Kristiania (Oslo), 5. Oktober 1913
Vierter Vortrag
Eine Art Beruhigung, wenn ich
überhaupt darangehe, von demjenigen zu sprechen, wovon als zum Fünften Evangelium
gehörig heute gesprochen werden soll, gibt
gewissermaßen der Schluß des
Johannes-Evangeliums. Wir erinnern uns dieses Schlusses, wo da
steht, daß ja in den Evangelien
keineswegs aufgezeichnet sind alle Ereignisse, die
geschehen sind um den Christus Jesus herum.
Denn hätte man damals, so steht
es da, alles aufzeichnen wollen, so hätte die Welt nicht
genug Bücher aufweisen
können, um alles das zu fassen. So also wird das
eine nicht bezweifelt werden können:
daß außer dem, was aufgezeichnet worden ist in den
vier Evangelien, noch mancherlei anderes geschehen sein kann. Um mich verständlich zu
machen in bezug auf alles dasjenige,
was ich gerade in diesem Vortragszyklus aus dem
Fünften Evangelium geben will,
möchte ich heute beginnen mit Erzählungen aus dem Leben des Jesus von Nazareth,
und zwar ungefähr von jenem Zeitpunkte an, auf den wir ja
schon hingewiesen haben bei anderen
Anlässen, wo kleine Teile aus dem Fünften
Evangelium schon mitgeteilt worden
sind.
Ungefähr von dem zwölften Jahre
an des Jesus von Nazareth möchte ich heute einiges erzählen. Es war,
wie Sie wissen, dasjenige Jahr, in
dem das Ich des Zarathustra, das verkörpert war in
dem einen der beiden Jesusknaben,
die in der damaligen Zeit geboren sind und dessen Herkunft Matthäus beschreibt,
hinübergegangen ist durch einen
mystischen Akt in den anderen Jesusknaben, in jenen
Jesusknaben, der insbesondere im Anfang des
Lukas-Evangeliums geschildert wird.
So daß wir also beginnen mit unserer Erzählung
von demjenigen Jahre im Leben des Jesus von
Nazareth, in dem aufgenommen hatte
dieser Jesus des Lukas-Evangeliums das Ich des
Zarathustra. Wir wissen, daß
angedeutet wird im Evangelium dieser Augenblick im Leben des Jesus von Nazareth durch die
Erzählung, daß
verlorengegangen war auf einer Reise nach Jerusalem zum
Feste der Jesusknabe des
Lukas-Evangeliums und, als er wieder gefunden
wurde, es sich zeigte, daß er im
Tempel zu Jerusalem mitten unter den
Schriftgelehrten saß und bei diesen und den Eltern
Staunen hervorrief durch die
gewaltigen Antworten, die er gab. Wir wissen
jedoch, diese bedeutsamen, gewaltigen
Antworten kamen daher, daß das
Ich des Zarathustra wirklich jetzt bei diesem Knaben
auftauchte und aus der tiefen
Überfülle der Erinnerung seine Weisheit aus
dieser Seele heraus wirkte, so
daß der Jesus von Nazareth dazumal jene alle
überraschenden Antworten geben konnte.
Wir wissen auch, daß die beiden
Familien durch den Tod der nathanischen Mutter
einerseits und des salomonischen
Vaters anderseits zusammengekommen sind und fortan eine Familie gebildet haben, und daß
der mit dem Ich des Zarathustra
befruchtete Jesusknabe in der gemeinsam gewordenen
Familie heranwuchs.
Es war aber nun — so läßt
es sich erkennen aus dem Inhalt des Fünften Evangeliums — ein ganz sonderbares,
merkwürdiges Heranwachsen in den nächsten Jahren.
Zuerst hatte ja die nächste Umgebung des jungen Jesus von
Nazareth eine große, gewaltige Meinung bekommen von ihm, eben durch jenes Ereignis im Tempel,
durch jene gewaltigen Antworten, die
er den Schriftgelehrten gegeben hatte. Die nächste Umgebung sah sozusagen den kommenden
Schriftgelehrten selber in ihm, sie sah heranwachsen in ihm
denjenigen, der eine ganz hohe,
besondere Stufe der Schriftgelehrsamkeit erreichen
werde. Mit großen, ungeheueren
Hoffnungen trug sich die Umgebung des Jesus von Nazareth. Man fing sozusagen an, jedes
Wort von ihm aufzufangen. Dabei aber
wurde er, trotzdem man förmlich danach jagte, jedes Wort aufzufangen, nach und nach immer
schweigsamer und schweigsamer. Er
wurde so schweigsam, daß es seiner Umgebung
im höchsten Grade oftmals
unsympathisch war. Er aber kämpfte in seinem Inneren, kämpfte einen gewaltigen Kampf,
einen Kampf, der ungefähr in
dieser seiner Innerlichkeit hineinfiel zwischen das
zwölfte und achtzehnte Jahr
seines Lebens. Es war wirklich etwas in seiner
Seele wie ein Aufgehen innerlich liegender
Weisheitsschätze, etwas, wie
wenn aufgeleuchtet hätte in der Form der jüdischen
Gelehrsamkeit die Sonne des einstigen
Zarathustra-Weisheitslichtes.
