ELFTER VORTRAG
Kristiania, 17. Juni 1910
Bei Beginn dieser
unserer letzten Betrachtungen darf ich wahrlich sagen, daß
eigentlich noch recht, recht viel zu besprechen wäre, und
daß im Grunde genommen das Allerwenigste von dem, was in dieses
reiche Thema hereinfallen würde, im Verlaufe dieses
Vortragszyklus wirklich hat besprochen werden können. Allein ich
darf ja wohl hoffen, daß es nicht zum letzten Male ist,
daß wir über ähnliche Themen hier zusammen sprechen,
und es muß genügen, wenn gerade über dieses
Thema, das in gewisser Beziehung einer weiteren Besprechung in der
Gegenwart ohnedies noch einige Schwierigkeiten bietet, nur
Andeutungen gegeben worden sind für den Anfang. Dabei ging
das wie ein roter Faden durch die letzten Darstellungen hindurch,
daß innerhalb der germanisch-nordischen Mythologie oder
Götterlehre etwas enthalten ist, was in einer imaginativen Form
wunderbar anknüpft an alles, was wir in
erkenntnismäßiger Gestalt herausholen können aus der
geistigen Forschung unserer Gegenwart. Das ist nun auch einer der
Gründe, warum wir hoffen dürfen, daß jener Volksgeist,
jener Erzengel, welcher seine erzieherische und führende
Tätigkeit über dieses Land hier erstreckt, mit dem, was er
als seine Anlagen im Laufe der Jahrhunderte entwickelt hat,
durchdringen wird dasjenige, was moderne Philosophie, moderne
Geistesforschung genannt werden kann, und daß von da aus diese
moderne Geistesforschung eine im volkstümlichen Sinne gehaltene
Befruchtung erlangen wird.
Je weiter
wir in die Einzelheiten der germanisch-nordischen Mythologie eindringen
würden, desto mehr würden wir sehen, daß
wunderbar in den Bildern dieser Mythologie die
größten okkulten Wahrheiten zum Ausdrucke kommen,
!Wie es wirklich in keiner anderen Mythologie der Fall ist. So
erinnern sich vielleicht einige von Ihnen, die meine
«Geheimwissenschaft» gelesen oder andere Darstellungen, die
ich hier geben durfte, mit angehört haben, daß einmal im
Verlaufe der Erdenevolution ein Vorgang stattfand, den wir bezeichnen
können als das Herabsteigen jener Seelen der Menschen, die
in uralten Zeiten, vor der alten lemurischen Periode, hinaufgestiegen
sind zu den einzelnen Planeten unseres Planetensystems, die aus ganz
besonderen Gründen hinaufgestiegen sind zu Saturn, Jupiter,
Mars, Venus, Merkur, und daß diese während der
letzten lemurischen und der ganzen atlantischen Zeit sich zu
vereinigen strebten mit dem, was der Menschenleib nach und nach
entwickelt und an Anlagen ausgebildet hatte, die möglich
geworden waren durch das Hinausgehen des Mondes aus unserer Erde. Da
sind sie heruntergestiegen, diese Saturn-, Jupiter-, Mars-, Venus-
und Merkurseelen. Das ist ein Vorgang, den man heute noch finden kann
in der Akasha-Chronik. Daß im Laufe der atlantischen Zeit
die Wasser nebelförmig die Luft der Atlantis durchdrangen,
das war ein Zustand, der damals damit zusammenhing, daß eben
diese Seelen herunterstiegen, die man mit dem alten Hellsehen der
atlantischen Zeit wahrnahm. Immer wieder, wenn neue Wesen
geboren wurden in dem dazumal noch plastisch-weichen,
biegsamen, bildsamen Leibe, wenn solche sozusagen aus geistigen
Höhen herunterstiegen, so betrachtete man das als den
äußeren Ausdruck dafür, daß aus der geistigen
Umgebung, aus der Atmosphäre, aus dem planetarischen
Dasein, Seelen herunterstiegen, um sich mit den auf der Erde
entstehenden Leibern zu vereinigen.
Der Vorgang,
wie sich gleichsam die Erdenleiber der Befruchtung dessen erschließen,
was aus Himmelshöhen herunterstrahlt, dieser Vorgang hat sich
erhalten in der Anschauung, die sich hineinverpflanzt hat in
die nordisch-germanische Mythologie. Das Bewußtsein davon hat
sich so lange erhalten, daß es selbst Tacitus noch bei
den südlicheren Germanen fand in der Zeit, da er die
Beobachtungen machte, die er in seiner «Germania»
beschrieb. Niemand wird die
Erzählung verstehen, die Tacitus von der Göttin Nerthus gibt,
der nicht weiß,
daß es diesen Vorgang einmal gegeben hat. Der Wagen der
Göttin Nerthus wird über die Gewässer gefahren.
Später hat sich das als Ritual, als Ritus erhalten. In
früherer Zeit war es Beobachtung. Dargeboten hat diese
Göttin das, was an Menschenleibern dargeboten werden konnte den
aus den planetarischen Sphären herunterdringenden
Menschenseelen. Das ist der geheimnisvolle Vorgang, der dem
Nerthus-Mythus zugrunde liegt, und der in alledem sich erhalten hat,
was in den älteren Sagen und Legenden, bei denen auf das Werden
des physischen Menschen hingedeutet wird, uns überliefert ist.
Njordr, der innerlich verwandt ist mit der Göttin Nerthus, ist
das männliche Gegenbild. Der soll uns darstellen die uralte
Erinnerung an das Hinuntersteigen der geistig-seelischen
Menschen, die einst hinaufgestiegen waren in planetarische
Höhen, und die während der atlantischen Zeit wieder
heruntergestiegen sind, um sich mit physischen Menschenleibern
wiederum zu vereinigen.
Aus
meiner kleinen Schrift «Blut ist ein ganz besonderer Saft»
können Sie entnehmen, welche bedeutungsvolle Rolle
Völkermischungen und Völkerzusammenhänge in gewissen
Zeiten gespielt haben. Nun haben nicht nur Völkermischungen und
Völkerzusammenhänge, die ihren Ausdruck in der Blutmischung
gefunden haben, sondern auch die geistigen und seelischen
Förderungen der Volksgeister eine große Rolle gespielt. Die
Anschauung jenes Hinuntersteigens ist am reinsten erhalten auf dem
Grunde jener Sagenwelt, welche sich in früherer Zeit in diesen
nordischen Gebieten gebildet hat. In den Wanensagen können Sie
daher eine älteste Erinnerung an solche Dinge noch finden.
