Kristiania (Oslo), 3. Oktober 1913
Dritter Vortrag
Wenn ich gestern davon gesprochen habe,
daß diejenigen Persönlichkeiten, die man
gewöhnlich die Apostel des Christus Jesus nennt,
eine gewisse Auferweckung erlebt haben in
dem Augenblick, der im sogenannten
Pfingstfest seinen Ausgangspunkt hat, so ist damit durchaus
nicht etwa behauptet, daß dasjenige, wovon ich zu sprechen
habe als von dem Inhalt des
sogenannten Fünften Evangeliums, gleich
dazumal so, wie ich es jetzt erzähle,
im Bewußtsein, im vollen Bewußtsein dieser Apostel
gewesen sei. Allerdings, wenn sich das hellsichtige
Bewußtsein in die Seelen dieser
Apostel vertieft, dann erkennt es jene Bilder in diesen Seelen. Aber in den Aposteln selber
lebte das dazumal schon weniger als
Bild, sondern es lebte, nun, wenn ich sagen darf
als Leben, als unmittelbares Erleben, als
Gefühl und Macht der Seele. Und
dasjenige, was die Apostel dann haben sprechen können,
wodurch sie sogar die Griechen in
der damaligen Zeit hingerissen haben, wodurch sie den
Anstoß gegeben haben zu dem, was wir die
christliche Entwickelung nennen,
dasjenige, was sie so als Macht der Seele, als
Macht des Gemütes in sich trugen, das
erblühte aus dem, was in ihrer Seele lebte als lebendige Kraft des Fünften
Evangeliums. Sie konnten so reden,
wie sie redeten, sie konnten so wirken, wie sie wirkten,
weil sie die Dinge, die wir jetzt
als Fünftes Evangelium entziffern, lebendig
in ihrer Seele trugen, auch wenn sie die
Dinge nicht so in Worten erzählten, wie man jetzt dieses
Fünfte Evangelium erzählen muß. Denn sie
hatten ja empfangen, wie durch eine
Auferweckung, die Befruchtung durch
die allwaltende kosmische Liebe, und unter dem Eindruck
dieser Befruchtung wirkten sie nun
weiter. Was in ihnen wirkte, war dasjenige, wozu der Christus geworden ist nach dem Mysterium von
Golgatha. Und hier stehen wir an
einem Punkte, wo wir im Sinne des Fünften
Evangeliums über das Erdenleben des
Christus sprechen müssen. Es
ist für heutige Begriffe, für Begriffe der Gegenwart,
nicht ganz leicht, das in Worte zu
fassen, um was es sich dabei handelt. Aber wir
können uns mit mancherlei Begriffen
und Ideen, die wir schon gewonnen haben durch unsere
geisteswissenschaftlichen Betrachtungen, diesem größten Erdengeheimnisse nähern.
Wenn man das Christus-Wesen verstehen will, dann
muß man manche Begriffe, die wir schon haben durch unsere geisteswissenschaftlichen
Auseinandersetzungen, in etwas veränderter Form auf die
Christus-Wesenheit anwenden.
Gehen wir einmal, um zu einiger Klarheit zu
kommen, aus von demjenigen, was man
gewöhnlich nennt die Johannestaufe im Jordan.
Sie stellt sich im Fünften Evangelium
dar in bezug auf das Erdenleben des Christus wie etwas, was
gleich ist wie eine Empfängnis bei einem Erdenmenschen. Das Leben des Christus von da ab
bis zu dem Mysterium von Golgatha
verstehen wir, wenn wir es vergleichen mit demjenigen Leben, das der Menschenkeim im Leibe der
Mutter durchmacht. Es ist also gewissermaßen ein
Keimesleben der Christus-Wesenheit, das diese
Wesenheit durchmacht von der Johannestaufe bis zum Mysterium von Golgatha. Das Mysterium von
Golgatha selber müssen wir
verstehen als die irdische Geburt, also den Tod
des Jesus als die irdische Geburt des
Christus. Und sein eigentliches Erdenleben müssen wir suchen nach dem Mysterium
von Golgatha, da der Christus seinen
Umgang gehabt hat, wie ich gestern angedeutet
habe, mit den Aposteln, als diese Apostel
in einer Art von anderem Bewußtseinszustand waren. Das war dasjenige, was
der eigentlichen Geburt der
Christus-Wesenheit folgte. Und was beschrieben wird als
die Himmelfahrt und die darauf folgende
Ausgießung des Geistes, das müssen wir bei der Christus-Wesenheit auffassen
als dasjenige, was wir beim
menschlichen Tode als das Eingehen in die geistigen Welten
anzusehen gewohnt sind. Und das Weiterleben des Christus
in der Erdensphäre seit der
Himmelfahrt oder seit dem Pfingstereignis müssen wir vergleichen mit dem, was die
Menschenseele durchlebt, wenn sie im
sogenannten Devachan, im Geisterlande ist.
