aus dem
Griechischen hergenommen ist, daß im Markus-Evangelium da, wo
nicht von der Versuchung des Jesus die Rede ist, von einem
«Dämon» gesprochen wird. Da aber, wo von Ahriman die
Rede ist, ist das Wort
«Satan»
gebraucht. Aber wer beachtet
den wichtigen Unterschied dieser Bezeichnungen im Markus- und im
Matthäus-Evangelium? Im Exoterischen beachtet man solche
Feinheiten gar nicht. Bei den äußeren Traditionen ist
dieser Unterschied nicht vorhanden.
Bemerkenswert
tritt dieser Unterschied hervor in dem Gegensatz zwischen Indertum und
Persertum. Da kommt er in einer gewissen Zeit in ganz
auffälliger Weise zum Ausdruck. Das Perserturm kennt weniger den
luziferischen Einfluß; man sah da mehr den ahrimanischen. Da ist
insbesondere der Kampf gegen die Mächte, die uns ein
äußeres, falsches Weltbild geben und die uns in Dunkelheit
und Finsternis hineinbringen, also dasjenige, was das Verhältnis
des Menschen zur Außenwelt angeht. Vorzugsweise als ein Gegner
des Guten und Lichtvollen wird Ahriman genannt. Woher kommt das? Weil
in der zweiten nachatlantischen Kulturperiode das menschliche
Anschauungsvermögen sich entwickelte mit Bezug auf die
Anschauung der Außenwelt. Bedenken Sie, daß Zoroaster
darauf ausgeht, den Sonnengeist, den Geist des Lichtes erkenntlich zu
machen. Er also muß zuerst darauf hinweisen, daß in diese
Welt hineingemischt ist neben dem Geiste des Lichtes der Geist
der Finsternis, der unsere Erkenntnis der äußeren Welt
trübt. Der Perser richtet sein Hauptaugenmerk darauf, Ahriman zu
besiegen und sich mit den Geistern zu verbinden, welche auf
diesem Gebiete die großen Mächte, die Lichtvollen sind. Er
ist darauf organisiert, sich auf dem Felde, das nach außen
liegt, zu betätigen. Daher hat er seine Ahuras oder Asuras.
Dagegen ist es für den Angehörigen der persischen
Religion eine gefährliche Sache, in die Welt hineinzusteigen,
die der Mensch durch das Untertauchen in das eigene Innere
erreichen kann; da, wo die luziferischen Mächte verborgen sind,
da läßt er sich auch nicht auf die guten Mächte ein.
Da hat er eine Gefahr gesehen. Er wendet den Blick nach außen
und stellt sich den dunklen Asuras gegenüber die Licht-Asuras
vor.
Gerade umgekehrt
machen es in dieser Zeit die Inder. Die sind in einer Periode, wo sie
versuchen, durch Versenkung in das eigene Innere sich zu erheben, um
in die höheren Gebiete zu kommen. Sie sehen darin das Heil, sich
mit den Kräften zu verbinden, die gefunden werden auf dem
Gebiete des inneren Schauens. Daher betrachten sie es als
gefährlich, in die äußere Welt hineinzuschauen,
wo sie mit Ahriman zu kämpfen hätten. Die äußere
Welt fürchten sie, die betrachten sie als gefährlich.
Während die Devas dasjenige waren, was der Perser meidet, werden
sie für den Inder dasjenige, was er sucht, dasjenige, auf dessen
Feld er sich zu betätigen sucht. Der Perser aber geht von diesem
Felde hinweg und meidet das Gebiet, wo vor allen Dingen der Kampf
gegen Luzifer ausgefochten wird.
