ZWEITER VORTRAG
Dornach, 10. August 1919
Will man verstehen, was anthroposophische Geisteswissenschaft
als Aufgabe in der Gegenwart und nächsten Zukunft hat,
dann muß man, wie wir das vor einiger Zeit und auch
gestern wieder gehört haben, in Betracht ziehen, welchen
Charakter die Menschheitsentwickelung gerade seit der Mitte des
15. Jahrhunderts angenommen hat, Schließlich hängt ja
alles dasjenige, was in der Gegenwart geschieht, davon ab,
daß seit der Mitte des 15, Jahrhunderts in der Menschheit
der Antrieb lebt, sich als einzelmenschliche
Individualität auf die Spitze der Persönlichkeit zu
stellen, eine ganze Persönlichkeit zu werden. Solches war
nicht möglich, und es war gar nicht die Aufgabe der
Menschheit in früheren Epochen unserer nachatlantischen
Menschheitsentwickelung. Will man den großen Umschwung
verstehen, in dem wir drinnen stehen, dann muß man solche
Dinge noch genauer ins Auge fassen, wie die sind, die ich
gestern wieder charakterisiert habe.
Ich
sagte Ihnen: Wir haben in unserem Geistesleben noch immer
griechische Seelenverfassung. Die Art und Weise, wie wir unsere
Gedanken bilden, die Art und Weise, wie wir gewöhnt sind
über die Welt zu denken, ist eigentlich ein Nachklang der
griechischen Seelenverfassung. Und die Art und Weise, wie wir
heute gewöhnt sind das Recht anzuschauen und alles
dasjenige, was mit dem Rechte zusammenhängt, das ist ein
Nachklang der römischen Seelenverfassung. Unseren Staat
sehen wir ja immer noch an als dasjenige Gebilde, das im Grunde
das römische Reich war. Und erst wenn man einsehen wird,
wie einschlagen muß in diese chaotische Gegenwart die
Dreigliederung des sozialen Organismus, wird man klar erkennen
und klar wollen können.
Griechische Seelenverfassung, sie ist hauptsächlich ja
dadurch bestimmt, daß in Griechenland im eminentesten
Sinne das vorhanden war, was bis in die Mitte des 15.
Jahrhunderts tonangebend überhaupt in der geschichtlichen
Entwickelung war. Über das griechische Territorium hin war
verbreitet eine unterworfene Bevölkerung und die Eroberer,
diejenigen, die den Boden für sich in Anspruch nahmen, die
aber auch, sich berufend auf ihre Blutsabstammung, die
Geistigkeit des alten Griechenland bestimmten. So daß man
sich gar nicht zurechtfindet in der Seelenverfassung des alten
Griechenland, wenn man nicht das ins Auge faßt, daß
dort es als berechtigt angesehen wurde, so zu denken über
die sozialen Menschheitszusammenhänge, wie es sich ergab
aus der Blutseigentümlichkeit der arischen
Erobererbevölkerung. Natürlich ist die Menschheit der
neueren Zeit herausgewachsen über dasjenige, was da bei
den Griechen zugrunde lag. Bei den Griechen war es einfach
selbstverständlich, daß es Menschen zweier Sorten
gab, daß es Menschen gab, die gewissermaßen den
Merkur anzubeten, und Menschen, die den Zeus anzubeten hatten.
Diese zwei Menschenklassen waren streng voneinander geschieden.
Aber man dachte über die Welt und ihre Götter so, wie
das Eroberervolk durch seine Blutsabstammung denken mußte.
Alles war bestimmt durch das, was sich ergeben hat im
Zusammenstoßen eines eroberten und eines Eroberervolkes.
Wer genauer zusieht auf dasjenige, was heute in unserer
sozialen Gegenwart unter den Menschen lebt, der wird eben
erkennen, daß wir zwar nach unserem Gefühl, nach dem,
was unterbewußt in unseren Seelen lebt, nicht mehr zugeben
diesen Aristokratismus der Weltanschauung; aber dieser
Aristokratismus der Weltanschauung, er lebt noch in unseren
Ideen, in unseren Begriffen, besonders dann, wenn wir durch die
höhere Schule herangebildet werden. Die höhere
Schule, namentlich das Gymnasium, bildet alles, was zum
Unterricht gehört, so aus, wie es nur eine Renaissance,
ein Nachklang des Griechentums ist. Und erst recht die
Hochschule, mit Ausnahme der technischen, der
landwirtschaftlichen Hochschulen, die ja aus dem neueren Leben
heraus gebildet werden mußten, die aber in ihrer
äußeren Struktur leider nachgebildet worden sind
demjenigen, was als Struktur des Hochschulwesens von
Griechenland herübergekommen ist. Gerade wenn man hoch
schätzt das Griechentum in seiner Zeit und für seine
Zeit, dann muß man auf der anderen Seite sich ganz klar
darüber sein, daß für unsere Zeit eine
Erneuerung des Geisteslebens notwendig ist, daß für
unsere Zeit immer unerträglicher werden wird die
Führung der Menschheit durch solche Seelen, welche die
Konfiguration ihrer Begriffe, die Artung ihrer Begriffe in
unserer Gymnasial-Mittelschule erhalten haben. Und
natürlich stecken ja in allen führenden Stellen heute
noch diejenigen Leute, die ihre Begriffsbildung bekommen haben
aus den Mittelschulen, den Gymnasien. Es ist heute schon
notwendig, daß man sich bekannt mache damit, daß die
Zeit der großen, nicht die Zeit der kleinen Abrechnung da
ist, und daß man über solche Dinge
sachgemäß denken muß, nicht festhalten kann an
alten Denkgewohnheiten.
Sie
wissen ja, daß dann dasjenige, was im Griechentum aus dem
Blute heraus sich gebildet hat, im Römertum abstrakt
geworden ist. Das habe ich hier schon einmal erwähnt.
