München, 10. Dezember 1913
Zweiter Vortrag
Bevor ich fortfahren werde, Ihnen einiges
Weitere aus dem Fünften Evangelium mitzuteilen, gestatten Sie mir einige
Bemerkungen zu machen, die
zusammenhängen mit der Bekanntgabe dieses
Fünften Evangeliums. Es wird
keineswegs im weiteren Kreise der Gegenwart schon die Bedeutung desjenigen erfaßt, was durch
den Okkultismus, die
Geisteswissenschaft an unsere Zeit herangebracht werden
soll, denn es ist noch allzuwenig
Neigung vorhanden in weiteren Kreisen, sich zu befassen mit den niedergehenden Kulturelementen
unserer Zeit, namentlich den
geistigen Kulturelementen und denen, die einen
Aufstieg bedeuten und gewissermaßen
der Anfang sind zu einer Erneuerung unseres geistigen Lebens,
und die doch keine andere Gestalt annehmen können als die,
welche zu einer, wenn auch heute noch so sehr verpönten Bekanntschaft mit den Tatsachen
der konkreten okkulten Forschung
führen.
Die Bitte vor allen Dingen möchte ich
an Sie richten, im Zusammenhang mit dem eben Gesagten zu
bedenken, daß solche Mitteilungen aus konkreter okkulter
Forschung heute noch mit einer gewissen Pietät behandelt werden müssen. Unsere Zeit
ist ganz und gar nicht geneigt, ohne
weiteres solche Dinge aufzunehmen und nur das Mitleben, das
Mit-ihnen-Empfinden aus Lebensimpulsen, die wir in uns
aufnehmen in unserem anthroposophischen
Zusammensein, macht unsere Seelen
geeignet, diese Dinge im rechten Licht zu sehen. Wenn
sie aber an Unvorbereitete übertragen
werden, dann zeigt schon das, was
durch den Druck der Öffentlichkeit übergeben werden
mußte über die beiden
Jesusknaben, wie wild auch die Gutmeinendsten wurden. Ich will
ganz absehen von den zahlreichen törichten
Angriffen, die gegen solche Dinge
gerichtet werden. Wie wild und leidenschaftlich sind solche
Dinge aufgenommen worden! Man kann sich heute
nicht denken, daß aus der geistigen
Welt heraus Erkenntnisse, die weniger einen abstrakten, die einen so konkreten
Charakter haben wie die
Forschungsergebnisse, die vorgestern mitgeteilt worden
sind, wirklich als Erkenntnisse
herausgeholt werden können. Das hängt zusammen
— wenn es auch nicht ohne weiteres erkennbar ist,
daß es zusammenhängt
— mit jener gründlichen Oberflächlichkeit
namentlich auch des Denkens und Vorstellens, welche unsere
zeitgenössische Weltanschauungsliteratur ergriffen hat.
Nicht um überflüssigerweise
kritisch zu sein, erwähne ich gerade innerhalb unserer Zweige das eine oder das andere,
sondern um unsere Freunde aufmerksam
zu machen, wie jämmerlich es steht auch mit
der reinen Denklogik in unserer Zeit. Es
ist in unserer Zeit nicht vorhanden
Unterscheidungsvermögen. Man nimmt, mehr als man
glaubt — namentlich da man immer schreit über das sich
Emanzipieren von jeglicher
Autorität — , gern und willig alles auf
Autorität hin an, besonders in den Kreisen, die sich heute
oft für die gebildetsten halten. Man erlebt solche Dinge immer wieder, die —
selbst wenn es nur durch Inanspruchnahme der Zeit geschehen kann, die sonst
besser zu verwenden wäre — erwähnt werden
müssen, Dinge wie ich sie in Berlin erleben mußte bei einem Vortrag, den ich in einem
Weltanschauungsbund über Giordano Bruno hielt
und wo ich zu erwähnen hatte — es ist
das lange her — , wie wenig unsere
Zeit geeignet ist, sich in das Gedankengefüge großer
Persönlichkeiten wie Giordano Bruno wirklich
hineinzufinden. Ich machte damals
aufmerksam auf die Denkverirrung, die mit einer
Empfindungsverirrung zusammenhängt, in einem damals berühmten Buch, in
Harnacks «Wesen des Christentums».
Ich habe gestern im öffentlichen
Vortrag bemerkt, daß ich, wenn ich etwas erwähne, um es zu bekämpfen, nicht
damit sagen will, daß die
Kapazität, die Wissenschaftlichkeit dieser
Persönlichkeit damit abfällig beurteilt werden soll.
