AUS DER AKASHA-FORSCHUNG • DAS FÜNFTE EVANGELIUM
Kristiania (Oslo), 1. Oktober 1913
Erster Vortrag
Das Thema, über das ich in diesen
Tagen zu sprechen gedenke, erscheint mir in bezug auf die
heutige Zeit und auf die heutigen Verhältnisse als ein
ganz besonders wichtiges. Ich möchte von vornherein
betonen, daß es nicht etwa irgendeiner
Sensationslust oder ähnlichen Dingen entspringt, daß das Thema gerade den Inhalt
hat: Das Fünfte Evangelium.
Denn ich hoffe zeigen zu können,
daß in der Tat von einem
solchen Fünften Evangelium in einem gewissen Sinne,
und zwar in einem solchen Sinne, der
uns besonders wichtig sein muß in unserer Gegenwart, gesprochen werden kann, und daß
sich für dasjenige, was damit gemeint ist, in der Tat kein
anderer Name besser eignet als der
Name «Das Fünfte Evangelium». Dieses Fünfte
Evangelium ist ja, wie Sie hören werden, in einer
Niederschrift heute noch nicht
vorhanden. Aber es wird gewiß in Zukunftstagen der
Menschheit auch in ganz bestimmter Niederschrift vorhanden
sein. In einem gewissen Sinne aber
könnte man sagen, es ist dieses Fünfte Evangelium so
alt wie die vier anderen Evangelien.
Damit ich aber von diesem Fünften
Evangelium sprechen kann, ist es
notwendig, daß wir uns heute in einer Art Einleitung
verständigen über einige
wichtige Punkte, die zum völligen Begreifen dessen,
was wir nunmehr nennen wollen das
Fünfte Evangelium, notwendig sind. Und zwar möchte ich ausgehen davon, daß ganz
gewiß die Zeit nicht mehr
fernliegen wird, in welcher schon in den niedrigsten
Schulen, schon im primitivsten
Unterricht die Wissenschaft, die man gewöhnlich die
Geschichte nennt, sich etwas anders anhören wird, als sie
sich bisher angehört hat. Es
wird nämlich ganz gewiß — und die
nächsten Tage sollen es uns
gewissermaßen beweisen — , es wird ganz gewiß
der Christus-Begriff, die
Christus-Vorstellung, in der Geschichtsbetrachtung der Zukunft
eine ganz andere, wichtigere Rolle spielen, auch
schon in der elementarsten
Geschichtsbetrachtung, als sie bisher gespielt hat. Ich
weiß, daß ich mit diesem
Satze eigentlich etwas ungeheuer
Paradoxes ausspreche. Bedenken wir doch, daß wir ja
zurückgehen können auf gar nicht so weit
zurückliegende Zeiten, in denen unzählige Herzen in einer viel intensiveren Weise
ihre Gefühle und Empfindungen
zu dem Christus hinrichteten unter den einfachsten wie
unter den gebildetsten Bewohnern der
westlichen Länder Europas, mehr
als dies heute der Fall ist. In einem ungeheuer
erheblicheren Maße war das in
früherer Zeit der Fall. Wer Umschau hält im
Schrifttum der Gegenwart, wer nachdenkt über das, was den
gegenwärtigen Menschen
hauptsächlich interessiert, woran er sein Herz hängt,
der wird den Eindruck haben,
daß der Enthusiasmus, die Ergriffenheit
der Empfindung für die
Christus-Vorstellung im Abnehmen ist, insbesondere im Abnehmen
da, wo man auf eine gewisse, aus der Zeit heraus folgende Bildung Anspruch macht. Da erscheint es
wohl paradox, wenn, wie ich eben betont habe, diese unsere Zeit
darauf hinarbeitet, daß die Christus-Vorstellung in der
Betrachtung der Geschichte der Menschheit in einer nicht fernen
Zukunft eine viel bedeutendere Rolle spielt, als es bisher der
Fall war. Scheint das nicht ein
vollkommener Widerspruch zu sein?