Während das griechische Sozialwesen — das man ja
nicht ein Staatswesen nennen kann — ganz herausgegangen
ist, heraus sich gebildet hat aus der Blutsbürtigkeit,
ging dieses aus dem Blute stammende auf das Römertum ja
nicht mehr über. Auf das Römertum ging über der
Drang, noch so zu gliedern, wie man in Griechenland gegliedert
hat; aber man fühlte die Ursache zu dieser Gliederung
nicht mehr im Blute. Und während es keinem Griechen der
älteren Zeit in den Sinn gekommen wäre, daran zu
zweifeln, daß es Menschen «niederer» Sorte,
Menschen des eroberten Volkes gibt und Menschen
«höherer» Sorte, Arier, war das bei den
Römern nicht so. Man trug schließlich innerhalb des
römischen Imperiums stark in sich das Bewußtsein,
daß die Gliederung des sozialen Wesens übertragen
worden ist durch Macht, durch Gewalt. Sie brauchen sich nur
daran zu erinnern, daß ja schließlich die Römer
ihren Ursprung zurückverfolgten bis zu jener Sammlung der
Räuber in der Nähe von Rom, die man zusammenberufen
hat, um als Räuberbande Rom zu begründen; daß
man auch nicht von zarter Muttermilch den Gründer Roms
säugen ließ, sondern, wie Sie wissen, im Walde von
einem Tiere säugen ließ, von einer Wölfin.
Das
alles sind Dinge, die im römischen Wesen so aufgenommen
worden sind, und die dazu geführt haben, daß man in
Rom mehr aus abstrakten Begriffen alles gegliedert hat, was
soziale Gliederung war. Daher ist von römischer
Seelenverfassung ausgegangen dasjenige, was uns in bezug auf
die Rechts- und Staatsbegriffe geblieben ist.
Sehen Sie, bei solch einer Geschichte muß ich mich immer
erinnern an einen alten Freund. Ich lernte ihn kennen, als er
schon ziemlich alt geworden war. Er hatte nämlich in der
Jugend, mit 18 Jahren, ein Mädchen lieb gewonnen, hatte
sich sozusagen im stillen mit ihm verlobt, aber sie hatten
beide nichts, konnten nicht heiraten, und so warteten sie,
blieben einander treu. Er war 18 Jahre alt, als er sich
verlobte, und als er daran denken konnte, sich zu verheiraten,
da war er 64 Jahre alt, denn da hatte er sich erst soviel
erworben, daß er glauben konnte, jetzt könne er solch
einen Schritt wagen. Da ging er denn in seinen Heimatort
zurück, es war in der Nähe von Salzburg, und wollte
dort die vor so langer Zeit Auserkorene heiraten. Aber siehe
da, die Kirche mit dem Pfarrhaus war abgebrannt, und der
Taufschein war nicht mehr zu kriegen. Es war nirgends
eingetragen, wo der Mann getauft worden war, und so glaubte man
ihm nicht, daß er einmal geboren worden ist. Ich weiß
mich noch lebhaft zu erinnern, wie sein Brief kam. Ich wohnte
dazumal in der Nähe von Wiener-Neustadt, da kam sein
Brief, und da sagte er in diesem Brief — er war in
Wiener-Neustadt damals beschäftigt gewesen, aber er war in
seinen Heimatort in die Nähe von Salzburg gereist —,
da sagte er in diesem Brief: Ja, ich glaube doch, daß es
ganz evident ist, daß ich geboren worden bin, weil ich nun
einmal da bin; aber die Leute, die glauben nicht, daß ich
geboren bin, weil kein Taufschein da ist!
Ich
hatte auch einmal ein Gespräch mit einem Advokaten, der
sagte: Ja, bei einem Prozeß ist es uns gar nicht so sehr
wichtig, ob der Mensch vorhanden ist oder nicht, wir brauchen
nur den Geburtsschein.
Sehen Sie, an diese Geschichten muß man sich immer wieder
erinnern, denn so grotesk treten sie einem natürlich da
oder dort einmal entgegen. Aber auch die Stimmung, die in
diesen Geschichten lebt, zeigt schließlich, daß auf
römisches Wesen noch unser ganzes öffentliches Leben
gebaut worden war, in einem Gebiete mehr, in dem anderen
Gebiete weniger. Nicht wahr, man ist Bürger in der Welt
heute doch nicht dadurch, daß man Mensch geworden ist und
als Mensch dasteht, sondern man ist Bürger in der Welt
dadurch, daß man als Bürger da oder dort anerkannt
und eingeschrieben ist. Diese Dinge, die sind alle
zurückzuführen auf römisches Wesen. Die
Blutsbürtigkeit ist übergegangen in die
Registratur.
Dies führt dazu, daß ja heute, wo diese Dinge in der
Dekadenz, im Verfall sind, viele Menschen überhaupt nicht
mehr wert zu sein glauben desjenigen, was sie als Mensch wert
sind, sondern glauben etwas wert zu sein dadurch, daß sie
in irgendeiner Beamtenhierarchie eingereiht sind, diesen oder
jenen Beamtenrang haben. Man ist viel lieber etwas
Unpersönliches aus den römischen Rechtsbegriffen
heraus als eine Persönlichkeit. Nun ist in der Menschheit
seit dem 15. Jahrhundert unbewußt, unterbewußt das
Streben, alles auf die Spitze der Persönlichkeit zu bauen.
Dies bezeugt uns, daß mit Bezug auf unser Geistesleben und
mit Bezug auf unser Rechtsleben die Zeiten alt geworden sind,
daß wir in bezug auf beide eine Erneuerung brauchen, eine
wirkliche Erneuerung brauchen. Es hängt das zusammen, was
da als Erneuerung sich in Menschenseelen geltend machen soll,
mit vielen tieferen Impulsen der Menschheitsentwickelung
überhaupt.
Führen Sie noch einmal vor Ihre Seele, daß seit der
Mitte des 15. Jahrhunderts die neuere Menschheitsentwickelung
in bezug auf die Erkenntnis besonders erfüllt worden ist
mit der naturwissenschaftlichen Denkweise, und zwar
hauptsächlich mit jener naturwissenschaftlichen Denkweise,
die auf abstrakte Naturgesetze gebaut ist, die gebaut ist auf
die sinnliche Anschauung und auf die Gedanken, die man sich
über diese sinnliche Anschauung macht. Etwas anderes Till
man nicht gelten lassen als dasjenige, was aus der sinnlichen
Anschauung kommt und dasjenige, was man sich an Gedanken
über diese sinnliche Anschauung macht. Nun habe ich Sie
gestern — ich habe es ja auch vor meinem letzten Weggehen
hier erwähnt — wieder aufmerksam darauf gemacht,
daß es heute schon genügend viele Leute gibt, welche
der rechtmäßigen Auffassung sind, daß mit einer
solchen Naturanschauung, wie wir sie in der eben beschriebenen
Weise uns aneignen, man nur zu einem Gespensterbild von der
Natur kommt. Das, was der Naturforscher als Bild von der Welt
sich macht, ist ein Gespenst von der Welt, ist nicht die
wirkliche Welt. So daß wir sagen müssen: Die
Menschheit ist seit der Mitte des 15, Jahrhunderts in der Lage,
ein gespenstisches Bild von der Welt sich zu machen mit Bezug
auf ihre eine Hälfte. Dahinter steckt aber für die
Wissenschaft der Einweihung etwas sehr Tiefes, und dieses
müssen wir uns auch einmal vor die Seele führen.