Ich will damit gerade zeigen, wie das Bedeutende zu gleicher
Zeit verheerend wirkt durch die suggestive Wirkung. So
mußte man dazumal die Erfahrung machen, daß
diese Schrift, «Wesen des
Christentums», von einem der berühmtesten Theologen
der Gegenwart als etwas sehr Bedeutendes angesehen
worden ist. Da geht man nicht ein
auf Einzelheiten. Da wird in dieser Schrift vertreten zum Beispiel die Anschauung über die
Auferstehung des Christus Jesus, die
etwa so lautet: Was auch geschehen sein mag damals in Palästina, das können wir heute
nicht mehr wissen, so daß man
den Auferstehungsbegriff nicht zu rekonstruieren
braucht; aber ausgegangen ist von
dieser Tatsache in Palästina der Glaube
an die Auferstehung. An diesen Glauben
halte man sich, gleichgültig was geschehen sein mag,
das zu diesem Glauben geführt haben könne.
Der Vorsitzende dieses
Weltanschauungsbundes sagte mir nach dem Vortrag, er habe Harnacks «Wesen des
Christentums» genau gelesen, aber er habe diese Stelle in
dem Buche nicht gefunden. Das wäre ja eine katholische Anschauung. Die
Katholiken sagen: Es kommt nicht
darauf an, ob das in Trier der Heilige Rock sei, sondern
auf den Glauben, daß es der Rock sei.
Er wandte sich zwar dagegen, erklärte aber, es stände nicht in dem Buch.
Am nächsten Tag schrieb ich ihm
die Seite, wo es selbstverständlich steht. Der gelehrte
Herr liest einfach darüber
hinweg. So verheerend ist heute alles das, was
als Autorität suggestiv wirkt,
daß man es nicht bemerkt, aber diejenigen, die sich im
wahren Sinne Anthroposophen nennen, müssen
so etwas merken, denn es ist das
Allerverheerendste in der heutigen Geisteskultur.
Der Name Eucken ist bekannt
als der des Wiederherstellers des Idealismus. Eine berühmte Preisstiftung ist ihm
zuteil geworden. Er soll darum nicht
beneidet werden. Er schrieb ein Buch unter dem
Titel: «Können wir noch Christen
sein?» Da findet sich, daß auf einer Seite gesagt wird: Solche Dinge können wir
als Gebildete der Gegenwart nicht
mehr hinnehmen, daß Leute von Dämonen sprechen, wie
zur Zeit als Christus auf der Erde wandelte. An
Dämonen kann kein gebildeter
Mensch der Gegenwart mehr glauben.
Wenn der «gebildete» Mensch der
Gegenwart das liest, so fühlt er sich sehr geschmeichelt. Der ihm das Kompliment macht,
ist sein Mann. Ob dieser Gebildete
merkt, daß sich einige Seiten weiter in
demselben Buche ein anderer Satz findet
«Die Berührung von Göttlichem und Menschlichem
erzeugt dämonische Mächte»? Das wird
so hübsch hingenommen. Wenn man das
anführt als Unsinn, hört man die Antwort: Das meint er nicht im Sinne des
Dämonischen. — Wenn man
diese Antwort hört, muß man besonders betrübt
sein, denn aus dieser Antwort wird
vollständig klar, daß man heute die
Worte in gewissenloser Weise braucht, ohne
daran zu denken, ihnen den Sinn zu
geben, den sie haben sollen. Das ist das Furchtbare.
Daher kann es auch nur kommen, daß
eine so betrübende Erscheinung zutage getreten ist wie das
Buch, das jetzt schon, trotzdem es drei dicke Bände umfaßt, eine zweite Auflage
erlebt, das Buch «Kritik der Sprache» von
Fritz Mauthner, der durch die Verfassung eines großen philosophischen Wörterbuches der Mann
für viele geworden ist. Solche
Erscheinungen müssen heute besprochen werden, wenn
es auch nicht angenehm ist. Die
«Kritik der Sprache» soll die letzte
bedeutende Kritik alles philosophischen
Weltanschauungsstrebens sein. Ganz
bedeutend ist das Buch im Sinne der äußeren
Gescheitheit der Gegenwart. Nicht
bestritten soll werden, daß es ein bedeutendes
Buch ist, voller geistreicher Apercus.
Abgekanzelt wird da die ganze Weltanschauungsvergangenheit der Menschheit. Bei der
Abkanzelung einer Weltanschauungsströmung, die mir auch
nicht sympathisch sein kann,
gebraucht der Kritiker ganz ernsthaft folgendes Bild:
Der da von dieser Weltanschauung
spricht, ist wie ein Clown, der auf eine freistehende Leiter steigt und sie dann, oben
angekommen, zu sich hinaufziehen
wollte. Er wird herunterpurzeln. — Aber ich bitte
Sie: Wie macht man das, wenn man
eine Leiter senkrecht aufgestellt hat und hinaufgestiegen ist und dann oben sie zu sich
hinaufzieht und dann
herunterpurzelt? Wie vollzieht man einen solchen
Gedanken, ohne gedankenlos zu sein?