Zunächst äußerte sich das
so, als ob dieser Knabe in der feinsten Weise alles, was die zahlreichen Schriftgelehrten, die
in das Haus kamen, sprachen, mit
größter Aufmerksamkeit aufnehmen sollte und
wie durch eine ganz besondere Geistesgabe
überall Antwort zu geben wüßte. So überraschte er auch noch
anfangs zu Hause in Nazareth diejenigen, die als Schriftgelehrte da erschienen und
ihn wie ein Wunderkind anstaunten.
Dann aber wurde er immer schweigsamer und schweigsamer und hörte nur noch schweigend dem
zu, was die anderen sprachen. Dabei
gingen ihm aber immer große Ideen, Sittensprüche,
namentlich bedeutsame, moralische Impulse in jenen
Jahren in der eigenen Seele auf.
Während er so schweigsam zuhörte, machte
doch einen gewissen Eindruck, was er von
den im Hause sich versammelnden Schriftgelehrten hörte,
aber einen Eindruck, der ihm oftmals in der Seele Bitterkeit
verursachte, weil er das Gefühl hatte —
wohlgemerkt schon in jenen jungen Jahren
— , daß vieles Unsichere, leicht zum Irrtum Neigende stecken müsse in dem,
was da jene Schriftgelehrten sprachen von den alten
Traditionen, von den alten Schriften, die in dem Alten Testamente vereinigt sind. Ganz
besonders aber bedrückte es in
einer gewissen Weise seine Seele, wenn er hörte,
daß in alten Zeiten der Geist
über die Propheten gekommen sei, daß Gott
selber inspirierend gesprochen hätte
zu den alten Propheten, und daß jetzt die Inspiration von dem nachgeborenen Geschlechte
gewichen sei. Besonders aber bei
einem horchte er immer tief auf, weil er fühlte,
daß dies, wovon die Rede war, bei ihm
selber kommen würde. Es sagten
jene Schriftgelehrten oftmals: Ja, jener hohe Geist, jener
gewaltige Geist, der zum Beispiel über den Elias gekommen
ist, der spricht nicht mehr; aber
wer doch noch immer spricht — was auch
noch mancher von den Schriftgelehrten zu
vernehmen glaubte als Inspiration
aus den geistigen Höhen — , was doch noch immer
spricht, das ist eine
schwächere Stimme zwar, aber eine Stimme, die
manche doch noch zu vernehmen
glauben als etwas, was der Geist Jahves selber gibt. — Die Bath-Kol nannte man jene
eigentümliche, inspirierende Stimme, zwar eine
schwächere Stimme der Eingebung, eine Stimme minderer Art als der Geist, der die alten
Propheten inspirierte, aber doch noch etwas Ähnliches
stellte diese Stimme dar. So sprach
mancher in der Umgebung des Jesus von der Bath-Kol. Von
dieser Bath-Kol wird uns in späteren
jüdischen Schriften manches erzählt.
Ich schiebe nun etwas ein in dieses
Fünfte Evangelium, was nicht eigentlich dazugehört, was nur zur Erklärung
der Bath-Kol führen soll. Es
war in etwas späterer Zeit, nach der Entstehung des
Christentums, ein Streit ausgebrochen zwischen zwei
Rabbinatschulen. Denn es behauptete
der berühmte Rabbi Elieser
ben Hirkano eine Lehre
und führte zum Beweise dieser
Lehre an — das erzählt auch der Talmud
— , daß er Wunder wirken
könne. Der Rabbi Elieser ben Hirkano ließ
einen Karobbaum aus der Erde sich erheben
— so erzählt der Talmud — und hundert Ellen weiter sich an einem anderen Orte
wieder einpflanzen, er ließ einen Fluß
rückwärts laufen, und als drittes berief
er sich auf die Stimme vom Himmel, als
Offenbarung, die er von Bath-Kol selber erhalte. Aber in
der gegnerischen Rabbinatschule des Rabbi Josua glaubte man
diese Lehre trotzdem nicht, und Rabbi Josua erwiderte: Mag auch
Rabbi Elieser zur Bekräftigung seiner Lehre
Karobbäume von einem Orte zum anderen
sich verpflanzen lassen, mag er auch
Flüsse nach aufwärts fließen lassen, mag er sich
selbst berufen auf die große
Bath-Kol — es steht geschrieben im Gesetz,
daß die ewigen Gesetze des Daseins
gelegt sein müssen in der Menschen Mund und in der
Menschen Herz. Und wenn uns überzeugen will von seiner Lehre der Rabbi Elieser, so darf er
sich nicht berufen auf die Bath-Kol,
sondern er muß uns überzeugen von dem, was des
Menschen Herz fassen kann. — Ich
erzähle diese Geschichte aus dem Talmud, weil wir sehen, daß die Bath-Kol bald nach
der Einführung des Christentums
in gewissen Rabbinerschulen nur noch von einem
geringeren Ansehen war. Aber sie hat in
einer gewissen Weise geblüht
als inspirierende Stimme unter den Rabbinern und
Schriftgelehrten.