Sehen Sie, an der sinnlichen Anschauung als solcher kann man
nicht herumkorrigieren; selbst ob man sie als Maja oder sonst
etwas ansieht, ist im Grunde genommen für eine tiefere
Weltanschauung gleichgültig. An der sinnlichen Anschauung
selbst kann man nicht herumkorrigieren; sie ist das, was sie
ist. Eine rote Blume ist eine rote Blume; ganz
gleichgültig, ob wir sie als Maja oder als eine
Wirklichkeit ansehen, sie ist das, was sie ist. Und so ist die
ganze sinnliche Anschauung das, was sie ist, Die Diskussion
beginnt erst in dem Augenblicke, wo wir uns Gedanken über
diese sinnliche Anschauung machen, wo wir diese sinnliche
Anschauung als dies oder jenes anschauen, als dies oder jenes
interpretieren. Da beginnt erst die Schwierigkeit, Und warum
beginnt da die Schwierigkeit? Sie beginnt aus dem Grunde, weil
die Begriffe, die wir uns seit dem 15. Jahrhundert als Menschen
bilden müssen, andere Begriffe sind als die früheren
Menschheitsbegriffe. Das betrachtet man in der heutigen
Geschichte, die eine «fable convenue» ist, wie ich
öfter gesagt habe, durchaus nicht im richtigen Sinne. Wer
die Möglichkeit hat, einzugehen auf die
Menschheitsbegriffe vor der Mitte des 15. Jahrhunderts, der
weiß, daß diese Menschheitsbegriffe voller innerer
Bildlichkeit waren, daß diese Begriffe eigentlich
Imaginationen waren. Die Abstraktheit der Begriffe, sie ist
erst so vorhanden, wie sie jetzt ist, seit der Mitte des 15.
Jahrhunderts.
Warum haben wir uns als Menschheit so entwickelt, daß wir
seit der Mitte des 15. Jahrhunderts diese abstrakten Begriffe
haben, auf die wir heute so stolz sind, in denen wir uns immer
wieder und wieder bewegen? Warum entwickeln wir als ganze
Menschheit diese abstrakten Begriffe? Sehen Sie, diese
abstrakten Begriffe, die wir als ganze Menschheit uns bilden,
die haben das Eigentümliche, daß sie auf die
sinnliche Welt zwar angewendet werden von uns, aber eigentlich
für diese sinnliche Welt gar nicht taugen. Sie taugen
nichts für die sinnliche Welt, Ich habe das in meinen
«Rätseln der Philosophie» in einer solchen Weise
ausgesprochen, daß ich damals sagte: Wie der Mensch sich
Erkenntnisbegriffe bildet über die Außenwelt, das ist
eine Seitenströmung seiner Seelenentwickelung. Geradeso,
wie wenn man sich ein Samenkorn, sagen wir, in der Erde denkt,
das ist ja eigentlich von der Natur dazu bestimmt, wiederum
Pflanze zu werden; viele Samenkörner aber vermahlen wir zu
Mehl und essen sie als Brot. Aber das ist doch nicht im
Samenkorn vorausbestimmt! Das ist eine Seitenentwickelung, wenn
wir fragen: Enthält das Samenkorn diejenigen chemischen
Bestandteile, die wir zum Aufbau unseres Leibes brauchen? Es
liegt nicht in der Natur, im Wesen des Samenkorns, des Weizens,
des Roggens, uns zu nähren, sondern aus Korn neuen Weizen
oder Roggen hervorzubringen. So liegt es nicht in unserer
Natur, durch unsere Begriffe, die wir uns seit dem 15.
Jahrhundert aneignen, die Außenwelt aufzufassen, sondern
etwas anderes soll uns aus diesen Begriffen werden, wenn wir
uns richtig in ihr Wesen hineinbegeben. Diese Begriffe, welche
die Menschen heute seit der Mitte des 15. Jahrhunderts
entwickeln, die sind nämlich die Schattenbilder
desjenigen, was wir, bevor wir heruntergestiegen sind aus der
geistigen Welt durch die Empfängnis, in der geistigen Welt
erlebt haben. So daß Sie sich vorstellen können
— ich habe schon öfter auf solche Dinge aufmerksam
gemacht (es wird gezeichnet): da ist die Geburt oder
Empfängnis, das Menschenleben geht so: wenn Sie sich das
vorstellen, so sind eigentlich unsere Begriffe, unsere
Begriffskräfte, die in uns sind, die Nachklänge
desjenigen, was wir erleben vor unserer Geburt oder
Empfängnis (siehe Zeichnung). Und wir mißbrauchen
eigentlich unser Begriffssystem, indem wir es anwenden auf die
äußere Sinneswelt.
Tafel 2
Sehen Sie, das liegt der Goetheschen Naturauffassung zugrunde.
Goethe will nicht Naturgesetze durch Begriffe
ausdrücken; er will Urphänomene, das heißt
zusammengestellte äußere Anschauungen, weil er ein
Gefühl dafür hat, daß unser
Begriffsvermögen nicht unmittelbar angewendet werden kann
auf die äußere Natur. Unser Begriffsvermögen
müssen wir als reines Denken ausbilden. Und bilden wir es
als reines Denken aus, dann weist es uns auf unser
vorgeburtliches geistiges Dasein. Wir haben eigentlich unser
heutiges eigentümliches Denken dazu, um unsere geistige
Wesenheit, bevor wir mit einem physischen Leib umkleidet worden
sind, in diesem reinen Denken zu erreichen. Und ehe die
Menschheit nicht begreift, daß sie ihr Denken hat, um sich
als Geist zu begreifen, eher ist noch nicht eigentlich die
Aufgabe des fünften nachatlantischen Zeitraumes in die
Menschenseelen eingezogen. Unsere Naturwissenschaft wurde
gewissermaßen in unser Menschheitsschicksal
hineinverdrängt, damit wir bei der reinen Natur bleiben,
nicht über sie spekulieren, sondern nur unsere Begriffe so
verwenden, daß wir sie anschauen in der richtigen Weise,
dann aber unsere Begriffe ausbilden, um zu schauen, wie wir als
Geist waren, bevor wir durch Empfängnis und Geburt mit
einem physischen Leib umkleidet worden sind. Die Menschen
glauben heute noch, daß sie mit ihrem
Begriffsvermögen bloß die äußere sinnliche
Anschauung klassifizieren sollen und so weiter; sie werden erst
recht tun, wenn sie die Gedanken, welche sie haben seit der
Mitte des 15. Jahrhunderts, anwenden auf die geistige Welt, in
der sie waren, bevor sie mit einem physischen Leib umkleidet
worden sind.