Diesen hohlen Gedanken bemerken die meisten Leute nicht, weil heute wenig Übung in der
Logik da ist. Sonst würde man
bemerken, daß heute in jedem zweiten Buch auf
jeder zwanzigsten Seite solche Ungedanken
sich finden. Das muß auch einmal erwähnt werden, weil es charakteristisch
ist dafür, wie heute gedacht
wird, wie das Denken suggestiv beeinflußt wird. Ich
habe dieses Beispiel nicht ohne
Bedeutung angeführt, denn für den der
denken kann, ist das ganze Buch mit
derselben Logik geschrieben, aber
man merkt es nicht. Viele werden nicht einmal die
Unmöglichkeit dieses Gedankens bemerken, sondern so, wie
das Geistesleben heute nun einmal
ist, wird eine solche literarische Erscheinung als
etwas ungeheuer Bedeutendes ausposaunt und
viele glauben, daß das so ist,
studieren es, und aus der Summe derer, die in einer
solchen Weise denken können,
rekrutieren sich die Gegner der Geisteswissenschaft.
Ich finde es brutal, daß ich dieses zu
sagen genötigt bin, aber es muß schon einmal gesagt werden, weil Sie nicht
ungewarnt sein sollen vor dem, was heute passiert. Wenn auch
nicht viele das Buch lesen werden,
aber das, was davon abstammt, wandert in viele
Bücher und Vorträge und
figuriert als Logik. Daher kommt es ja, daß es so
unendlich schwierig ist gegenüber dem
unreifen Denken unserer Zeit, nicht
nur mit geisteswissenschaftlichen Gedanken zu kommen, sondern
mit den positiven Resultaten der Akasha-Forschung, von
denen ich das letzte Mal sprach. Das
nötigte mich zum Aussprechen der Worte, die eben gebraucht worden sind, daß
wirklich von unseren Freunden
empfunden werden sollte die Notwendigkeit, sich gründlich
und tief zu durchdringen — gerade dann, wenn es sich
darum handelt, Dinge zu behandeln,
bei denen das gewöhnliche Denken nicht mehr ausreichen kann — mit der Anschauung
von der Notwendigkeit eines streng geschulten Denkens. Sonst
wird es selbstverständlich noch lange dauern, bis wir
dahin kommen, daß wir gegenüber dem Denknebel unserer
Zeit, der sich so kritisch gebärdet, mit
positiver okkulter Forschung durchkommen.
Selbstverständlich kann diese
nur einer aufnehmen, der seine Seele durch die Ergebnisse
der Geisteswissenschaft, die mehr in
Gedanken geprägt werden können, erst vorbereitet hat. Zu solchen nur kann man sprechen
von Dingen, in die man mit
bloßen Gedanken nicht mehr hineinkommen kann,
sondern die erzählt werden
müssen, wie sie sich ergeben aus der Akasha-Forschung. Nicht unzusammenhängend —
trotzdem es nur Erzählungen
sind, was ich als Fünftes Evangelium gab — sind sie
mit dem, was in strengem
Gedankengefüge auch die Geistesforschung zu
geben hat, wenn es auch nicht sogleich so
erscheint.
Die Ablehnung dieser konkreten
Forschungsresultate rührt von nichts anderem her als davon, daß das moderne
Denken zu stumpf ist, um wirklich in
die Ergebnisse der Geistesforschung einzudringen.
Erkennen sollte man, daß es
natürlich ist, daß ein Mensch, der solche
Gedanken formen kann wie sie angeführt
wurden, gar nicht in der Lage ist,
in die Geisteswissenschaft wirklich einzudringen. Das
ergibt die Richtlinie, die wir
einhalten sollen gegenüber dem, was sich heute
vielfach als philosophische
Weltanschauungsliteratur brüstet. Das macht notwendig, daß wir uns gerade bei
Besprechung solcher Dinge durchdringen mit dem Gedanken von der Notwendigkeit,
daß solche Dinge
gegenwärtig wenigstens an einige Seelen herankommen,
damit sie allmählich in der
richtigen Weise in das Geistesleben der Gegenwart
einfließen.
Nun habe ich öfter auf das Mysterium
von Golgatha hingewiesen, auf die
Momente davon, welche durchaus einem strengen Denken
begreiflich sein müssen, wenn dieses
einsetzen will in der Betrachtung der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit. Eine
wirkliche Betrachtung der
geschichtlichen Entwickelung der Menschheit haben
wir im Grunde genommen gar nicht. Wir haben
heute keine Geschichte, kein verständnisvolles Eindringen
in das, was geschehen ist. Haben wir
das einmal, dann wird man erkennen, wie in der Zeit vor
dem Mysterium von Golgatha in der Tat die
Menschheitsentwickelung eine absteigende war, und wie durch
Golgatha ein Impuls eintrat, wodurch der Menschheit jene
Verjüngung gegeben wurde, die die alt gewordenen Kulturkräfte influenzierte.
Durch die Betrachtung der konkreten Ereignisse, die sich in
Palästina abspielten, wird wahrhaftig dieser allgemeine Gedanke nicht
herabgestimmt, er wird im Gegenteil
erhöht durch Erkennen des Konkreten, das sich zugetragen
hat.