Sie können
an die verschiedensten Mythologien und Weltanschauungen herangehen,
und Sie werden nirgends eine so klare und tiefgehende
Anschauung davon finden, daß zweierlei Einflüsse an den
Menschen herantreten, wie in der germanisch-nordischen
Mythologie. Da der germanisch-nordische Mensch hellseherisch noch
schauen konnte, so sah er diese zwei Mächte wirklich und stellte
sich zwischen beide hinein. Er sagte sich: Der Mensch, wie er sich
entwickelt hat, hat herankommen sehen gewisse Mächte, die
in sein Inneres, in seinen Astralleib hereinfahren. Die wirkten aus
der Welt, aber auf den Astralleib ein, und er fühlte, weil er
berufen war, das Ich, die Selbständigkeit des Menschen
auszubilden, nicht bloß die Möglichkeit des Bösen, er
fühlte vor allen Dingen in diesen Mächten, die an den
Astralleib herankamen, um ihn zur Freiheit und Selbständigkeit
zu bringen, das Freiheitliche; man möchte sagen, das
empörerische Element fühlte er in diesen Kräften
sich offenbaren. Das luziferische Element wurde in derjenigen Macht
gefühlt, die sogar noch in den germanisch-nordischen Gebieten an
der Herstellung der Rassen beteiligt war, insofern sie dem Menschen
äußere Gestalt und Farbe gab und ihn zum
selbständigen, in der Welt wirkenden Wesen machte. Zunächst
fühlte in seiner hellseherischen Anschauung der
germanisch-nordische Mensch den Luzifer als das, was den Menschen zu
einem freien Menschen macht, der sich nicht bloß an irgendwelche
äußeren Mächte hingeben will, sondern der in sich
selber den festen Wesenskern hat und aus sich heraus handeln will.
Diesen luziferischen Einfluß empfand der germanisch-nordische
Mensch als einen wohltätigen Einfluß.
Nun aber wird er
gewahr, daß auch noch anderes von diesem Einfluß herkommt.
Luzifer verbirgt sich hinter der Loki-Figur, die eine
merkwürdig schillernde Gestalt hat. Weil man die
Wirklichkeit sah, so sah man, daß man auf
Loki
zurückführen kann die Gedanken der Freiheit und
Selbständigkeit des Menschen. Man wußte aber auch durch das
alte Hellsehen, daß dasjenige, was den Menschen immer wieder in
seinen Begierden und Handlungen dazu bringt, in seiner ganzen
Wesenheit niedriger zu stehen, als wenn er nur an Odin und an
die Asen hingegeben wäre, daß das auf den Einfluß des
Loki zurückzuführen war. Und nun fühle man vor allen
Dingen das Schauerlich-Großartige dieser germanisch-nordischen
Mythologie. Man fühlte mit zwingender Richtigkeit das, was erst
nach und nach durch die Geisteswissenschaft wieder zum
Bewußtsein der Menschen kommen wird.
Wie wirkt nun der
luziferische Einfluß? Er schließt sich in den
astralischen Leib ein, wirkt aber dadurch auf alle drei Glieder
des Menschen, sowohl auf den Astralleib als auch auf den Äther-
und den physischen Leib. Nur Andeutungen kann man heute
außerhalb unserer Gesellschaft über diesen
Luzifer-Einfluß machen. Was Sie immer mehr verstehen
werden, ist, daß der Luzifer-Einfluß sich dreifach geltend
macht: im Astralleibe, im ätherischen und im physischen Leibe
des Menschen.
Im Ätherleibe
wird hervorgerufen das, was im Menschen als Trieb zur
Unwahrhaftigkeit, zur Lüge wird. Lüge und Unwahrhaftigkeit
sind etwas, was über das Innere des Menschen hinausgeht. Im
Astralleibe, dem reinen Innern des Menschen, wird das Selbst
durchdrungen von dem luziferischen Einfluß, und dieser erscheint
dann als Selbstsucht im Menschen. Der Ätherleib wird von
innen heraus mit dem Triebe, unwahrhaftig zu sein, durchsetzt und
dadurch zur Möglichkeit der Lüge bestimmt. Im physischen
Leib wird hervorgerufen Krankheit und Tod. Für diejenigen, die
an meinem letzten Kursus
teilgenommen haben, wird das leicht
verständlich sein. Aber hier will ich doch noch einmal darauf
hinweisen, daß alles, was im menschlichen physischen Leibe als
Krankheit und Tod auftritt, karmisch mit dem verknüpft ist, was
wir luziferischen Einfluß nennen. Wenn wir alles das noch einmal
kurz zusammenfassen, so bewirkt Luzifer im Astralleibe: Selbstsucht,
im Ätherleibe: Lüge und Unwahrhaftigkeit, im physischen
Leibe: Krankheit und Tod. Natürlich werden sich alle
materialistisch denkenden Menschen der Gegenwart ungeheuer
verwundern, daß in der Geisteswissenschaft Krankheit und
Tod auf einen luziferischen Einfluß zurückgeführt
werden. Auch das hängt nämlich mit Karma zusammen. An den
Menschen träte niemals Krankheit und Tod heran, wenn nicht der
luziferische Einfluß stattgefunden hätte. Das ist eben die
karmische Auswirkung des luziferischen Einflusses, daß der
Mensch tiefer hinuntersteigt in das Physische, und das wird auf
der anderen Seite ausgeglichen durch Krankheit und
Tod.