Während in dem Hause des Jesus von
Nazareth die dort versammelten Schriftgelehrten von dieser
inspirierenden Stimme der Bath-Kol sprachen, und der junge
Jesus das alles hörte, fühlte und empfing er in sich
selber die Inspiration durch die Bath-Kol. Das war
das Merkwürdige, daß durch die
Befruchtung dieser Seele mit dem Ich
des Zarathustra in der Tat Jesus von Nazareth fähig war,
rasch alles aufzunehmen, was die
anderen um ihn herum wußten. Nicht nur, daß er den Schriftgelehrten in seinem
zwölften Jahre die gewaltigen Antworten hatte geben
können, sondern er konnte auch die Bath-Kol in der eigenen Brust vernehmen. Aber gerade
dieser Umstand der Inspiration durch die Bath-Kol wirkte auf
den Jesus von Nazareth, als er
sechzehn, siebzehn Jahre alt war und er oftmals diese
offenbarende Stimme der Bath-Kol
fühlte, so daß er in bittere, schwere
innere Seelenkämpfe dadurch
geführt wurde. Denn ihm offenbarte die Bath-Kol — und das glaubte er alles sicher zu
vernehmen — , daß nicht
mehr fern wäre der Zeitpunkt, daß im Fortgang der
alten Strömung des Alten Testamentes dieser Geist nicht
mehr sprechen würde zu den
alten jüdischen Lehrern, wie er früher zu ihnen
gesprochen habe. Und eines Tages,
und das war furchtbar für die Seele des Jesus,
glaubte er, daß die Bath-Kol ihm
offenbarte: Ich reiche jetzt nicht mehr hinauf zu den Höhen, wo mir wirklich der
Geist offenbaren kann die Wahrheit
über den Fortgang des jüdischen Volkes. —
Das war ein furchtbarer Augenblick,
ein furchtbarer Eindruck, den die Seele des jungen Jesus empfing, als die Bath-Kol ihm
selber zu offenbaren schien, daß sie nicht Fortsetzer sein
könne des alten Offenbarertums, daß sie sich selber
sozusagen für unfähig erklärte, Fortsetzer der
alten Offenbarungen des Judentums zu sein. So glaubte
Jesus von Nazareth in seinem sechzehnten,
siebzehnten Jahre, daß ihm
aller Boden unter den Füßen entzogen wäre, und
er hatte manche Tage, wo er sich
sagen mußte: Alle Seelenkräfte, mit denen ich
glaubte begnadet zu sein, sie bringen mich
nur dazu, zu begreifen, wie in der
Substanz der Evolution des Judentums kein Vermögen
mehr besteht, heraufzureichen zu den
Offenbarungen des Gottesgeistes.
Versetzen wir uns einen Augenblick in
seinen Geist, in die Seele des
jungen Jesus von Nazareth, der solche Erfahrungen in
seiner Seele machte. Es war das in
derselben Zeit, in der dann der junge Jesus von Nazareth im sechzehnten, siebzehnten,
achtzehnten Jahre, teilweise
veranlaßt durch sein Handwerk, teilweise durch
andere Umstände, viele Reisen
machte. Auf diesen Reisen lernte er
mannigfache Gegenden Palästinas
kennen, und auch wohl manche Orte außerhalb
Palästinas. Nun verbreitete sich in jener Zeit — das
kann man ganz genau sehen, wenn man
die Akasha-Chronik hellseherisch durchdringt — über
die Gegenden Vorderasiens, ja sogar auch des südlichen
Europas, ein asiatischer Kultus, der aus mancherlei
anderen Kulten zusammengemischt war,
der aber namentlich den Mithraskultus darstellte. An vielen
Orten der verschiedensten Gegenden waren Tempel für den Mithrasdienst. An manchen
Orten hatte er mehr Ähnlichkeit
mit dem Attisdienst, aber im wesentlichen war es Mithrasdienst,
Tempel, Kultusstätten waren es, in denen man überall
die Mithrasopfer und Attisopfer
verrichtete. Es war gewissermaßen ein altes Heidentum, aber in einer gewissen Art
durchdrungen von den Gebräuchen, Zeremonien des Mithras- oder
Attisdienstes. Wie sehr sich das
verbreitete auch über die italienische Halbinsel, geht
zum Beispiel daraus hervor, daß
die Peterskirche in Rom an derselben Stelle steht, wo einstmals eine solche Kultstätte
war. Ja, man muß auch das
für manche Katholiken lästerliche Wort aussprechen:
Der Zeremoniendienst der
Peterskirche und alles dessen, was sich davon
ableitet, ist in bezug auf die
äußere Form gar nicht unähnlich dem
Kult des alten Attisdienstes, der
verrichtet wurde in dem Tempel, der
damals auf derselben Stelle stand, auf deren Stätte die
Peterskirche steht. Und der Kultus der katholischen Kirche ist
in vieler Beziehung nur eine
Fortsetzung des alten Mithraskultus.
Was an solchen Kultstätten vorhanden
war, das lernte Jesus von Nazareth
kennen, als er jetzt in seinem sechzehnten, siebzehnten,
achtzehnten Jahre begann herumzuwandern.
Und er setzte das noch später
fort. Er lernte, wenn wir so sagen dürfen, auf diese
Weise durch äußere,
physische Anschauung die Seele der Heiden kennen.
Und es war dazumal in seiner Seele wie auf
eine natürliche Weise durch den
gewaltigen Vorgang des Überganges des
Zarathustra-Ich in seine Seele
dasjenige in einem hohen Grade ausgebildet, was
andere sich nur mühsam aneignen
konnten, was aber bei ihm naturgemäß ausgebildet war:
eine hohe hellseherische Kraft. Daher erlebte
er, wenn er bei solchen Kulten zuschaute,
etwas ganz anderes als die anderen
Zuschauer. Manches erschütternde Ereignis hat er dort
erlebt. Und wenn es auch fabelhaft
erscheint, so muß ich doch hervorheben,
daß, wenn an manchen heidnischen
Altären der Priester den Kult verrichtete und sich Jesus
von Nazareth dann mit seinen hellseherischen
Kräften das Opfer anschaute, er sah,
wie durch die Opferhandlung mancherlei dämonische Wesen herangezogen wurden.