So
ist der Mensch des fünften nachatlantischen Zeitraumes
selber gezwungen auf das Geistige, Vorgeburtliche hin, und so
ist der Mensch noch durch etwas anderes in eine
eigentümliche Situation versetzt, die er ausbilden
muß, die er weiterbringen muß. Parallel geht ja der
naturwissenschaftlichen Gespensteranschauung der
Industrialismus. Ich habe auch darauf schon gestern aufmerksam
gemacht. Und das Hauptsächlichste des Industrialismus ist,
daß die Maschine, der Träger des Industrialismus,
geistig durchsichtig ist. Es bleibt nichts unverständlich.
Ich habe Sie gestern darauf aufmerksam gemacht, wie am Mineral
selbst noch etwas undurchsichtig bleibt; die Maschine ist ja
ganz durchsichtig. Das aber hat zur Folge, daß der
menschliche Wille, der sich auf die Maschine richtet, sich in
Wahrheit nicht auf eine Realität richtet, nicht auf eine
Wirklichkeit richtet. Die Maschine ist im Grunde genommen ein
Schimäre für die umfassende Weltwirklichkeit. Und der
Industrialismus bringt in unser Leben etwas hinein, was den
Willen der Menschen sinnlos macht in einem höheren Sinne,
Es wird ein tiefer Einschlag sein, wenn einmal voll
hineingetragen wird in die neuere Menschheit die
Überzeugung, daß die Maschine und alles, was in ihrem
Gefolge als Industrialismus ist, den menschlichen Willen
sinnlos macht. Wir sind heute schon auf dem Höhepunkt der
Maschinenwirksamkeit angekommen, denn ein Viertel von dem, was
heute auf der Erde hervorgebracht wird, wird nicht durch
Menschenwillen hervorgebracht, sondern durch Maschinenkraft
— ein Viertel davon! Das bedeutet etwas
Außerordentliches, Der menschliche Wille lebt nicht mehr
mit Sinn hier auf der Erde.
Sehen Sie, wenn Sie so etwas wie zum Beispiel die Reden von
Rabindranath Tagore lesen, dann müßten Sie
eigentlich in diesen Reden etwas verspüren, was dem
Europäer, wenn er den gewöhnlichen
Europäer-Verstand, den gewöhnlichen
Europäer-Intellekt anwendet, unverständlich bleibt,
Es herrscht ein anderer Grundton in dem, was heute der
gebildete Asiate sagt, weil dem gebildeten Asiaten einfach
dieses Angepaßtsein des europäischen Geistes an die
Maschine etwas ganz Unverständliches ist, etwas Sinnloses
ist. Für den Orientalen ist das Wirken durch die Maschine,
durch den Industrialismus, etwas Sinnloses. Und etwas ebenso
Sinnloses ist für den Orientalen ob man es nun in Europa
glaubt oder nicht — die im Maschinenzeitalter geborene
europäische Politik. Auch damit verbindet der Orientale
keinen Sinn. Da kommt es durchaus zum Ausdrucke, wenn der
gebildete Orientale spricht, daß für ihn dieses eine
Viertel des Geschehens — es wird ja nicht im Oriente von
den alten orientalisch gebildeten Menschen, sondern eigentlich
nur von den okzidentalischen Menschen und ihren Nachahmern, den
Japanern und so weiter getan —, dieses eine Viertel der
Arbeit der Menschen der Gegenwart als sinnlose Arbeit empfunden
wird, weil der Orientale, der noch viel atavistisches
Anschauungsvermögen hat, weiß, daß alles
dasjenige, was der Mensch in die Maschine hineinsteckt als
Arbeit, eine ganz bestimmte Eigentümlichkeit hat. Wenn der
Mensch sein Pferd, das an den Pflug gespannt ist, durch die
Ackerfurche fahren läßt und er mit dem Pferde
arbeitet, so hat diese Arbeit mit dem Pferde, worinnen noch
Naturkraft mitarbeitet, einen Sinn über die unmittelbare
Gegenwart hinaus, es hat diese Arbeit einen kosmischen Sinn.
Wenn die Wespe ihr Haus baut, so hat dieser Wespenbau einen
kosmischen Sinn. Wenn der Mensch das Feuer anzündet, indem
er den Feuerstein schlägt, den Funken heraussprühen
läßt, damit den Zündschwamm entzündet und
dann das Feuer anzündet, steht er mit der Natur im
Zusammenhange: es hat einen kosmischen Sinn. Durch den modernen
Industrialismus sind wir aus diesem kosmischen Sinn
herausgekommen. Da lebt kein kosmischer Sinn mehr, wenn wir
unsere elektrischen Lichter anzünden! Da ist der kosmische
Sinn heraußen. Und wenn Sie in eine moderne Fabrik
hineingehen, die ganz maschinell gestaltet ist, dann ist das
ein Loch im Kosmos, hat keine Bedeutung für die kosmische
Entwickelung. Wenn Sie in den Wald gehen, Holz sammeln, dann
hat das eine kosmische Bedeutung über die
Erdenentwickelung hinaus. Wenn Sie eine moderne Fabrik
anschauen mit allem, was sie enthält, so hat das keine
Bedeutung über die Erdenbildung hinaus. Da hinein wird der
menschliche Wille versetzt, ohne daß das einen kosmischen
Sinn hat. Bedenken Sie, was das heißt. Das heißt: wir
haben seit der Mitte des 15. Jahrhunderts eine Erkenntnis zu
entwickeln, die gespenstisch ist, die nicht an die Wirklichkeit
herankommt. Wir führen immer mehr und mehr von jener
Tätigkeit aus, zu der wir uns der Maschine bedienen; immer
mehr und mehr vollführen wir aus der industriellen
Tätigkeit heraus, und das, was wir an Willen hineinstecken
in diese industrielle Tätigkeit, ist für die
Weltentwickelung sinnlos.
