DRITTER VORTRAG
Dornach, 21 Februar 1919
Es
wird Ihnen durchsichtig sein, wie dasjenige, was von mir hier
und sonst vorgebracht worden ist gerade über das soziale
Problem der Gegenwart, doch durchaus fließt aus
geisteswissenschaftlichen Untergründen und wie
versucht worden ist, in den Aufruf, von dem ich Ihnen neulich
hier gesprochen habe, hineinlaufen zu lassen, was aus der
tieferen Einsicht der gegenwärtigen Weltenlage über
das soziale Problem jetzt praktisch gedacht werden muß.
Wir sollten eigentlich nicht müde werden, uns immer
wieder und wiederum die Hauptsache vor die Seele zu
führen. Und diese Hauptsache besteht heute darin, daß
Mittel und Wege gefunden werden zur Aufklärung, zur
Möglichkeit, Verständnis hervorzurufen für
das, was als Tatenansätze, als Handlungen in die
Menschheit hineinkommen muß, wenn in der richtigen Art
gedacht wird über das Wesen des sozialen Organismus. Nicht
wahr, Sie haben ja begriffen, daß das Denken und Empfinden
und damit auch das Wollen der Menschheit radikal anders
geworden ist seit der Mitte des 15. Jahrhunderts, und daß
die Gesamtgeschichte wird revidiert werden müssen,
wenn sie fruchtbar gemacht werden soll für die
Menschheit von dem Gesichtspunkte aus, der sich aus
dieser radikalen Metamorphose der Seelenverfassung der
Menschheit für den fünften nachatlantischen
Zeitraum ergibt. Man muß sich klar sein darüber,
daß gerade durch die Eigentümlichkeit der
Entwickelung in diesem unserem fünften
nachatlantischen Zeiträume bei den Menschen, die mit einem
gewissen Wollen ausgestattet sind — ob wir dieses Wollen
nun selbst für ein richtiges oder unrichtiges, für
ein gutes oder schlechtes halten —, daß bei diesen
Menschen das zugrunde liegende Denken bestimmte Formen annimmt.
Und von diesem zugrunde liegenden Denken, das bestimmte Formen
annimmt, ist ja im Grunde unsere ganze soziale Bewegung heute
im wesentlichen gestaltet. Es liegen doch zugrunde die Gedanken
der Menschen, die sie haben können gemäß dem
Grundcharakter unseres Zeitalters.
Nun
erinnern Sie sich, daß es bei der Dreiteilung, von der wir
jetzt öfter gesprochen haben, und die auch
ausgedrückt ist in dem Ihnen zur Kenntnis gebrachten
Aufruf, daß bei dieser Dreiteilung der eigentliche
politische Staat, von dem die meisten Menschen heute glauben,
er umfasse den gesamten sozialen Organismus, oder den die
meisten Menschen heute mit dem sozialen Organismus verwechseln,
gewissermaßen nur ein Departement, ein Glied des
dreigeteilten sozialen Organismus ist. Wenn Sie in der rechten
Weise einerseits verstehen, worauf die ganze Dreigliederung des
sozialen Organismus hinausläuft, und wenn Sie auf der
anderen Seite versuchen zu verstehen, wie sich die
Einseitigkeit im modernen Leben herausgebildet hat, den
sozialen Organismus ganz zu zentralisieren, gewissermaßen
den Staat alles verschlingen zu lassen, dann haben Sie in
dem Zusammenhalten dieser beiden Dinge ein Wichtiges für
das Verständnis der Sache gegeben. Und von einem ernsten
Gesichtspunkte aus heute die soziale Bewegung zu
verstehen ist das Allernotwendigste für den
gegenwärtigen Menschen. Mit Bezug auf das, was an
Handlungen zu geschehen hat, werden, wie das heute der Fall
ist, die Menschen noch lange im Unbestimmten tappen. Das
kann gar nicht anders sein. Aber worauf gesehen werden
muß, worauf hingearbeitet werden muß, das ist:
soziales Verständnis zu verbreiten; zu verbreiten die
Möglichkeit, den sozialen Organismus wirklich zu
verstehen. Es ist gerade von diesem Gesichtspunkte aus
außerordentlich interessant zu beobachten, welcher Art das
Denken der gegenwärtigen Menschen ist, die nach einer
gewissen Richtung hin ihr soziales Wollen betätigen. Nicht
wahr, uns muß es mehr darauf ankommen, die Artung, die
Formung, die Gestaltung des Denkens der Menschen zu beobachten,
weniger auf den Inhalt zu sehen; denn wir haben bei
verschiedensten Gelegenheiten betonen müssen: was
schließlich die Menschen denken, darauf kommt es sehr,
sehr viel weniger an, als wie die Menschen denken, wie
das Denken orientiert ist. Schließlich ist es für das
Einschneidende und Durchgreifende der gegenwärtigen
Weltenbewegung gar nicht so sehr von Bedeutung, ob einer
reaktionär im urältesten Sinne ist, ob er liberal, ob
er demokratisch, sozialistisch oder bolschewistisch ist. Wenn
man bloß auf dasjenige sieht, was die Leute sagen, so ist
das gar nicht so besonders wichtig, sondern besonders wichtig
ist, wie die Menschen denken, in weicher Art die Gedanken der
Menschen sich formen. Darauf kommt es an. Denn Sie werden heute
die Erfahrung machen können, daß Sie schließlich
da oder dort eine Persönlichkeit entdekken, die radikal
sozialistisch denkt dem Inhalte nach, dem Programm nach, die
aber eigentlich gar nicht anders in ihren Gedankenformen ist,
als diejenigen Menschen, die über ein großes Gebiet
der Erde hin heute gestürzt worden sind.
Also wir müssen schon auf das Tiefere sehen, das sich
geltend macht. Denn von den Programmen, die, wie ich neulich in
Basel gesagt habe, heute wie Urteilsmumien unter uns
herumwandeln, von diesen Programmen wird in der Zeitbewegung
sehr, sehr wenig abhängen. Vieles wird davon
abhängen, daß die Leute lernen, anders zu
denken, die Gedanken anders zu formen, anders zu bilden.
Gegenwärtig gibt es ja noch nichts, was wirklich das
Denken der Menschen in eine andere Richtung hinlenkt, als das
geisteswissenschaftliche Denken, das deshalb auch von
den meisten für phantastisch angesehen wird. Dabei sind
die Leute, die sagen, es sei phantastisch, eben selber
Phantasten, wenn auch vielfach materialistische Phantasten;
aber sie sind Phantasten, sie sind Theoretiker und können
sich nicht auf die Wirklichkeit einlassen. Das aber, was sich
gestaltet, das wird aus der Artung des Denkens heraus sich
entwickeln. Gerade mit Bezug auf das, was damit angedeutet ist,
möchte ich Ihnen heute einiges auseinandersetzen.
Wer
hinsieht auf die Art und Weise, wie sich nach und nach die
Anschauungen innerhalb der proletarischen Bewegung gebildet
haben, und wie sie sich bis heute gestaltet haben, der sieht
innerhalb der proletarischen Welt alle möglichen
Anschauungen. Uns soll heute die eine Tatsache besonders
interessieren, daß ja neben den vielen anderen
sozialistischen Proletariern, die so oder so denken, weitaus
die größte Zahl unter diesen Proletariern sich ganz
radikal zu dem ursprünglichen oder zu einem fortgebildeten
Marxismus bekennt. Das ist ja das Eigentümliche, daß
dieser Karl Marx ~ nachdem er die deutsche Dialektik
Hegels in sich aufgenommen hatte, nachdem er den
französischen sozialen Positivismus kennengelernt hatte,
dann von London aus sich die soziale Welt, das soziale Werden
betrachtet hatte — von da aus seine außerordentlich
einschneidenden sozialistischen Theorien gebildet hat, die dann
nach und nach die gesamte proletarische Welt ergriffen haben.