Wir können
daher sagen: Indern der luziferische Einfluß hineinkam in den
Menschen, wurden der physische, Äther- und Astralleib von
Krankheit und Tod, Lüge und Unwahrhaftigkeit und Selbstsucht
ergriffen. — Ich möchte noch darauf aufmerksam
machen, daß die heutige materialistische Wissenschaft für den
Tod im tierischen und im pflanzlichen Leibe dieselbe
Erklärung gibt, wie für den Tod der Menschen. Diese
materialistisch denkenden Menschen können nicht begreifen,
daß eine äußere Erscheinung ebenso aussehen
kann wie eine andere und doch ganz andere Ursachen haben
kann.
Das, was
äußerer Tatbestand ist, kann aus ganz verschiedenen
Gründen herrühren.. So tritt der Tod beim Tiere nicht
aus denselben Ursachen ein wie beim Menschen, trotzdem er dieselbe
äußere Erscheinung hat. Das sind Dinge, die, wenn man sie
erkenntnistheoretisch beweisen wollte, viel zu viel Zeit beanspruchen
würden. Im Grunde wollte ich hier nur sagen, daß es mit
dem, was die Wissenschaft Kausalität nennt, sehr schief steht.
Fehler, die in solchen Unklarheiten wurzeln, werden nämlich fast
immer gemacht auf Schritt und Tritt. Denken Sie sich zum Beispiel
einmal: Ein Mensch ist aufs Dach hinaufgestiegen, fällt
herunter, hat sich eine todbringende Wunde geschlagen und wird
tot aufgefunden. Was liegt nun näher, als zu sagen: Der
Mensch ist heruntergefallen, hat sich eine todbringende Wunde
geschlagen und ist an der Verletzung gestorben.— Es könnte
der Fall aber auch ganz anders liegen. Der Mensch könnte ja oben
vom Schlage getroffen und tot heruntergefallen sein; die
Verwundung könnte durch den Fall eingetreten sein, so daß
der Fall äußerlich gerade so läge wie der vorher
geschilderte, der Tod aber aus einer ganz anderen Ursache eingetreten
wäre. Der Fall ist hier sehr kraß dargestellt, aber die
Wissenschaft macht häufig diese Art Fehler. Die
äußeren Tatbestände können oft ganz gleich sein,
und doch sind die inneren Ursachen vollständig
verschieden.
Das wollen wir
also einmal einfach als Ergebnis der geisteswissenschaftlichen Forschung
hingestellt sein lassen, daß der luziferische Einfluß
im Astralleibe: Selbstsucht, im Ätherleibe: Lüge und
Unwahrhaftigkeit, im physischen Leibe: Krankheit und Tod
bewirkt. Was müßte nun die germanisch-nordische Mythologie
gesagt haben, wenn sie dem Loki, dem Luzifer, zugeschrieben
hätte, daß dieses dreifache Wirken von ihm herkommen kann?