Wir sehen also, meine lieben Freunde,
daß wir in der Christus-Wesenheit eine solche
Wesenheit vor uns haben, gegenüber welcher
wir alle Begriffe, die wir sonst uns
angeeignet haben über die Aufeinanderfolge der
Zustände des menschlichen
Lebens, vollständig verändern müssen. Der Mensch geht nach der
kurzen Zwischenzeit, die man
gewöhnlich nennt Läuterungszeit, Kamalokazeit, in die
geistige Welt über, um sich
vorzubereiten zum nächsten Erdenleben. Der
Mensch durchlebt also nach seinem Tode ein
geistiges Leben. Vom Pfingstereignisse an erlebte die Christus-Wesenheit
dasjenige, was für sie dasselbe
bedeutete, wie für den Menschen der Übergang ins
Geisterland: das Aufgehen in die Erdensphäre. Und anstatt
in ein Devachan, anstatt in ein geistiges Gebiet zu kommen, wie
der Mensch nach dem Tode, brachte
die Christus-Wesenheit das Opfer, ihren Himmel gleichsam auf der Erde aufzuschlagen, auf der
Erde zu suchen. Der Mensch
verläßt die Erde, um, wenn wir mit den
gebräuchlichen Ausdrücken
sprechen, seinen Wohnplatz mit dem Himmel zu vertauschen. Der
Christus verließ den Himmel, um diesen seinen Wohnplatz
mit der Erde zu vertauschen. Das bitte ich Sie im rechten
Lichte sich anzuschauen und daran zu
knüpfen dann die Empfindung, das Gefühl, was geschehen ist durch das Mysterium von
Golgatha, was geschehen ist durch
die Christus-Wesenheit, worin das eigentliche
Opfer der Christus-Wesenheit bestanden hat,
nämlich im Verlassen der geistigen Sphären, um mit der Erde und mit den
Menschen auf der Erde zu leben, und
die Menschen, die Evolution auf der Erde durch
den ihr so gegebenen Impuls
weiterzuführen. Das besagt schon, daß
vor der Johannestaufe im Jordan diese
Wesenheit nicht der Erdensphäre angehörte. Sie ist
also hereingewandert aus den überirdischen
Sphären in die Erdensphäre. Und
dasjenige, was erlebt wurde zwischen der Johannestaufe und dem Pfingstereignis, das
mußte erlebt werden, um
umzuwandeln die himmlische Wesenheit des Christus in die
irdische Wesenheit des Christus.
Es ist unendlich viel gesagt, wenn dieses
Geheimnis hier ausgesprochen wird mit den Worten: Seit dem
Pfingstereignis ist die Christus-Wesenheit bei den menschlichen Seelen auf der
Erde; vorher war sie nicht bei den
menschlichen Seelen auf der Erde. Das, was die Christus-Wesenheit durchgemacht hat zwischen der
Johannestaufe und dem
Pfingstereignis, ist geschehen, damit der Wohnsitz eines
Gottes in der geistigen Welt vertauscht
werden konnte mit dem Wohnsitz in der irdischen Sphäre.
Das ist geschehen, damit diese
göttlichgeistige
Christus-Wesenheit die Gestalt annehmen konnte, welche
notwendig war für sie, um mit den menschlichen Seelen
fortan Gemeinschaft zu haben. Warum sind also die Ereignisse
von Palästina vollzogen worden? Damit die
göttlich-geistige Wesenheit des Christus die
Gestalt annehmen konnte, die sie brauchte,
um mit den menschlichen Seelen auf
der Erde Gemeinschaft zu haben.
Es ist damit zugleich darauf hingewiesen,
daß dieses Ereignis von Palästina ein einzigartiges ist, worauf ich ja
schon öfter aufmerksam gemacht
habe: es ist das Herabsteigen einer höheren, nicht
irdischen Wesenheit in die
Erdensphäre und das Zusammenbleiben dieser nicht
irdischen Wesenheit mit der
Erdensphäre, bis unter ihrem Einfluß die
Erdensphäre die entsprechende
Umgestaltung erfahren haben wird. Seit jener Zeit ist also die Christus-Wesenheit auf der
Erde wirksam.
Wollen wir nun das Pfingstereignis im Sinne
des Fünften Evangeliums vollständig verstehen, so
müssen wir die Begriffe zu Hilfe nehmen, die wir in der
Geisteswissenschaft ausgearbeitet haben. Aufmerksam gemacht
worden ist darauf, daß es in den alten Zeiten
Mysterieneinweihungen gegeben hat, daß die Menschenseele
durch diese Einweihung heraufgehoben worden ist zur Teilnahme
am spirituellen Leben. Am
anschaulichsten wird dieses vorchristliche Mysterienwesen, wenn
man ins Auge faßt die sogenannten persischen oder
Mithrasmysterien. Da gab es sieben Stufen
der Einweihung. Da wurde derjenige,
der heraufgeführt werden sollte in die höheren Grade
des geistigen Erlebens, zuerst zu
dem geführt, was man symbolisch einen «Raben» nannte. Dann wurde er ein
«Okkulter», ein «Verborgener».