Es war also eigentlich der marxistische Gedanke, der
sich ausbreitete, der durch das Zündfeuer der
Katastrophe der letzten Jahre sich so ausgewachsen hat,
wie er heute schon ist, und der sich weiter auswachsen wird.
Unter den Sozialisten selbst gibt es eine große Anzahl,
die sich einfach so auf Karl Marx berufen, daß sie sagen,
sie seien Marxisten. Nun, der eine behauptet, er stünde
ganz auf orthodox-marxistischem Standpunkt, der andere
behauptet, er vertrete einen fortgeschrittenen Marxismus und so
weiter. Aber alles geht auf Marx zurück.
Nun
liegt ja ein Ausspruch von Karl Marx selbst vor, der auf
gewisse Seiten dieser Sache recht tief blicken läßt.
Karl Marx betonte einmal, als er über den Marxismus selber
sprach, daß er, Karl Marx, jedenfalls kein Marxist
sei. Das, meine lieben Freunde, sollte man insbesondere
in der heutigen Zeit nicht aus dem Auge verlieren. Denn nur
wenn man auf solche Dinge sieht, merkt man in der richtigen
Weise, worauf es ankommt: eben darauf, wie sich die Gedanken
formen, nicht was ausgesprochen wird. Die bequeme Art, auf
Programme zu bauen, wird die Menschheit gerade in unserer
schwerlebigen Zeit nicht haben können. Und ein Weg ist,
wenn er auch noch so weit ist, der von Karl Marx zu Wladimir
Lenin, der sich nun auch für einen wirklichen, echten
Marxisten hält. Und wenn man heute über Lenin
spricht, so spricht man ja nicht über eine einzelne
Persönlichkeit, sondern über eine Bewegung, die man
meinetwillen in Grund und Boden kritisieren kann
selbstverständlich, die aber als Impuls schon weite, weite
Kreise zieht, aber auch durch gewisse Methoden, die sie
eingeschlagen hat, und von denen ihre Träger
überzeugt sind, daß sie eigentlich der wahre
Marxismus sind.
Nun
kommt man am leichtesten dem Problem, auf das ich hier deute,
bei, wenn man gerade dies in den Mittelpunkt der
Betrachtungen stellt, daß die Einseitigkeit Platz
gegriffen hat, alles gewissermaßen dem Staate aufbuckeln
zu wollen, während man es im sozialen Organismus mit
einer Dreigliedrigkeit zu tun hat. Es ist schon interessant,
die Gedankenformung, wie sie sich bei Karl Marx selbst
vollzogen hat, zu verfolgen; einmal ganz abzusehen von dem, was
Marx inhaltlich gesagt hat, mehr auf seine
Gedankenformung zu sehen. Sehen Sie, wer zum Beispiel an Karl
Marx herangeht und seine Schriften liest mit der Meinung, er
werde jetzt durch die Lektüre eine Vorstellung
empfangen, wie der soziale Organismus sich gestalten werde, der
wird sich sehr bedeutsam täuschen. Solche Angaben, wie Sie
sie den Mitteilungen der Geisteswissenschaft über den
sozialen Organismus entnehmen, die hier und anderswo von
mir gemacht worden sind, werden Sie bei Karl Marx vergeblich
suchen. Darum handelte es sich ihm nach seiner Gedankenformung
eigentlich nirgends. Wenn Sie die nationalökonomischen
Ansichten über die soziale Gestaltung, soweit sie Karl
Marx selber aufgeschrieben hat, verfolgen, so können Sie
sich sagen: Karl Marx hat eigentlich über den sozialen
Organismus keine anderen Gedanken als diejenigen, die
schon da waren. Originelle Gedanken, wie die Welt werden soll,
die macht sich Karl Marx nämlich nicht. Er verfolgt: Wie
haben die Menschen gedacht, welche das moderne kapitalistische
Zeitalter herbeigeführt haben, wie hat sich Lohnfrage,
Kapitalfrage, Grundrentenfrage und so weiter ausgebildet
unter der kapitalistischen Herrschaft? — Und er
zergliedert die Nationalökonomie der kapitalistischen
Herrschaft. Im Grunde genommen finden Sie wichtigste
Vorstellungen, die Karl Marx dem Proletariat
überliefert hat, schon bei Ricardo und bei anderen.
Was tut Karl Marx? Karl Marx sagt: In der kapitalistischen
Wirtschaftsordnung, die sich allmählich in der neueren
Zeit heraufgebildet hat, haben die Menschen Meinungen gehabt,
aus denen heraus sich gebildet haben die modernen
Lohnverhältnisse, die modernen Kapitalverhältnisse,
die modernen Grundrentenverhältnisse und so weiter. Und
jetzt versucht er weiter zu denken. Nicht daß er
sagt, was an die Stelle dieser sozialen Gliederung, wie sie
sich unter dem Kapitalismus herausgebildet hat, treten
soll, er zeigt nur, daß sich unter dieser kapitalistischen
Herrschaft als eine besondere Menschenklasse das Proletariat
hat ergeben müssen. Das ist da, das ist eine
Realität. Er zeigt nun, wohin die kapitalistische
Herrschaft führt. Er zeigt, daß sie sich selbst ad
absurdum führt, daß sie, wenn sie auf ihren
Höhepunkt gekommen ist, in ihr Gegenteil umschlagen
muß. Immer mehr und mehr sammeln sich Kapitalien in den
Händen einzelner, bis sie übergehen auf den
«einzelsten», der dann zu gleicher Zeit die
Gemeinsamkeit ist; so sehr sich auch Marx und die Marxisten
dagegen sträuben, das dem Worte nach anzuerkennen, sie
gehen über auf die staatliche Ordnung, so daß
der Staat eigentlich der einzige Großkapitalist wird. Aber
er hat dann in seiner Vertretung alle am Staate teilnehmenden
Menschen.
Nun, gerade aus dieser Auseinandersetzung haben sich die
verschiedensten sozialistischen Meinungen in der neueren
Zeit gebildet. Karl Marx und sein Freund Engels haben ja
lange Zeit gewirkt, haben viel im Laufe von Jahrzehnten dazu
beigetragen, Gedanken, die sie ursprünglich
geäußert haben, zu modifizieren, zu erweitern, zu
begrenzen, wie das ja geschehen muß bei jemandem,
der nicht stehenbleibt, sondern der sich selber, die Welt
beobachtend, weiterentwickelt. Nun entstand auf Grundlage des
Marxismus, weil die Gedanken von Karl Marx, wie ich Ihnen
wiederholt gezeigt habe, eben dem Proletariat in die Seele
hinein sprachen, eine große Bewegung, die für die
verschiedenen Länder die verschiedensten Formen
angenommen hat. Man kann schon sagen: Sozialismus, der sich auf
Grundlage des Marxismus gebildet hat, hat eine andere Nuance in
England, in Frankreich, er hat die radikalste Nuance in
Deutschland bekommen, die dann auf Rußland
übergegangen ist. Das ist alles richtig, daß er
verschiedene Nuancen angenommen hat. Aber was eine ganz
wesentliche Prinzipienfrage ist, das Verhältnis der
proletarischen Welt zum Staate, das ist eigentlich mehr oder
weniger in eine Art nebuloser Atmosphäre
eingelaufen. Die Leute bildeten gerade dadurch viele
Parteien innerhalb des Sozialismus, die sich bis aufs Messer
bekämpften, weil sie in der einen oder in der anderen
Weise gerade das Verhältnis des Proletariats zum Staate,
wie er sich geschichtlich in dem Laufe der neueren
Entwickelung gebildet hat, in der verschiedensten Art
auffaßten. Nun spielen ja da die verschiedensten
Strömungen hinein, die wir heute nicht berühren
wollen. Allein den Weg wollen wir doch einmal kurz
andeuten, der sich zieht von Karl Marx bis zu Lenin. Denn
Lenin behauptet gerade, der echteste Marxist zu sein, der Karl
Marx selbst am besten versteht, während zahlreiche andere
Sozialisten, die sich auch Marxisten nennen, von Lenin als
Abtrünnige, als Verräter bezeichnet werden, mit
den verschiedensten Namen belegt werden; manche werden wegen
ihres Verhaltens während des sogenannten Weltkrieges
Sozial-Chauvinisten genannt und dergleichen.