Sie mußte sagen: Loki hat drei Sprößlinge. Der erste
ist der, welcher Selbstsucht bewirkt. Das ist die
Midgardschlange, dasjenige, womit der Einfluß des
luziferischen Geistes auf den Astralleib ausgedrückt ist. Das
zweite ist das, was in das menschliche Erkennen sich hineinmischt als
das Unrichtige. Beim Menschen auf dem physischen Plane sind es die
Dinge, die in seinem Geiste leben und mit der Außenwelt nicht
übereinstimmen. Da ist es das, was nicht wahr ist. Bei den
nordischen Menschen, die noch mehr auf dem Astralplane lebten,
lebte sich das, was bei uns abstrakte Lüge ist, gleich als
astralische Wesenheit aus und lebte als solche auf dem astralischen
Plan. Der Ausdruck für alles, was Verfinsterung, nicht
richtiges Sehen ist, ist irgendein tierisches Wesen, hier im
Norden hauptsächlich der Fenriswolf. Das ist das zweite, der
Einfluß auf den Ätherleib von seiten des Loki, der bewirkt,
daß der Mensch von innen heraus den, Trieb hat, sich zu
täuschen, unwahrhaft über die Dinge zu denken, das
heißt, es erscheinen ihm die Dinge in der Außenwelt nicht
in der richtigen Weise. Das bezeichnet also im Grunde genommen
die alte germanisch-nordische Mythologie irgendwie mit einer
Wolfsgestalt. Das ist die astrale Figur für die Lüge und
alles das, was Unwahrhaftigkeit aus innerem Triebe ist.
Aber hier, wo der
Mensch in Beziehung zur äußeren Welt tritt, begegnet
sich schon Luzifer mit Ahriman, so daß aller Irrtum, der sich in
die Erkenntnis einschleicht — auch in die hellseherische
Erkenntnis — alle Illusion und alle Maja, die Folge des Hanges
zur Unwahrhaftigkeit ist, der da hineinspielt. In dem Fenriswolf
haben wir also die Gestaltung zu sehen, welche der Mensch um sich
herum hat dadurch, daß er die Dinge nicht in der wahren Gestalt
sieht. Da, wo sich den alten nordischen Menschen irgend etwas
von äußerem Licht, von der Wahrheit, verdunkelt, da spricht
er von einem Wolfe. Das geht durch das ganze nordische
Bewußtsein, und Sie werden finden, daß das Bild bis auf die
äußeren Tatsachen überall in diesem Sinne gebraucht
wird.
Wenn der alte
nordische Mensch sich verständlich machen will über das,
was er sieht bei einer
Sonnenfinsternis
— natürlich sah
der Mensch zur Zeit des alten Hellsehens noch anders, als heute bei
Benutzung des Fernrohres —‚ so wählte er das Bild
des Wolfes, der die Sonne verfolgt und der in dem Momente, wo er sie
erreicht, die Sonnenfinsternis bewirkt. Das steht im innersten
Einklang mit den Tatsachen. Diese Terminologie gehört mit
zu dem Großartigen, ja sogar Schauerlich-Großartigen
in der nordischen Mythologie. Ich kann hier nur Andeutungen geben.
Wenn wir aber selbst wochenlang über die nordische Mythologie
sprechen könnten, so würden Sie sehen, wie das allseitig
durchgeführt ist im nordischen mythologischen Vorstellen. Das
ist deshalb der Fall, weil die Mythologie ein Ergebnis des alten
Hellsehertums ist, in das aber das Ich überall
hineinspielt.
Die
materialistischen Menschen von heute werden sagen: Das ist aber doch
Aberglaube. Es verfolgt doch kein Wolf die Sonne. Der alte nordische,
imaginative Mensch sieht eben in Bildern diese Tatsachen, und ich
könnte Ihnen vielleicht viele sogenannte wissenschaftliche
Wahrheiten aufzählen, die mehr Einfluß von Ahriman,
die größeren Irrtum bergen, als vorhanden ist, wenn man die
entsprechende astralische Anschauung beschreibt und sagt: Der
Wolf verfolgt die Sonne. — Für den Okkultisten gibt es
etwas, was noch in höherem Grad Aberglaube ist. Das ist,
daß eine Sonnenfinsternis dadurch entsteht, daß sich der
Mond vor die Sonne stellt. Das ist für die äußere
Anschauung ganz richtig, ebenso richtig, wie für die astrale
Anschauung die Sache vom Wolf richtig ist. Die astrale Anschauung ist
sogar richtiger als die, welche Sie in den gegenwärtigen
Büchern finden, denn die ist noch mehr dem Irrtum unterworfen.