Insbesondere war hier im Norden lebendig, in der finnischen
Tradition, die Erinnerung an diese Verbindung des
Geistig-Seelischen, das aus planetarischen Höhen herunterstieg,
mit dem, was aus dem Erdenleib selber hervorgegangen ist und
was die nordische Tradition als «Riesenheim» kennt. Was
sich aus dem Erdenleib entwickelt hat, das gehört zu Riesenheim.
So begreifen wir es, daß der nordisch-germanische Mensch
immer den Impuls von dieser Seite her gefühlt hat, daß er
fühlte, wie in seiner Seele, die sich nach und nach ausgebildet
hat, dieser alte Götterblick arbeitete, der hier noch heimisch
war, als die Nebelwasser der Atlantis noch hinüberreichten in
diese Gegend in der alten Zeit. Es fühlte der
nordisch-germanische Mensch in seiner Seele etwas von der Herkunft
eines Gottes, der abstammte direkt von jenen göttlich-geistigen
Wesenheiten, jenen Erzengelwesenheiten, die das Zusammenfügen
des Seelisch-Geistigen mit dem Irdisch-Physischen leiteten.
Freyr, der Gott, und Freya, seine Schwester, die ja hier im Norden
einstmals ganz besonders beliebte Gottheiten waren, waren in
ihrem Ursprung gedacht und empfunden als diejenigen Engelwesen,
welche in die menschliche Seele gegossen haben alles dasjenige, was
diese menschliche Seele brauchte, um unmittelbar auf dem physischen
Plane fortzuentwickeln die alten, durch das hellseherische
Vermögen aufgenommenen Kräfte. Freyr war innerhalb
der physisch-sinnlichen Welt, innerhalb der auf die äußeren
Sinne beschränkten Welt der Fortsetzer alles dessen, was
früher im Hellsehen aufgenommen worden ist. Er war die
lebendige Fortsetzung der hellseherisch aufgenommenen Kräfte.
Daher mußte er sich verbinden mit dem, was im menschlichen Leibe
selber als physisch-leibliche Werkzeuge vorhanden ist für
diese Seelenkräfte, die dann in den physischen Plan hineintragen
das, was im uralten Hellsehen wahrgenommen wurde. Das spiegelt sich
in der Ehe des Freyr mit Gerd, der Riesentochter. Sie ist den
physischen Kräften des Erdenwerdens selber entnommen. In diesen
Vorstellungen spiegelt sich noch nach das Herabsteigen des
Göttlich-Geistigen in das Physische. Ganz wunderbar ist
ausgedrückt in dieser Freyrgestalt, wie Freyr sieh dessen
bedient, was dem Menschen auf dem physischen Plane möglich
macht, auszuleben das, wozu er erzogen ist durch seine vorhergehenden
hellseherischen Wahrnehmungen. Bluthuf heißt das Pferd,
das dem Freyr zur Verfügung steht, um anzudeuten, daß das
Blut das Wesentliche ist, um sein Ich zu entwickeln. Ein
merkwürdiges, wunderbares Schiff steht auch dem Freyr zur
Verfügung. Ausgebreitet kann es werden ins Unermeßliche,
und zusammengefaltet kann es werden, so, daß es in den kleinsten
Kasten hineingeht. Was ist nun dieses Wunderschiff? Wenn Freyr die
Macht ist, die hineinträgt die hellseherischen Kräfte in
die Gebiete, die sich auf dem physischen Plane ausleben, dann
muß es das sein, was ihm ganz besonders eigen ist: die
Abwechslung zwischen Tagwachen und Nachtschlafen. Und wie die
Menschenseele sich während des Schlafens bis zum
Wiederaufwachen ausbreitet im Makrokosmos, so breitet sich das
Wunderschiff aus und wird dann wieder zusammengefaltet in die
Gehirnfalten, um dann während der Tageszeit in dem kleinsten
Kasten — dem Menschenschädel — untergebracht zu
werden. Das alles finden Sie in einer wunderbaren Weise in dieser
nordisch-germanischen Mythologie, in diesen
Bildercharakteren.
Diejenigen von
Ihnen, die näher eingehen werden auf diese Dinge, werden sich nach
und nach überzeugen, daß es keine Phantastik ist, sondern
daß es wirklich aus den Schulen der Eingeweihten stammt, was mit
diesen Bildern hineinverpflanzt, hineingeimpft worden ist in die
Volksseele, in das Volksgemüt. So ist ungeheuer viel geblieben
in dem leitenden Erzengel, in dem Volksgeist im Norden, von dem, was
alte Erziehung war durch hellseherische Wahrnehmung, von dem, was in
einer Seele werden kann, die sozusagen in ihrer Entwickelung auf dem
physischen Plane sich anschließt an eine hellseherische
Entwickelung.
Wenn das
Äußerliche heute auch anders aussieht, der Erzengel des
germanischen Nordens hat in sich diese Anlage, und mit dieser
Anlage ist er ganz besonders geeignet, dasjenige zu verstehen,
was moderne Geisteswissenschaft ist, und es umzuwandeln in dem
Sinne, wie es im Sinne volkstümlicher Kraft umgewandelt werden
muß. Daher werden Sie auch verstehen, wenn gesagt wird, daß
die besten Bedingungen gegeben sind gerade innerhalb des
germanisch-nordischen Wesens, um das zu verstehen, was ich nur
andeutend sagen konnte
in dem hier gehaltenen öffentlichen Vortrage
von der Wiederoffenbarung des Christus. Da zeigt uns
die Geistesforschung in unserer jetzigen Zeit, daß nachdem
das Kali Yuga abgelaufen ist, das fünftausend Jahre gedauert hat
— ungefähr von 3100 v. Chr. bis 1899 —, im
Menschen sich neue Fähigkeiten heranentwickeln. Sie werden
zunächst bei einzelnen, wenigen zum Vorschein kommen, die
für diese Fähigkeiten besonders geeignet sind. Da wird zum
Beispiel eintreten, daß Menschen aus der
naturgemäßen Evolution ihrer Fähigkeiten heraus von
dem etwas sehen werden, was heute nur durch die
Geisteswissenschaft, nur von der geistigen Forschung aus
verkündet wird. Da wird uns erzählt, daß in Zukunft
die Menschen, bei denen die Organe des Ätherleibes entwickelt
sind, in immer größerer Zahl auftreten und zum Hellsehen
kommen werden, zu dem man heute nur durch Schulung kommen kann.