Wenn wir noch einmal zurückblicken auf Karl Marx, so
muß uns die Gedankenformung interessieren, und Sie
können ein Wesentliches schon entnehmen aus dem, was ich
gesagt habe: es liegt kein positiver Gedanke vor, wie die Sache
werden soll, es ist etwas Auflösendes in der Gedankenform.
Karl Marx sagt einfach: Ihr kapitalistischen Denker habt
es so gesagt und gemacht, daraus muß euer eigener
Untergang folgen, dann wird das Proletariat oben sein.
Was das Proletariat macht, das weiß ich nicht, das wissen
andere auch nicht, das wird sich schon zeigen. Das einzig
Sichere ist, daß ihr euch durch eure eigenen
Maßnahmen und durch das, was ihr aus der Welt gemacht
habt, euren eigenen Untergang bereitet; wie es dann ist, wenn
das Proletariat da ist, was das tun wird, das weiß ich
nicht, das wissen andere nicht, das wird sich schon zeigen.
Wenn Sie diese Sache so nehmen, wie ich sie eben dargestellt
habe, dann haben Sie die Gedankenform. Es wird einfach
dasjenige, was in der Außenwelt ringsherum sich zeigt,
aufgenommen, wird durchgedacht. Aber wenn man mit dem
Gedanken zu Ende ist, dann Vernichtet sich der Gedanke,
dann kommt er zu nichts, dann läuft er
gewissermaßen ins Nichts aus. Das ist es, was dem,
der für solche Sachen Empfindungen hat, so stark
auffällt. Wenn man Karl Marx studiert, so findet man
immer: man geht von gewissen Gedanken aus; die sind aber
eigentlich nicht seine Gedanken, sondern die sind die Gedanken
der neueren Zeit. Und dann treibt man in etwas hinein, was
eigentlich den Gedanken strudelt, was ihn verwirrt, und was ihn
auslaufen läßt in das Zerstörerische, an das
nichts angesetzt werden kann.
Außerordentlich interessant ist, wie diese bei Karl Marx
schon einschlagende Gedankenform in höchster Potenz,
man möchte sagen, bis zum Genialen potenziert bei Lenin
sich zeigt. Lenin deutet Karl Marx so, daß Marx ein
absoluter Gegner des Staates sei, daß er, Karl Marx, von
dem Gedanken ausgegangen sei: wenn die Unterdrückung des
Proletariats aufhören solle, so muß der Staat, wie er
sich historisch herausgebildet hat, beseitigt werden,
muß aufhören. Das ist interessant, weil gerade
diejenigen, die Lenin als Gegner betrachtet, eigentlich dem
Staate, wie er sich historisch herausgebildet hat, alles
aufbuckeln möchten. So daß wir diese beiden
Gegensätze in sozialen Kreisen heute drinnen haben: auf
der einen Seite gerade die richtigen Staatsfanatiker, die alles
verstaatlichen wollen, und auf der anderen Seite Lenin, den
absoluten Gegner des Staates, der eigentlich das Heil der
Menschheit nur sieht — nicht in der Abschaffung, das
hält er für einen Unsinn, für eine Utopie
—, aber in dem allmählichen Absterben des
Staates. Und gerade, wenn man betrachtet, wie er da denkt,
kommt man auf die Gedankenform, die in ihm lebt; das ist
interessant.
Lenin denkt so: Das Proletariat ist die einzige Klasse, die,
nachdem die anderen sich selber ad absurdum geführt haben,
sich zum Untergang reif gemacht haben, obenauf kommen
kann. Diese proletarische Menschenklasse wird, so meint Lenin,
dasjenige, was sich als Bourgeoisie-Staat herausgebildet
hat, zur höchsten Vollkommenheit treiben. —
Bitte, geben Sie acht auf die Gedankenform. — Also Lenin
sagt nicht etwa, wie die Anarchisten: Schaffen wir den Staat
ab; das fällt ihm gar nicht ein. Er ist ein Gegner des
Anarchismus, sagt nicht: Schaffen wir den Staat ab; das
würde er für den größten Unsinn
halten, sondern er sagt: Wenn die Entwicklung so
fortgeht, wie die Bourgeoisie sie eingeleitet hat, dann ist die
Bourgeoisie reif zum Untergang. Das Proletariat wird sich
der Staatsmaschinerie, wie er sagt, bemächtigen; was die
Bourgeoisie als ein Werkzeug zur Unterdrükkung des
Proletariats begründet hat als Staat, das wird das
Proletariat vervollkommnen, wird also gerade den vollkommensten
Staat machen. Aber was ist die Eigentümlichkeit des
vollkommensten Staates? — fragt jetzt Lenin. Und er
glaubt echter Marxist zu sein, wenn er sagt: Die
Eigentümlichkeit des vollkommenen Staates, wenn er
entsteht — und er wird entstehen durch das Proletariat,
wird als letzte Konsequenz der Bourgeoisie entstehen
—, die Eigentümlichkeit des vollkommenen
Staates ist diese, daß er selber abstirbt. Der
gegenwärtige Staat kann eben nur als ein von der
Bourgeoisieklasse geschaffener Staat existieren, weil er
unvollkommen ist; wenn ihn das Proletariat vollkommen
ausgestaltet, zu Ende führt, was die Bourgeoisie
angefangen hat, dann bekommt der Staat seine richtige
Impulsivität, die darin besteht, daß er stirbt,
daß er von selber aufhört.
Das
ist nur die charakteristischste Gedankenform in dem Denken von
Lenin. Sie sehen das potenziert, was bei Marx schon zu finden
ist: der Gedanke, der gebildet wird und dann ins Nichts
abläuft. Nur daß Lenin ein sehr realistischer Denker
ist, der aus dem geschichtlichen Hergang darauf kommt:
der Staat muß gerade vervollkommnet werden; er stirbt
gerade jetzt nicht, weil er unvollkommen ist; daraus hat er
seine Lebenskraft. Wenn ihn das Proletariat vollkommen macht,
dann hat es den Grund dazu gelegt, daß er allmählich
abstirbt.