Er machte auch die Entdeckung,
daß manches Götzenbild, das da angebetet
wurde, das Abbild war nicht von
guten geistigen Wesenheiten der höheren
Hierarchien, sondern von bösen,
dämonischen Mächten. Ja, er machte
weiter die Entdeckung, daß diese
bösen, dämonischen Mächte vielfach
übergingen in die Glaubenden, in die
Bekenner, die an solchen Kultushandlungen teilnahmen. Aus leicht begreiflichen
Gründen sind diese Dinge nicht
in die anderen Evangelien übergegangen. Und es
ist im Grunde erst im Schöße
unserer geistigen Bewegung möglich, über solche Dinge zu sprechen, weil die
Menschenseele erst in unserer Zeit
ein wirkliches Verständnis haben kann für jene
ungeheueren, tiefen, gewaltigen
Erlebnisse, wie sie sich schon in diesem jungen
Jesus von Nazareth abspielten lange vor der
Johannestaufe.
Diese Wanderungen dauerten fort bis ins
zwanzigste, zweiundzwanzigste, vierundzwanzigste Jahr hinein.
Es waren immer Bitternisse, die er in seiner Seele empfand,
wenn er also das Walten sah der
Dämonen, der gleichsam von Luzifer und Ahriman
hervorgebrachten Dämonen, und sah, wie das Heidentum es in
vieler Beziehung sogar so weit
gebracht hatte, die Dämonen für Götter
hinzunehmen, ja sogar in den
Götzenabbildungen Bilder zu haben wilder dämonischer
Mächte, die angezogen wurden von diesen Bildern, von
diesen Kultushandlungen, und in die betenden Menschen
übergingen, die betenden
Menschen, die in gutem Glauben daran teilnahmen,
von sich besessen machten. Es waren bittere
Erfahrungen, die Jesus von Nazareth
so machen mußte. Und diese Erfahrungen kamen zu
einem bestimmten Abschluß etwa im
vierundzwanzigsten Lebensjahre. Da
hatte Jesus von Nazareth dasjenige Erlebnis, welches sich
anschloß als ein neues,
unendlich schweres Erlebnis an das andere von der
Enttäuschung durch die Bath-Kol. Ich muß, da ich ja
dieses Erlebnis des Jesus von
Nazareth auch zu erzählen habe, sagen, daß ich heute
noch nicht in der Lage bin
anzugeben, an welchem Orte seiner Reisen sich
dieses Ereignis zugetragen hat. Die Szene
selbst in einem hohen Grade richtig
zu entziffern war mir möglich. Allein den Ort
gerade für diese Szene ist mir
heute nicht möglich anzugeben. Es scheint
mir aber, daß diese Szene sich
zugetragen hat bei einer Wanderung des Jesus von Nazareth außerhalb Palästinas.
Aber ich kann das nicht mit
Bestimmtheit sagen, muß aber die Szene
mitteilen.
An einen Ort also kam Jesus von Nazareth,
im vierundzwanzigsten Jahre seines Lebens, wo eine heidnische
Kultstätte war, an der einer
bestimmten Gottheit geopfert wurde. Ringsherum aber war
nur trauriges, von allerlei
furchtbaren seelischen und bis ins Körperliche
gehenden Krankheiten behaftetes Volk. Von
den Priestern war die Kultstätte längst verlassen worden. Und Jesus
hörte das Volk jammern: Die Priester haben uns verlassen,
die Segnungen des Opfers kommen
nicht auf uns hernieder und wir sind aussätzig und
krank, wir sind mühselig und
beladen, weil uns die Priester verlassen haben. —
Jesus sah mit tiefem Schmerze diese armen
Menschen; es jammerte ihn dieses
bedrückte Volk und eine unendliche Liebe zu diesen
Bedrückten flammte in seiner Seele
auf. Es muß von dieser unendlichen Liebe, die auflebte in
seiner Seele, das Volk ringsherum etwas gemerkt haben; das muß einen tiefen Eindruck
gemacht haben auf das jammernde
Volk, welches von seinen Priestern und, wie es
glaubte, auch von seinen Göttern
verlassen worden war. Und nun entstand, man möchte sagen wie auf einen Schlag,
in den Herzen der meisten dieses
Volkes etwas, was darin zum Ausdruck kam, daß die
Leute sagten, erkennend den Ausdruck der
unendlichen Liebe auf dem Antlitz
des Jesus: Du bist der neue uns gesandte Priester. —
Sie drängten ihn zum Opferaltar
hin, sie stellten ihn auf den heidnischen Altar. Und er stand auf dem heidnischen Altar, und sie
erwarteten, ja sie verlangten von
ihm, daß er die Opfer verrichte, damit der Segen
ihres Gottes wieder über sie
komme.
Und während das geschah, während
ihn das Volk auf den Opferaltar erhob, da fiel er wie tot hin,
seine Seele wurde wie entrückt, und das Volk, das ringsherum glaubte seinen Gott
wiedergekommen, sah das Furchtbare, daß derselbe, den es
für den neuen, vom Himmel
gesandten Priester gehalten hatte, wie tot hingefallen
war. Die entrückte Seele des
Jesus von Nazareth aber, sie fühlte sich erhoben in die
geistigen Reiche, sie fühlte sich wie hineinversetzt
in den Bereich des Sonnendaseins.