Und warum wird es so sein? Was wird der Ätherleib für
die Anschauung einiger Menschen haben? Menschen wird es geben, die
Eindrücke haben werden, von denen ich einen etwa so schildern
möchte. Es wird der Mensch etwas tun in der äußeren
Welt, und er wird sich dabei gedrängt fühlen, etwas zu
bemerken. Es wird ihm wie eine Art von Traumbild vor die Augen
treten, das er zunächst nicht verstehen wird. Hat er aber etwas
gehört von Karma, von der Gesetzmäßigkeit im
Weltgeschehen, so wird er es nach und nach verstehen lernen, denn es ist
das karmische Gegenbild
seiner Taten in der
Ätherwelt, das er gesehen hat. So bilden sich nach und nach die
ersten Elemente künftiger Fähigkeiten.
Diejenigen
Menschen, die sich durch die Geisteswissenschaft anregen lassen, werden
nach und nach erleben können — von der Mitte des
zwanzigsten Jahrhunderts an — eine Wiedererneuerung
desjenigen, was Paulus im ätherischen Hellsehen gesehen
hat als ein kommendes Mysterium, als das Mysterium des lebenden
Christus. Es wird eine neue Offenbarung des Christus sein, eine
Offenbarung wie sie kommen muß, wenn die menschlichen
Fähigkeiten in naturgemäßer Weise sich dahin
entwickeln, daß der Christus von den Menschen gesehen werden
kann in der Welt, in der er seit dem Mysterium von Golgatha immer war
und in der er für den Eingeweihten auch zu finden ist. In
diese Welt wichst die Menschheit hinein, um vom physischen
Plane aus wahrnehmen zu können, was sonst nur in den
Mysterienschulen, von höheren Planen aus, gesehen wurde.
Trotzdem wird die Mysterienschulung nicht überflüssig. Sie
gibt die Dinge noch immer in anderer Art als sie der nichtgeschulten
Seele vorliegen. Aber das, was von der Mysterienschulung gegeben
wird, wird durch Umwandelung des physischen Menschenleibes das
Mysterium des lebenden Christus in einer neuen Weise zeigen,
wie es perspektivisch von dem physischen Plan aus gesehen werden
kann, wie es im Äther wird gesehen werden können, zuerst
von einzelnen Menschen, dann aber von immer mehr und mehr Menschen im
Laufe der nächsten dreitausend Jahre. Dasjenige, was Paulus
gesehen hat als den lebenden Christus, der in der Ätherwelt zu
finden ist seit dem Ereignis von Golgatha, wird von immer mehr
Menschen geschaut werden können.
Immer höher
werden die Offenbarungen des Christus liegen. Das ist das Mysterium
der Entwickelung des Christus. Da die Menschen zur Zeit, als das
Mysterium von Golgatha sich vollzog, alles von dem physischen Plane
aus auffassen sollten, so war es notwendig, daß sie auch auf dem
physischen Plan den Christus sehen konnten, daß sie Nachricht
von ihm bekommen und sein Walten auf dem physischen Plan bezeugen
konnten. Aber die Menschheit ist auf Fortschritt angelegt, auf
die Entwickelung höherer Kräfte, und derjenige
müßte nichts wissen von dem Fortschritte der Menschheit,
der glauben wollte, daß die Offenbarungen des Christus in
derselben Weise, wie sie vor 1900 Jahren. nötig war, sich
wiederholen wird. Dazumal geschah sie auf dem physischen Plan, weil
die Kräfte des Menschen auf den physischen Plan eingestellt
waren. Aber die Kräfte des Menschen werden sich entwickeln, und
dadurch wird Christus zu den erhöhten menschlichen Kräften
im Laufe der nächsten 3000 Jahre immer mehr und mehr sprechen
können.
Das, was ich jetzt
eben gesagt habe, ist eine Wahrheit, die seit langem einzelnen
wenigen Menschen mitgeteilt worden ist aus den esoterischen Schulen
heraus, und es ist eine Wahrheit, die insbesondere auf dem Boden der
Geisteswissenschaft heute gefunden werden muß aus dem Grunde,
weil die Geisteswissenschaft eine Vorschule sein soll für
dasjenige, was da kommen wird. Die Menschheit ist jetzt
eingestellt auf Freiheit, auf Selbstanerkennung dessen, was
sich in ihr bildet, und es könnte geschehen, daß diejenigen
Menschen, die als erste Pioniere der Christus-Anschauung sich
einstellen werden, als Narren verschrieen werden mit dem, was sie der
Menschheit darzubieten haben, und es könnte die Menschheit
weiter noch versinken in den Materialismus, als sie dies bis jetzt
schon ist, und tottreten das, was eine wunderbarste Offenbarung
für die Menschheit werden könnte. Alles, was in Zukunft
geschehen kann, ist in gewissem Grade in den Willen der Menschheit
gestellt, so daß die Menschen auch verfehlen können,
was zu ihrem Heile ist. Das ist außerordentlich wichtig,
daß die Geisteswissenschaft eine Vorbereitung ist für
dasjenige, was die neue Christus-Offenbarung sein wird.
Der
Materialismus kann in zweifacher Weise da einen Fehler machen. Der eine,
der wahrscheinlich gemacht werden wird aus den Traditionen des Okzidents
heraus, besteht darin, daß es als eine wilde Phantastik, als
eine wüste Narretei angesehen werden wird, was die ersten
Pioniere der neuen Christus-Offenbarung aus ihrer eigenen
Anschauung heraus im zwanzigsten Jahrhundert verkündigen
werden. Der Materialismus hat alle Kreise heute ergriffen. Er ist
nicht nur im Okzident heimisch, er hat auch den Orient erfaßt;
nur in einer anderen Form kommt er da zum Vorschein. Es könnte
sein, daß der orientalische Materialismus dahin führen
werde, daß die Menschen verkennen das Höhere einer
Christus-Offenbarung auf einer höheren Stufe, und daß
eintreten wird dasjenige, was hier so oft gesagt wurde und immer
wieder gesagt werden wird: daß materialistisches Denken das
Erscheinen des Christus in eine materialistische Anschauung
umsetzen wird. Es könnte sein, daß man in jener Zeit
unter dem Einfluß der geisteswissenschaftlichen Wahrheiten zwar
sprechen dürfte davon, daß der Christus sich
offenbaren wird, aber gleichzeitig glaubt, daß Christus in einem
materiellen Leibe erscheinen wird. Das Ergebnis wäre dann ein
anders gefärbter Materialismus. Da würde sich nur
fortsetzen, was seit Jahrhunderten gewesen ist.