Im dritten Grade wurde er ein
«Streiter», im vierten ein «Löwe»,
im fünften übertrug man
ihm den Namen desjenigen Volkes, dem er angehörte. Im sechsten Grade wurde er ein
«Sonnenheld», im siebenten Grade ein
«Vater». Für die vier ersten Grade genügt
es heute, wenn wir sagen, daß
der Mensch allmählich immer tiefer und tiefer
in das geistige Erleben hineingeführt
wurde. Im fünften Grade erlangte der Mensch die
Fähigkeit, ein erweitertes Bewußtsein zu
haben, so daß dieses erweiterte
Bewußtsein ihm die Fähigkeit gab, ein geistiger
Behüter des ganzen Volkes zu werden, dem er
angehörte. Deshalb übertrug man ihm auch den Namen
des betreffenden Volkes.
Wenn jemand in diesen alten Mysterien in
den fünften Grad eingeweiht war, dann hatte er eine
bestimmte Art der Teilnahme an dem
geistigen Leben.
Wir wissen gerade aus einem Vortragszyklus,
den ich hier gehalten habe, daß
die Erdenvölker geführt werden von dem, was wir in
den Hierarchien der geistigen
Wesenheiten die Archangeloi oder Erzengel nennen. In diese Sphäre wurde hinaufgehoben der in
den fünften Grad Eingeweihte,
so daß er teilnahm an dem Leben der Erzengel. Man
brauchte solche Eingeweihte in den
fünften Grad, man brauchte sie im Kosmos. Daher gab es auf Erden eine Einweihung in
diesen fünften Grad. Wenn solch
eine Persönlichkeit in die Mysterien eingeweiht wurde und
alle die inneren Seelenerlebnisse durchmachte,
den Seeleninhalt bekam, der dem
fünften Grade entsprach, dann blickte gleichsam der Erzengel des betreffenden Volkes,
dem diese Persönlichkeit
angehörte, hinab auf diese Seele und las in dieser
Seele, wie wir in einem Buche lesen,
das uns gewisse Dinge mitteilt, die wir wissen müssen, damit wir diese oder jene Tat
vollbringen können. Was einem
Volke notwendig war, was ein Volk brauchte, das lasen
die Archangeloi in den Seelen derjenigen,
die in den fünften Grad eingeweiht worden waren. Man muß, damit die
Archangeloi in der richtigen Weise
führen können, auf der Erde Eingeweihte des
fünften Grades schaffen. Diese
Eingeweihten sind die Vermittler zwischen den
eigentlichen Volksführern, den
Archangeloi, und dem Volke selber. Sie tragen gleichsam hinauf in die Sphäre der
Archangeloi dasjenige, was dort
gebraucht wird, damit das Volk in der richtigen Weise
geführt werden kann.
Wie konnte nun dieser fünfte Grad
erlangt werden in alten vorchristlichen Zeiten? Nicht konnte er
erlangt werden, wenn die Seele des
Menschen im Leibe blieb. Die Seele des Menschen mußte aus
dem Leibe herausgehoben werden. Die
Einweihung bestand gerade darin, daß die Seele des Menschen aus dem Leibe
herausgeholt worden ist. Und
außerhalb des Leibes machte dann die Seele durch, was ihr
den Inhalt gab, den ich soeben
beschrieben habe. Die Seele mußte verlassen die Erde,
mußte in die geistige Welt hinaufsteigen, um dasjenige zu
erreichen, was sie erreichen sollte.
Wenn nun der sechste Grad der alten
Einweihung erreicht wurde, der Grad
des Sonnenhelden, dann wurde in der Seele eines solchen
Sonnenhelden dasjenige rege, was nicht nur
zur Führung, zur Leitung und
Lenkung eines Volkes notwendig ist, sondern was höher ist
als die bloße Lenkung und
Leitung eines Volkes. Wenn Sie den Blick hinwenden auf die Entwickelung der ganzen Menschheit
auf der Erde, so sehen Sie, wie
Völker entstehen und wieder hinschwinden, wie
Völker sich gleichsam verwandeln. Wie
die einzelnen Menschen, so werden
Völker geboren und sterben. Dasjenige aber, was ein Volk
für die Erde geleistet hat,
muß fortbewahrt werden für die ganze
Entwickelung der Menschheit auf Erden. Es
muß nicht nur ein Volk geleitet
und gelenkt werden, sondern es muß dasjenige, was
dieses Volk als irdische Arbeit
leistet, weitergeführt werden über das Volk
hinaus. Damit eine Volksleistung
herausgeführt werden kann über das
Volk hinaus von den Geistern, die
höherstehen als die Erzengel, von den Zeitgeistern, waren notwendig die Eingeweihten des
sechsten Grades, die Sonnenhelden.
Denn in dem, was in der Seele eines Sonnenhelden lebte, konnten
die Wesen der höheren Welten dasjenige lesen, was die Arbeit eines Volkes hinübertrug in
die Arbeit des ganzen Menschengeschlechtes. So konnte man die
Kräfte gewinnen, die in der
richtigen Weise die Arbeit eines Volkes herübertragen in
die Arbeit der ganzen Menschheit.
Über die ganze Erde wurde hingetragen dasjenige, was in
dem Sonnenhelden lebte. Und so wie derjenige,
der in den fünften Grad in den alten
Mysterien eingeweiht werden sollte,
aus seinem Leibe herausgehen mußte, um das
Notwendige durchzumachen, so
mußte derjenige, der ein Sonnenheld werden
sollte, herausgehen aus seinem Leibe und
zum Wohnplatz während der Zeit
seines Herausgegangenseins wirklich die Sonne haben.