Und jetzt hörte sie, wie aus den Sphären des Sonnendaseins herausklingend, Worte,
wie diese Seele sie früher
durch die Bath-Kol oftmals vernommen hatte. Aber jetzt
war die Bath-Kol verwandelt, zu
etwas völlig anderem geworden. Die Stimme kam ihm auch von ganz anderer Richtung her, und
dasjenige, was Jesus von Nazareth
jetzt vernahm, das kann man, wenn man es in unsere Sprache übersetzt, zusammenfassen in die
Worte, die ich zum ersten Male
mitteilen durfte, als wir vor kurzer Zeit den Grundstein legten
für unseren Dornacher Bau.
Es gibt ja okkulte Verpflichtungen! Und
einer solchen okkulten Verpflichtung
folgend hatte ich damals mitzuteilen, was durch die
verwandelte Stimme der Bath-Kol Jesus von
Nazareth vernahm dazumal, als dies geschah, was ich jetzt eben
erzählt habe. Es vernahm Jesus
von Nazareth die Worte: [Siehe unter
Hinweise Seite 331.]
Amen
Es walten die Übel
Zeugen sich lösender
Ichheit
Von ändern erschuldete
Selbstheitschuld
Erlebet im täglichen Brote
In dem nicht waltet der Himmel
Wille
Da der Mensch sich schied von Eurem
Reich
Und vergaß Euren Namen
Ihr Väter in den Himmeln.
Nicht anders als so kann ich in die
deutsche Sprache übersetzen dasjenige, was wie die verwandelte Stimme der Bath-Kol
dazumal von Jesus von Nazareth
vernommen worden ist. Nicht anders als so! Es waren diese Worte, welche die Seele des Jesus von
Nazareth zurückbrachte, als sie aus der Betäubung
wieder erwachte, durch die sie sich
entrückt fühlte bei jener eben geschilderten
Begebenheit. Und als Jesus von Nazareth
wieder zu sich gekommen war, und die Augen rings herum richtete auf die Menge der Mühseligen
und Beladenen, die ihn auf den Altar
erhoben hatten, da war diese entflohen. Und als er den hellsichtigen Blick in die Ferne schweifen
ließ, konnte er ihn nur richten
auf eine Schar von dämonischen Gestalten, von
dämonischen Wesen, die alle mit diesen
Leuten verbunden waren.
Das war das zweite bedeutsame Ereignis, der
zweite bedeutsame Abschluß in
den verschiedenen Perioden der Seelenentwickelung,
die Jesus von Nazareth durchgemacht hat
seit seinem zwölften Jahre. Ja,
meine lieben Freunde, Ereignisse, die sozusagen durch ihr
gemütliches Wesen die Seele nur in selige Stimmung
versetzen, die waren es nicht,
welche auf die Seele des heranwachsenden Jesus von Nazareth den
größten Eindruck machten. Kennenlernen mußte
diese Seele die Abgründe der
Menschennatur schon in so jungen Jahren, bevor
das Ereignis vom Jordan eingetreten
war.
Und von dieser Reise kam Jesus von Nazareth
nach Hause. Es war um jene Zeit, als
der Vater, der zu Hause geblieben war, starb,
etwa im vierundzwanzigsten Lebensjahre des
Jesus von Nazareth. Als Jesus nach
Hause kam, da hatte er in der Seele lebendig den
gewaltigen Eindruck der dämonischen
Wirkungen, die sich hineingesenkt hatten in manches, was in der
alten Heidenreligion lebte. Wie es
aber immer so ist, daß man gewisse Stufen der
höheren Erkenntnis nur dadurch
erreicht, indem man die Abgründe des Lebens kennenlernt,
so war es in gewisser Weise auch bei Jesus von
Nazareth, daß er — an einer
Stelle, die ich nicht weiß — um sein
vierundzwanzigstes Lebensjahr herum
dadurch, daß er so unendlich tief in die menschlichen Seelen hineingeschaut, in
Seelen, in die wie hineinkonzentriert war aller Seelenjammer der
Menschheit der damaligen Zeit, auch besonders vertieft worden
war in der Weisheit, die allerdings
wie glühendes Eisen die Seele durchzieht, aber auch
die Seele so hellsichtig macht,
daß sie durchschauen kann die lichten Geistesweiten. Und dadurch, daß er die
umgewandelte Stimme der Bath-Kol
vernommen hatte, war er auch wie umgewandelt. So war er
in verhältnismäßig jungen
Jahren behaftet mit dem ruhigen, eindringlichen
Geistesleseblick. Jesus von Nazareth
war zu einem Mensehen geworden, der
tief in die Geheimnisse des Lebens hineinschaute, der so in die
Geheimnisse des Lebens schauen konnte, wie bisher niemand auf der Erde, weil niemand vorher so wie
er betrachten konnte, bis zu welchem Grade menschliches Elend
sich steigern kann. Zuerst hatte er
gesehen, wie man den Boden unter den
Füßen verlieren kann durch bloße Gelehrsamkeit;
dann hatte er erlebt, wie die alten
Inspirationen verlorengingen; dann hatte er gesehen, wie die Kulte und Opferhandlungen, anstatt die
Menschen in Verbindung zu bringen
mit den Göttern, herbeizauberten allerlei
dämonische Wesen, die die Menschen von
sich besessen machten und sie
dadurch in seelische und körperliche Krankheiten und
Elend aller Art hineinbrachten.