Vorgestern bin ich in der Erzählung
gekommen bis dahin, wo der Jesus von
Nazareth nach dem Gespräch, das er mit seiner
Ziehmutter hatte und wo das Ich des
Zarathustra sich losgelöst hatte von den
drei Leibern, die dann in einer
eigenartigen Zusammenfügung ohne ein menschliches Erden-Ich waren, den zwei Essäern
begegnete. Ich habe versucht, diese
Szene zu schildern; geschildert habe ich sie bis
zu dem
Punkte, wo Jesus, nachdem er mit ihnen sprach, ihnen
gegenüberstand, wie wenn er sich auflöste, und sie
ihn erblickten wie eine Fata
Morgana, aus der die Worte ertönten: Eitel ist euer
Streben, weil leer ist euer Herz,
weil ihr euch erfüllt habt mit dem Geiste, der den
Stolz in der Hülle der Demut
täuschend birgt. — Als sie das gehört
hatten, diese zwei Essäer, waren ihre
Augen für eine Weile wie getrübt. Sie sahen ihn dann
erst wieder, als er schon eine Strecke weitergegangen war. Ich
konnte aus der Akasha-Chronik konstatieren, daß
die beiden Essäer tief betroffen waren
von dem, was sie erlebt hatten, und
schweigsam wurden von diesem Tage an und den anderen
Essäern nichts
erzählten.
Als Jesus eine Strecke weitergegangen war,
begegnete er einem Menschen, der den
Eindruck machte des tiefsten Leides, des Gepreßtseins, des
Bedrücktseins. Gesenkten Hauptes, auch physisch
bedrückten Leibes ging der Betreffende dem Jesus entgegen.
Da vernahm er, wie jene Wesenheit,
die ich vorgestern gerade als den Jesus zu dieser
Zeit charakterisierte, Worte zu ihm sprach,
die wie aus tiefstem Quell dieser
Wesenheit heraus tönten. Dieser gepreßte Mann
hörte, daß Jesus sprach:
Wozu hat deine Seele ihr Weg geführt? Ich kannte dich
einst vor Jahrtausenden, vor vielen
Jahrtausenden, da warst du anders. — Es fühlte sich dieser gepreßte Mensch
gedrängt, gewisse Dinge auszusprechen vor dieser
Erscheinung, denn als Erdenmenschen können
wir eine solche Wesenheit, die nur aus dem
physischen Leib, Ätherleib und Astralleib bestand, mit der
Nachwirkung des Zarathustra-Ichs in diesen drei
Leibern, nicht bezeichnen. Wir können sie nur
eine Wesenheit nennen. Der in Verzweiflung
befindliche Mensch fühlte sich
gedrängt zu dieser Wesenheit zu sagen: Ich bin in
meinem Leben zu hohen Würden gekommen,
und stets, wenn ich zu neuen
Würden gestiegen, fühlte ich mich so recht in meinem
Element, und oft überkam mich die Empfindung: Was bist du
doch für ein seltener Mensch,
daß deine Mitmenschen dich so erhöhen,
daß du es auf der Erde so weit
bringen konntest. Was bist du für ein seltener Mensch! Ich
war über alles glücklich. Dann aber ist es
schnell gegangen, daß ich
dieses Glück verlor. In einer Nacht ist das gekommen. Und
eben als ich einmal eingeschlafen war, kam ein Traum so
über mich, daß ich in den Traum
das Gefühl hineinbrachte, daß ich mich vor mir selbst schämte, so etwas zu
träumen. Ich träumte, daß ein Wesen vor mir stand, das mich fragte: Wer hat dich
so groß gemacht, dich zu so hohen Würden gebracht?
— Darüber schämte ich mich, daß überhaupt im Traum eine solche
Frage an mich gerichtet werden
konnte, denn es war mir so klar, daß ich eben ein
seltener Mensch war und daß ich
selbstverständlich durch meine großen
Tugenden zu diesen Würden gekommen
war. Und als das Wesen so zu mir
gesprochen hatte, war ich im Traum ganz ergriffen von
einem immer größer
werdenden Schamgefühl vor mir selbst, im Traum
— , so sagte dieser sich in
Verzweiflung befindliche Mensch. Da ergriff ich die Flucht, aber kaum war ich entflohen, so stand
die Erscheinung in veränderter
Gestalt wieder vor mir und sagte: Ich habe dich erhöht,
dich zu Würden gebracht. — Da erkannte ich in ihm
den Versucher, von dem die Schrift erzählt, daß er im
Paradiese schon der Versucher war.
Da wachte ich auf und seit dem Augenblick habe ich
keine Ruhe mehr. Ich verließ meine
Würden, den Wohnort, alles, und irre seitdem tatenlos in der Welt umher. Und jetzt
führt mich, irrenden Menschen, der ich mich durch Betteln
ernähre, mein Weg vor dich.
— Und in dem Augenblicke, wo der Mann das gesprochen
hatte — so ergibt es die
Akasha-Chronik — , da war die Erscheinung wieder
vor ihm, stellte sich vor Jesus von
Nazareth, der in dem Augenblicke wieder vor seinen Augen verschwand. Dann löste
sich die Erscheinung auf, und der Mann war seinem Schicksal
überlassen.