Das sind allerdings Dinge, die für das
heutige Zeitbewußtsein fast fabelhaft klingen, ja, vielleicht als eine Torheit
gelten. Aber dafür gilt auch
das Paulinische Wort, daß was Weisheit vor den
Göttern, oftmals Torheit ist
für die Menschen. Der Sonnenheld lebte also
für diese Zeit seiner
Einweihung mit dem ganzen Sonnensystem zusammen. Die Sonne ist
sein Wohnplatz, wie der gewöhnliche Mensch
auf der Erde als auf seinem Planeten lebt.
Wie um uns Berge und Flüsse
sind, sind für den Sonnenhelden während seiner
Einweihung um ihn die Planeten des
Sonnensystems. Entrückt auf die Sonne mußte der Sonnenheld während der Einweihung
sein. Das konnte man in den alten
Mysterien nur außerhalb des Leibes erreichen. Und
wenn man zurückkehrte in seinen Leib,
erinnerte man sich daran, was man
außerhalb seines Leibes erlebt hatte und konnte es
verwenden als Wirkenskräfte
für die Evolution der ganzen Menschheit, für das Heil
der ganzen Menschheit. Die
Sonnenhelden verließen also während der Einweihung
ihren Leib; hatten sie sich mit diesen Kräften
erfüllt, dann traten sie wiederum in ihren Leib
zurück. Wenn sie zurückgekehrt waren,
dann hatten sie die Kräfte in ihrer
Seele, welche die Arbeit eines Volkes herausführen konnten
in die ganze Entwickelung der Menschheit. Und was erlebten diese Sonnenhelden während der
dreieinhalb Tage ihrer Einweihung?
Während sie — wir können es schon so nennen
— wandelten nicht auf der
Erde, sondern auf der Sonne, was erlebten sie? Die Gemeinsamkeit mit dem Christus, der vor dem
Mysterium von Golgatha noch nicht
auf der Erde war! Alle alten Sonnenhelden waren so in die Sonnensphäre hinaufgegangen, denn
nur da konnte man in den alten
Zeiten die Gemeinsamkeit mit dem Christus erleben.
Aus dieser Welt, in die hinaufsteigen
mußten während ihrer Einweihung die alten
Eingeweihten, ist der Christus herabgestiegen auf
die Erde. Wir können also sagen:
Dasjenige, was durch die ganze Prozedur der Einweihung in alten Zeiten für
einzelne Wenige hat erreicht werden können, das wurde
erreicht wie durch ein naturgemäßes Ereignis in den
Pfingsttagen von denjenigen, welche die Apostel des Christus waren. Während früher
die Menschenseelen hatten
hinaufsteigen müssen zu dem Christus, war jetzt der
Christus zu den Aposteln
herabgestiegen. Und die Apostel waren in gewisser
Weise solche Seelen geworden, die in sich
trugen jenen Inhalt, den die alten
Sonnenhelden in ihren Seelen gehabt haben. Die geistige
Kraft der Sonne hatte sich ausgegossen
über die Seelen dieser Menschen und wirkte fortan weiter
in der Menschheitsevolution. Damit dies geschehen konnte, damit das Wirken einer ganz
neuen Kraft auf die Erde kommen
konnte, mußte das Ereignis von Palästina,
mußte das Mysterium von
Golgatha sich vollziehen.
Aus was heraus aber ist das Erdensein des
Christus erwachsen? Es ist erwachsen
aus dem tiefsten Leiden, aus einem Leiden, das hinausgeht
über alle menschliche Vorstellungsfähigkeit vom
Leiden. Um an dieser Stelle richtige
Begriffe über die Sache zu bekommen, sind
auch wieder einige Widerstände des
gegenwärtigen Bewußtseins hinwegzuräumen. Ich
muß nun einmal manche Einschaltung machen in
die Erklärung des Fünften
Evangeliums.
Vor kurzem ist ein Buch erschienen, das ich
recht sehr zur Lektüre empfehlen möchte, weil es von
einem sehr geistreichen Manne herrührt und beweisen kann, welchen Unsinn
geistreiche Menschen in bezug auf
geistige Dinge aussprechen können. Ich meine das
Buch Maurice
Maeterlincks «Vom
Tode». Unter mancherlei unsinnigen Dingen, die darin
stehen, ist auch die Behauptung, daß wenn der
Mensch einmal gestorben sei, er
nicht mehr leiden könne, da er ja dann ein
Geist sei, keinen physischen Leib mehr
habe. Ein Geist aber könne nicht leiden. Der Leib sei es allein, der leide.
— Maeterlinck, der geistvolle
Mann, gibt sich also der Illusion hin, daß nur das
Physische leiden könne und ein Toter deswegen nicht leiden
könne. Er merkt gar nicht den
phänomenalen, fast unglaublichen Unsinn, der
darin liegt, zu behaupten, daß der
physische Leib, der aus physischen Kräften und chemischen Stoffen besteht, allein
leidet. Als ob Leiden an physische
Stoffe und Kräfte gebunden sei! Stoffe und
Kräfte leiden überhaupt
nicht. Wenn diese leiden könnten, dann müßte
auch ein Stein leiden können.