Gewiß hatte keiner auf der Erde all diesen
menschlichen Jammer so tief geschaut als
Jesus von Nazareth, keiner jene unendlich tiefe Empfindung in
seiner Seele gehabt wie er, als er
jenes von Dämonen besessene Volk geschaut hatte.
Gewiß war keiner auf der Erde
so vorbereitet auf die Frage: Wie, wie kann der Verbreitung dieses Jammers auf der Erde
Einhalt getan werden?
So war Jesus von Nazareth nicht nur
ausgestattet mit dem Blick, mit dem
Wissen des Weisen, sondern in gewisser Weise durch das
Leben ein Eingeweihter geworden. Das
lernten kennen Leute, die in jener
Zeit zusammengetreten waren in einen gewissen Orden, der
ja der Welt bekannt ist als der
Essäerorden. Essäer waren Leute, welche
eine Art Geheimdienst und Geheimlehre
pflegten an bestimmten Orten
Palästinas. Es war ein strenger Orden. Derjenige, der
dem Orden beitreten wollte,
mußte mindestens ein Jahr, zumeist aber
mehrere Jahre strenge Probe durchmachen. Er
mußte zeigen durch seine
Aufführung, durch seine Gesittung, durch seinen Dienst
gegenüber den höchsten geistigen Mächten, durch
seinen Sinn für Gerechtigkeit, Menschengleichheit, durch
seinen Sinn des Nichtachtens äußerer menschlicher Güter und
dergleichen, daß er würdig war, eingeweiht zu werden. Wenn er dann aufgenommen wurde in
den Orden, dann gab es verschiedene
Grade, durch die man aufstieg zu jenem Essäerleben, das bestimmt war, mit einer
gewissen Aus- und Absonderung von
der übrigen Menschheit, in
einer strengen klösterliehen
Zucht und durch gewisse Reinheitsbestrebungen, durch die
man alles Unwürdige körperlicher
und seelischer Art beseitigen wollte, sich der geistigen Welt zu nähern. Das
drückt sich schon in mancherlei
symbolischen Gesetzen des Essäerordens aus. Die
Entzifferung der Akasha-Chronik hat gezeigt, daß der Name
Essäer kommt von oder
jedenfalls zusammenhängt mit dem jüdischen
Wort «Essin» oder
«Assin». Und das bedeutet so etwas wie
Schaufel, Schäufelchen, weil
die Essäer als einziges symbolisches Zeichen stets
eine kleine Schaufel als Abzeichen trugen,
was sich in manchen Ordensgemeinschaften bis heute erhalten hat. In
gewissen symbolischen Gepflogenheiten drückte sich auch
das aus, was die Essäer wollten: daß sie keine Münzen bei sich tragen
durften, daß sie nicht durch
ein Tor gehen durften, das bemalt war oder in dessen
Nähe Bilder waren. Und weil der
Essäerorden in der damaligen Zeit in einer gewissen Weise auch äußerlich anerkannt
war, hatte man in Jerusalem
besondere Tore, unbemalte Tore gemacht, so daß auch
sie in die Stadt gehen konnten. Denn
wenn der Essäer an ein bemaltes Tor kam, mußte er immer wieder umkehren. Im Orden
selbst gab es alte Urkunden und
Traditionen, über deren Inhalt die Mitglieder
des Ordens streng schwiegen. Sie durften
lehren, aber nur, was sie innerhalb
des Ordens gelernt hatten. Jeder, der in den Orden
eintrat, mußte sein
Vermögen dem Orden abgeben. Die Zahl der Essäer
war damals zur Zeit des Jesus von
Nazareth eine sehr große, etwa vierbis fünftausend.
Es waren von allen Orten der damaligen Welt Leute
zusammengekommen, die sich den strengen
Regeln widmeten. Sie schenkten
jedesmal, wenn sie irgendwo weit weg, in Kleinasien oder
noch weiter, ein Haus hatten, dasselbe dem
Essäerorden, und der Orden
bekam überall kleine Besitzungen, Häuser,
Gärten, ja weite Äcker.
Keiner wurde aufgenommen, der nicht alles schenkte, was
den Essäern Gemeingut wurde.
Alles gehörte allen, kein einzelner hatte
Besitz. Ein für unsere heutigen
Verhältnisse außerordentlich strenges Gesetz, das
aber begreiflich ist, war dieses, daß ein Essäer
unterstützen durfte mit dem Gute des Ordens alle
bedürftigen und belasteten Leute, nur diejenigen nicht,
die seiner eigenen Familie angehörten.