Diesen falschen
Materialismus haben sich immer wieder die Menschen zunutze
gemacht, und zwar so, daß sich einzelne Menschen für den
wiedererschienenen Christus ausgaben. Der letzte bedeutendere Fall
eines derartigen falschen Christus war im siebzehnten Jahrhundert, wo
ein Mann namens
Sabbatai Zewi
aus Smyrna als der
wiedererschienene Christus auftrat. Er hat großes Aufsehen
gemacht. Zu ihm sind hingepilgert nicht nur die Menschen, die in der
unmittelbaren Umgebung waren, sondern Leute aus Ungarn, Polen,
Deutschland, Frankreich, Italien und Nordafrika. überall
wurde in Sabbatai Zewi die physische Inkarnation eines Messias
gesehen. Ich möchte nicht die Menschheitstragik erzählen,
die sich an die Persönlichkeit des Sabbatai Zewi knüpft. Im
siebzehnten Jahrhundert war diese Tragik allerdings nicht
besonders groß. Der Mensch war damals noch nicht so sehr unter
den freien Willen gesteift; aber er konnte durch seine Erkenntnis,
die ein spirituelles Empfinden war, erkennen, was die Wahrheit ist.
Das Unglück wäre aber groß im zwanzigsten
Jahrhundert, wenn unter dem Drucke des Materialismus die Lehre,
daß Christus sich offenbaren wird, eine materialistische
Ausdeutung erfahren würde in der Weise, als ob Christus im
physischen Leibe wiederkommen könnte. Damit würde die
Menschheit nur beweisen, daß sie keine Anschauung und keine
Einsicht gewonnen hat bezüglich des wirklichen Fortschrittes der
menschlichen Entwickelung zu höheren geistigen Kräften.
Falsche Messiasse werden ganz gewiß auftreten, und sie werden
aus dem Materialismus unserer Zeit ebenso Zuspruch erhalten, wie
Sabbatai Zewi im siebzehnten Jahrhundert. Es wird eine Probe, eine
harte Prüfung sein für die geistig Vorbereiteten, zu
erkennen, wo die Wahrheit liegt, ob sich in die spirituellen
Theorien wirklich auch spirituelles lebensvolles Empfinden
hineinlebt, oder ob in diesen spirituellen Theorien nur ein
versteckter Materialismus lebt. Das wird die Probe sein auf die
Fortentwickelung der Geisteswissenschaft, ob Menschen genug
durch diese Geisteswissenschaft entwickelt sein werden, welche
einsehen können, daß sie den Geist im Geiste zu schauen
haben, daß sie hinaufzuschauen haben in die ätherische
Welt, hinaufzuschauen auf eine Neuoffenbarung des Christus, oder ob
sie auf dem physischen Plane stehen bleiben und eine Offenbarung im
physischen Leibe, die sich auf den Christus bezieht, sehen wollen.
Diese Prüfung wird unsere Bewegung noch bestehen müssen.
Wir können aber sagen, daß nirgends besser der Boden
vorbereitet ist, gerade auf diesem Gebiete die Wahrheit zu erkennen,
als da, wo die germanisch-nordische Mythologie ersprossen
ist.
In dem, was
uns als Götterdämmerung überliefert ist, ist eine
bedeutsame Zukunftsvision enthalten, und damit komme ich auf
ein Kapitel, von dem ich sozusagen schon den Ausgangspunkt angedeutet
habe. Ich habe Ihnen gesagt, daß innerhalb einer
Volksgemeinschaft, die das, was hellseherische Vergangenheit ist,
erst so kurze Zeit hinter sich hat, auch ein hellseherischer Sinn in
dem leitenden Volksgeiste entwickelt ist, um das, was uns
hellseherisch erblüht, wieder zu verstehen. Wenn nun eine
Menschheit gerade auf dem Boden die neue Zeit mit neuen menschlichen
Fähigkeiten erlebt, wo die germanisch-nordische Mythologie
erblühte, da soll sie verstehen, daß dasjenige, was altes
Hellsehen war, eine andere Gestalt erfahren muß, nachdem der
Mensch durchgegangen ist durch die Erstwickelung des physischen
Planes. Da hat eine Weile geschwiegen das, was aus dem alten
Hellsehen heraus gesprochen hat; da hat eine Weile hinter dem
Menschen gestanden, sich dem menschlichen Blicke entzogen die Welt
des Odin und Thor, des Baldur und Hödur, des Freyr und der
Freya. Aber hervorkommen wird sie wieder in einer Zeit, wo andere
Kräfte mittlerweile an der menschlichen Seele gearbeitet
haben. Wenn diese menschliche Seele mit dem neuen Hellsehen,
das mit ätherischem Hellsehen beginnt, hineinschauen wird in die
neue Welt, dann wird sie sehen, daß sie sich nicht halten kann
an die alten Formen der die Seele erziehenden Kräfte.
Würde sie sich daran halten können, dann würden auch
all die Gegenkräfte hervortreten gegen die Kraft, die in alten
Zeiten hat erziehen sollen die menschlichen Kräfte zu einer
gewissen Höhe. Odin und Thor werden wieder dastehen vor dem
Blicke der Menschheit, jetzt aber so, daß die menschliche Seele
eine neue Entwickelung durchgemacht haben wird. Der
menschlichen Seele wird alles erscheinen, was die Gegenkräfte
des Odin und Thor sind. Alles, was sich als Gegenkraft entwickelt
hat, wird in einem gewaltigen Tableau wieder sichtbar werden. Aber
nicht vorwärtskommen würde die menschliche Seele, nicht
wehren gegen Schädliches würde sie sich können, wenn
sie sich nur den Kräften unterwerfen würde, welche im alten
Hellsehen gesehen worden sind. Thor hat einst den Menschen das Ich
gegeben. Das Ich hat sich erzogen auf dem physischen Plane, hat sich
herausentwickelt aus dem, was Loki, die luziferische Gewalt, im
Astralleibe zurückgelassen hatte, aus der Midgardschlange. Das,
was einst Thor geben konnte, und worüber die menschliche Seele
hinauswächst, das steht im Kampfe mit dem, was aus der
Midgardschlange kommt. Das tritt uns in der nordischen
Mythologie als der mit der Midgardschlange kämpfende Thor
entgegen. Gegenseitig halten sie sich das Gleichgewicht, das
heißt sie töten einander.
Ebenso waltet Odin gegen den Fenriswolf, wobei dieser den Odin vernichtet.
Dasjenige, was eine
Weile die menschliche Seelenkraft gebildet hat, Freyr, das muß
unterliegen demjenigen, was dem auf dem physischen Plan mittlerweile
herangezogenen Ich aus den Erdenkräften selber heraus gegeben
worden ist. Freyr unterliegt dem Flammenschwert des aus der Erde
entsprossenen Surtur.
Alle diese
Einzelheiten, die in der Götterdämmerung hingestellt sind,
werden dem entsprechen, was in einer neuen, in die Zukunft wirklich
hineinweisenden Äthervision vor der Menschheit stehen wird.