Der physische Leib kann nicht leiden; was leidet, das ist doch eben der Geist, das Seelische. Es
ist heute so weit gekommen, daß
die Menschen über die einfachsten Dinge das
Gegenteil von dem denken, was Sinn hat. Es
gäbe kein Kamalokaleiden, wenn das geistige Leben nicht
leiden könnte. Weil es entbehrt, wirklich entbehrt den physischen Leib, gerade darin
besteht das Kamalokaleiden. Wer nun der Meinung ist, daß
ein Geist nicht leiden könne,
der wird auch nicht die richtige Vorstellung bekommen
können von dem unendlichen Leiden, das der Christus-Geist
durchmachte während der Jahre in
Palästina.
Bevor ich aber von diesem Leiden spreche,
muß ich Sie noch auf etwas
anderes aufmerksam machen. Ins Auge fassen müssen wir,
daß mit der Johannestaufe im
Jordan ein Geist auf die Erde herabgekommen ist, fortan drei
Jahre in einem irdischen Leib gelebt und in diesem dann den Tod auf Golgatha durchgemacht hat,
ein Geist, der vor der Johannestaufe
im Jordan in ganz anderen als irdischen Verhältnissen gelebt hat. Und was heißt das,
dieser Geist habe in ganz anderen
als irdischen Verhältnissen gelebt? Das heißt,
anthroposophisch gesprochen, dieser Geist habe auch kein
irdisches Karma gehabt. Was das
bedeutet, bitte ich ins Auge zu fassen. Ein Geist lebte
drei Jahre im Leibe des Jesus von Nazareth,
der diese Laufbahn auf der Erde
durchgemacht hat, ohne ein irdisches Karma in seiner
Seele zu haben. Damit gewinnen alle
irdischen Erfahrungen und Erlebnisse, die der Christus durchgemacht hat, eine ganz andere
Bedeutung als die Erfahrungen, die
etwa eine Menschenseele durchmacht. Leiden wir, haben wir diese oder jene Erfahrung, so wissen
wir, daß Leiden im Karma
begründet sind. Für den Christus-Geist aber war es
nicht so. Er hatte eine
dreijährige Erdenerfahrung durchzumachen, ohne
daß ein Karma auf ihm lastete.
Was war also das für ihn? Leiden ohne karmischen Sinn, wirklich unverdientes Leiden, ein
unschuldiges Leiden! Das Fünfte
Evangelium ist das anthroposophische Evangelium und zeigt uns,
daß das dreijährige Christus-Leben das einzige
Leben in einem menschlichen Leibe ist, das
ohne Karma gelebt wurde, auf welches
der Begriff von Karma im menschlichen Sinne nicht anwendbar
ist.
Aber die weitere Betrachtung dieses
Evangeliums lehrt uns noch etwas
anders dieses dreijährige Leben erkennen. Dieses ganze
dreijährige Leben auf der Erde, das wir betrachtet haben
wie ein Embryonalleben, das erzeugte auch kein Karma, das lud
auch keine Schuld auf sich. Es wurde
also auf der Erde ein dreijähriges Leben gelebt,
das nicht durch Karma bedingt war und auch
kein Karma erzeugte. Man muß
alle diese Begriffe und Ideen, die man damit empfängt,
nur im ganz tiefen Sinne aufnehmen
und man wird mancherlei gewinnen für ein richtiges Verständnis dieses
außerordentlichen Ereignisses von Palästina, das sonst wirklich in mancher Hinsicht
unerklärlich bleibt. Vieles
muß man zusammentragen zu seinem Verständnis. Denn
was alles hat es hervorgerufen an
sich widersprechenden Erklärungen, in welcher Weise ist es mißverstanden worden! Und
dennoch, wie hat es Impuls auf
Impuls bewirkt in der Menschheitsentwickelung!
Man nimmt diese Dinge nur nicht immer in
der richtigen tiefen Bedeutung. Man
wird einmal über diese Dinge ganz anders reden,
wenn man das in seiner ungeheuren Tiefe
einsehen wird, was wir hier
angedeutet haben, indem wir davon sprachen, daß wir
hier ein dreijähriges
Erdenleben vor uns haben, das ohne Karma gelebt
wurde.
Wie gedankenlos geht vielfach der Mensch an
Dingen vorbei, die eigentlich tief
bedeutsam sind. Vielleicht hat mancher von Ihnen doch
auch etwas gehört von dem im Jahre
1863 erschienenen Buche «Leben
Jesu» von Ernest
Renan. Man liest dieses Buch,
ohne auf das Signifikante dieses
Buches recht Rücksicht zu nehmen. Vielleicht
werden sich später die Menschen
wundern, daß unzählige Menschen bis heute dieses Buch gelesen haben, ohne zu empfinden,
was eigentlich das Sonderbare, Merkwürdige an diesem Buche
ist. Das Merkwürdige an diesem Buche ist, daß es ein
Zwischending, ein Gemisch ist einer
erhabenen Darstellung und eines Hintertreppenromans.