Jesus führte sein Trieb weiter. Er
traf dann einen Aussätzigen und mußte, als der an ihn herantrat, die Worte sagen:
Wozu hat deine Seele ihr Weg
geführt? Ich habe dich vor Jahrtausenden, vor
vielen Jahrtausenden anders gesehen.
Ja, damals warst du anders. — Der Aussätzige sagte:
Mich haben die Menschen überall wegen meines Aussatzes
verstoßen. Daher mußte ich in der Welt umherirren und
niemand nahm mich auf. Froh war ich, wenn man mir Abfälle
zur Tür oder zum Fenster
herauswarf, die mich notdürftig nährten. Aber
ich konnte nirgends stille sitzen,
ich mußte von Ort zu Ort irren. Da kam ich einmal nachts in einen Wald. Da war es, wie wenn
von ferne mir ein Baum, der wie eine
Flamme war, entgegenleuchtete. Das Licht zog mich an. Als ich immer näher kam, trat aus dem
leuchtenden Baum eine Gestalt in
Form eines Gerippes und sprach zu mir die furchtbaren Worte: Ich bin du! Ich zehre an dir.
— Da übermannte mich
furchtbarste Angst; und da sie mich so durchschauerte, daß
ich an mir spürte, wie die
Aussatzschorfe aneinander stießen und wie aneinander
knisterten, da fühlte das Wesen, was in mir vorging
und sagte: Warum fürchtest du
dich so vor mir? Du hast so manches Leben früher durchlebt, da liebtest du den
Lebensgenuß, vieles, was dir
Begierde in deinem Leben schuf, was dir Freuden des
Alltags brachte, da konntest du
schwelgen in den Freuden des Alltags; da liebtest du mich, mich liebtest du, tief liebtest du
mich. Du wußtest es nicht
immer, aber du liebtest mich, und weil du mich so
liebtest, zog deine Seele mein Wesen
an. Ich wurde du und darf nun an dir zehren. — Und meine Furcht wurde noch
größer. Da verwandelte sich das Gerippe in einen schönen Erzengel; den schaute
ich an. Ja, sprach er, du liebtest
mich dereinst. — Da sank ich in tiefen Schlaf und morgens
fand ich mich, erwachend, an dem Baum liegend, und irrte weiter
in der Welt herum, und jetzt finde ich dich. Seit diese
Erscheinung mir ward, ist der
Aussatz immer schlimmer geworden. — Als er so
sprach, stand das Totengerippe wieder da
und verdeckte Jesus, der verschwand
und seines Weges durch den in ihm waltenden Trieb
weitergehen mußte. Der Mann mußte
auch weitergehen.
Nach diesen drei Begegnungen — der
Begegnung mit den beiden Essäern, mit dem Verzweifelten und mit dem
Aussätzigen — die Jesus von Nazareth in der Gestalt, von der ich das vorige Mal
erzählt habe, gehabt hatte,
setzte er seinen Weg fort und kam an den Jordan zu
Johannes. Es vollzog sich dasjenige, was
aus den anderen Evangelien bekannt
ist: Die Christus-Wesenheit stieg aus kosmischen Höhen
herab, ergriff Besitz von den drei Leibern des Jesus, in denen
die Christus-Wesenheit drei Jahre verbleiben sollte.
Das nächste, was mir obliegt zu
erzählen, das ist die Versuchungsgeschichte. Da stellt die
Akasha-Chronik die Sache genauer dar als die anderen Evangelien. Ich muß nur im voraus
bemerken, daß ich sie so, wie
sie sich mir ergeben hat, darstellen werde, daß es aber
sehr leicht sein kann — weil
es schwierig ist, solche Dinge zu erforschen
und man vorsichtig sein muß — ,
daß später einmal die Korrektur nötig sein könnte, die drei Stufen der
Versuchung, die ich erzählen werde, umzuändern. Denn die Aufeinanderfolge kann
in der Beobachtung der Akasha-Chronik manchmal leicht durcheinandergeworfen werden, und da bin ich
in der Reihenfolge nicht ganz sicher. Ich will nur
erzählen in dem Ausmaße, wie ich es genau
kenne.
Nachdem Christus Jesus — jetzt war ja
der Christus in Jesus — in die Einsamkeit sich zurückgezogen hatte, trat zuerst
an ihn heran jene Wesenheit, welche
er sogleich empfand als Luzifer, denn in seiner
Seele spielten sich zunächst zwei
wichtige Empfindungen ab. Er erinnerte sich, jetzt mit dem Ich
des Christus und dem Ätherleib und Astralleib des Jesus von Nazareth, wie Luzifer und
Ahriman von dem Essäertor zu
den anderen Menschen geflohen waren, als er nach
einem Gespräch mit den Essäern
durch das Essäertor getreten war. Daran mußte er denken. Die zweite Empfindung, die
durch seine Seele zog, erinnerte ihn
an den Verzweifelten, der ihm auf dem Gange zum Jordan begegnet war, den diese Gestalt verdeckte
und ihn, Jesus, zum Weitergehen
zwang. Er wußte jetzt, wie man in okkulter Wahrnehmung
solche Dinge erkennt: Luzifer war es, den ich damals mit
Ahriman fliehen sah vor dem
Essäertore, Luzifer stand zwischen mir und dem Verzweifelten, er ist es, der jetzt wieder vor
mir steht.