Wenn der Mensch einst an Stelle dieses Äußeren den wahren
Tatbestand erkennen wird, dann wird er finden, daß der nordische
Mythos recht hat. Ich weiß, daß ich für die heutige
Anschauung etwas gräßlich Absurdes sage, aber ich
weiß auch, daß man an theosophischen Stätten schon so
weit ist, daß man darauf hindeuten darf, wo gerade unsere
physische Weltanschauung am meisten beeinflußt ist von
Mafia, Täuschung oder Illusion.
Nun kommen wir zum
Einfluß von Loki auf den physischen Leib. In dem bewirkt er
Krankheit und Tod. Der dritte Sprößling ist also das, was
Krankheit und Tod bewirkt. Das ist die Hei. So haben Sie in der Tat
in wunderbarer Weise in den Gestalten Hei, Fenriswolf und
Midgardschlange den Einfluß des Loki oder Luzifer
dargestellt, in der Form, wie ihn das alte Hellsehen, das wir in
gewisser Beziehung als traumhaftes Hellsehen bezeichnen können,
wahrgenommen hat. Wenn wir die ganze Geschichte von Loki durchgingen,
überall würden wir finden, daß diese Dinge bis in die
Einzelheiten hinein die Sache vollständig beleuchten.
Dabei
müssen wir uns immer klar sein, daß das, was der Hellseher sieht,
nicht etwa eine allegorisch-symbolische Bezeichnung ist, sondern daß
das Wesenheiten sind. Er sieht Wesenheiten. Nun hat aber der
germanisch-nordische Mensch nicht bloß gewußt von
seinem Loki, von dem luziferischen Einfluß, sondern auch von dem
Einfluß des Ahriman, der von der anderen Seite her kam, und er
hat mehr gewußt, nämlich daß das Befallensein von dem
ahrimanischen Einfluß eine Folge des Loki-Einflusses ist. Sie
müssen sich jetzt in die Zeit versetzen, wo der Mensch noch
nicht in äußerer, physischer Anschauung die Welt ansah,
sondern sie mit dem alten Hellsehen betrachtete, und da werden Sie
finden, daß der betreffende Mythos für dieses Hellsehen
ausgebildet ist. Was sagt der Mythos? Lokis Einfluß ist
über die Menschen gekommen, was sich ausdrückt in dem
Wirken der Midgardschlange, des Fenriswolfes und der Hei. Der
Mensch ist so geworden, daß seine Anschauung sein klares,
lichtvolles Hineinschauen in die geistige Welt getrübt wurde
dadurch, daß der luziferische Einfluß sich immer mehr
geltend machte. Der Mensch wechselte in seinem Leben ab in der
damaligen Zeit, als diese Anschauung sich ausbildete, zwischen dem
Sehen in der geistigen Welt und dem Leben auf dem physischen Plan,
wie man im Leben abwechselt zwischen Wachen und Schlafen. Wenn
er in die geistige Welt hineinsah, sah er in die Welt, aus der er
herausgeboren war. Das ist ja das Wesentliche, daß der Mythos
aus dem hellseherischen Bewußtsein heraus entstanden ist. Das
menschliche Bewußtsein aber bestand in diesem abwechselnden
Hineinschauen und Nichthineinschauen in die geistige Welt. War der
Zustand des Traumbewußtseins da, so sah man hinein in die
geistige Welt; wa,r der Zustand des Tagwachens da, so war man blind
für sie. So wechselte der Zustand zwischen Blindheit und
Hineinsehen in die geistige Welt. Es wechselte das Bewußtsein
ab, wie ein gewisses Weltenwesen wechselte zwischen dem blinden
Hödur und dem in die geistige Welt hineinschauenden,
hellsichtigen Baldur.