Daß diese zwei Dinge
zusammengemischt werden können, eine schöne
Darstellung und eine richtige Hintertreppengeschichte, das wird
man später einmal als höchste Absonderlichkeit
ansehen. Lesen Sie mit diesem Bewußtsein einmal dieses
«Leben Jesu» von Ernest Renan, lesen
Sie, was er aus dem Christus macht, der
für ihn natürlich hauptsächlich der
Christus Jesus
ist. Er macht einen Helden daraus,
der erst ganz gute Absichten hat,
ein großer Wohltäter der Menschheit
ist, der aber dann gleichsam von der
Volksbegeisterung mitgerissen wird
und nachgibt immer mehr und mehr dem, was das Volk will
und wünscht, was es so gerne hört
und so gerne gesagt bekommt.
Im großen Stile wendet Ernest Renan
dasjenige auf den Christus an, was
man im kleineren Stile oftmals auf uns angewendet
findet. Denn es kommt schon vor,
daß Leute, wenn sie irgend etwas sich ausbreiten sehen, wie zum Beispiel die Theosophie, dann
an dem Lehrer die folgende Kritik
üben: Anfangs hatte er ganz gute Absichten, dann kamen die
bösen Anhänger, die ihm schmeichelten und ihn
verdarben. Da verfiel er in den Fehler, das
zu sagen, was die Zuhörer gerne
hören möchten. — So behandelt Renan das
Christus-Leben. Er entblödet
sich nicht, die Auferweckung des Lazarus wie eine Art
Betrug darzustellen, den Christus Jesus hat
geschehen lassen, damit ein gutes
Agitationsmittel da sei! Er entblödet sich nicht,
Christus Jesus in eine Arte Rage,
eine Leidenschaft hineinzuführen und immer
mehr und mehr dem Volksinstinkt verfallen
zu lassen! Dadurch ist ein
Hintertreppenromanhaftes hineingemischt in die erhabenen
Darstellungen, die auch in diesem Buche enthalten sind. Und das
Eigentümliche ist, daß eigentlich ein etwas gesundes
Empfinden — ja, ich will nur
wenig sagen — zurückgeschreckt werden
müßte, wenn es geschildert
bekommt eine Wesenheit, die anfangs die besten Absichten
hat, schließlich aber den
Volksinstinkten verfällt und allerlei Schwindeleien
geschehen läßt. Renan aber fühlt sich gar nicht
abgeschreckt davon, sondern hat
schöne Worte, hinreißende Worte für diese
Persönlichkeit. Kurios, nicht wahr! Aber es ist ein
Beispiel dafür, wie groß
die Hinneigung der menschlichen Seelen zu dem Christus
ist, ganz unabhängig davon, ob
sie Verständnis hat für den Christus oder
nicht, wenn sie auch nichts von dem
Christus verstehen. Es kann so weit
gehen, daß ein solcher Mensch das Leben Christi zu
einem Hintertreppenroman macht und
dennoch nicht bewundernde Worte genug findet, um die Menschen hinzulenken auf diese
Persönlichkeit. Solche Dinge
sind nur möglich gegenüber einer solchen
Wesenheit, die in die
Erdenentwickelung so eintritt wie die
Christus-Wesenheit. Oh, es wäre
viel Karma geschaffen worden in dem dreijährigen
Leben Christi auf der Erde, wenn Christus
so gelebt hätte, wie Renan es
schildert. Das aber wird man erkennen in künftigen
Tagen, daß eine solche
Schilderung einfach zerbrechen muß, weil man erkennen
wird, daß das Christus-Leben kein Karma mit sich brachte
und auch keines geschaffen hat. Das
ist die Verkündigung des Fünften Evangeliums.
Es war also das Ereignis am Jordan, das wir
als die Johannestaufe bezeichnen,
etwas das man vergleichen kann einer Empfängnis
beim Erdenmenschen. Das Fünfte
Evangelium sagt uns, daß die Worte, so wie sie im Lukas-Evangelium stehen, eine richtige
Wiedergabe sind dessen, was dazumal
hätte gehört werden
können, wenn ein entwikkeltes,
hellsichtiges Bewußtsein zugehört hätte dem
kosmischen Ausdruck dieses Geheimnisses, das sich da vollzog.
Die Worte, die vom Himmel
herabtönten, lauteten wirklich: «Dieser ist mein
vielgeliebter Sohn, heute habe ich
ihn gezeuget.» Das sind die Worte des
Lukas-Evangeliums, und das ist
auch die richtige Wiedergabe dessen, was damals geschehen ist: die Zeugung, die Empfängnis
des Christus in die Erdenwesenheit.
Das vollzog sich im Jordan.
Wollen wir vorläufig einmal davon
absehen, auf welche irdische Persönlichkeit sich herabgesenkt hat dieser Geist
des Christus in der Johannestaufe.
Wir wollen in den nächsten Tagen davon sprechen.