Sie
sehen, aus der Wirklichkeit heraus wird eine Vorstellung
geformt, und diese Vorstellung, die hat heute in einem
großen Teile von Osteuropa die Tendenz, sich auszudehnen
zur Realität. Sie ist nicht eine bloße Vorstellung,
sie geht in Wirklichkeit über, sie geht darauf hinaus,
daß gesagt wird: Ihr Bourgeois habt diesen modernen Staat
entstehen lassen; ihr habt ihn nur benützt als ein
Instrument zur Unterdrückung des Proletariats, ihr
habt ihn unvollkommen gelassen, er ist der Staat der
bevorzugten Klasse. Er dient euch dazu, die proletarische
Klasse zu unterdrücken; dem verdankt er seine
Lebensfähigkeit. Nun wird das Proletariat kommen,
wird die Klassenherrschaft abschaffen, wird den Staat zum
vollkommenen Wesen machen: dann stirbt er, dann kann er nicht
leben. Und dann entsteht das, was entstehen soll, von dem
kein Mensch, wie Lenin sagt, heute wissen kann, was es ist. Das
soziale «Ignorabimus», das ist es, was aus diesem
Sozialismus fließt. Das ist nun sehr interessant. Denn die
Denkweise, die heute das soziale Vorstellen ergriffen hat, die
ist aus der Naturwissenschaft heraus gebildet, und wie
die Naturwissenschaft mit Recht von ihrem einseitigen
Standpunkte zu dem Ignorabimus gekommen ist: «Wir
können nichts wissen», so kommt das sozialistische
Denken zu dem sozialistischen Ignorabimus.
Diesen Zusammenhang sollte man richtig einsehen, meine lieben
Freunde. Ohne alles das, was von den naturwissenschaftlichen
Weltanschauung auf den gut bürgerlichen Universitäten
gelehrt worden ist, ohne das gäbe es keinen Sozialismus.
Der Sozialismus ist ein Kind der Bourgeoisie. Auch der
Bolschewismus ist ein Kind der Bourgeoisie. Das ist
durchaus der tiefere Zusammenhang. Das muß man vor allen
Dingen verstehen.
Nun
kann man, wenn man sich diese Gedankenform erst
klargemacht hat, auf einige wichtige Punkte gerade mit
Bezug auf die Anschauungsweise eines solchen Mannes wie
Lenin hindeuten. Er legt zum Beispiel ein besonderes Gewicht
darauf, daß sich innerhalb des bourgeoisen Staates der
Bürokratismus herausgebildet hat, die
militärische Maschinerie, wie er sie nennt. Diese
bürokratische, militärische Maschinerie ist
entstanden, weil sie gebraucht wird von den leitenden
Klassen zur Unterdrückung eben der unterdrückten
Klassen. Daher ist der radikalste Flügel des Sozialismus,
der Bolschewismus, sich darüber klar, daß das, was er
will, nur verwirklicht werden kann durch das bewaffnete
Proletariat. Ohne Waffen ist aussichtslos, was auf dieser Seite
gewollt wird. Und es wird dieses durch historische Beispiele
belegt. Die französischen Kommunen konnten gerade
solange wirken, als diejenigen, die da obenaufgekommen
waren, Waffen hatten. In dem Augenblick, wo sie
entwaffnet waren, ging es nicht mehr. Das ist einer der Punkte,
daß darauf gesehen werden muß, das Proletariat als
bewaffnete Arbeitermacht zu haben. Nun, was soll dann
geschehen, was soll durch dieses Proletariat, das als
bewaffnete Arbeitermacht auftritt, geschehen? Es geschieht ja
heute zum Teil schon. Es geschieht in einer Weise, von der man
glauben könnte, daß manche Menschen darüber
erwachen könnten aus dem tiefen sozialen Schlafe,
den die Menschen so lange Zeit geträumt haben. Was soll
geschehen? Aufhören soll vor allen Dingen der Staat als
Klassenstaat. Dasjenige, was die Bourgeoisie
begründet hat als Klassenstaat, soll übernommen
werden von der bewaffneten Arbeiterschaft.
Und
nun ist es interessant, daß mit klaren und deutlichen
Worten gerade bei solchen Menschen, die bis zu einer gewissen
Genialität die Gedankenform des modernen sozialistischen
Denkens ausgebildet haben, herauskommt, was eigentlich durch
die Verhältnisse, durch die geschichtliche Entwickelung in
den Proletarierseelen veranlagt worden 1st. Lenin weist
zum Beispiel darauf hin, daß an die Stelle der Beamten und
militärischen Hierarchie eine Art Verwaltung treten
müsse, die aber nur aus Gewählten besteht, und er
weist darauf hin, daß so, wie die Verhältnisse heute
liegen, man ja nichts anderes im Kopfe zu haben braucht, um die
Dinge zu verwalten, die zu verwalten sind, als die heute eben
übliche allgemeine Schulbildung. Und er gebraucht
selber einen merkwürdigen Ausdruck, der viel sagt. Lenin
sagt, daß das, was heute Staat genannt wird, so
umgewandelt werden soll, daß eigentlich eine große
Fabrik mit allgemeiner Buchhaltung entsteht. Um das zu bewirken
und um Kontrolle und sonstiges auszuüben, kann man so
ziemlich mit den vier Rechnungsarten, mit dem, was allgemeine
Volksbildung sein kann, auskommen.
Nun, meine lieben Freunde, man sollte über solche Dinge
nicht einfach spotten, sondern man sollte sich klar
darüber sein, daß ja auch diese Anschauung nichts
anderes ist als die letzte Konsequenz der bourgeoisen
Entwickelung. So wie sich einmal rein wirtschaftlich das
moderne soziale Gebilde ergeben hat, muß man sagen,
daß gerade die kapitalkräftigen Menschen, die
Kapital-dirigierenden Menschen zumeist nichts anderes im Kopfe
haben als was Lenin verlangt, daß es die späteren
Arbeiteraufseher haben sollten.
Würde die Möglichkeit vorliegen, daß der
Proletarier, so wie er entstanden ist in der neueren
Entwickelung, zu jemandem hinsehen könnte, an dessen
besondere Fähigkeiten oder dergleichen er glauben
könnte, zu dem er als zu einer gewissen berechtigten
Autorität hinsehen könnte, dann würde sich
die ganze Entwickelung anders ergeben haben. Aber er kann
ja nicht zu solchen Menschen hinsehen. Er kann ja nur auf
diejenigen hinsehen, die ihm im Grunde genommen an geistigen
Qualitäten gleich sind, die nur das Kapital vor ihm voraus
haben. Er findet keinen Unterschied zwischen sich und
denjenigen, die dirigieren. Das tritt nur in streng
theoretische Formeln gefaßt bei Lenin zutage.
Also begreifen kann man gerade an den radikalen Formeln des
Lenin, wie die Dinge sich ergeben haben. Nun wird Ihnen ja
allen selbstverständlich die Frage, möchte ich sagen,
auf der Zunge liegen: Ja, aber es kommt doch so viel
Schreckliches heraus bei der Sache, es ist doch alles so
furchtbar. — Dennoch, es handelt sich darum, daß man
den Dingen ganz offen ins Auge schaut, daß man sich schon
die Unbequemlichkeit macht, auf die Gedanken der Menschen
einzugehen. Nicht wahr, wenn so einfach zeitungsmäßig
geschildert wird, was da oder dort durch die radikalen
Sozialisten geschieht, so kann man bürgerliche
Entrüstung haben, die ja heute schon vielfach in
bürgerliche Angstmeierei übergeht; aber der
Drang» die Dinge zu verstehen, der ist ja heute noch nicht
besonders groß.