Nun wollen wir uns einmal von einer anderen
Seite diesem Gedanken nähern. Ich habe auch hier in dieser
Stadt schon öfter über die Bedeutung und den Inhalt der Christus-Vorstellung
sprechen dürfen. Und in
Büchern und Zyklen, die hier aufliegen, finden Sie
mannigfache Ausführungen aus den Tiefen der
Geisteswissenschaft heraus über
die Geheimnisse der Christus-Wesenheit und der
Christus-Vorstellung. Jeder muß da die Meinung bekommen,
wenn er das, was in Vorträgen,
Zyklen und in unserem Schrifttum überhaupt gesagt worden
ist, in sich aufnimmt, daß zu dem völligen Verstehen
der Christus-Wesenheit ein starkes, großes Rüstzeug
gehört, daß man die tiefsten Begriffe, Vorstellungen und Ideen zu Rate ziehen
muß, wenn man sich
hinaufschwingen will zum völligen Verständnis dessen,
was der Christus ist und was der
Impuls ist, der als Christus-Impuls durch die
Jahrhunderte gegangen ist. Man könnte
vielleicht sogar, wenn nicht anderes
dagegen spräche, zu der Vorstellung kommen, daß man
erst die ganze Theosophie oder
Anthroposophie kennen muß, um sich aufzuschwingen zu einer richtigen Vorstellung von dem
Christus.
Wenn wir aber absehen von dem und auf die
Geistesentwickelung der verflossenen
Jahrhunderte blicken, da tritt uns entgegen von Jahrhundert zu
Jahrhundert dasjenige, was vorhanden ist an
ausführlicher, tiefgründiger Wissenschaft, die bestimmt sein
sollte, den Christus und seine
Erscheinung zu begreifen. Durch Jahrhunderte hindurch
haben die Menschen ihre
höchsten und bedeutsamsten Ideen aufgewendet,
um den Christus zu begreifen. Auch hier
könnte es daraus nun scheinen, als ob nur die
bedeutsamsten intellektuellen Tätigkeiten des Menschen
hinreichend sein würden, um den Christus zu verstehen. Ist
das in der Tat so? Daß es nicht
so ist, davon kann uns eine ganz einfache Erwägung den Beweis liefern.
Legen wir einmal gleichsam auf eine
geistige Waage alles dasjenige, was
bisher an Gelehrsamkeit, Wissenschaft, auch an
anthroposophischem Verständnis des Christus-Begriffes dazu
beigetragen hat, den Christus zu
begreifen. Legen wir das alles auf die eine Waagschale
einer geistigen Waage und legen wir auf die
andere Schale in unseren Gedanken
alle die tiefen Gefühle, alle die Innigkeit in den Seelen
der Menschen, die durch die
Jahrhunderte zu dem sich gelenkt haben, was man den Christus nennt, und man wird finden, daß
all die Wissenschaft, alle Gelehrsamkeit, selbst alle
Anthroposophie, die wir aufbringen können zur
Erklärung des Christus, in der Waagschale
überraschend aufschnellt, und alle die tiefen Gefühle
und Empfindungen, welche die
Menschen hingelenkt haben zur Christus-Wesenheit, zur
Erscheinung des Christus, die andere
Waagschale tief, tief hinunterdrücken. Man sagt nicht
zuviel, wenn man behauptet, daß eine ungeheure Wirkung von
dem Christus ausgegangen ist, und daß das Allergeringste
zu dieser Wirkung das Wissen von dem Christus
beigetragen hat. Es hätte um
das Christentum wahrhaftig recht schlecht gestanden, wenn die
Menschen, um an dem Christus zu hängen, alle gelehrten
Auseinandersetzungen des Mittelalters, der Scholastik und
der Kirchenväter gebraucht
hätten, oder wenn die Menschen nur bedürftig gewesen
wären auch alles dessen, was wir heute durch die
Anthroposophie aufbringen können zum Begreifen der
Christus-Idee. Was man damit
vermöchte, wäre wahrhaftig recht wenig. Ich glaube
nicht, daß irgend jemand, der
unbefangen den Gang des Christentums durch die Jahrhunderte hindurch betrachtet, gegen diese
Gedanken etwas Ernstes einwenden
könnte. Aber wir können uns diesem Gedanken
noch von einer anderen Seite genauer
nähern.
Lassen wir den Blick zurückschweifen
auf die Zeiten, in denen es noch
kein Christentum gegeben hat. Ich brauche nur zu erinnern
an dasjenige, was gewiß den
meisten der hier befindlichen Seelen voll gegenwärtig ist. Ich brauche nur zu erinnern, wie
im alten Griechenland die griechische Tragödie,
insbesondere in ihren älteren Formen, wenn sie den kämpfenden Gott oder den Menschen, in
dessen Seele der kämpfende Gott
wirkte, darstellte, gleichsam wie von der Bühne
herunter das göttliche Walten und
Weben unmittelbar anschaulich machte. Ich brauche nur hinzuweisen, wie
Homer seine bedeutsame Dichtung
ganz durchwoben hat mit dem Wirken des Geistigen, ich
brauche nur hinzuweisen auf die großen
Gestalten des Sokrates, des
Plato, des Aristoteles. Mit
diesen Namen tritt vor unsere Seelen ein geistiges Leben höchster Art auf einem gewissen
Gebiete. Wenn wir von allem
übrigen absehen und nur zu der einen Gestalt des
Aristoteles hinsehen, der
Jahrhunderte vor der Begründung des Christentums
gewirkt hat, so tritt uns entgegen, was in
gewisser Weise keine Steigerung, keine Fortbildung bis in
unsere Zeit erfahren hat. Das Denken, die Ausbildung der
menschlichen Logik durch Aristoteles ist etwas so ungeheuer
Vollkommenes auch heute noch, daß man sagen
kann, es war etwas Höchstes erreicht
im menschlichen Denken, so daß eine Steigerung bisher nicht geschehen ist.