Es war der Mensch
veranlagt für Baldurs Einfluß, und im Sinne dieses
Einflusses wäre der Mensch geworden, wenn er nicht den
Loki-Einfluß aufgenommen hätte. Der aber hat bewirkt,
daß Hödurs Natur den Sieg über die Baldurnatur
davongetragen hat. Das wird ausgedrückt dadurch, daß Loki
die Mistel herbeischafft, mit der der blinde Hödur den sehenden
Baldur tötet.
Loki ist also die
tötende Macht, wie Luzifer, der den Menschen zu Ahriman
getrieben hat. Indem der Mensch hingegeben ist an den blinden
Hödur, verlöscht das alte hellsichtige Anschauen. Das ist die
Tötung des Baldur.
Das empfindet der nordische Mensch,
daß nach und nach wirklich verloren gegangen ist das
Baldurhafte, das Hineinschauen in die geistige Welt. Es hat der
nordische Mensch das Hinschwinden des Hellsehens so empfunden,
daß ihm Loki in Baldur die Hellsichtigkeit getötet
hat, und was ihm geblieben, ist die Ohnmacht gegenüber dieser
Hellsichtigkeit. So ist ein größtes welthistorisches
Ereignis, das allmähliche Hinschwinden der alten
ungetrübten Erkenntnis, ausgedrückt in dem Baldur-,
Hödur- und Loki-Mythos. Auf der einen Seite haben wir also den
Loki mit seiner Sippe, den drei Wesenheiten, und auf der anderen
Seite den tragischen Akt von der Tötung des Baldur.
So haben wir
in der nordischen Mythologie gespiegelt das, was wir aus der
Geisteswissenschaft herausholen können: den zweifachen
Einfluß, den luziferischen und den ahrimanischen. Das ist
dasjenige, was Ihnen die Geisteswissenschaft immer als eine
Darstellung des hellseherischen Erkennens der alten Zeit
darlegen wird und als ein Herausarbeiten des Mythos aus dem
alten Hellsehen, das dann zugleich nach und nach
dahinschwindet.
Es würde
zu weit führen, wollten wir uns auf dieses Gebiet noch weiter einlassen.
Aber schon indem ich Ihnen das Prinzipielle gesagt habe, können
Sie das Schaurig-Großartige empfinden in diesem Mythos,
der nicht seinesgleichen hat, weil keine Mythologie sich so genau an
den alten, hellseherischen Tatbestand angepaßt hat.
Die griechische Mythologie
ist nur die Erinnerung an etwas in der Vorzeit
Erlebtes, das in plastischer Weise zum Ausdrucke kommt. Aber eine
solche unmittelbare Anknüpfung an die Tatsachen, wie sie
in der germanisch-nordischen Mythologie vorliegt, das ist in
der griechischen Mythologie nicht vorhanden. Dieselbe ist
abgeklärter, die Gestalten erscheinen mit viel gerundeteren
Konturen, daher in stark plastischer Weise, haben aber das Elementare
des allerursprünglichsten Eindrucks verloren. Etwas vom alten
Hellsehen ist dem nordischen Menschen lange geblieben. Dahingeschwunden war
das alte Hellsehen der Menschen
im übrigen
Europa schon lange, als es sich im Norden noch lange bewahrt hat. Nur
nach und nach, langsam und allmählich ist in das Blickfeld des
Menschen das physische Weltbild allein getreten. So war auch,
als das Christentum anfing sich auszubreiten, für die
Mehrzahl der Menschen wahr geworden, was sich in der Baldur-Mythe, in
dem Tod des Baldur ausdrückt. Es gab aber noch einzelne,
die in unmittelbarer Anschauung haben konnten, was die nordischen
Menschen hellseherisch erlebten.