Zurückbleiben wird der Fenriswolf. Oh, darin, daß dieser
Fenriswolf zurückbleibt im Kampfe gegen Odin, verbirgt sich eine
tiefe, tiefe Wahrheit. Es wird in der nächsten Zukunft der
Menschheit nichts so sehr gefährlich werden, als wenn der Hang,
beim alten, nicht durch neue Kräfte entwickelten Hellsehen zu
bleiben, die Menschen dazu verführen könnte, stehen
zu bleiben bei dem, was das alte, astrale Hellsehen in Urzeiten geben
konnte, nämlich solche Seelenbilder wie der Fenriswolf. Es
wäre wieder eine harte Prüfung für dasjenige,
was auf dem Boden der Geisteswissenschaft erwachsen muß, wenn
etwa auch auf diesem Boden der Hang entstehen würde zu
allerlei ungeklärtem, chaotischern Hellsehen, die Neigung,
nicht das von Vernunft und Wissenschaft durchleuchtete Hellsehen
höher zu schätzen, sondern das alte, chaotische, dem
dieser Vorzug abgeht.
Mit furchtbarer
Gewalt würden sich rächen solche Überbleibsel alten
Hellsehens, die mit allerlei chaotischen Bildern die
Anschauungen der Menschen verwirren könnten. Einern
solchen Hellsehen könnte nicht mit demjenigen begegnet
werden, was selber aus alter Hellseherkraft entstand, sondern
nur mit dem, was während des Kali Yuga als gesunde Kraft zu
einem neuen Hellsehen herangebildet worden ist. Nicht
dasjenige, was an Kraft der alte Erzengel Odin gegeben hat, nicht die
alten hellseherischen Kräfte können retten; da muß
etwas weit anderes kommen. Dieses andere aber kennt die
germanisch-nordische Mythologie. Von dem weiß sie, daß es
vorhanden ist. Sie weiß, daß die Äthergestalt lebt, in
der sich inkarnieren soll dasjenige, was wir wiedersehen sollen als
ätherische Christusgestalt. Und dieser erst wird es gelingen,
auszutreiben, was an ungeklärter hellseherischer Kraft die
Menschheit verwirren wird, wenn Odin nicht vernichtet den Fenriswolf,
der nichts anderes repräsentiert als die zurückgebliebene
Hellseherkraft.
Widar,
der sich schweigend verhalten hat während der ganzen Zeit,
der wird den Fenriswolf überwinden. Das sagt uns auch die
Götterdämmerung.
Wer Widar in
seiner Bedeutung erkennt und ihn in seiner Seele fühlt, der wird
finden, daß im zwanzigsten Jahrhundert den Menschen wieder
die Fähigkeit gegeben werden kann, den Christus zu schauen. Der
Widar wird wieder vor ihm stehen, der uns allen
gemeinschaftlich ist in Nord- und Mittel-Europa. Er wurde
geheim gehalten in den Mysterien und Geheimschulen als ein Gott, der
erst in Zukunft seine Mission erhalten wird. Selbst von seinem Bilde
wird nur unbestimmt gesprochen. Das mag hervorgehen daraus, daß
ein Bild in der Nähe von Köln gefunden worden ist, von dem
man nicht weiß, wen es darstellt, das aber nichts anderes
bedeutet als ein Bildnis von Widar.
Durch das Kali
Yuga hindurch wurden die Kräfte erworben, die die neuen Menschen
befähigen sollen, die neue Christus-Offenbarung zu schauen.
Diejenigen, welche berufen sind, aus den Zeichen der Zeit heraus zu
deuten das, was da kommen muß, wissen, daß die neue
Geistesforschung wieder aufrichten wird die Kraft Widars, der alles
dasjenige aus den Gemütern der Menschen vertreiben wird, was als
Überbleibsel chaotischer alter Hellseherkräfte verwirrend
wirken könnte, und der das neu sich heranentwickelnde Hellehen
in der menschlichen Brust, in der menschlichen Seele wachrufen
wird.
So sehen wir,
indem uns aus der Götterdämmerung herausglänzt die
wundersame Gestalt des Widar, daß uns sozusagen eine Hoffnung
für die Zukunft aus der germanisch-nordischen Mythologie
entgegenleuchtet. Indem wir uns verwandt fühlen gerade mit der
Gestalt des Widar, den wir nun in seiner tieferen Wesenheit erfassen
wollen, hoffen wir, daß dasjenige, was der Grundnerv und
die lebendige Essenz alles geisteswissenschaftlichen Wesens sein
muß, sich aus jenen Kräften, welche der Erzengel der
germanisch-nordischen Welt zu der modernen Zeitentwickelung
hinzubringen kann, wird ergeben können. Ein Teil erst von einem
größeren Ganzen ist für den fünften
nachatlantischen Kulturzeitraum an Menschheits- und
Geistesentwickelung geleistet worden, ein anderer Teil muß noch
geleistet werden. Am meisten werden zu dieser Leistung beizutragen
haben diejenigen aus der Summe der nordisch-germanischen Völker
heraus, die in sich fühlen, daß sie elementare,
frische Völkerkraft in sich haben. Aber es wird das
gewissermaßen in die Seelen der Menschen gelegt werden. Sie
werden sich selbst entschließen müssen, zu arbeiten. Im
zwanzigsten Jahrhundert kann man irren, weil es in gewisser
Weise in die Freiheit der Menschen gestellt sein muß, was
erreicht werden soll, weil es nicht unter Zwang gesetzt sein darf.
Daher handelt es sich darum, ein richtiges Verständnis dessen zu
haben, was kommen soll. So sehen Sie, daß, wenn aus unserer
heutigen Geisteswissenschaft heraus-spricht die Erkenntnis des
Christus-Wesens, und wenn wir anknüpfen an die wahre Erkenntnis
dieses Christus-Wesens, das wir aus europäischen Volkssubstanzen
selber heraussuchen, wenn wir daran knüpfen unsere
Zukunftshoffnungen, so beruht das wirklich nicht auf
irgendeiner Vorliebe oder irgendeiner
Temperamentsanlage.
Es ist manchmal
gesagt worden, daß man nennen könne wie man wolle dasjenige, was
man als erstes Wesen in der Menschheitsevolution bezeichnen
kann. Niemals wird derjenige, der das Christus-Wesen erkennt, sich
darauf versteifen, daß der Name des Christus bleibt. Aber, wenn
wir den Christus-Impuls im richtigen Sinne verstehen, so werden
wir auch nicht so sprechen, daß wir sagen: Ein Wesen lebt
in der Menschheitsevolution, in der Menschheit des Westens und
Ostens, und das muß so sein, daß es den Sympathien der
Menschheit für diese oder jene Wahrheit entspricht.