Und nun wollen wir für einen
Augenblick eine merkwürdige Hypothese aufstellen, die
notwendig ist für die nächsten Tage. Wir
wollen uns einmal vorstellen,
daß es gar keine Evangelien gäbe, aus denen
wir irgend etwas erfahren könnten
über die Gestalt Christi. Wir wollen einmal annehmen, daß die ersten Urkunden, die der
Mensch heute als Neues Testament in
die Hand nimmt, gar nicht vorhanden wären,
wollen uns denken, es gäbe gar keine
Evangelien. Wir wollen gewissermaßen absehen von dem, was
über die Gründung des Christentums
gesagt ist, wollen nur den Gang des
Christentums als eine geschichtliche Tatsache betrachten,
wollen sehen, was geschehen ist unter den Menschen durch die nachchristlichen Jahrhunderte
hindurch; also ohne die Evangelien,
Apostelgeschichte, Paulusbriefe und so weiter
wollen wir nur betrachten, was
tatsächlich geschehen ist. Das ist natürlich nur eine
Hypothese, aber sie wird uns helfen zu dem, was wir
erreichen wollen. Was ist nun geschehen in
den Zeiten, die verflossen sind vor
und seit der Begründung des
Christentums?
Wenn wir zunächst den Blick auf den
Süden Europas werfen, so haben
wir in einem gewissen Zeitpunkte höchste menschliche
Geistesbildung, wie wir sie eben in ihrem Repräsentanten
Aristoteles vor die Seele gerufen
haben, hochentwickeltes geistiges Leben, das in den
nachfolgenden Jahrhunderten noch eine
besondere Ausbildung erfahren hatte. Ja, es gab in der Zeit, in
der das Christentum seinen Weg durch
die Welt zu machen begann, im Süden Europas
zahlreiche griechisch gebildete
Menschen, Menschen, die das griechische Geistesleben
aufgenommen hatten. Wenn man bis zu jenem
merkwürdigen Manne, der ein so
heftiger Gegner des Christentums war, Celsus, und
später noch die Entwickelung des
Christentums verfolgt, so findet man
im Süden Europas auf der griechischen und italienischen
Halbinsel bis ins 2., 3. nachchristliche Jahrhundert Menschen
mit höchster Geistesbildung,
zahlreiche Menschen, die sich angeeignet haben die
hohen Ideen, die wir bei Plato finden,
deren Scharfsinn wirklich sich ausnimmt wie eine Fortsetzung des Scharfsinnes des
Aristoteles, feine und starke
Geister mit griechischer Bildung, Römer mit
griechischer Bildung, die zu einer
Feingeistigkeit des Griechentums das Aggressive,
Persönliche des Römertums
hinzufügten.