Nun
ist unbedingt nötig, um zu verstehen, was schon geschieht,
und namentlich was noch geschehen wird, folgendes zu bedenken:
Gerade Lenin, der sich für einen echten Marxisten
hält, weist darauf hin, wie schon durch Marx eingeleitet
worden ist eine bestimmte Anschauung über die Entwicklung
der sozialen Ordnung in die neuere Zeit und in die Zukunft
hinein. Eigentlich denken diese Leute, daß sich die
soziale Neugestaltung in zwei Phasen vollziehen muß, nicht
mit einem Anhub geschieht. Die erste Phase ist die, daß
einfach das Proletariat in die bourgeoise Staatsform
einrückt, von der Lenin meint, daß sie, wenn sie
vollkommen sein wird, durch sich selber absterben werde. Das
Proletariat wird einrücken, wird dasjenige zu Ende
führen, was nach den Anschauungen und Impulsen des
Proletariats aus dem bourgeoisen Staate werden kann. Schon von
Marx selber ist ausgeführt worden, daß das ja
noch nicht zu irgendwelchen wünschenswerten
Zuständen führen kann. Wozu wird diese erste
Phase der Sozialisierung im Sinne des Marx-Leninismus
führen? Sie wird dazu führen, wenn man es banal
darstellt — aber die Leute stellen es ja selbst so banal
dar —, daß, wer nicht arbeitet, auch nicht essen
kann; daß jeder eine bestimmte Arbeit zu verrichten hat
und daß er dann durch diese Arbeit Anspruch haben
wird auf die Artikel, die zu seinem Lebensunterhalt
notwendig sind, sagen wir, aus den Staatsmaschinen und
dergleichen. Aber die Leute sind sich klar darüber:
dadurch wird nicht irgendeine Gleichheit unter den Menschen
herbeigeführt, sondern dadurch wird die Ungleichheit nur
fortgesetzt. Auch wird nicht etwa der Mensch dazu gebracht, das
Erträgnis seiner Arbeit wirklich zu haben. Das betont Karl
Marx, das betont auch Lenin. Es muß ja von der
Gemeinsamkeit — also von dem Staat oder wie man es nennen
will, was da übrigbleiben wird von der bourgeoisen
Weltordnung — alles das abgezogen werden, was nötig
ist für das Schulwesen, was nötig ist, um gewissen
Unternehmungen auf die Sprünge zu helfen und so weiter.
Der alte Lassallesche Gedanke auf das Recht des vollen
Arbeitsbetrags, der muß natürlich im Sinne dieses
Sozialismus fallengelassen werden. Aber auch da kommt
keine Gleichheit heraus. Denn, nicht wahr, die Menschen als
solche werden, selbst wenn sie gleiche Arbeit leisten,
verschiedene Ansprüche an das Leben haben, durch die
Lebensverhältnisse selbst. Das gibt natürlich dieser
Sozialismus durchaus zu. Dadurch ist gleich wieder eine
Ungleichheit bedingt. Kurz, es ist die Anschauung dieser
Sozialisten, daß sich in die erste Phase der
sozialistischen Ordnung einfach die bourgeoise Ordnung hinein
fortsetzt, daß das Proletariat diese bourgeoise Ordnung
besorgt.
Sehr interessant ist, wie sich Lenin direkt über die Sache
ausspricht; er sagt zum Beispiel an einer Stelle seines Werkes
«Staat und Revolution», daß etwas
eintreten würde wie bourgeoise Ordnung, bourgeoiser Staat
ohne die Bourgeoisie. Da sehen Sie in diesem Worte, das Lenin
selber gebraucht — der bourgeoise Staat wird da sein ohne
die Bourgeoisie —, da sehen Sie, was ich immer
betone und was ich für außerordentlich wichtig
halte, daß die Leute, die heute sozialistisch denken, nur
die Erbschaft der Bourgeoisie angetreten haben. Die Gedanken
sind die bourgeoisen Gedanken. Denn ein so die Gedankenform bis
zur Genialität fortbildender Mensch, wie Lenin, sagt, die
nächste Phase ist diese: bourgeoiser Staat ohne die
Bourgeoisie, die entweder totgeschlagen oder dienende
Kaste sein wird. Da wird es keine Gleichheit geben, da wird nur
das Proletariat oben sein; es wird, statt daß von
Monarchen oder von sonstigen ähnlichen Gebilden ernannt
und dekoriert wird, gewählt werden. Das Proletariat
wird verwaltend und gesetzgebend zu gleicher Zeit. Aber
es ist der bourgeoise Staat, nur ohne die Bourgeoisie. Jeder
wird entlohnt nach seiner Arbeit, aber Ungleichheit gibt es da
natürlich.
Das
alles gibt keineswegs einen idealen Zustand. Wenn also jemand
fragt: Was haben diese Leute gemacht aus der menschlichen
gesellschaftlichen Ordnung? — dann wird einfach
Lenin antworten: Wir haben euch ja als erste Phase nichts
anderes versprochen, als daß wir dasjenige, was ihr als
bourgeoisen Staat begründet habt, in seinen Konsequenzen
ausführen; nur haben jetzt wir es auszuführen, als
Proletarier werden wir es ausführen. Ihr habt es
früher gemacht, jetzt machen wir es. Aber wir machen
dasselbe, was ihr gemacht habt: bourgeoiser Staat, nur ohne die
Bourgeoisie.
So
sagt zum Beispiel Lenin: Dieser bourgeoise Staat ohne die
Bourgeoisie, das wird zum Absterben des Staates
führen. Der Staat wird dann völlig abgestorben sein
können, wenn die Gesellschaft die Regel verwirklicht haben
wird, die er als sein Ideal betrachtet, und wenn der enge
bürgerliche Rechtshorizont aufgehört haben wird, der
einen mit der Hartherzigkeit eines Shylock berechnen
läßt, ob man am Ende nicht eine halbe Stunde
länger gearbeitet oder etwas weniger bezahlt bekommen hat
als der andere. Dieser enge Horizont wird erst am Ende der
ersten Phase überschritten sein. Bis zum Ende der ersten
Phase wird noch immer, und zwar dann natürlich gerade
gesteigert, der bürgerliche Rechtsstaat sein, der einen
mit der Hartherzigkeit eines Shylock berechnen läßt,
ob man am Ende nicht eine halbe Stunde länger gearbeitet
oder etwas weniger bezahlt bekommen hat als der andere. Dieser
bürgerliche Shylock-Standpunkt, der wird sich also in die
erste Phase des Sozialismus hereinerstrecken.
Da
haben Sie das, was diese Leute zunächst einzig und allein
versprechen: Ihr habt es gemacht, ihr habt es
zunächst für eure Kaste gemacht; wir machen die Sache
für das Proletariat. Von Demokratie zu reden ist Unsinn,
denn die Demokratie würde doch nur dazu führen,
daß die Minorität unterdrückt würde. Das
Proletariat wird alles so machen, wie ihr es gemacht habt.
Dadurch aber wird sie das, was ihr zu einem Scheinleben erweckt
habt, zum Absterben bringen. Dann kommt erst die zweite
Phase.