In Nazareth gab es durch Schenkung eine
solche Niederlassung des
Essäerordens, und dadurch war gerade in den Gesichtskreis
des Jesus von Nazareth dasjenige
gekommen, was der Essäerorden war. In dem Zentrum des Ordens bekam man Kunde von der
tiefen Weisheit, die sich in der beschriebenen Art in die Seele
des Jesus von Nazareth gesenkt
hatte, und gerade unter den Bedeutendsten, Weisesten der
Essäer entstand eine gewisse Stimmung. Es hatte
unter ihnen sich herausgebildet eine
gewisse prophetische Anschauung: Wenn die Welt ihren richtigen Fortgang nehmen sollte,
dann müsse eine besonders weise
Seele erstehen, die wie eine Art Messias wirken
müsse. Deshalb hatten sie Umschau
gehalten, wo besonders weise Seelen
wären. Und sie waren tief berührt, als sie Kunde
erhielten von jener tiefen Weisheit,
die in der Seele des Jesus von Nazareth entstanden war. Daher
war es kein Wunder, daß die Essäer, ohne
daß Jesus von Nazareth die
Erprobung der niederen Grade durchzumachen hatte, ihn aufnahmen
wie einen Externisten in ihre Gemeinschaft — ich will
nicht sagen in den Orden selber — und daß in
einer gewissen Weise zutraulich,
offenherzig wurden selbst die weisesten Essäer in bezug auf ihre Geheimnisse
gegenüber diesem weisen, jungen Menschen. In der Tat
hörte in diesem Essäerorden der junge
Jesus von Nazareth viel, viel Tieferes
über die Geheimnisse, die vom Hebräertum bewahrt worden waren, als von den
Schriftgelehrten im Hause seines
Vaters. Manches auch hörte er, was er schon selber
früher durch die Bath-Kol wie durch eine Erleuchtung in
seiner Seele aufglänzend vernommen hatte. Kurz, es
entstand ein reger Ideenaustausch zwischen Jesus von Nazareth
und den Essäern. Und Jesus von Nazareth lernte kennen in seinem Verkehr mit den
Essäern, im fünfundzwanzigsten, sechsundzwanzigsten,
siebenundzwanzigsten, achtundzwanzigsten Lebensjahr und noch
darüber hinaus, fast alles, was der Essäerorden zu geben hatte. Denn was ihm nicht
durch Worte mitgeteilt wurde, das
stellte sich ihm dar durch allerlei hellsichtige
Impressionen. Wichtige hellsichtige
Impressionen hatte Jesus von Nazareth entweder innerhalb der Gemeinschaft der
Essäer selber oder einige Zeit
darauf in Nazareth zu Hause, wo er in einem mehr beschaulichen
Leben auf sich wirken ließ, was
in seine Seele sich hineindrängte aus Kräften, die ihm gekommen
waren, von denen die Essäer
nichts ahnten, die aber als Folge der mit den Essäern
geführten bedeutsamen Gespräche in seiner Seele
erlebt wurden.
Eines von diesen Erlebnissen, von diesen
inneren Impressionen muß besonders hervorgehoben werden, weil es hineinleuchten
kann in den ganzen geistigen Gang
der Menschheitsentwickelung. Es war eine gewaltige, bedeutsame Vision, die wie in einer Art
Entrückung Jesus von Nazareth
hatte, in der ihm Buddha wie in unmittelbarer Gegenwart
erschien. Ja, der Buddha erschien dem Jesus von Nazareth
als Folge des Ideenaustausches mit
den Essäern. Und man kann sagen, daß in jener Zeit zwischen Jesus und Buddha ein
Geistgespräch stattgefunden hat. Es gehört zu meiner
okkulten Verpflichtung, Ihnen den
Inhalt dieses Geistgespräches mitzuteilen, denn wir
dürfen, ja wir müssen
heute diese bedeutsamen Geheimnisse der Menschheitsevolution
berühren. In diesem bedeutsamen Geistgespräch erfuhr
Jesus von Nazareth von dem Buddha,
daß dieser etwa sagte: Wenn meine Lehre so, wie ich sie gelehrt habe, völlig in
Erfüllung gehen würde, dann müßten alle Menschen den Essäern
gleich werden. Das aber kann nicht
sein. Das war der Irrtum in meiner Lehre. Auch die Essäer
können sich nur weiter fortbringen, indem sie sich
aussondern von der übrigen
Menschheit; für sie müssen übrige Menschenseelen
da sein. Durch die Erfüllung
meiner Lehre müßten lauter Essäer
entstehen. Das aber kann nicht sein.
— Das war ein bedeutsames Erlebnis, das
durch die Gemeinschaft mit den Essäern
Jesus von Nazareth hatte.
Ein anderes Erlebnis war dieses, daß
Jesus von Nazareth die Bekanntschaft machte mit einem auch noch
jüngeren Manne, mit einem fast
gleichaltrigen Manne, der nahegetreten war, allerdings in
einer ganz anderen Weise als Jesus
von Nazareth, dem Essäerorden, der aber trotzdem auch nicht ganz Essäer geworden ist.
Es war der, man möchte sagen,
wie ein Laienbruder innerhalb der
Essäergemeinschaft lebende
Johannes der Täufer. Er trug sich wie die Essäer,
denn diese trugen im Winter Kleider
von Kamelhaar. Aber er hatte niemals die Lehre des Judentums vollständig in sich
auswechseln können mit der Lehre der Essäer. Da aber die Lehre der
Essäer, das ganze Leben der Essäer auf ihn einen großen Eindruck machte,
lebte er als Laienbruder das
Essäerleben, ließ sich anregen, ließ sich
allmählich inspirieren und kam
nach und nach zu
dem, was ja von Johannes dem Täufer
in den Evangelien erzählt ist.
Viele Gespräche fanden statt zwischen Jesus von Nazareth und Johannes dem Täufer.