In diese Welt hinein stößt der
christliche Impuls. Dazumal lebte der christliche Impuls so, daß wir sagen können,
die Vertreter dieses christlichen
Impulses nehmen sich wahrhaftig wie ungebildete Leute
aus in bezug auf die Intellektualität,
in bezug auf Wissen von der Welt,
gegenüber demjenigen, was zahlreiche gebildete
römisch-griechische Menschen in sich trugen. Mitten in
eine Welt reifster Intellektualität schieben sich Menschen
ohne Bildung hinein. Und nun erleben wir ein merkwürdiges Schauspiel: Es breiten diese
einfachen, primitiven Naturen, welche die Träger des
ersten Christentums sind, dieses Christentum mit einer verhältnismäßig
großen Schnelligkeit im Süden Europas aus. Und wenn wir heute mit dem, was wir, sagen
wir durch die Anthroposophie,
über das Wesen des Christentums verstehen können,
herantreten an diese einfachen, primitiven Naturen, die
dazumal das Christentum
ausbreiteten, so dürfen wir uns sagen: Diese primitiven
Naturen verstanden von dem Wesen des Christus — wir
brauchen gar nicht einmal
zu denken
an den großen kosmischen
Christus-Gedanken, der heute durch
die Anthroposophie aufgehen soll, wir können an viel einfachere Christus-Gedanken denken
— , die damaligen Träger
des christlichen Impulses, die sich hineinschieben in die
griechische hochentwickelte Bildung, verstanden von alldem
nichts. Sie hatten nichts auf den
Markt des griechisch-römischen Lebens zu tragen als ihre
persönliche Innerlichkeit, die sie sich als ihr
persönliches Verhältnis zu
dem geliebten Christus herausgebildet hatten; denn sie
liebten wie ein Glied einer geliebten
Familie eben dieses Verhältnis. Diejenigen, die hereintrugen in das damalige Griechen-
und Römertum das Christentum, das sich bis in unsere Zeit
fortgebildet hat, das waren nicht
gebildete Theologen oder Theosophen, das waren nicht
Gebildete. Die gebildeten Theosophen der
damaligen Zeit, die Gnostiker, haben zwar zu hohen Ideen
über den Christus sich erhoben, aber sie haben auch nur geben können, was wir auf
die emporschnellende Waagschale legen müssen. Wäre es
auf die Gnostiker angekommen, das Christentum hätte
gewiß nicht seinen Siegeszug durch die Welt genommen. Es war keine besonders ausgebildete
Intellektualität, die sich vom
Osten hereinschob und in verhältnismäßiger
Schnelligkeit das alte Griechentum und Römertum zum Sinken
brachte. Das ist die Sache von der
einen Seite betrachtet.
Von der anderen Seite betrachtet, sehen wir
uns die intellektuell hochstehenden
Menschen an, von Celsus, dem Feinde des Christentums, der
damals schon alles das aufgebracht hat, was man heute
noch dagegen sagen kann, bis zu dem
Philosophen auf dem Throne, Mark Aurel. Sehen wir uns
die feingebildeten Neuplatoniker an, die damals
Ideen aufbrachten, gegen die heute die
Philosophie ein Kinderspiel ist, und
die unsere heutigen Ideen weit übertrafen an Höhe, an
Weite des Gesichtskreises. Und sehen
wir alles, was diese Geister gegen das Christentum vorzubringen hatten, und durchdringen wir
uns mit dem, was diese intellektuell
Hochstehenden im griechischen und römischen
Geist gegen das Christentum vorzubringen
hatten von dem Standpunkte der griechischen Philosophie aus, so
bekommen wir den Eindruck:
die alle haben den Christus-Impuls nicht
verstanden. Wir sehen, das
Christentum breitet sich aus durch Träger, die von dem
Wesen des Christentums nichts
verstehen; es wird bekämpft von einer hohen
Kultur, die nichts begreifen kann von dem,
was der Christus-Impuls bedeutet.
Merkwürdig tritt das Christentum in die Welt, so, daß
Anhänger und Gegner von seinem eigentlichen Geiste nichts
verstehen. Und doch: die Kraft haben
Menschen in der Seele getragen, diesen Christus-Impuls zum Siegeszuge durch die Welt zu
bringen.
Und sehen wir uns diejenigen an, die selbst
mit einer gewissen Größe
für das Christentum eintreten, wie der berühmte
Kirchenvater Tertullian. Wir sehen
in ihm einen Römer, der in der Tat, wenn wir
seine Sprache ins Auge fassen, fast ein
Neuschöpfer der römischen Sprache ist, der mit einer Treffsicherheit neue Worte
prägte, die uns eine bedeutende
Persönlichkeit erkennen lassen. Wenn wir uns aber
fragen: Wie steht es mit der Christus-Idee
des Tertullian? — da wird die
Sache anders. Da finden wir, daß er eigentlich recht wenig
Intellektualität, geistige Höhe zeigt. Auch die
Verteidiger des Christentums bringen nicht viel zustande. Und
dennoch, sie sind wirksam, als Persönlichkeiten wirksam, solche Geister wie
Tertullian, auf dessen Gründe
gebildete Griechen wirklich nicht viel geben konnten. Trotzdem
wirkt er hinreißend; aber durch was? Das ist es, worauf es
ankommt! Fühlen wir, daß hier sich wirklich eine
Frage vor die Seele stellt! Durch
was wirken die Träger des Christus-Impulses denn,
die selbst von dem, was der
Christus-Impuls eigentlich ist, nicht viel verstehen? Durch was
wirken die christlichen Kirchenväter, selbst bis
auf Origenes,
denen man die Ungeschicklichkeit in bezug
auf das Verständnis des Christus-Impulses ansieht? Was ist
es, was selbst die bis zu einer
solchen Höhe gestiegene griechisch-römische Bildung
nicht verstehen konnte an dem Wesen des
Christus-Impulses?