— Das ist nicht okkultistisch. Okkultistisch ist es,
daß in dem Augenblicke, wo man erkennen würde,
daß dieses Wesen getauft werden müßte auf den Namen
des Buddha, dies rückhaltlos getan wird, ganz gleich, ob es
einem sympathisch oder antipathisch ist. Nicht auf Sympathie oder
Antipathie kommt es also an, sondern auf die Wahrheit der
Tatsachen.
In dem
Augenblicke, wo uns die Tatsachen anders belehren würden, wären
wir bereit, anders zu handeln. Einzig und allein die Tatsachen
müssen maßgebend sein. Wir wollen keinen Orientalismus und
keinen Okzidentalismus hineintragen in das, was wir als eigentliches
Lebensblut unserer Geisteswissenschaft ansehen, und wenn wir
herausfinden sollten in der nordisch-germanischen Erzengelwelt
dasjenige, was einen befruchtenden Keim abgeben kann für
die wahrhafte Geisteswissenschaft, so wird es etwas sein, was
nicht gegeben wird auf diesem Boden für ein einzelnes Volk oder
einen einzelnen Stamm, sondern was der gesamten Menschheit gegeben
wird. Das, was der gesamten Menschheit gegeben wird, gegeben werden
muß, kann zwar an diesem oder jenem Orte entspringen, gegeben
werden muß es aber der gesamten Menschheit. Wir kennen nicht
einen Unterschied zwischen Orient und Okzident; wir nehmen mit
inniger Liebe dasjenige auf, was wir als das überwältigend
Große der uralten Kultur der heiligen Rishis in ihrer
wahren Gestalt kennen; wir nehmen mit Liebe auf die persische Kultur,
nehmen mit Liebe auf dasjenige, was wir als
ägyptisch-chaldäische und griechisch-lateinische Kulturen
kennen; wir nehmen auch mit ebensolcher Objektivität auf, was
uns aus dem europäischen Boden erwachsen ist. Nur die
Notwendigkeit der Tatsachen zwingt uns, die Angaben so zu machen, wie
sie gemacht werden.
Indem wir alles
empfangen von der gesamten Menschheit, alles, was jede Religion
beizutragen hat zum Kulturprozeß der Menschheit, aufnehmen in
das, was wir heute erkennen, was wir heute Gemeingut der Menschheit
nennen, indem wir das mehr und mehr tun, sind wir gerade im Sinne des
Christus-Prinzips tätig. Da es fortentwickelungsfähig
ist, so müssen wir das überwinden, was es in den ersten
Jahrhunderten und Jahrtausenden durchmachen mußte, wo das
Christus-Prinzip in den unvollkommensten Anfängen begriffen war.
Wir sehen nicht in diese Vergangenheit, lassen uns auch nicht von ihr
belehren. Uns liegt nichts an dieser Überlieferung, uns liegt in
der Hauptsache an dem, was aus der geistigen Welt heraus erforscht
werden kann. Deshalb sehen wir das Wichtigste des Christus-Prinzips
nicht in dem, was war — und wenn es noch so oft betont wird,
aus der Tradition heraus —, sondern in dem, was da kommen wird.
Wir berufen uns nicht so sehr auf das, was historisch
überliefert wird, sondern suchen zu wissen das, was da kommen
wird. Das ist der Schwerpunkt des Christus-Impulses, der in den
Anfang-des christlichen Zeitalters fällt, und wir geben nicht
viel auf das Äußerlich-Historische. Nachdem das Christentum
die Kinderkrankheiten durchgemacht hat, wird es sich weiter
entwickeln. Es ist auch in fremde Länder gegangen und wollte die
Menschen zu dem bekehren, was man in den einzelnen christlichen
Dogmen eines Zeitalters gehabt hat. Vor unserer Seele steht aber ein
Christentum, von dem wir wissen, daß Christus in allen Zeiten
wirksam war, und daß wir Christus finden werden an allen
Orten, wohin wir kommen, daß das Christus-Prinzip das
allergeisteswissenschaftlichste Prinzip ist. Und wenn der
Buddhismus nur als Buddhisten gelten läßt diejenigen,
welche auf Buddha schwören, dann wird das Christentum dasjenige
sein, das auf keinen Propheten schwört, weil es nicht unter dem
Eindruck eines völkischen Religionsstifters steht, sondern den
Menschheitsgott anerkennt.
Derjenige, der das
Christentum kennt, weiß, daß es sich dabei um ein Mysterium
handelt, das auf Golgatha auf dem physischen Plane zur Anschauung
gekommen ist. Die Anschauung dieses Mysteriums ist es, die uns in der
Richtung führt, die ich geschildert habe. Man kann auch wissen,
daß das geistige Leben zur Zeit des Mysteriums von Golgatha ein
solches war, daß dieses Mysterium gerade so in jener Zeit
erlebt werden mußte, wie es erlebt worden ist von der
Menschheit. Wir lassen uns keine Dogmen aufdrängen, auch nicht
die Dogmen der christlichen Vergangenheit, und wenn uns
aufgedrängt werden sollte ein Dogma von der einen oder
anderen Seite, dann würden wir es im Sinne des wahrhaft
verstandenen ChristusPrinzipes zurückweisen. Mögen
noch so viele Menschen kommen und den geschichtlichen Christus in ein
konfessionelles Bekenntnis zwängen, oder mögen sie
falsch nennen das, was wir als Zukunfts-Christus schauen, wir lassen
uns nicht beirren dadurch, wenn uns von ihnen gesagt wird: So oder so
muß der Christus sein, — auch wenn es von denen gesagt
wird, die verstehen sollten, wer der Christus ist. Ebensowenig
darf die Christus-Wesenheit gedrückt und beengt werden aus den
orientalischen Traditionen heraus, ebensowenig eine Färbung
erhalten durch die Dogmen des orientalischen Dogmatismus. Frei
und unabhängig von jeder Tradition und jeder Autorität will
das vor die Menschheit hintreten, was aus den Quellen des Okkultismus
heraus gerade über diese Zukunftsevolution zu sagen
ist.