Es war also
noch lange ein unmittelbares Anschauen von dieser geistigen Welt
vorhanden, und weil das alles so elementar war, so unmittelbar
aus der hellseherischen Erfahrung heraus, deshalb blieb auch, als das
Christentum schon anfing sich auszubreiten, das Bewußtsein
vorhanden, das bei anderen Völkern nicht so stark sein
konnte wie bei den alten germanisch-nordischen Menschen. Sie
empfanden dann: Es schwindet alles dahin, was wir damals erlebt haben
im Zusammenhang mit der göttlich-geistigen Urheimat. Es schwand
dem Norden erst dahin, als der germanisch-nordische Mensch den Trost
des Christentums empfing. Das enthielt für ihn aber nicht
unmittelbare Anschauung. Er hatte das Schicksal des Baldur viel zu
tief gefühlt, als daß er sich hätte trösten
können damit, daß ihm ein Gott geboten wurde, der zum
physischen Plan heruntergestiegen ist, damit die Menschen, die nur
den physischen Plan wahrnehmen können, auch zum
Gottesbewußtseinaufzusteigen vermögen. So wiedie
Menschen in Vorderasien haben fühlen können die Worte:
«Ändert eure Seelenverfassung,
denn das Himmelreich
ist nahe herbeigekommen,» konnte man das in den nordischen
Gebieten nicht. Drüben, wo Christus erschienen war, da konnte
man nur alte Erinnerungen an die Tatsache finden, daß es ein
altes Hellsehen einst gegeben hat. Dreitausend Jahre schon
währte im Osten das Kali Yuga, das finstere Zeitalter, wo die
Menschen nicht mehr hineinschauen konnten in die geistige Welt. Aber
gesehnt haben sie sich immer nach der geistigen Welt, und immer haben
sie erzählt von einer solchen Welt, in die der Mensch geistig
hineinschauen konnte, die aber jetzt den Blicken entschwunden ist.
Sie haben die geistige Welt in viel fernerer Vergangenheit erlebt,
als die Menschen des nordischen Gebietes und haben es nur noch
aus der Erinnerung gewußt, daß die geistige Welt einmal
zugänglich gewesen ist. Daher konnte man in den
vorderasiatischen Gebieten das Wort: «Ändert eure
Seelenverfassung, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen»
gut verstehen. Man verstand es, wenn gesagt wurde: Die Reiche
der Himmel sind herbeigekommen bis in den physischen Plan, seht also
hin auf die einzigartige Gestalt, die da im Gebiete des
palästinensischen Reiches erscheinen wird, seht auf den Messias,
der den Gott in sich enthält, durch den ihr den Zusammenhang mit
dem Göttlichen finden werdet, auch wenn ihr euch nicht von dem
physischen Plan erheben könnt. Versteht die Gestalt von
Palästina, versteht die Christus-Gestalt. — Das ist das
tiefe Wort Johannes des Täufers.
Das mußte der
nordische Mensch anders empfinden, der noch länger viel mehr
erlebt hatte als nur die erinnerungsgemäße Kunde von dem
Hineinschauen in die göttlich-geistige Welt. Daher ging ihm ein
Gedanke auf von einer ungeheuern, ganz gewaltigen Tragweite,
der Gedanke: Dieses Heraustreten auf den physischen Plan, in
die physische Welt, das Nichtsehen der göttlich-geistigen Welt,
das kann nur eine Zwischenzeit sein. Der Mensch wird das als Schule
durchzumachen haben und sehen müssen, was er sich aneignen kann
in der physischen Welt. Er braucht diesen Durchgang, er muß also
heraustreten aus der geistigen Welt; er muß die Erlebnisse der
physischen Welt als Schule durchmachen. Aber gerade dadurch, daß
er sie als Schule durchmacht, wird er wieder hineinkommen in die
Welt, aus der er herausgetreten ist. Der Baldurblick wird ihn wieder
beseelen können. — Mit anderen Worten: Die große
Idee, die im Laufe der germanisch-nordischen Entwickelung
entsteht, daß die Welt wieder sichtbar werden wird, die
geschwunden ist und dem hellseherischen Blick entzogen wurde,
bewirkte, daß als Zwischenzeit empfunden wurde das Walten
auf dem physischen Plan.