Was ist das alles?
Aber gehen wir weiter. Dieselbe Erscheinung
tritt uns bald in einer noch
schärferen Weise entgegen, wenn wir das geschichtliche
Leben betrachten. Wir sehen, wie die
Jahrhunderte kommen, in denen das Christentum sich ausbreitet innerhalb der
europäischen Welt unter Völkern, die wie die germanischen von ganz anderen
Religionsvorstellungen herkommen, welche als Völker eins
sind oder wenigstens eins zu sein
scheinen mit ihren religiösen Vorstellungen, und
die dennoch mit voller Kraft diesen
Christus-Impuls aufnahmen, wie wenn er ihr eigentliches Leben wäre. Und wenn wir uns
die wirksamsten Glaubensboten in den
germanischen Völkern betrachten, waren das
scholastisch-theologisch gebildete Leute? Ganz und gar nicht! Es waren
diejenigen, die mit verhältnismäßig primitiver
Seele unter den Leuten einherzogen
und in primitiver Weise, mit den allernächsten,
alltäglichsten Vorstellungen zu den
Leuten sprachen, aber unmittelbar ihre Herzen ergriffen. Sie verstanden die Worte so zu
setzen, daß sie die tiefsten
Saiten derjenigen berühren konnten, zu denen sie sprachen.
Einfache Leute zogen hinaus in alle Gegenden, und gerade
die wirkten am
bedeutsamsten.
So sehen wir die Verbreitung des
Christentums durch die Jahrhunderte hindurch. Dann aber
bewundern wir, wie eben dasselbe Christentum zum Anlaß wird bedeutsamer
Gelehrsamkeit, Wissenschaft und Philosophie. Wir
unterschätzen nicht diese Philosophie, aber heute wollen wir einmal den Blick hinwenden auf
jene eigentümliche Erscheinung, daß das Christentum
bis in das Mittelalter unter
Völkern sich ausbreitet, die bis dahin ganz andere
Vorstellungsformen in ihrem Gemüte getragen haben, so
daß es bald zu ihrer Seele gehörte. Und in nicht allzu ferner Zukunft wird
man noch manches andere betonen,
wenn man von der Ausbreitung des Christentums
spricht. Wenn man von der Wirkung des
christlichen Impulses spricht, kann
man leicht verstanden werden dann, wenn man davon
spricht, daß in einer
bestimmten Zeit gleichsam die Früchte der
Ausbreitung des Christentums sich so
gezeigt haben, daß man sagen kann: es ging
Begeisterung aus dieser Verbreitung des
Christus-Impulses hervor. Aber wenn
wir in die neueren Zeiten heraufkommen, da scheint
abgedämpft zu werden, was wir durch das Mittelalter
hindurch als sich ausbreitendes
Christentum betrachten können.
Betrachten wir die Zeit des
Kopernikus, die Zeit der aufkeimenden Naturwissenschaft bis in das
19. Jahrhundert hinein. Es könnte so scheinen, als ob diese Naturwissenschaft, dasjenige
was seit Kopernikus in das abendländische Geistesleben
sich hineingearbeitet hat, dem
Christentum entgegengearbeitet hätte. Äußere
Tatsachen könnten das erhärten. Die katholische
Kirche zum Beispiel hatte Kopernikus bis in die zwanziger Jahre
des 19. Jahrhunderts hinein auf dem sogenannten Index stehen. Sie hat Kopernikus
als ihren Feind angesehen. Aber das sind äußere
Dinge. Das hinderte doch nicht, daß Kopernikus ein Domherr war. Und wenn die katholische
Kirche Giordano Bruno
auch verbrannt hat, so hinderte das nicht,
daß er ein Dominikaner war. Sie
beide sind eben aus dem Christentum heraus zu ihren Ideen gekommen. Sie haben aus dem christlichen
Impulse heraus gehandelt. Derjenige
versteht die Sache schlecht, der sich auf dem Boden der Kirche halten und glauben wollte,
daß das nicht Früchte des
Christentums gewesen wären. Es wird durch die
angeführten Tatsachen nur bewiesen, daß die Kirche
die Früchte des Christentums
sehr schlecht verstanden hat; sie brauchte bis ins
19. Jahrhundert hinein Zeit, um einzusehen,
daß man die Ideen des Kopernikus nicht durch den Index unterdrücken
kann. Derjenige, der die Dinge
tiefer sieht, wird doch anerkennen müssen, daß
alles, was die Völker getan
haben auch in den neueren Jahrhunderten, ein
Resultat, ein Ergebnis des Christentums
ist, daß sich durch das Christentum der Blick der Menschen
hinausgewendet hat von der Erde in
die Himmelsweiten, wie es durch Kopernikus und Giordano
Bruno geschehen ist. Das war nur
innerhalb der christlichen Kultur und durch den christlichen Impuls möglich.