Wunderbar
erscheint es mir, wie die Menschen sich auf diesem Boden verstehen
können. Immer und immer wieder ist mir in diesen Tagen von den
hierher gereisten Nicht-Norden gesagt worden, wie sie sich gegenüber
den Persönlichkeiten des skandinavischen Nordens so frei
gefühlt haben. Viele haben das ausgesprochen. Ein Beweis
dafür, wie wir uns, vielleicht noch für manche
unbewußt, in dem tiefsten Wesen der Geistes-Erkenntnis
verstehen können, wie wir uns namentlich in dem verstehen
werden, was ich schon bei dem letzten «Theosophischen
Kongreß» in Budapest
hervorhob, und was ich wiederholte
während unserer eigenen Generalversammlung in Berlin,
wo wir die
große Freude hatten, auch Freunde aus dem Norden bei uns zu
sehen. Schlecht wäre es für die Geisteswissenschaft, wenn
derjenige, der noch nicht in das geistige Gebiet hineinschauen
kann, auf blinden Glauben hin annehmen müßte dasjenige, was
gesagt wird. Ich bitte Sie und habe Sie gebeten in Berlin, nichts auf
Autorität und Glauben hinzunehmen, was ich jemals gesagt habe
oder sagen werde. Es gibt, auch bevor der Mensch die hellseherische
Stufe erreicht, die Möglichkeit, dasjenige zu prüfen, was
aus hellseherischer Beobachtung heraus gewonnen wird. Was ich
je gesagt habe über Zarathustra und Jesus von Nazareth,
über Herrnes und Moses, über Oclin und Thor, über den
Christus Jesus selber, ich bitte Sie nicht, es zu glauben und meine
Worte auf Autorität hin anzunehmen. Ich bitte Sie, sich
abzugewöhnen das Autoritätsprinzip; denn von Übel
würde das Autoritätsprinzip für uns werden.
Ich weiß aber
ganz gewiß, wenn Sie anfangen, nachzudenken mit unbefangenem
Wahrheitssinn, wenn Sie sagen: Das wird uns gesagt; prüfen wir
die uns zugänglichen Urkunden, die Religions- und
mythologischen Dokumente, prüfen wir, was uns sagt
jegliche Naturwissenschaft, — so werden Sie die
Richtigkeit des Gesagten einsehen. Nehmen Sie alles zu Hilfe, und je
mehr Sie zu Hilfe nehmen können, desto besser. Ich bin
unbesorgt. Was aus den Quellen des Rosenkreuzertums heraus
gesagt wird, Sie können es prüfen mit allen Mitteln.
Prüfen Sie mit der materialistischen Kritik an den Evangelien,
was ich über den Christus Jesus gesagt habe, prüfen Sie,
was ich über Geschichte gesagt habe, an allen Quellen, die
Ihnen zugänglich sind, prüfen Sie so genau als möglich
mit den Mitteln, die Ihnen für den
äußerlich-physischen Plan zu Gebote stehen! Ich bin
überzeugt, je genauer Sie prüfen, um so mehr werden Sie
das, was aus den Quellen des Rosenkreuzermysteriums heraus gesagt
wird, der Wahrheit entsprechend finden. Darauf rechne ich,
daß die Mitteilungen, welche aus dem Rosenkreuzertum heraus
gemacht werden, nicht geglaubt, sondern geprüft werden, nicht
oberflächlich, mit den oberflächlichen Methoden der
gegenwärtigen Wissenschaft, sondern immer gewissenhafter
und gewissenhafter. Nehmen Sie alles, was die neueste
Naturwissenschaft mit ihren neuesten Methoden Ihnen bieten kann,
nehmen Sie alles, was die historischen oder religiösen
Forschungen ergeben haben — ich bin unbesorgt. Je mehr Sie
prüfen, desto mehr werden Sie bewahrheitet finden, was aus
dieser Quelle heraus gesagt worden ist. Sie sollen nichts auf die
Autorität hin annehmen. Das sind die besten Schüler der
Geist-Erkenntnis, die das, was gesagt wird, zunächst als
Anregung empfangen und es dann in den Dienst des Lebens stellen, um
es am Leben zu prüfen. Denn auch im Leben, auf jeder Stufe des
Lebens, werden Sie prüfen können das, was aus den Quellen
des Rosenkreuzertums heraus gesagt wird. Fern liegt es der Gesinnung,
die dieser Darstellung zugrunde liegt, ein Dogma hinzustellen
und zu sagen: Dies oder jenes ist so und so und muß geglaubt
werden. Prüfen Sie das an dem, was Ihnen jetzt schon an seelisch
markigen und gesunden Menschen entgegentreten kann, und Sie
werden das selbst bewahrheitet finden, was wie ein
prophetischer Hinweis auf die zukünftige
Christus-Offenbarung gesagt worden ist. Sie brauchen nur die Augen
aufzumachen und unbefangen zu prüfen. Keine Anforderung an den
Autoritätsglauben wird gestellt. Das ist eine Art Grundstimmung,
die wie ein roter Faden alles geistige Empfangen durchdringen
sollte.
Also, ans Herz
legen möchte ich Ihnen: Es ist nicht wahrhaft theosophisch,
etwas als Dogma anzunehmen, weil es dieser oder jener gesagt
hat; wahrhaft theosophisch ist es, sich anregen zu lassen aus der
Geisteswissenschaft und das Empfangene im Leben zu prüfen. Da
wird hinwegschwinden das, was eine wahrhaft theosophische
Anschauung von irgendeiner Seite her färben könnte.