Durch diese Erzählung können wir
eine Vorstellung bekommen, wie
okkulte Wahrnehmungen gemacht werden, wenn sie sich auf
die Vergangenheit beziehen. Sie sind
wahrhaftig nicht so, daß man sie mit Kälte, Objektivität empfangen könnte
wie anderes, was man etwa erzählt bekommt. Diese Dinge sprechen tiefe
Weltengeheimnisse aus, treten in
alle Kräfte unseres Seelenlebens hinein und berühren
nicht nur unser Vorstellen und
gewöhnliches Verständnis. Daher ist es so
schwierig, die Worte in solche Entfernung
zu bringen von den entsprechenden okkulten Wahrnehmungen, von
diesen Forschungen, daß man
nicht zu verstummen braucht, sondern das
erschütternde Forschungsergebnis dennoch in Worte der
gewöhnlichen Umgangssprache pressen kann. Nur wenn es
notwendig ist, solche Dinge mitzuteilen, werden sie
mitgeteilt.
So stand also Luzifer vor dem Christus
Jesus. Es spielte sich ab, was
ausgedrückt werden kann mit den Worten der anderen
Evangelien — sie sind Umschreibungen der geistigen
Vorgänge: Wenn du mich
anerkennst, so will ich dir die Reiche dieser Welt
geben.
So etwa sprach Luzifer zu Christus Jesus,
in dem zwar jetzt die göttliche
Wesenheit des Christus war, der den Luzifer verstehen
konnte, aber zum Verständnis sich nun
eben doch bedienen mußte des
astralischen Leibes des Jesus von Nazareth, so wie er sich
entwickelt hatte durch das Zarathustra-Ich, das den
astralischen Leib des Jesus
durchdrungen hatte, so daß er sich seiner als Werkzeug
bedienen konnte. Deshalb hörte er die Worte sozusagen
nicht wie ein Gott, sondern nur wie
ein durchgotteter Mensch: Erkennst du mich an, so werden meine Engel alle deine Schritte
bewachen.
Man muß jetzt zu Hilfe nehmen, was ich
einmal in einem Vortragszyklus, der jetzt auch schon gedruckt
erschienen ist, sagte: daß noch zur alten Sonnenzeit Luzifer eine Wesenheit war, die
dazumal der Christus-Wesenheit
gleichstand, so daß also die Christus-Wesenheit,
die jetzt untergetaucht war in einen
menschlichen Leib, den hohen kosmischen Rang fühlen mußte, den Luzifer
hatte und ihn als ebenbürtig fühlen mußte trotz
allem, was mit ihm vorgegangen war, bis er der Versucher wurde. So daß schon verstanden
werden kann, wie Luzifer an ihn die
Forderung richten konnte: Erkenne mich an. —
Wenn Luzifer so etwas spricht, wirklich so
sagt, daß es auf okkulten Wegen
sich in die Menschenseele ergießt, da schwillt alles das
gewaltig an, was in der
Menschenseele an Kräften des Hochmuts, des Stolzes
lebt. Daher gibt es kein anderes Mittel
— wenn die allerstärkste Versuchung herantritt, den
Gefühlen des Hochmutes und versteckten Stolzes zu verfallen — , als mit konzertiertester
Seelenkraft dem zu widerstehen.
«Wenn du mich anerkennst, gebe ich dir
alle die Reiche, die du jetzt in
meinem Umkreis siehst.» Das sind weite Reiche von
großer Herrlichkeit, das sind
ganze Welten, die Luzifer in einem solchen Momente ausbreiten kann. Diese Reiche haben nur diese
eine Eigentümlichkeit, daß man Begierde nach ihnen
nur aus dem berechtigten oder
unberechtigten Hochmut der Seele heraus empfinden kann.
Und man entkommt sozusagen nur so,
wie dazumal der Christus Jesus entkommen ist: wenn man das durchschaut. Denn in
solchem Moment empfindet man nichts
als Hochmut und Stolz, der in der menschlichen
Seele ist; alle anderen Gefühle sind
gelähmt. Aber dieser Versuchung entging Christus Jesus und stieß Luzifer von
sich.
Dann erfolgte die zweite Attacke. Jetzt
kamen ihrer zwei. Jetzt hatte
Christus Jesus wiederum die Empfindungen, die ihn
erkennen ließen, wer die zwei
waren. Es tauchten auf wiederum die Empfindungen, wie sie in
ihm aufgestiegen waren bei den zwei Fliehenden
vor den Toren der Essäer, und auf dem
Wege zum Jordan bei der Erscheinung
im Gespräch mit dem Verzweifelten und dem
Totengerippebild, das sich verwandelt hatte in den Erzengel. Er
wußte, daß er jetzt die
beiden Versucher vor sich hatte. Die Aufforderung,
welche auch die anderen Evangelien
richtig wiedergeben, erging an ihn: « Stürze dich hinunter, dir wird nichts
geschehen!»