Und für denjenigen, der das geistige
Leben nicht an der Oberfläche, sondern in den Tiefen betrachtet, für den ergibt
sich etwas, das, wenn ich es jetzt
ausspreche, recht paradox erscheinen wird, aber dennoch
richtig ist. Für eine solche tiefere
Betrachtung erscheint es nämlich unmöglich, daß ein Haeckel entstanden
wäre so, wie er dasteht in aller seiner Christus-Gegnerschaft, ohne daß er
entstanden wäre aus dem Christentum heraus. Ernst Haeckel ist ohne die
Voraussetzung der christlichen
Kultur gar nicht möglich. Und die ganze neuere
naturwissenschaftliche Entwickelung, wenn sie sich auch noch so
sehr bemüht, Gegnerschaft des
Christentums zu entwickeln, alle diese neuere Naturwissenschaft ist ein Kind des Christentums,
eine direkte Fortsetzung des
christlichen Impulses. Die Menschheit wird, wenn
erst die Kinderkrankheiten der neueren
Naturwissenschaft ganz abgestreift sind, schon einsehen, was
das bedeutet, daß der Ausgangspunkt der neueren
Naturwissenschaft, konsequent verfolgt, wirklich
in die Geisteswissenschaft
hineinführt, daß es einen ganz konsequenten Weg gibt
von Haeckel in die Geisteswissenschaft hinein. Wenn
man das begreifen wird, wird man auch
einsehen, daß Haeckel ein durch
und durch christlicher Kopf ist, wenn er auch selber
nichts davon weiß. Die
christlichen Impulse haben nicht nur hervorgebracht,
was sich christlich nennt und nannte,
sondern auch dasjenige, was wie eine
Gegnerschaft gegen das Christentum sich geriert. Man muß
die Dinge nicht nur auf ihre
Begriffe hin untersuchen, sondern auf ihre Realität hin, dann kommt man schon zu dieser
Erkenntnis. Aus der darwinistischen
Entwickelungslehre führt, wie Sie in dem kleinen
Schriftchen von mir über
«Reinkarnation und Karma» sehen können,
ein gerader Weg zu der Lehre der
wiederholten Erdenleben.
Um aber auf dem richtigen Boden zu stehen
in bezug auf diese Dinge, muß
man in einer gewissen Weise das Walten der christlichen
Impulse unbefangen beobachten können.
Derjenige, der den Darwinismus, den Haeckelismus versteht, und
der selber ein wenig durchdrungen ist von dem, wovon Haeckel
noch gar nichts weiß — Darwin aber
wußte noch manches — , daß diese beiden
Bewegungen nur als christliche
Bewegungen möglich waren, wer das versteht, kommt
ganz konsequent zu der Reinkarnationsidee.
Und wer zu Hilfe ziehen kann eine
gewisse hellseherische Kraft, der kommt auf diesem Wege
ganz konsequent zu dem geistigen Ursprung
des Menschengeschlechts. Es ist zwar
ein Umweg, aber, wenn Hellsichtigkeit hinzukommt, ein
richtiger Weg von dem Haeckelismus zu der
geistigen Auffassung des
Erdenursprungs. Aber auch der Fall ist denkbar, daß man
den Darwinismus nimmt, wie er heute
sich darbietet, ohne aber durchdrungen zu sein von den
Lebensprinzipien des Darwinismus selbst; mit anderen Worten: wenn man den Darwinismus aufnimmt
als einen Impuls und nichts in sich
fühlt von einem tieferen Verständnis des
Christentums, das doch im Darwinismus
liegt, dann kommt man zu etwas sehr
Eigentümlichem. Dazu kann man kommen, daß man
durch solche geistige Beschaffenheit
der Seele gleich wenig vom Christentum und vom Darwinismus
versteht. Man kann dann von dem guten Geiste des Christentums ebenso verlassen sein wie von
dem guten Geiste des Darwinismus.
Hat man aber den guten Geist des Darwinismus, dann mag man noch
so materialistisch sein, dann kommt man immer weiter zurück in der Erdengeschichte bis auf
den Punkt, wo man erkennt, daß
der Mensch niemals aus niederen Tierformen sich
herausentwickelt hat, daß er einen
geistigen Ursprung haben muß. Man kommt zurück auf den Punkt, wo man den
Menschen als geistiges Wesen gleichsam schwebend über der
Erdenwelt schaut. Der konsequente Darwinismus wird dazu
führen. Ist man aber von seinem guten Geiste verlassen, dann kann man glauben, wenn man
zurückgeht und ein Anhänger der Reinkarnationsidee
ist, man habe einmal selber als Affe
gelebt auf irgendeiner Inkarnation der Erde selbst.