— Da geschah es eines Tages
— ich weiß, was es heißt, diese Dinge so
einfach zu erzählen, aber
nichts kann mich abhalten; ich weiß trotzdem, daß
diese Dinge jener okkulten
Verpflichtung zufolge jetzt erzählt werden müssen
— , es geschah eines Tages,
daß Jesus von Nazareth, während er mit
Johannes dem Täufer sprach, wie
verschwunden vor sich sah die physische Leiblichkeit des Täufers und die Vision
des Elias hatte. Das war das zweite
wichtige Seelenerlebnis innerhalb der Gemeinschaft
des Essäerordens.
Da gab es aber noch andere Erlebnisse.
Schon seit längerer Zeit hatte
Jesus von Nazareth etwas Besonderes beobachten können:
Wenn er an Orte kam, wo
Essäertore waren, wo bildlose Tore waren, da
konnte Jesus von Nazareth durch solche Tore
nicht schreiten, ohne wiederum eine
bittere Erfahrung zu machen. Er sah diese bildlosen
Tore, aber für ihn waren geistige
Bilder an diesen Toren; für ihn erschien zu beiden Seiten eines solchen Tores immer
dasjenige, was wir jetzt
kennengelernt haben in den verschiedenen
geisteswissenschaftlichen Auseinandersetzungen unter dem Namen
Ahriman und Luzifer. Und
allmählich hatte sich ihm das Gefühl, der Eindruck
in der Seele gefestigt, daß die
Abneigung der Essäer gegen die Torbilder etwas zu tun
haben müsse mit dem Herbeizaubern solcher
geistiger Wesenheiten, wie er sie an diesen
Toren erschaute, daß Bilder an den Toren Abbilder von
Luzifer und Ahriman seien. Und öfter hatte Jesus von Nazareth dieses bemerkt, öfter
waren solche Gefühle in seiner
Seele aufgestiegen.
Wer solches erlebt, der findet nicht,
daß man über diese Dinge gleich viel grübeln sollte; denn diese Dinge wirken zu
erschütternd auf die Seele. Man
fühlt auch sehr bald, daß menschliche Gedanken nicht
hinreichen, um sie tief genug zu ergründen. Die Gedanken
hält man dann nicht für
fähig, an diese Dinge heranzudringen. Aber die
Eindrücke graben sich nicht nur tief in die Seele ein,
sondern werden zu einem Teil des
Seelenlebens selber. Man fühlt sich wie verbunden
mit dem Teil seiner Seele, in dem
man solche Erlebnisse gesammelt hat, wie verbunden mit den Erlebnissen selber, man
trägt diese Erlebnisse weiter
durchs Leben.
So hatte Jesus von Nazareth durchs Leben
getragen die beiden Bilder von Luzifer und Ahriman, die er
oftmals gesehen hatte an den Toren
der Essäer. Es hatte zunächst nichts anderes bewirkt,
als daß ihm bewußt wurde,
daß ein Geheimnis walte zwischen diesen geistigen
Wesenheiten und den Essäern. Und die Wirkung, die das auf
seine Seele ausübte, trug sich
hinein in die Verständigung mit den Essäern;
man konnte sich seit diesen Erlebnissen in
der Seele des Jesus von Nazareth
nicht mehr so gut gegenseitig verstehen. Denn es lebte
in seiner Seele etwas, von dem er
nicht sprechen konnte gegenüber den Essäern, weil sich jedesmal etwas wie in der Rede
verschlug, denn immer stellte sich
dazwischen, was er an den Essäertoren erlebt
hatte.
Eines Tages, als nach einer besonders
wichtigen, bedeutsamen Unterredung,
in der vieles Höchste, Geistige zur Sprache gekommen war,
Jesus von Nazareth das Tor des Hauptgebäudes der
Essäer verließ, da traf
er, indem er durch das Tor ging, auf die Gestalten,
von denen er wußte, daß sie
Luzifer und Ahriman waren. Und er sah fliehen Luzifer und Ahriman von dem Tore des
Essäerklosters. Und es senkte
sich in seine Seele eine Frage. Aber nicht als ob er selber,
nicht als ob er durch den Verstand
früge, sondern mit tiefer elementarer Gewalt drängte sich herauf in seine Seele die
Frage: Wohin fliehen diese, wohin
fliehen Luzifer und Ahriman?
— Denn er wußte, die Heiligkeit
des Klosters der Essäer hatte sie zum Fliehen gebracht.
Aber die Frage lebte sich in seine
Seele ein: Wohin fliehen diese? — Und diese Frage brachte er nicht mehr los aus seiner Seele,
diese Frage brannte wie Feuer in
seiner Seele; mit dieser Frage ging er stündlich, ja
minütlich sie erlebend in den nächsten Wochen umher.
Als er nach dem geistigen
Gespräch, das er geführt hatte, die Tore des
Hauptgebäudes der Essäer verlassen hatte, da brannte
in seiner Seele die Frage: Wohin
fliehen Luzifer und Ahriman?
Was er unter dem Eindruck dieser in seiner
Seele lebenden Frage weiter tat,
nachdem er durchlebt hatte, daß die alten
Inspirationen verlorengegangen
waren, die Religionen und Kulte von dämonischen
Gewalten verdorben waren und als er
hingefallen war an dem Altare des
Heidenkultus, die umgewandelte Stimme der Bath-Kol vernommen
hatte, und sich fragen mußte, was die Worte der
Bath-Kol zu
bedeuten haben, und was das eben von mir
Erzählte zu bedeuten hatte,
daß die Seele des Jesus von Nazareth sich jetzt fragte:
Wohin fliehen Luzifer und Ahriman?
— davon wollen wir morgen weiter sprechen.
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