Nicht orientalische, nicht okzidentalische Nuancen dürfen
unsere Anschauungen färben. Der, welcher im rosenkreuzerischen
Sinne spricht, kennt nicht Orientalismus und nicht Okzidentalismus;
für ihn sind beide gleich sympathisch. Er stellt allein aus der
inneren Natur der Tatsachen die Wahrheit dar. Das ist dasjenige, was
wir ins Auge fassen müssen, insbesondere ins Auge fassen
müssen in einem so wichtigen Moment, wo wir hingewiesen haben
auf den Volksgeist, der waltet in all den nördlichen
Gebieten. In ihnen lebt der germanisch-nordisch-mythologische
Geist, wenn er auch heute noch unter der Oberfläche lebt, und er
lebt viel weiter verbreitet in Europa, als man denkt. Wenn ein
nördlicher Völkerstreit entstehen könnte, so
könnte er nicht darin bestehen, daß ein Volksteil dem
anderen streitig macht dasjenige, was zu geben ist, sondern daß
ein jedes Volk Selbsterkenntnis übt und sich frägt: Was ist
das Beste, was ich geben kann? Dann wird schon auf den gemeinsamen
Altar fließen das, was zum Gesamtfortschritt, zur
Gesamtwohlfahrt der Menschheit führt. Die Quellen dessen, was
wir bringen können, liegen im Individuellen. Der
germanisch-nordische Erzengel wird der gesamten Menschheitskultur der
Zukunft gerade das bringen, wozu er veranlagt ist durch die
mitbekommenen Anlagen, welche wir annähernd
charakterisiert haben. Er ist aber insbesondere befähigt,
zu bewirken, daß das, was in der ersten Hälfte der
fünften nachatlantischen Kulturzeit noch nicht gegeben werden
konnte, sich in der zweiten Hälfte noch abspielen kann,
nämlich das, was als geistiges Element, prophetisch keimhaft, in
der slawischen Philosopie und Volksempfindung gezeigt werden
konnte. Solange sich das im Vorbereitungsstadium befindet, muß
die erste Hälfte der fünften nachatlantischen
Kulturperiode zurückgelegt werden. Zunächst konnte da nur
erreicht werden eine fein sublimierte geistige Anschauung als
Philosophie. Von den Volkskräften muß diese dann
erfaßt und durchdrungen werden, damit sie allgemeines
Menschheitsgut werden kann, damit sie verständlich werden kann
auf den weiten Terrains unseres Erdenlebens. Versuchen Sie es einmal,
ob wir uns auf diesem Gebiete verstehen können; dann wird dieses
sonst etwas gefährliche Thema doch nicht böse Früchte
getragen haben, wenn wir alles, was hier zusammengekommen ist aus
Nord-, Süd- und Ost-, West- und Mitteleuropa, so empfinden,
daß es wichtig ist innerhalb der gesamten Menschheit; wenn wir
fühlen, daß die großen Völker sowohl als die
kleinen Volkssplitter ihre Mission haben und beizutragen haben
ihren Teil für das Ganze. Zuweilen haben kleine
Volkssplitter, weil sie alte oder neue Seelenmotive bewahren
sollen, Allerwichtigstes beizutragen. So kann, selbst wenn wir
auch diese gefährliche Frage zum Gegenstand der
Darstellung machen, nichts anderes dabei herauskommen als die
Grundempfindung einer Seelengemeinschaft aller derjenigen, die
vereinigt sind im Zeichen geisteswissenschaftlichen Denkens und
Fühlens und der geisteswissenschaftlichen Ideale.
Nur dann, wenn wir
noch aus unseren Sympathien und Antipathien heraus empfinden
würden, wenn wir undeutlich den Kern unserer Weltbewegung
erfaßt hätten, könnten Mißverständnisse
entstehen aus dem, was gesagt worden ist. Haben wir aber das
erfaßt, was als Geist in diesen Vorträgen waltet,
dann können auch die Dinge, die uns da entgegengetreten sind,
dazu verhelfen, daß wir den festen Entschluß und das hohe
Ideal fassen, dasjenige beizutragen zu dem gemeinsamen Ziele —
jeder auf seinem Standpunkte und auf seinem Boden —, was in
unserer Mission liegt. Wir können das am besten mit dein, was
aus unserem Selbst, aus dem entspringt, wozu wir veranlagt sind. Wir
dienen der gesamten Menschheit am besten, wenn wir das in uns
besonders Veranlagte entwickeln, um es der gesamten Menschheit
einzuverleiben als ein Opfer, das wir dem fortschreitenden
Kulturstrom bringen. Das müssen wir verstehen lernen. Verstehen
müssen wir lernen, daß es schlimm wäre, wenn die
Geisteswissenschaft nicht beitragen würde zur Entwickelung
von Mensch, Engel und Erzengel, sondern beitragen würde zur
Überwindung einer Volksgesinnung durch die andere. Nicht dazu
ist die Geisteswissenschaft da, dazu zu verhelfen, daß
sich das, was als religiöses Bekenntnis irgendwo auf der Erde
herrscht, ein anderes Gebiet erobern kann. Würde jemals der
Okzident durch den Orient erobert werden oder umgekehrt, so
entspräche das durchaus nicht der
geisteswissenschaftlichen Gesinnung. Allein das entspricht ihr,
wenn wir unser Bestes, rein Menschliches für die gesamte
Menschheit hingeben. Und wenn wir ganz in uns selber leben, aber
nicht für uns, sondern für alle Menschen, so ist das
wahrhafte geisteswissenschaftliche Toleranz. Das sind Worte, die ich
anschließen mußte an unser bedenkliches Thema.
Durch die
Geisteswissenschaft — das werden wir immer mehr einsehen
— wird alle Menschen-Zersplitterung aufhören. Deshalb ist
gerade jetzt die richtige Zeit, die Volksseelen kennen zu
lernen, weil die Geisteswissenschaft da ist, die uns dazu bringt, die
Volksseelen nicht einander gegenüber zu stellen in Opposition,
sondern sie aufzurufen zu harmonischem Zusammenwirken. Je
besser wir das verstehen, desto bessere Schüler der
Geist-Erkenntnis werden wir sein. Dahin sollen die Darstellungen, die
wir gegeben haben, zunächst ausklingen. Ausklingen
muß ja doch zuletzt das, was wir an Erkenntnissen sammeln,
in unserem Empfinden, Fühlen und Denken und in unserem
geisteswissenschaftlichen Ideal. je mehr wir dieses leben, desto
bessere Schüler der Geisterkenntnis sind wir. Ich habe erlebt,
daß manche 'von denen, die mit heraufgezogen sind nach dem
Norden, den besten Eindruck erhalten haben, was bei ihnen
dadurch zum Ausdruck kam, daß sich ihnen das Wort auf die Lippen
drängte: «Wie gern ich hier im Norden bin!»
Und wenn wir
mit den Worten des schweigsamen Asen Widar sprechen wollen: Wenn hohe
Kräfte in der Menschheit in Zukunft erwacht sein werden, die wir
ganz gewiß vor unseren Augen sehen werden, dann wird er der
tätige, der aktive Freund des Zusammenarbeitens, des
Zusammen-Fleißigseins sein, in dessen Sinne wir alle
zusammengewesen sind. Lassen Sie uns in diesem Sinne nach einigen
Tagen des Beisammenseins wieder räumlich scheiden, uns aber im
Geiste in diesem Sinne immer beisammen sein. Woher wir auch als
Schüler der Geist-Erkenntnis kommen, von weit oder nah,
mögen wir uns stets in Harmonie zusammenfinden, auch wenn wir
uns einmal bei einem Thema fragen, was die Individualitäten
dieser oder jener Erdengebiete sind. Wir wissen, daß das nur
einzelne Opferflammen sind, die nicht auseinander züngeln,
sondern zusammenschlagen werden zu dem gewaltigen Opferfeuer,
das zum Wohle der Menschheit zusammenschlagen muß durch die
geisteswissenschaftliche Weltanschauung, die uns so sehr am
Herzen liegt und tief in unserer Seele wurzelt.
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