Auf
diese zweite Phase des Sozialismus weist auch Karl Marx schon
hin, weist Lenin wieder hin, aber in einer sehr
merkwürdigen Weise; und ich halte es für
außerordentlich wichtig, daß das ins Auge gefaßt
wird. Also stellen Sie sich vor: Marx in der Gestalt des Lenin
— sie werden die bourgeoise Ordnung bis zu ihren letzten
Konsequenzen treiben; dann wird das absterben, was Staat ist,
und dann werden die Menschen die Gewohnheit haben, keinen
Rechtsstaat mehr zu brauchen, überhaupt keinen Staat
mehr zu brauchen; der Staat wird aufhören. Es wird
ganz unnötig sein nach und nach, daß man einen Staat
braucht, denn all das, was der Staat zu tun hat, wird nicht
nötig sein zu tun. Denn die Zeit, wo jeder nach dem
Grundsatze entlohnt wird: Wer nicht arbeitet, darf auch nicht
essen diese Zeit wird ja eben aufhören. Sie ist die erste
Phase des Sozialismus. Dann wird die Zeit kommen, wo jeder nach
seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen wird leben
können, nicht nach seiner Arbeit. Und das wird die
höhere Stufe sein, zu der all das, was jetzt zunächst
angestrebt wird, nur der Übergang ist. Da wird man nicht
mehr fragen, ob einer eine halbe Stunde länger oder
kürzer gearbeitet hat. Da erst wird die Zeit
gekommen sein, wo man die Gleichwertigkeit geistiger und
künstlerischer Arbeit in der richtigen Weise taxieren
wird. Da wird jeder an seinen Posten gestellt sein durch die
naturgemäße soziale Ordnung und jeder nach seinen
Fähigkeiten nicht nur arbeiten können, sondern
wollen, weil die Menschen sich durch das Zivilisiertsein in der
ersten Phase gewöhnt haben, die Arbeit nicht als etwas zu
betrachten, was sie aus Notwendigkeit tun, sondern sie werden
sich dazu drängen. Und damit wird es sich ergeben,
daß jeder nach seinen Bedürfnissen auch seinen
Lebensunterhalt finden wird. Da wird man nicht mehr nach der
bürgerlichen Rechtsordnung eine
Shylock-Rechtsordnung haben und fragen, ob einer eine
halbe Stunde länger oder kürzer gearbeitet hat,
sondern man wird einsehen, daß der eine, der eine
bestimmte Arbeit hat, auch vielleicht zwei Stunden kürzer
arbeitet, daß jeder nach seinen Fähigkeiten und
Bedürfnissen leben und arbeiten kann. Das ist die
höhere Ordnung. Alles was die Übergänge bilden
muß, weil nun einmal der bourgeoise Staat bis zu seinem
Ende entwickelt werden muß, damit er abstirbt, alles das
führt dann zu dem, worüber man auf der einen Seite
sagt: «Ignorabimus» — wir wissen es alle nicht
—, wovon man aber andererseits doch sagt, es wird sich
als eine zweite, höhere Phase des Sozialismus
entwickeln.
Aber interessant ist, was gerade Lenin über diese
höhere Phase des Sozialismus sagt. Ignoranz nennt er es,
wenn man behauptet, sich vorstellen zu können, die
Menschen, wie sie heute sind, könnten dazu gebracht
werden, in einer sozialen Ordnung zu leben, wo jeder nach
seinen Fähigkeiten und seinen Bedürfnissen sich
ausleben kann — Ignoranz.
Denn keinem Sozialisten kann es in den Sinn kommen, zu
versprechen, daß die höhere Entwickelungsphase
des Kommunismus eintreten muß. Die Voraussicht der
großen Sozialisten auf ein solches Zeitalter setzt
auch eine Produktivität der Arbeit und einen
Menschenschlag voraus, der von dem heutigen weit entfernt
ist — von diesem heutigen Menschen, der imstande ist, mir
nichts dir nichts Magazine, Wäscheläden zu
plündern und das Blaue vom Himmel zu verlangen. Das ist
das außerordentlich Interessante und Bedeutungsvolle
— erste Phase: Sozialisierung mit den heutigen Menschen;
letzte Konsequenz der bourgeoisen Weltordnung: ein Staat, der
durch seine eigenen Qualitäten abstirbt; höhere Phase
mit Menschen, die ganz anders geworden sind als heute, mit
einem neuen Menschenschlag.
Sehen Sie, das ist das abstrakte Ideal: die bourgeoise Ordnung
zu ihrem sich selbst ad absurdum führenden Ende zu
bringen; den Staat zum Absterben zu bringen; durch diesen
Prozeß einen neuen Menschenschlag zu züchten,
dessen Menschen gewohnt sein werden, nach ihren
Fähigkeiten zu arbeiten und daher nach ihren
Bedürfnissen leben zu können; wo es unmöglich
sein wird, daß irgendeiner stiehlt, weil, geradeso wie
wenn heute irgendwo eine Dame beschimpft wird, die
anständigen Leute sich dagegen auflehnen, dann die
Anständigen sich von selber auflehnen werden. Man wird
nicht nötig haben, daß da eine militärische oder
bürokratische Kaste eingreife — aber ein
anderer Menschenschlag. Und auf welchem Glauben beruht
das, meine lieben Freunde? Das beruht auf dem Aberglauben
gegenüber der wirtschaftlichen Ordnung. Das muß man
bedenken. Auf der einen Seite hat der Kapitalismus eine
wirtschaftliche Ordnung erzeugt, der kein Geistesleben
gegenübersteht, sondern nur eine Ideologie. Diesen Zustand
will der Sozialismus bis zur Spitze treiben: Alles weg,
außer Wirtschaftsleben! Aber er meint, daß das einen
anderen Menschenschlag hervorbringen werde.
Sehen Sie, es ist außerordentlich wichtig, daß man
sich diesen Aberglauben gegenüber dem
Wirtschaftsleben klarmacht, daß man sich davon
überzeugt, wie heute eine ungeheure Anzahl von Menschen
einfach glaubt, wenn das wirtschaftliche Leben in ihrem Sinne
eingerichtet werde, dann entsteht nicht nur eine
wünschenswerte soziale Ordnung, sondern es wird dadurch
sogar ein neuer Menschenschlag, der erst in eine
wünschenswerte soziale Ordnung hineinpaßt,
gezüchtet.
Das
alles ist die moderne Form des Aberglaubens, der sich nicht auf
den Standpunkt stellen kann, daß hinter all der
äußeren ökonomischen und materiellen
Wirklichkeit das Geistige mit seinen Impulsen waltet und vom
Menschen als Geistiges aufgenommen werden muß, die
Verkennung des Geistigen. Soll die Menschheit gesunden, dann
ist das nur auf geistigem Wege möglich, dann ist das nur
dadurch möglich, daß die Menschen geistige Impulse
als geistige Erkenntnis und als soziales Denken und soziales
Fühlen, das auf geisteswissenschaftlichen Grundlagen
gebaut ist, in sich aufnehmen. Durch wirtschaftliche
Evolutionen wird niemals der neue Mensch erzeugt, einzig und
allein von innen heraus. Dann aber muß das geistige Leben
frei auf sich selber gestellt sein. Ein solches Geistesleben,
wie es sich im Laufe der letzten Jahrhunderte herausgebildet
hat, das früher gefesselt war von dem rein
kameralistischen Staate, jetzt von dem Wirtschaftsstaate,
wird niemals imstande sein, den neuen Menschen wirklich
zu gebären. Deshalb muß auf der einen Seite die
Freiheit des Geisteslebens angestrebt werden dadurch, daß
das geistige Leben sein Departement für sich hat. Dann
muß auf der anderen Seite angestrebt werden,
daß der Mensch das Wirtschaftsleben rein als
Wirtschaftsleben führt, daß der Staat, der es
nur zu tun hat mit dem Verhältnisse von Mensch zu
Mensch, nicht Wirtschafter ist. Denn das Wirtschaftsleben geht
darauf aus, alles was in sein Gebiet drängt, zu
verbrauchen. Insofern der Mensch selber im Wirtschaftsleben
drinnensteht, wird er verbraucht, und er muß sich
fortwährend vor dem Verbrauchtwerden retten. Das wird er,
wenn er ein entsprechendes Verhältnis von Mensch zu Mensch
aufrichtet. Und das ist dann im regulierenden eigentlichen
Staate verwirklicht.