Halten wir uns heute zunächst nur
daran, daß ein Jesus von Nazareth gekommen war, der den Leib gegeben hat der
Christus-Wesenheit. Nun sagt uns das
Fünfte Evangelium — und das ist, was wir lesen
können durch den rückgewendeten hellsichtigen Blick
— , daß sich nicht völlig mit dem Leibe des Jesus von Nazareth
verbunden hatte, daß die
Christus-Wesenheit vom ersten Augenblick an ihres
irdischen Wandels zuerst nur eine
lose Verbindung hatte mit dem Leibe des Jesus von Nazareth. Die Verbindung war nicht so, wie
beim gewöhnlichen Menschen die Verbindung des Leiblichen
und der Seele ist, so daß diese
vollständig im Leibe wohnt, sondern so, daß
jederzeit, zum Beispiel wenn es
nötig war, die Christus-Wesenheit den Leib des
Jesus von Nazareth wiederum
verlassen konnte. Und während der Leib des
Jesus von Nazareth irgendwo war wie
schlafend, machte die Christus-Wesenheit geistig den Weg
da- oder dorthin, wo es eben gerade nötig
war.
Das Fünfte Evangelium zeigt uns,
daß nicht immer, wenn die Christus-Wesenheit den Aposteln erschienen war, auch
der Leib des Jesus von Nazareth
dabei war, sondern daß oftmals die Sache so sich
vollzogen hat, daß der Leib des Jesus
von Nazareth irgendwo geblieben war und nur der Geist, eben der
Christus-Geist, den Aposteln erschienen war. Aber er war dann
so erschienen, daß sie die geistige Erscheinung verwechseln konnten mit dem Leibe
des Jesus von Nazareth. Sie merkten
wohl einen Unterschied, aber der Unterschied war zu gering, als
daß sie ihn immer deutlich bemerkt hätten.
In den vier Evangelien tritt das nicht so
sehr hervor; das Fünfte Evangelium sagt es uns klar. Die Apostel konnten nicht
immer deutlich unterscheiden: Jetzt haben wir den Christus im
Leibe des Jesus von Nazareth vor
uns, oder jetzt haben wir den Christus als geistige
Wesenheit allein. Der Unterschied war nicht
immer klar, sie wußten nicht
immer, ob das eine oder das andere der Fall war. Sie
hielten diese Erscheinung —
sie dachten eben nicht viel darüber nach — zumeist
für den Christus Jesus, das heißt für den
Christus-Geist, insofern sie ihn als solchen erkannten in dem
Leibe des Jesus von Nazareth. Aber was sich nach und nach
vollzog im dreijährigen Erdenleben, das war, daß
gewissermaßen in den drei Jahren der Geist sich
an den Leib des Jesus von Nazareth immer
enger und enger band, daß die
Christus-Wesenheit immer ähnlicher und ähnlicher
wurde als ätherische Wesenheit
dem physischen Leibe des Jesus von Nazareth.
Bemerken Sie, wie hier wieder anderes
eintrat in bezug auf die Christus-Wesenheit als beim Leibe des gewöhnlichen
Menschen. Wenn wir dieses verstehen
wollen, sagen wir richtig: Der gewöhnliche
Mensch ist ein Mikrokosmos gegenüber
dem Makrokosmos, ein kleines Abbild
des ganzen Makrokosmos, denn dasjenige, was sich
im physischen Leibe des Menschen
ausdrückt, was der Mensch auf Erden wird, das spiegelt den großen Kosmos ab. Das
Umgekehrte ist bei der
Christus-Wesenheit der Fall. Die makrokosmische Sonnenwesenheit
formt sich nach der Gestalt des menschlichen Mikrokosmos,
drängt sich und engt sich, preßt sich immer mehr und
mehr zusammen, so daß sie immer
ähnlicher wird dem menschlichen Mikrokosmos. Gerade das Umgekehrte als beim
gewöhnlichen Menschen ist da der Fall.
Im Anfang des Erdenlebens des Christus,
gleich nach der Taufe im Jordan, war
die Verbindung mit dem Leibe des Jesus von Nazareth
noch die am meisten lose. Noch ganz
außer dem Leibe des Jesus von Nazareth war die Christus-Wesenheit. Da war dasjenige,
was beim Herumwandeln auf Erden die
Christus-Wesenheit wirkte, noch etwas ganz Überirdisches. Sie vollzog Heilungen, die mit
keiner Menschenkraft zu vollziehen sind. Sie sprach mit einer
Eindringlichkeit zu den Menschen,
die eine göttliche Eindringlichkeit war. Die
Christus-Wesenheit, wie nur sich selber fesselnd an den Leib des
Jesus von Nazareth, wirkte als
überirdische Christus-Wesenheit. Aber immer
mehr und mehr machte sie sich ähnlich
dem Leibe des Jesus von Nazareth,
preßte sich, zog sich immer mehr und mehr zusammen
in irdische Verhältnisse hinein
und machte das mit, daß immer mehr die göttliche Kraft hinschwand. Das alles machte die
Christus-Wesenheit durch, indem sie
sich dem Leibe des Jesus von Nazareth anähnlichte,
eine Entwickelung, die in gewisser
Beziehung eine absteigende Entwickelung war. Die
Christus-Wesenheit mußte fühlen, wie Macht und
Kraft des Gottes immer mehr und mehr
entwich im Ähnlichwerden dem
Leibe des Jesus von Nazareth. Aus dem Gotte wurde nach
und nach ein Mensch.