Seine Eingeweihten
machten es dem nordischen Menschen begreiflich, daß in der
göttlich-geistigen Welt in dieser Zwischenzeit, während er
nicht in dieselbe hineinschauen kann, etwas vorgeht, durch das diese
göttlich-geistige Weh einst anders ausschauen wird, als er
früher gewohnt war, sie zu sehen. Sie machten ihm das
begreiflich, in dem sie zu ihm ungefähr so sprachen: Du hast
früher in die göttlich-geistige Welt hineingesehen, hast
darin den Erzengel der Sprache, den Erzengel der Runen, den Erzengel
des Atems, Odin, gesehen und den Engel der Ichheit, den Thor.
Du standest mit ihnen in Verbindung, und es wird derjenige, der
dazu vorbereitet ist, die Möglichkeit erwerben, wieder in diese
geistige Welt hineinzukommen. Dann wird sie aber anders
aussehen; andere Mächte werden hinzugetreten sein und die
Machtbereiche und Machtverhältnisse dieser alten geistigen
Führer des Menschengeschlechts werden sich verändert
haben. Du wirst dann zwar in diese Welt hineinsehen, aber du wirst
anderes sehen, als was du bisher erlebt hast.
Dasjenige, was der
Mensch dann sehen wird, malten sie ihm als eine Zukunftsvision aus,
als jene Zukunftsvision, die einmal vor die menschliche Seele
treten wird, wenn der Mensch wieder hineinsehen kann in die geistige
Welt und sehen wird, welches Schicksal die alten Göttergestalten
gehabt haben, sehen wird, wie sie mit anderen Mächten in
Beziehung traten. Diese Zukunftsvision, wie sie die Eingeweihten
geschaut haben, malten sie ihm aus, wo in der Tat dasjenige, was von
Luzifer kommt, in gewisser Weise in Kampf getreten sein wird mit dem,
was von den Göttern kommt, und sich auch ausleben wird. Diese
Zukunftsvision malten die Eingeweihten den Menschen in dem Bilde von
der Götterdämmerung aus. Die
Götterdämmerung, Ragnarök, ist also das Bild, das die
Eingeweihten dem germanisch-nordischen Menschen als
Zukunftsbild vor Augen stellten. Und wieder werden wir finden,
daß alle Vorgänge, die da als Zukunftsvorgänge
dargestellt werden, bis in die Einzelheiten hinein nicht besser,
nicht terminologisch richtiger und nicht treffender dargestellt
werden könnten, als sie dargestellt worden sind in dem
wunderbaren Bilde der Götterdämmerung. Das ist der
okkulte Hintergrund des Bildes von der
Götterdämmerung.
Als was soll
sich dann der Mensch sehen? Er soll sich sehen so, daß er alles
dasjenige als Entwickelungsursache aufgenommen hat, was aus früheren
Zeiten stammt; er soll denkend aufnehmen, was er als Gabe Odins
bekommen hat, sich selber aber fühlen als durch die
Entwickelung durchgegangen, die dann gefolgt ist. Er soll die
Lehren, die Odin in ihn verpflanzt hat, in sich aufnehmen —
Odin tritt ihm entgegen als Erzengel. Er soll sich zum Sohne des Odin
machen; er soll in den Kampf eintreten, und zwar bald in diesen Kampf
eintreten. Das macht der Eingeweihte, der Leiter der esoterischen
Schule, besonders dem nordischen Menschen klar, indem er auf
das göttlich-geistige Wesen hinweist, das uns so geheimnisvoll
erscheint, das eigentlich erst bei der
Götterdämmerung eine bestimmte Rolle bekommt, weil es
selbst diejenige Macht überwindet, durch die zuerst Odin
überwunden wird. Der Rächer des Odin bekommt eine
besondere Rolle und spielt sie in der
Götterdämmerung. Wenn wir diese Rolle verstehen
werden, so wird sich uns der wunderbare Zusammenhang ergeben zwischen
den Anlagen des germanisch-nordischen Menschen und dem, was wir uns
vorstellen können als die Vision der Zukunft. In wunderbarer
Weise, bis in die Einzelheiten genau, ist das alles in der
großen Vision von der Götterdämmerung zum
Ausdruck gekommen.
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