Wenn man das glauben kann, dann muß
man sowohl von dem guten Geiste des
Darwinismus als auch des Christentums verlassen sein,
dann muß man von beiden nichts
verstehen. Denn niemals könnte einem konsequenten Darwinismus passieren, das zu
glauben. Das heißt, man
muß in ganz äußerlicher Weise die
Reinkarnationsidee übertragen
auf diese materialistische Kultur. Denn man kann den
modernen Darwinismus gewiß seiner
Christlichkeit entkleiden. Tut man
das nicht, so wird man finden, daß bis in unsere Zeit
hinein die darwinistischen Impulse
aus dem Christus-Impuls geboren worden sind, daß die christlichen Impulse auch da wirken,
wo man sie verleugnet. So haben wir nicht nur die Erscheinung,
daß das Christentum sich in den ersten Jahrhunderten
abgesehen von der Gelehrsamkeit und dem Wissen der
Anhänger und Bekenner ausbreitet, daß es
sich ausbreitet im Mittelalter so, daß
höchst wenig dazu beitragen können die gelehrten Kirchenväter und die
Scholastiker, sondern wir haben in
unserer Zeit die noch paradoxere Erscheinung, daß
das Christentum wie in seinem
Gegenbilde im Materialismus unserer heutigen Naturwissenschaft
erscheint, und alle Größe, alle ihre Tatkraft
doch aus den christlichen Impulsen hat. Die
christlichen Impulse, die in ihr
liegen, werden diese Wissenschaft von selbst über den
Materialismus hinausführen.
Sonderbar ist es mit den christlichen
Impulsen! Intellektualität, Wissen, Gelehrsamkeit, Erkenntnis scheinen gar nicht
dabei zu sein bei der Ausbreitung
dieser Impulse. Ganz etwas anderes scheint ihre
Ausbreitung in der Welt zu bedingen. Man
möchte sagen, das Christentum breitet sich aus, was auch
die Menschen für oder dagegen denken, ja sogar so, daß es wie in ein Gegenteil
verkehrt im modernen Materialismus erscheint. Was breitet sich
denn da aus? Die christlichen Ideen sind es nicht, die christliche
Wissenschaft ist es nicht. Man
könnte noch sagen, das moralische Gefühl breitet sich
aus, das durch das Christentum
eingepflanzt worden ist. Aber man sehe nur an
das Walten der Moral in diesen Zeiten, und
man wird mancherlei berechtigt
finden von dem, was aufgezählt werden kann an Wut
der Vertreter des Christentums gegen
wirkliche oder vermeintliche Gegner des Christentums. Auch die
Moral, die walten konnte in den Seelen, die intellektuell nicht
hoch gebildet sind, wird uns nicht sehr imponieren können,
wenn wir sie ins Auge fassen auch da, wo sie wirklich
am christlichsten denkt. Was breitet sich
denn da aus? Was ist dieses Sonderbare?
Was ist es, was im Siegeszuge durch die Welt geht?
Fragen wir darüber nun die
Geisteswissenschaft, das hellsichtige Bewußtsein! Was
waltete in den ungebildeten Menschen, die sich von
Osten nach Westen hineinschieben in das
hochgebildete Griechen-
und Römertum? Was waltet in den
Menschen, die in die germanische, in
die fremde Welt das Christentum hineingetragen haben? Was
waltet in der modernen materialistischen Naturwissenschaft, wo
die Lehre ihr Angesicht gleichsam
noch verhüllt? Was waltet in all diesen Seelen, wenn es
nicht intellektuelle, nicht einmal moralische Impulse
sind? Was ist es denn? — Es
ist der Christus selbst, der von Herz zu Herz,
von Seele zu Seele zieht, der durch die
Welt ziehen und wirken kann, gleichgültig, ob die Seelen ihn verstehen oder
nicht durch diese Entwickelung im Laufe der
Jahrhunderte!