Die
große Frage tritt vor das Menschengemüt hin: Hat der
Umstand, daß es so ist, daß unsere Erkenntnisse
gespenstisch, unser Wille sinnlos ist in großem
Ausmaße, hat das für die Gesamtheit der
Menschheitsentwickelung doch einen Sinn? Ja, es hat einen Sinn,
es hat einen bedeutungsvollen Sinn. Es hat den Sinn, daß
wir als Menschheit dadurch angehalten werden sollen, über
die gespenstische Erkenntnis hinaus zu der
Wirklichkeitserkenntnis zu dringen, zu jener
Wirklichkeitserkenntnis, die nicht bei der Naturanschauung
stehen bleibt, sondern in das Geistige hineindringt, das hinter
der Natur ist. Solange die Menschen mit ihren Begriffen
zugleich den Geist bekommen haben, konnten sie sich gehen
lassen, brauchten sie sich nicht anzustrengen, den Geist von
sich aus zu erobern. Da den Menschen nur Begriffe geblieben
sind in der neueren Zeit, die den Geist nicht enthalten, aber
die Anlagen dazu enthalten sich zum Geiste hinaufzuarbeiten,
wie ich gesagt habe, so ist im Menschen der Antrieb vorhanden,
aus der abstrakten Erkenntnis in die reale Geist-Erkenntnis
hineinzudringen. Und seit wir den Industrialismus haben mit
seiner Sinnlosigkeit, müssen wir einen anderen Sinn
für den menschlichen Willen suchen. Und den können
wir nur suchen, wenn wir uns aufschwingen zu einer solchen
Weltanschauung, die dasjenige, was sinnlos ist — nennen
wir es Industrialismus —, zum Sinn bringt, indem wir den
Sinn aus dem Geistigen heraus nehmen, indem wir uns sagen: Wir
suchen uns Aufgaben, die aus dem Geiste stammen. Früher
brauchte man sich nicht, weil das Wollen seine Impulse aus dem
Geistigen durch Instinkt nehmen konnte, früher brauchte
man sich nicht besonders aufzuschwingen, um aus dem Geiste
heraus zu wollen. Heute ist es notwendig, daß man sich
besonders anstrenge, aus dem Geiste heraus zu wollen. Und wir
müssen entgegenstellen dem sinnlosen industriellen Wollen
ein sinnerfülltes Aus-dem-Geiste-heraus-Wollen.
Gestern habe ich Ihnen ein Beispiel angeführt in der Art,
wie wir erziehen sollen. Wir sollen erkennen, daß bis zum
7. Jahr der Mensch, weil er ja seinen physischen Leib besonders
entwickelt, ein Nachahmer ist; wir sollen das zur Grundlage der
Erziehung machen. Wir sollen vom 7. bis 14. Jahr wissen,
daß wir den Menschen zu entwickeln haben unter dem Prinzip
der Autorität, und wir sollen diese Geist-Erkenntnis, die
wir gewinnen, wenn wir wissen, wie der Ätherleib vom 7.
bis 14. Jahr sich entwickelt, wir sollen diese Geist-Erkenntnis
zum Impuls des Erziehungswesens machen. Und wir sollen wissen,
wie der astralische Leib vom 14. bis 21. Jahr sich entwickelt,
und wir sollen diese Erkenntnis zum Impuls des Erziehungswesens
machen. Dann, erst dann wollen wir aus dem Geiste heraus.
Bis
in die Mitte des 15, Jahrhunderts haben die Menschen instinktiv
aus dem Geiste heraus gewollt. Wir wollen im Grunde ganz uns
hineinarbeiten im äußerlichen Leben in das
Maschinelle, in den Mechanismus — sogar in der Politik,
die allmählich die Staaten zu Maschinen gemacht hat. Wir
müssen zurückstreben zu einem geistdurchseelten
Wollen. Dazu müssen wir aber aufnehmen die Idee der
Geisteswissenschaft, müssen zum Beispiel anfangen beim
Erziehen so, daß wir zugrunde legen dasjenige, was wir aus
der Erkenntnis der geistigen Welt heraus wissen, daß wir
so erziehen, wie es uns anthroposophische Geisteswissenschaft
angibt. Durch dieses stärkere, bewußtere Betonen des
Wollens aus dem Geiste heraus setzen wir ein Gegenbild gegen
das sinnlose Wollen des Industrialismus.