Wenn man solche Dinge unbefangen betrachtet, wie die sind, die
wir heute wiederum betrachtet haben, so sieht man: gerade das
ist das Wesentliche in den Impulsen, die sich durch die moderne
soziale Bewegung heraufgebildet haben, daß sie
erfüllt sind von einem Denken, das eigentlich ins Nichts
hineingeht. Denken Sie doch nur einmal, wenn jemand als beste
Erziehungsmaxime nach derselben Gedankenform das Folgende
aufstellen würde und sagte: Ich will die
vollkommenste Ausgestaltung der heutigen
Erziehungsmethode ersinnen; dann gestalte ich sie so aus,
daß man den Menschen dahin erzieht, daß er
möglichst viel aufnimmt vom Todesprinzip, daß er,
wenn er erzogen ist, möglichst anfängt zu sterben.
Das wäre ein Gedanke, der sich als real erfaßter
Gedanke in sich selbst vernichtet. Aber nun der Leninsche
Gedanke vom Staat: Gerade wenn der Staat vollkommen ist,
rüstet er sich zum Absterben. Sie sehen schon daraus:
über nichts kann eigentlich das moderne Denken zu einer
produktiven, fruchtbaren Vorstellung kommen. Auf dem
Gebiete des geistigen Lebens nicht, weil das geistige Leben zu
einer bloßen Ideologie geworden ist, bloße Gedanken
umfaßt oder Naturgesetze, die auch nur Gedanken
sind, und weil dieses Geistesleben außerdem gefesselt ist
von dem Wirtschaftsleben oder von dem politischen Leben. Das
hat ja insbesondere diese Kriegskatastrophe gezeigt.
Denken Sie sich doch, wieviel von diesem geistigen Leben
abhängig war. Da hat sich die Fesselung in der
furchtbarsten Weise gezeigt, überall, über die ganze
Erde hin. — Dann auf dem Gebiete des Staatslebens sahen
Sie es ja: Die Sozialisten, die die Halbgedanken der
Bürgerlichen zu Ende denken, denken einen Staat aus, der
gerade die Eigentümlichkeit hat, daß er sich selber
zum Absterben bringt. Und auf dem Gebiete des
Wirtschaftslebens geben sich alle dem Aberglauben hin,
als ob dieses Wirtschaftsleben, das uns in Wirklichkeit
verbraucht und gegen dessen Verbrauchen wir gerade die beiden
anderen Departemente haben müssen —, daß dieses
Wirtschaftsleben den neuen Menschenschlag hervorbringen
werde.
Auf
keinem Gebiete ist es dem modernen Denken gelungen, zu etwas zu
kommen, was lebensfähige Zustände herbeiführen
kann. So daß man sagen kann: was auf dem Boden der
Geisteswissenschaft auf diesem Gebiete gewollt wird, das ist
eben gerade, aus todeswürdigen lebenswürdige
Zustände herauszugestalten. Aber dann handelt es sich
wirklich nicht darum, daß, wie das jetzt in der Gegenwart
viele hoffen und wie es sich da oder dort auch schon vollzieht,
daß diejenigen, die vorhin unten gewesen sind, jetzt
oben sind, und jene unten sind, die vorhin oben gewesen sind.
Die jetzt unten sind, haben früher oben reaktionär
oder bourgeois gedacht, die jetzt oben sind, denken
sozialistisch. Aber die Gedankenformen sind im Grunde ganz
dieselben. Denn nicht darauf kommt es an, was einer
denkt, sondern wie einer denkt. Und sobald man dies versteht,
hat man schon den Grundimpuls zum Verstehen gerade dieser
Dreiteilung des sozialen Organismus, die eben auf die
Wirklichkeit geht, darauf, was sich als die Gesundheit
des sozialen Organismus herausentwickeln muß.
Wir
dürfen uns wirklich auf unserem Gebiete sagen: es ist aus
dem geisteswissenschaftlichen Erkennen das Wichtigste für
die Zeit herauszuholen, und wir müssen uns
hüten, diese tief, tief ernste und bedeutungsvolle Seite
unserer geisteswissenschaftlichen Bewegung zu verkennen. Wir
verkennen sie aber, meine lieben Freunde, wenn wir uns
überwältigen lassen, gerade auf dem Gebiete des
anthroposophisch orientierten Geisteswissens in irgendwelche
Sektiererei zu verfallen. Es sollte schon jeder mit sich
zu Rate gehen mit Bezug auf die Frage: wieviel steckt in mir
noch Sektiererisches? Denn die moderne Menschheitsbewegung geht
darauf aus, alles Sektiererische aus dieser
Menschheitsentwickelung auszutreiben, nicht sektiererisch zu
sein, nicht abstrakt zu sein, sondern menschenfreundlich zu
sein, weite Gesichtspunkte zu gewinnen, nicht enge,
sektiererische Gesichtspunkte zu gewinnen. Insofern von einer
gewissen Seite her diese unsere Bewegung aus der
theosophischen herausgewachsen ist, stecken in ihr die Keime
eben zu sektiererischem Treiben. Aber diese Keime müssen
erstickt werden. Das Sektiererische muß ausgetrieben
werden. Und die weiten Horizonte sind uns vor allen Dingen
nötig, das unbefangene Hinblicken auf die
Wirklichkeit.
Neulich habe ich gesagt: Wer Coupons abschneidet, soll sich
klar sein, daß in diesen abgeschnittenen Coupons
menschliche Arbeitskraft steckt, und insofern menschliche
Arbeitskraft versklavt ist in der kapitalistischen
Wirtschaftsordnung, nimmt er mindestens Teil an der
Versklavung. Darauf darf nicht erwidert werden: Das ist
entsetzlich! — oder dergleichen; denn diese
Erwiderung: Das ist entsetzlich! — ist die furchtbarste
Theorie, ist etwas, was einen sehr leicht gerade zu dem
heutigen modernen sektiererischen Treiben verleiten kann. Ich
habe dieselbe Sache oftmals in anderer Form gesagt. Da
hören die Leute von Luzifer und Ahriman und sagen sich: um
Gotteswillen, ja weit, weit weg — ich habe nichts zu tun
mit Luzifer und Ahriman; ich habe nichts mit ihnen zu tun, ich
bin nur beim guten Gotte! — Um so tiefer verfallen die
Leute dem Luzifer und Ahriman, wenn sie so auf die abstrakte
Weise herankommen. Man muß schon die Aufrichtigkeit
und Ehrlichkeit haben, zu wissen, daß man drinnensteckte
in dem gegenwärtigen sozialen Prozeß und daß man
nicht bloß durch irgendwelche Selbsttäuschung
herauskommen kann, sondern daß man sein Möglichstes
tun soll, damit der soziale Prozeß zur Gesundung kommt im
Ganzen. Der Einzelne kann sich nicht helfen, so wie heute die
Menschheit entwickelt ist, sondern er muß das Seinige dazu
tun, um der armen Menschheit mitzuhelfen. Nicht darauf kommt es
an, daß wir uns heute sagen: ich will ein guter Mensch
sein, uns hinsetzen, Gedanken aussenden, die alle Menschen
lieben und so weiter, sondern darauf kommt es an, meine
lieben Freunde, daß wir uns in diesem sozialen Prozesse
drinnenstehend verstehen, daß wir das Talent
entwickeln, auch schlecht zu sein mit der schlechten
Menschheit, nicht weil es gut ist, schlecht zu sein, sondern
weil eine soziale Ordnung, die überwunden werden
muß, die zu etwas anderem gebracht werden muß, eben
dazu zwingt, so zu leben. Nicht von der Illusion sollen wir
leben wollen, wie brav, wie gut wir sind und uns die Finger
ablecken, wie wir selber besser sind als die anderen; sondern
wissen, wie wir drinnenstehen, das sollen wir, uns keinen
Illusionen hingeben. Denn je weniger wir uns den Illusionen
hingeben, desto mehr wird der Elan in uns Platz greifen,
mitzuarbeiten an dem, was zur Gesundung des sozialen
Organismus führt, die Fähigkeiten uns zu erobern,
aufzuwachen gegenüber dem Schlafzustand, der die heutigen
Menschen so tief befangen hat. Und da kann nichts anderes
helfen, als die Möglichkeit, die energischeren Gedanken,
die eindringlicheren Gedanken zu fassen, die in der
Geisteswissenschaft gegeben sind, gegenüber den schwachen,
lässigen, gelähmten Gedanken, die heute in der
offiziellen Wissenschaft, im offiziellen Wissenschaftsbetrieb
vorhanden sind.