Wir sind gezwungen, von unseren Begriffen,
von aller Wissenschaft abzusehen und
auf die Realität hinzuweisen, zu zeigen, wie geheimnisvoll
der Christus selber wandelt in vielen tausenden
Impulsen, Gestalt annehmend in den
Seelen, in viele Tausende und aber Tausende untertauchend und
die Menschen erfüllend durch
die Jahrhunderte. In den einfachen
Menschen ist es der Christus selbst, der über die griechische und italische Welt schreitet,
der nach Westen und nach Norden hin
immer mehr Menschenseelen ergreift. Bei den späteren
Lehrern, die den germanischen Völkern das Christentum
bringen, ist es der Christus selbst, der ihnen zur Seite
wandelt. Er ist es, der wirkliche,
wahrhaftige Christus, der auf der Erde waltet wie die
Seele der Erde selber, der von Ort zu Ort,
von Seele zu Seele zieht und, ganz
gleichgültig was die Seelen über den Christus denken,
in diese Seelen einzieht. Einen
trivialen Vergleich möchte ich gebrauchen: Wie
viele Menschen gibt es, die gar nichts
verstehen von der Zusammensetzung der Nahrungsmittel und die
sich doch nähren nach allen Regeln der Kunst. Es wäre
doch eigentlich zum Verhungern, wenn man die Nahrungsmittel kennen müßte, bevor man
sich nähren könnte. Das
Sich-nähren-Können hat nichts zu tun mit dem
Verständnis der Nahrungsmittel.
So hatte die Ausbreitung des Christentums über die
Erde hin nichts zu tun mit dem
Verständnis, das man dem Christentum entgegenbrachte. Das
ist das Eigentümliche. Da waltet ein Geheimnis, das nur
dadurch aufgeklärt werden kann, daß man die Antwort
gibt auf die Frage: Wie waltet der Christus selber in den
menschlichen Gemütern? Und wenn nun die
Geisteswissenschaft, die hellseherische Betrachtung, sich diese
Frage stellt, dann wird sie zunächst auf ein Ereignis gelenkt, das im Grunde nur durch die
hellseherische Betrachtung wirklich
enthüllt werden kann, das äußerlich in der
Tat in vollem Einklänge steht
mit allem, was ich heute gesprochen habe. Eines werden wir sehen, was in der Zukunft immer mehr
wird verstanden werden müssen: Die Zeit ist vorüber,
in welcher der Christus so gewirkt
hat, wie ich eben charakterisiert habe, und die Zeit ist
gekommen, wo die Menschen den Christus
werden verstehen müssen, erkennen müssen.
Deshalb ist es notwendig, auch die Frage
sich zu beantworten, warum unserer
Zeit die andere vorausgegangen ist, in der sich der
Christus-Impuls ausbreiten konnte, ohne
daß das Verständnis dazu notwendig war, ohne daß die Menschen mit ihrem
Bewußtsein dabei waren. Ein
Ereignis war es, wodurch dieses möglich war! Und
das Ereignis, zu dem das
hellseherische Bewußtsein
weist, ist das sogenannte
Pfingstereignis, die Aussendung des Heiligen Geistes.
Daher war es, daß zuerst der
hellseherische Blick, der angeregt worden ist
durch den wirklichen Christus-Impuls im
anthroposophischen Sinne, hingelenkt
wurde auf dieses Pfingstereignis, die Aussendung des
Heiligen Geistes. Hellseherisch betrachtet
ist es das Pfingstereignis, was sich
zuerst der Untersuchung darbietet, die von einem
gewissen Gesichtspunkte aus
geführt wird.
Was geschah in jenem Augenblick der
Weltentwickelung auf der Erde, der
uns ziemlich unverständlich zunächst als das
Herabkommen des Heiligen Geistes auf die Apostel dargestellt
wird? Wenn man den hellseherischen
Blick darauf hinwendet, untersucht, was da eigentlich geschehen
ist, dann bekommt man eine geisteswissenschaftliche
Antwort darauf, was gemeint ist damit,
daß gesagt wird: Einfache Leute, wie ja auch die Apostel waren, fingen
plötzlich an, in verschiedenen Zungen zu sprechen, was sie
aus den Tiefen des geistigen Lebens
heraus zu sagen hatten, und was man ihnen nicht
zumutete. Ja, dazumal fingen das
Christentum, die christlichen Impulse an, sich
so auszubreiten, daß sie
unabhängig wurden von dem Verständnis
der Menschen, in deren Gemütern sie
sich ausbreiteten.
Von dem Pfingstereignis aus ergießt
sich dann der Strom der Christus-Kraft über die Erde hin, der
charakterisiert worden ist. Was ist
denn das Pfingstereignis gewesen? Diese Frage trat an die
Geisteswissenschaft heran, und mit der Antwort auf diese Frage,
mit der geisteswissenschaftlichen
Antwort auf die Frage: Was war das Pfingstereignis? —
beginnt das Fünfte Evangelium, und damit wollen wir
morgen unsere Betrachtungen
fortsetzen.
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