Bei solchen Versuchungen spricht sich in
grandioser Weise im Menschen aus ein
alle Furcht überwindender Mut, der den Menschen
auch mutwillig machen kann. Auch diese
beiden Versucher konnte Christus
Jesus zurückschlagen.
Da kam eine dritte Attacke. Sie ging von
Ahriman allein aus. Er stand jetzt
allein vor Christus Jesus. Und da kam die Versuchung,
die wiederum ausgesprochen werden kann mit
den Worten der anderen Evangelien: «Mache mit meiner
Kraft, daß diese Steine zu Brot werden.»
Was auf diese ahrimanische Frage zu
erwidern war — das unterscheidet im Fünften
Evangelium den weiteren Verlauf der Ereignisse
von dem, wie ihn die anderen Evangelien
berichten — , das konnte nicht
beantwortet werden von dem Christus Jesus. Diese Frage
blieb zum Teil unbeantwortet, blieb
als letzter ungelöster Rest der Versuchung zurück.
Daraus ergab sich ein Impuls, der für das weitere
Erleben des Christus im Leibe des Jesus von
Nazareth wirksam blieb. Denn
daß er die letzte Frage des Ahriman bei der Versuchung in
der Einsamkeit nicht
vollständig beantworten konnte, das stellte den
Zusammenhang her zwischen dem Christus Jesus und den irdischen
Ereignissen, die mit Ahriman zusammenhängen.
Wenn Sie sich erinnern, wie Ahriman der
Herr des Todes ist, wie er durch
jene Art von Täuschung, die er hervorruft, indem er
die Materialität vor der Seele
ausbreitet, so daß die Seele das Materielle in
der Täuschung hinnimmt, wenn Sie sich
erinnern, was diesen Sommer gesagt wurde über die
Taten Ahrimans in der
Erdenentwickelung, werden Sie
begreiflich finden, daß die Taten des Ahriman in
der Erdenentwickelung eingebettet sind. Und
so kam es, daß eine Verbindung
entstand durch den unbeantworteten Rest dieser Frage
zwischen dem Erdenwandel des Christus Jesus
und der ganzen Erdenentwickelung. Gleichsam verbunden mit der
Erdenentwickelung, insofern Ahriman hineinverwoben ist, wurde
Christus Jesus durch diese nicht
beantwortete Frage.
Manchmal muß man Dinge mit trivialen
Worten bezeichnen; sie sind aber
nicht trivial gemeint. Ahriman macht alles so, daß es in
der Materialität erscheint und
in dieser auch erhalten wird. Damit aber, daß dies von ihm so gehandhabt wird, ist ein
solches Ereignis nicht möglich
gewesen, daß Christus Jesus die Steine in Brot
verwandelt hätte. Das
verhinderte eben das ahrimanische Wirken. Es ist
dieselbe Erscheinung, die bedingt,
daß gewisse Stufen, die mit der Erdenentwickelung
zusammenhängen, insofern sie mit Ahriman
verknüpft sind, erst im
gesamten Zeitverlauf und der totalen Durchchristung
der Erdenevolution überwunden werden
können.
Was im kosmischen Vaterunser gesagt wird:
«Von ändern erschuldete Selbstheitschuld, Erlebet im
täglichen Brote», das drückt sich
aus in den ahrimanischen Mächten, von
denen gesagt wird in diesem Vaterunser: «In dem nicht waltet der Himmel
Wille», sondern Ahrimans Wille, das muß also
innerhalb der irdischen Gesetzmäßigkeit
behandelt und kann nicht bloß geistig
behandelt werden. Diese Dinge hängen zusammen mit diesem täglichen Brot. In
der äußeren sozialen Welt
drückt sich das darin aus, daß man in der Tat das
Materielle in der Form des Geldes,
des Mammons braucht, des gröbsten Bildes der
ahrimanischen Fesselung, was dann
verhindert, daß im sozialen Leben Steine zu Brot werden können, was notwendig macht,
daß der Mensch auf der Erde
verknüpft bleibt mit dem Ahrimanischen, dem
Materiellen.
Sie müssen diesen Gedanken selbst
weiterdenken: wie die Aufforderung «Mache die Steine zu
Brot», zusammenhängt mit der Funktion des Geldes im
sozialen Wirken. Daß aber so die ahrimanische
Macht mit dem irdischen Wandel des Christus
Jesus verbunden blieb, dadurch war
Ahriman imstande, dann später einzufließen in die
Seele des Judas, und auf dem Umwege
über den Judas zu den in den anderen Evangelien gesagten
Ereignissen zu führen, die auf dem Umwege
durch Judas dann den Christus Jesus
für seine Verfolger erkenntlich machten. Ahriman in Judas führte eigentlich
Christi Tod herbei und daß er
das konnte, rührt von der nicht vollständig
beantworteten Frage bei der
Versuchung her.