Ich
muß daran denken, wie ich vor vielleicht heute achtzehn,
neunzehn Jahren im Berliner Gewerkschaftshause einmal
davon gesprochen habe, wie die heutige, die Wissenschaft
der Gegenwart, eine bourgeoise Wissenschaft ist und wie die
Entwickelung darauf hinauslaufen muß, gerade die
Gedanken, gerade die Wissenschaft zu befreien von dem
bourgeoisen Elemente. Ja, das verstehen die Führer des
Proletariats heute durchaus nicht, denn die sind davon
überzeugt, daß die bürgerliche Wissenschaft, die
sie übernommen haben, etwas Absolutes ist. Was wahr
ist, ist wahr. Darüber denken die Sozialisten auch nicht
nach, wie das zusammenhängt mit der bourgeoisen
Entwickelung. Sie reden von den Impulsen, von den
Emotionen des Proletariats, aber sie denken ganz
bourgeois, ganz bürgerlich. — Nun werden
gewiß viele von Ihnen selber sagen: Ja, aber was wahr ist,
ist doch eben wahr. — Ja, meine lieben Freunde,
gewiß, eine gewisse Summe, sagen wir, von chemischen, von
physikalischen Wahrheiten, von mathematischen Wahrheiten ist
freilich wahr. Es kann nicht auf bürgerliche Weise wahr
sein und auf proletarische Weise wahr sein. Ganz gewiß ist
der pythagoräische Lehrsatz nicht auf bourgeoise Weise
wahr oder auf proletarische Weise wahr und so weiter, ganz
selbstverständlich. Darum handelt es sich aber nicht,
sondern darum handelt es sich, daß die Wahrheiten ein
gewisses Feld umschließen.
Bleibt man bei diesem Felde stehen, so kann das, was darin ist,
ja gewiß wahr sein, aber es sind Wahrheiten, die gerade
just den bürgerlichen Kreisen nützlich und bequem und
angemessen sind, während außerhalb (siehe
Zeichnung) manches andere liegt, was man auch wissen kann, was
einfach unberücksichtigt bleibt von der Bourgeoisie. Also
darauf kommt es nicht an, daß die chemischen, die
mathematischen Wahrheiten wahr sind, sondern daß es
außer diesen Wahrheiten auch noch andere gibt, die erst
das richtige Licht auf diese werfen, daß dadurch eine ganz
andere Nuance herauskommt und die Wissenschaft auf einen
breiteren wissenschaftlichen Horizont, der eben kein
bourgeoiser sein kann, gestellt wird. Nicht ob die Sachen
wahr sind oder nicht, sondern was man von der Wahrheit haben
will, das ist es, worum es sich handelt. Und selbst auf die
Qualität der Wahrheit färbt die Sache ab. Gewiß,
die Chemieprofessoren werden an den Universitäten
nicht sonderliche Sprünge machen können, weil im
Laboratorium der Chemieprofessor derjenige ist, der die Dinge
kennt, der weiß, daß er selber am wenigsten denkt: da
denken die Methoden und so weiter; die werden nicht
sonderliche Sprünge machen können. Aber sobald
dasselbe Denken herübergeht in die Geschichte, in die
Literaturgeschichte, in dasjenige, was überhaupt die
Menschen heraushebt aus dem wirtschaftlichen Leben und erst in
eine menschenwürdige Sphäre bringt, da geht es dann
gleich los. Und die Geschichte ist nichts anderes, so wie sie
dasteht, als eine bürgerliche Fable convenue; ebenso die
Philosophie und andere Wissenschaften. Nur ahnen das die Leute
nicht, nehmen es als objektive Wissenschaft hin.
Da
kann nur gesundendes Leben Platz greifen, wenn der
Wissenschaftliche Betrieb seiner Selbstverwaltung
zurückgegeben wird, kurz, wenn jene Dreigliedrigkeit
eintritt, von der ich nun öfter gesprochen habe.
Ich
muß noch eine kleine Korrektur anbringen. Ich sagte
neulich, als ich darauf aufmerksam machte, daß sich in
Stuttgart für unseren Aufruf das deutsche Komitee gebildet
hat, daß die Herren Dr. Boos, Molt und
Kühn dieses Komitee bilden; ich wurde aufmerksam
gemacht, daß in Stuttgart auch Dr. Unger,
unser Freund, in wesentlicher Weise mitwirkt, und daß das
nicht vergessen werden darf.
Nun, meine lieben Freunde, habe ich heute gerade versucht, aus
der Zeitgeschichte heraus Ihnen wiederum die Dinge zu
beleuchten. Es liegt mir wirklich sehr auf dem Herzen, daß
unsere Freunde gerade vom geisteswissenschaftlichen Standpunkte
aus immer tiefer und tiefer versuchen einzudringen in das
soziale Problem. Sie haben die Grundlagen dazu, um es zu
verstehen, und auf das Verständnis kommt es zunächst
an. Wer in die heutige Zeitgeschichte hineinschaut, ich habe
das schon betont, der denkt nicht daran, daß man durch
solch einen Aufruf und alles, was sich daranschließt, auf
einen Erfolg von heute auf morgen rechnen kann. Die in
Zürich gehaltenen Vorträge werden ja, erweitert und
durch konkrete einzelne Fragen ergänzt, demnächst als
Buch erscheinen, so daß man dasjenige, was im
Aufrufe in ein paar lapidaren Sätzen enthalten ist,
in aller Ausführlichkeit haben wird. — Was da kommt,
das ist, daß sich die Bewegungen, die heute Raubbau
treiben, wirklich erst ad absurdum führen, sich erst bis
zur völligen Ratlosigkeit und bis zum Unglück
entwickeln müssen. Aber man muß in der rechten Zeit
etwas schaffen, worauf dann zurückgegriffen werden kann,
wenn das Alte sich selbst ad absurdum geführt hat. Deshalb
ist es so unendlich notwendig, daß die Impulse, die einmal
in Ihre Herzen gelegt sind, nicht wiederum fallengelassen
werden, sondern daß Sie auch Ihrerseits — jeder, wo
er nur kann — mitwirken an dem, was notwendig zu
geschehen hat.
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