So
ist uns der Industrialismus mit all seinem Menschen- und
Seelenverödenden gegeben, damit wir in dieser Ode uns
aufraffen dazu, aus dem Geiste heraus zu wollen. Und wir
können am besten anfangen, in der Erziehung aus dem Geiste
heraus zu wollen, wenn wir so erziehen, wie aus dem Geiste und
seiner Erkenntnis heraus erzogen werden soll. Vieles muß
in der heutigen Zeit umgedacht werden. Dazu bedarf es aber
eines sorgfältig und intim ausgebildeten inneren
Wahrheitsgefühls. Wir müssen heute uns klar sein
darüber, daß inneres Wahrheitsgefühl auch da, wo
wir noch nicht gewohnt sind es anzuwenden, allmählich
angewendet werden muß. Sehen Sie, ich glaube, es
könnte heute mancher erstaunt sein, wenn man ihm sagt: Du
hast recht, wenn du Raffael wegen seiner Bilder besonders
verehrst; wenn du aber verlangst, die Leute sollen heute so
malen wie Raffael, dann hast du unrecht. Denn nur derjenige hat
ein Recht, Raffael zu bewundern, der weiß, daß der
heute ein schlechter Maler ist, der so malt, wie Raffael gemalt
hat: denn er malt dann nicht so, wie es aus den Impulsen
unserer Zeit heraus sein muß. Man empfindet nicht mit der
Zeit mit, wenn man diese Dinge nicht so empfindet, daß man
die Aufgaben einer bestimmten Zeit jeweilig durch und durch
empfindet. Es ist notwendig, daß man in unserer Zeit ein
intimes, ein ganz intimes Wahrheitsgefühl nach dieser
Richtung hin sich aneignet. Aber die gegenwärtige
Menschheit geht auch in dieser Beziehung durch das
Entgegengesetzte durch; denn man hat den Eindruck, daß
überall und überall das Wahrheitsgefühl ein Leck
bekommen hat, nicht funktioniert, und daß man
zurückschreckt heute davor, das Richtige richtig, das
Falsche falsch zu nennen, daß man zurückschreckt
davor, die Lüge wiederum als Lüge zu kennzeichnen. In
dieser Beziehung kann man ja heute das Allerentsetzlichste
erfahren, und die Menschen sind gleichgültig über
solch Entsetzliches, das man erfahren kann! Aber darum handelt
es sich, daß man zum Beispiel so wahr empfindet, daß
man weiß: Raffaelsche Malerei gehört nicht mehr in
die Gegenwart herein, muß angeschaut werden als etwas
Vergangenes — und auch als etwas Vergangenes bewundert
werden. Das ist in unserer Zeit ganz besonders notwendig,
daß wir auf solche Dinge achten, wo aus den tiefsten
Tiefen der Seele heraus der Impuls, wahr zu sein, uns einmal
überkommt. Ich muß oftmals an eine schöne Stelle
in Herman Grimms Lebensbeschreibung des Michelangelo
denken, wo Herman Grimm über Michelangelos
«Jüngstes Gericht» spricht. Wo er zugleich
darüber spricht, wieviele solcher Bilder
«Jüngstes Gericht» gemalt worden sind in jener
Zeit, wo er spricht davon, wie in jener Zeit die Menschen voll
in Wirklichkeit erlebt haben die Wahrheit desjenigen, was da an
die Wand gemalt worden ist, Die Menschen lebten in diesen
Bildern vom «Jüngsten Gerichte» als in einer
Wahrheit. Man sollte eigentlich ein solches Bild wie
Michelangelos «Jüngstes Gericht» gar nicht
anschauen heute, ohne sich bewußt zu sein, daß wir ja
nicht so empfinden wie diejenigen Menschen, für die
Michelangelo dieses «Jüngste Gericht» gemalt
hat, daß wir dieses Empfinden verloren haben, daß wir
höchstens uns sagen: Das ist ein Bild von irgend etwas, an
das wir aber nicht mehr als an eine unmittelbare Wirklichkeit
glauben,
Bedenken Sie doch nur, der Mensch, der das heutige
Bewußtsein hat und nicht meint, daß nun wirklich die
Engel herunterkommen oder die Teufel so wirtschaften wie auf
dem Bilde des Michelangelo, dieser Mensch steht doch anders vor
diesem Bilde, als der Mensch jener Zeit, für die
Michelangelo gemalt hat, der diese Bilder als Realitäten
schaute und vor sich hatte. Gerade dann aber, wenn man sich
klar ist, daß dasjenige, was der heutige Mensch vor dem
«Jüngsten Gericht» des Michelangelo empfindet,
etwas Graues, etwas Abstraktes ist, gerade dann wird man
innerlich aufgerufen, nachzufühlen das ganze lebendige
Weben in den Bildern, die auf dieser Wand des
«Jüngsten Gerichtes» sind. Dann wird man
aufgerufen, sich zu fragen: Wie kamen denn die Menschen eines
Zeitalters — Michelangelo malte allerdings nach dem
Abfluten des vierten nachatlantischen Zeitraumes, aber er malte
aus dem Geiste dieses vierten nachatlantischen Zeitraums
heraus, stand an der Grenzscheide der beiden Zeiträume,
ich habe das einmal in den Kunstvorträgen
auseinandergesetzt wie kamen die Menschen dazu, solches
Gewaltige in Imaginationen, in Bildern zu schauen? Diese Frage,
sie tritt einem wirklich in aller Größe entgegen,
gerade wenn man sich bewußt ist, wie grau dasjenige, wie
unlebendig das ist, was der heutige Mensch vor solch einem
Bilde von Michelangelo empfindet. Und dann muß man sich
nach der Ursache fragen: Woher kommt es, daß die
Menschenseelen damals das Erdenende so anschauen konnten? Woher
kam der Aufbau dieser Bilder?
Der
Grund, der liegt in folgendem. In der ersten Zeit des
Christentums, seit jener Zeit, da das Mysterium von Golgatha
eingeschlagen hat in die Erdenentwickelung, der
Erdenentwickelung ihren Sinn gegeben hat, da mußte
zunächst zurücktreten manches, was in der alten Weise
vorhanden war, was später von der Menschheit wieder
erobert werden sollte. Zu diesem gehört die Anschauung von
den wiederholten Erdenleben. Wenn wir uns graphisch darstellen
dieses Leben (es wird gezeichnet), so verfließt das menschliche
Gesamtleben so: Erdenleben, Leben in der geistigen Welt;
Erdenleben, Leben in der geistigen Welt und so weiter. Daß
das menschliche Gesamtleben so verfließt, das war ja
Inhalt der atavistisch instinktiven Weltanschauung der alten
Zeiten. Das Christentum mußte zunächst anderes im
Menschen anregen als dasjenige, was man in dieser alten
Weisheit geschaut hat. Welcher Mittel hat sich das Christentum
zunächst bedient? Es hat das menschliche Leben nur bis zu
diesem Zeitpunkt hinauf (siehe Zeichnung: Kreuz) in das
menschliche Bewußtsein hineingeführt: das
gegenwärtige Erdenleben. — Das vorhergehende Leben
bis zum letzten Tode hin, der Mensch aber auch vor der Geburt,
vor der Empfängnis: nur ein Gedanke der Gottheit, nicht
eine menschliche Individualität, ein Gedanke der Gottheit.
Vor dem Menschen die geistige Welt, aus der er als ein Gedanke
der Gottheit hervorgeht, als eigentlicher Mensch erst beginnend
mit der Geburt, Dann reihte man daran das Leben nach dem Tode.
Man hat gewissermaßen in der ersten Zeit der Entwickelung
des Christentums «verlegt» das Hinaufschauen: da
Leben zwischen Tod und neuer Geburt, Erdenleben, dann wieder
Leben zwischen Tod und neuer Geburt, Erdenleben und so weiter;
man hat das menschliche Empfinden eingeschränkt, nur
hinzuschauen auf die Ursprünge des Menschen, und dann auf
das Leben nach dem Tode. Das aber hat auf der anderen Seite das
Gleichgewicht gegeben, die Bilder erzeugt von dem
«Jüngsten Gericht». Diese Bilder von dem
«Jüngsten Gericht» entstanden dadurch, daß
das Christentum zuerst die Präexistenzlehre, die Lehre von
dem geistigen Existieren vor der Empfängnis und vor der
Geburt, aus dem menschlichen Empfinden herausgetrieben hat.