Wie jemand, der unter unendlichen Qualen
immer mehr und mehr seinen Leib
dahinschwinden sieht, so sah schwinden ihren
göttlichen Inhalt die
Christus-Wesenheit, indem sie immer ähnlicher wurde
als ätherische Wesenheit dem
irdischen Leibe des Jesus von Nazareth, bis sie diesem so ähnlich geworden war, daß
sie Angst fühlen konnte wie ein
Mensch. Das ist dasjenige, was auch die anderen
Evangelien schildern beim
Herausgehen des Christus Jesus mit seinen Jüngern
auf den Ölberg, wo die
Christus-Wesenheit in dem Leibe des Jesus von Nazareth den Angstschweiß auf der Stirn hatte.
Das war die Vermenschlichung, das
immer Menschlicher-und-menschlicher-Werden des Christus, die
Anähnlichung an den Leib des Jesus von Nazareth. In demselben Maße, in dem diese
ätherische Christus-Wesenheit immer
ähnlicher wurde dem Leibe des Jesus von Nazareth, in
demselben Maße wurde der Christus Mensch. Es
schwanden ihm die geistigen
Wunderkräfte des Gottes dahin. Und da sehen wir
den ganzen Passionsweg des Christus-Wesens,
der begann von jenem Zeitpunkte an,
wie er bald nach der Johannestaufe im Jordan kam,
wo er die Kranken heilte und die
Dämonen austrieb durch seine göttlichen Kräfte, wo die staunenden
Menschen, die das gesehen hatten,
was der Christus vermochte, sagten: Das habe noch nie
ein Wesen auf Erden vollbracht.
— Das war die Zeit, in der die
Christus-Wesenheit noch wenig ähnlich war dem Leibe des
Jesus von Nazareth. Von diesem staunenden Aufsehen der
ringsherum befindlichen Bewunderer
vollzieht sich in drei Jahren der Weg bis dahin, wo die
Christus-Wesenheit so ähnlich geworden
ist dem Leibe des Jesus von Nazareth, daß sie in diesem siechen Leibe des
Jesus von Nazareth, dem sie sich
angeähnelt hatte, nicht mehr antworten konnte auf
die Fragen des Pilatus, des Herodes
und des Kaiphas. So ähnlich war sie geworden dem Leibe des Jesus von Nazareth, dem
immer schwächer und schwächer werdenden, immer
siecher und siecher werdenden Leibe,
daß auf die Frage: Hast du gesagt, daß du den Tempel
abbrechen und in drei Tagen wieder aufbauen werdest? —
aus dem morschen Leibe des Jesus von
Nazareth die Christus-Wesenheit nicht mehr sprach und stumm blieb vor dem Hohenpriester der
Juden, daß sie stumm blieb vor
Pilatus, der fragte: Hast du gesagt, du wärest
der König der Juden? — Das war
der Passionsweg von der Taufe im
Jordan bis zur Machtlosigkeit. Und bald darauf stand die
staunende Menge, die vorher die überirdischen
Wunderkräfte der Christus-Wesenheit angestaunt hatte,
nicht mehr bewundernd um ihn, sondern stand vor dem Kreuze,
spottend über die Ohnmacht des Gottes, der Mensch geworden war, mit den Worten: Bist du ein
Gott, so steige herab. Du hast
anderen geholfen, jetzt hilf dir selber! — Von
der göttlichen Machtfülle bis zur
Machtlosigkeit, das war der Passionsweg des Gottes. Ein Weg
unendlichen Leidens für den Mensch gewordenen Gott, zu dem hinzukam jenes Leid über
die Menschheit, die sich so weit gebracht hatte, wie sie eben
war zur Zeit des Mysteriums von
Golgatha. Und das war zu der Zeit der hohen intellektuellen
Entwickelung der Menschheit, wie es gestern angedeutet
wurde.
Dieses Schmerz-Erleiden aber gebar jenen
Geist, der beim Pfingstfeste ausgegossen worden ist auf die
Apostel. Aus diesen Schmerzen herausgeboren ist die allwaltende kosmische Liebe, die
herabgestiegen ist bei der Taufe im
Jordan aus den außerirdischen, himmlischen
Sphären in die irdische Sphäre
hinein, die ähnlich geworden ist dem Menschen, ähnlich einem menschlichen Leibe, und
die durchmachte das unendliche
Leiden, das sich kein Menschendenken ausdenken
kann, die durchmachte den Augenblick der
höchsten, göttlichen Ohnmacht, um jenen Impuls zu
gebären, den wir dann als den Christus-Impuls in der
weiteren Evolution der Menschheit kennen.
Das sind die Dinge, die wir ins Auge fassen
müssen, wenn wir den tiefen
Sinn verstehen wollen, die ganze Bedeutung des
Christus-Impulses, wie sie wird verstanden sein müssen in
die Zukunft der Menschheit hinein,
was die Menschenzukunft brauchen wird, um auf
ihrem Kultur-, auf ihrem Entwickelungspfade
weiterzukommen.
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