Heute strömt wiederum aus den Untergründen des
Menschlich-Seelischen das Bedürfnis herauf, die
wiederholten Erdenleben zu erkennen. Daher verblassen die
Bilder, die nur das eine Erdenleben ins Auge fassen und vorher
und nachher die geistige Welt. Es ist das intensivste
Bedürfnis vorhanden, die christliche Weltanschauung, wie
sie in den ersten Zeiten war, zu erweitern. Das Mysterium von
Golgatha hat nicht nur für diejenigen gewirkt, die ein
Erdenleben annehmen, sondern das Mysterium von Golgatha ist
auch gültig für diejenigen, die von den wiederholten
Erdenleben wissen. Dieser Erweiterung bedarf es in der
Gegenwart. Und so müssen wir uns klar sein, daß wir
in diesem Zeitpunkt drinnen stehen, wo wir benützen sollen
die Gespensterhaftigkeit der gewöhnlichen
Begriffserkenntnis, die Sinnlosigkeit des durch Industrialismus
ausgelösten Wollens zu dem Aufschwung nach geistiger
Erkenntnis und nach geistdurchsetztem Wollen, wie ich es
geschildert habe; auf der anderen Seite aber auch um das
religiöse Bewußtsein zu erweitern über die
wiederholten Erdenleben hinaus.
Tafel 2
Die
ganze volle Wichtigkeit dieser Erweiterung des menschlichen
Bewußtsein in der Gegenwart, die sollte sich der Mensch
der Gegenwart ganz tief, tief in die Seele schreiben. Denn
davon hängt es im Grunde genommen ab, ob er wirklich
versteht, in der Gegenwart zu leben und die Zukunft in
richtigem Sinne vorzubereiten. Im Grunde genommen kann ja jeder
auf dem Platze, auf dem er im Leben steht, die Anwendung dieser
Sache machen. Und schließlich wird schon eine
äußere Erkenntnis die Menschen dazu bringen, nach
etwas zu verlangen, was gegenwärtig in den
unterbewußten Tiefen des Seelenlebens sehr spielt, was
aber schwer in das volle Bewußtsein heraufklingt und
herauftönt. Sehen Sie, das Auffälligste im Leben der
Gegenwart ist ja, daß heute so viele zerrissene
Menschenseelen herumgehen, Menschenseelen, die eigentlich
problematisch sind, die nicht voll mit dem Leben etwas
anzufangen wissen, die immer wieder und wiederum fragen: Was
soll gerade ich tun, was meint das Leben gerade mit mir?
— die das oder jenes angreifen und doch nicht zu ihrer
Befriedigung. Immer mehr und mehr werden der Menschen, die so
problematische Naturen sind, Woher kommt das? Das kommt davon,
daß dies schon ein Mangel in unserem Erziehungswesen ist.
Wir bilden heute unsere Kinder so aus, daß wir nicht
diejenigen Kräfte in ihnen erwecken, welche den Menschen
stark für das Leben machen: Das, was den Menschen stark
macht dadurch, daß er ein Nachahmer ist bis zum 7. Jahre,
was ihn stark macht dadurch, daß er einer würdigen
Autorität folgt bis zum 14. Jahre; daß er die Liebe
in der richtigen Weise bis zum 21. Jahre entwickelt kriegt,
denn später kann man es nicht mehr entwickeln. Das, was
dem Menschen fehlt dadurch, daß die Kräfte, die in
bestimmten jugendlichen Lebensjahren entwickelt werden
müssen, nicht erweckt werden, das macht ihn zur
problematischen Natur. Das muß man nur wissen!
Deshalb mußte ich gestern sagen: Will man wirklich eine
soziale Gestaltung der Zukunft, so muß man wollen diese
Sache gerade durch die Erziehung des Menschen vorbereiten. Dazu
ist notwendig, daß man nun wirklich in diesen Dingen nicht
mit kleinen, sondern mit großen Posten rechnet.
Allmählich ist unser Erziehungswesen so geworden, als ob
wir gerade schreiten wollten zu dem, was ich gestern
charakterisierte als Mechanisierung des Geistes,
Vegetarisierung der Seele, Animalisierung der Leiber.
Wir
dürfen nicht zu dem schreiten. Wir müssen die
Kräfte, die in der menschlichen Kinderseele entwickelt
werden können, stark entwickeln, damit der Mensch sie
später holen kann aus der Entwickelung seiner Kindheit
heraus. Heute schaut er in die Kindheit zurück, fühlt
sich in die Kindheit zurück, kann nicht herausholen aus
seiner Kindheit etwas, weil eben nichts entwickelt worden ist.
Aber unsere Erziehungsgrundsätze müssen sich
gründlich ändern, wenn wir in diesem Punkt gerade das
Richtige treffen wollen! Wir müssen vor allen Dingen auf
vieles sehr aufmerksam hinhorchen, was in der Gegenwart als
ganz besonders gepriesen wird, als besonders Heilsames
gepriesen wird.
So
haben wir nötig, daß, ohne daß der Bogen
überspannt wird, nicht durch Anstrengung, sondern durch
Ökonomie der Erziehung, Konzentration bei den Kindern
erreicht werden soll. Dies können wir in der Weise, wie es
der heutige Mensch braucht, nur erreichen, wenn wir etwas
abschaffen, was heute noch sehr beliebt ist: wenn wir den
verfluchten Stundenplan in den Schulen abschaffen, dieses
Mordmittel für eine wirkliche Entwickelung der
menschlichen Kräfte. Man denke nur einmal nach, was es
heißt: von 7—8 Rechnen, von 8—9 Sprachlehre,
von 9—10 Geographie, von 10—11 Geschichte! Alles
dasjenige, was von 7—8 die Seele durchwogt hat, wird
ausgelöscht von 8—9 und so weiter. In diesen Dingen
ist es heute notwendig, den Sachen auf den Grund zu gehen. Wir
dürfen überhaupt nicht mehr daran denken, daß
Lehrfächer da sind, damit «Lehrfächer»
gelehrt werden; sondern wir müssen uns klar sein: im
Menschen vom 7. bis 14. Jahre müssen entwickelt werden in
der richtigen Weise Denken, Fühlen und Wollen. Geographie,
Rechnen, alles muß so verwendet werden, daß in der
richtigen Weise Denken, Fühlen, Wollen entwickelt
werden.
Viel spricht man in der heutigen Pädagogik davon, man soll
die Individualitäten entwickeln, man soll der Natur
ablauschen, welche Fähigkeiten man entwickeln soll. Alles
Phrasen! — weil diese Dinge nur einen Sinn bekommen
können, wenn man die Sache aus der Geisteswissenschaft
heraus bespricht; sonst bleibt es Phrase. Es wird daher in der
Zukunft notwendig sein, daß man sich sagt: Für ein
bestimmtes Lebensalter ist zum Beispiel vor allen Dingen
notwendig, etwas Rechnen beizubringen. Dazu muß man zwei,
drei Monate verwenden, um an den Vormittagen Rechnen
beizubringen. Nicht einen Stundenplan, der alles durcheinander
enthält, sondern der Rechnen eine Zeitlang treibt —
dann weitergehen. Und genau die Dinge so einstellen, daß
sie eingestellt sind auf das, was die Menschennatur in einem
bestimmten Zeitpunkt verlangt!
Sie
sehen, welche Aufgaben eine in die Zukunft hin arbeitende
Pädagogik eigentlich hat. In diesen Dingen liegen die
positiven Probleme, die heute den Menschen gestellt werden, die
über das soziale Werden ernsthaftig nachdenken. Davon ist
noch wenig Verständnis vorhanden. In Stuttgart soll nun,
sich anschließend an unsere bisherige soziale
Tätigkeit, eine Schule, so weit man sie innerhalb des
heutigen Schulsystems haben kann, aufgebaut werden. Herr Molt
hat beschlossen, für die Kinder seiner Fabrik, der
Waldorf-Astoria-Fabrik, eine solche Schule zu begründen;
andere Kinder werden sich anschließen können, aber
natürlich zunächst nur eine begrenzte Zahl. Man wird
selbstverständlich zu rechnen haben heute noch mit den
Lehrzielen, die der sogenannte Staat stellt. Man wird die
Kinder bis zu diesem Jahr da und dorthin bringen müssen,
man wird also Kompromisse schließen müssen, aber man
wird schon hineinmischen können in dasjenige, was der
Staat nun einmal schon verlangt, weil der nun nach
sozialistischen Anschauungen der ganz besonders gescheite
Götze ist — man wird hineinmischen müssen in
das, was von dieser Seite gefordert wird, dasjenige, was die
wirkliche Menschennatur verlangt. Das muß aber vor allen
Dingen einmal erkannt werden. Wer denkt denn heute daran,
daß der Stundenplan der Mord ist der wirklichen Erziehung
des Menschen? Es gibt Leute, die denken in dieser Richtung so,
daß man sagen möchte: Die Welt steht auf dem Kopf,
und man muß sie wieder auf die Beine stellen; denn es gibt
heute Leute, die möchten die Stunden noch abkürzen,
halbstündig die Gegenstände lehren und
aufeinanderfolgen lassen. Das betrachten heute manche als ein
Ideal. Man soll sich nur vorstellen, was das für ein
ungeheures Kaleidoskop gibt, hintereinander: Religion, Rechnen,
Geographie, Zeichnen, Singen! Da drinnen — im Kopfe
— schaut es dann aus, wie wenn die Steine in einem
Kaleidoskop durcheinandergeworfen sind; nur für die
Außenwelt «schaut es nach was aus», denn es ist
da nicht der geringste Zusammenhang. Man will es eben durchaus
nicht glauben, daß es heute notwendig ist, ins Große
zu denken, nicht ins Kleine zu denken, große
Gesichtspunkte, umfassende Gesichtspunkte zu haben. Man erlebt
ja heute immer wieder und wiederum, daß die Leute nun sich
endlich bequemt haben, zu sagen: Ja, Revolution muß sein!
Selbst ein großer Teil der Spießer glaubt heute schon
an die Revolution. Ich weiß nicht, ob es gerade hier so
ist, aber es gibt weite Gegenden, wo selbst ein großer
Teil der Spießer an die Notwendigkeit der Revolution
glaubt. Aber wenn man ihnen dann mit solchen Sachen kommt, wie
sie zum Beispiel in meinem Buch «Die Kernpunkte der
sozialen Frage» über die Dreigliederung stehen, sagen
sie: Das verstehen wir nicht, das ist kompliziert. —
Schon der Lichtenberg hat zwar gesagt: Wenn ein Kopf und
ein Buch zusammenkommen und es klingt hohl, muß nicht
immer gerade die Schuld an dem Buch liegen. Aber, nicht wahr,
diese Dinge glauben die Leute heute nicht, weil nicht immer die
Selbsterkenntnis dasjenige ist, was in den Seelen am meisten
erzeugt wird. Doch man erlebt es ja auch, daß selbst schon
über weite Gegenden hin die Spießer an die Revolution
glauben. Aber dann sagen sie: Na ja, auf so große Sachen,
auf solche Gedanken, da kann man sich nicht einlassen, du
mußt uns sagen — ja, wie das Schuhemachen
sozialisiert werden soll, wie die Apotheken sozialisiert werden
sollen, wie das und das sozialisiert wird; du sollst uns sagen,
wie im revolutionierten Staate ich meine Gewürze verkaufen
werde.
Man
merkt dann allmählich, was die Leute eigentlich meinen mit
einer solchen Sache. Sie meinen also, es müsse
revolutioniert werden — damit sind sie schon ganz
einverstanden — aber so, daß alles beim alten
bleibt, so daß nichts sich eigentlich verändert. Wie
können wir die Welt drunter und drüber machen?, sagt
mancher, aber daß sich ja nichts verändert! Und
diejenigen, die in dieser Beziehung am merkwürdigsten
sind, das sind gerade die sogenannten Intellektuellen. Ja, da
kann man ganz besonders merkwürdige Erfahrungen machen.
Eine Erfahrung die man immer wieder machen mußte, war,
daß man zu hören bekam: Ja, drei Glieder —
Universitäten autonom, das Geistesleben soll sich selbst
verwalten —, wovon werden wir dann leben? Wer wird uns
unsere Gehälter bezahlen, wenn uns der Staat nicht mehr
unsere Gehälter bezahlt?
Aber diesen Dingen muß heute ins Auge geschaut werden. Es
ist doch notwendig, daß man nicht immer wieder und
wiederum über diese Dinge hinweggeht. Gerade auf dem
Gebiet des Geisteslebens muß Wandel geschaffen werden.
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