Nun muß man aber, um den ganzen
irdischen Wandel des Christus Jesus
zu verstehen, eines berücksichtigen. Die
Christus-Wesenheit war in die drei
Leiber eingezogen, aber nicht gleich so, daß dieses
Christus-Ich so verbunden war mit diesen drei Leibern, wie ein
menschliches Ich mit ihnen verbunden
ist. Es war im Beginn des dreijährigen irdischen Wandels
die Christus-Wesenheit zunächst nur lose
verknüpft mit den drei Leibern
des Jesus und dann wurde sie immer mehr in die
drei Leiber hineingezogen. Darin bestand
die Entwickelung in den drei Jahren,
daß langsam und allmählich diese
Christus-Wesenheit, die zuerst nur
wie eine Aura die Jesus-Wesenheit durchsetzte, immer
mehr in die drei Leiber hineingepreßt
wurde. So dicht hineingepreßt wie ein menschliches Ich wurde diese Christus-Wesenheit
erst kurz vor dem Tode am Kreuz.
Dieses Hineinpressen war aber die drei Jahre hindurch ein fortwährendes Schmerzempfinden.
Der Vorgang dieser völligen
Menschwerdung, der drei Jahre dauerte und zum
Mysterium von Golgatha führte, war
dieses Hineingepreßtwerden in die drei Leiber, es war der Schmerz des Gottes, der auf
der Erde empfunden werden
mußte, damit das geschehen konnte, was notwendig war, um
den Christus-Impuls in die Erdenentwickelung
hineinzuführen. Zu dem, was ich über Jesu Schmerz und
Leid in der Jugend erzählte,
mußte noch dieses hinzukommen.
Wenn man von Gottesschmerz spricht,
könnte es leicht sein, daß man heute schlecht verstanden wird. Bei
Maeterlinck zum Beispiel, der in seinem
ganz gewiß berühmt werdenden Buch «Vom
Tode» manches so Schöne
sagt, der immerhin bestrebt war, mit den Mitteln,
die er hatte, Dinge des geistigen Lebens zu
erklären, konnte es vorkommen, daß er zu sagen
vermag, eine entkörperte Seele könne keinen Schmerz
haben, Schmerz empfinden könne nur der sterbliche
Leib. — Das ist der Gipfelpunkt des
Unsinns, denn ein Leib empfindet keinen Schmerz, ebensowenig wie ein Stein. Schmerz
empfindet der Astralleib mit dem Ich
im physischen Leibe drinnen; außerdem gibt
es ja auch seelische Schmerzen und daher
hören die Schmerzen nicht auf
nach dem Tode. Sie können nur nicht mehr verursacht
werden durch Störungen im
physischen Leibe, für die Seele aber brauchen
sie dadurch nicht
aufzuhören.
Was da vorging beim Durchpreßtwerden
der drei Leiber des Jesus mit der
Christus-Wesenheit, das war für die
Christus-Wesenheit höchster
Schmerz. Es wird nach und nach für die Menschheit
notwendig sein zu begreifen, daß in der Tat, um von
Golgatha an die Erdenentwickelung
fortzuführen, diese Christus-Wesenheit durch den
Schmerz einziehen mußte in die
Erdenaura, und verbunden mit diesem Christus-Schmerz wird die
Menschheit ihr Schicksal fühlen müssen. Immer
konkreter wird werden müssen die Verbindung der
Menschheit mit dem Christus-Schmerz. Dann
wird man erst verstehen, wie in der Erdenaura dieser Schmerz in
verjüngenden Kräften weiterwirkte für die Erdenentwickelung seit dem
Mysterium von Golgatha.
Dieses Mysterium von Golgatha immer besser
zu verstehen, wird die Aufgabe sein
der fortschrittlichen geistigen Entwickelung. Manches was in
der gegenwärtigen Kultur eine große Rolle spielt,
wird allerdings überwunden
werden müssen. Wir stehen gerade in der
Gegenwart dem Verständnis des
Christentums gegenüber in einer Krisis, in einer wirklichen Krisis. Ich spreche
natürlich nicht etwa von dem,
was von dieser oder jener landläufigen Theologie in
bezug auf das Christentum
vorgebracht werden kann. Ich möchte nur aufmerksam machen
auf elementare Ereignisse des Unverständnisses in
der Gegenwart. Bei einer von jenen
Versammlungen im Jahre 1910, wo
über den historischen Christus gesprochen wurde, sprach
ein vielgenannter Theologe, um zu betonen, daß die Worte
der Lehre des Christus Jesus nur
zusammengefaßte Lehren seien, die auch schon
früher dagewesen wären: Ich werde
Ihnen dankbar sein, wenn mir nur ein
einziger Satz unter den Aussprüchen des Jesus Christus
nachgewiesen werden kann, der nicht schon früher in
irgendeiner Form da war. —
Wenn heute ein liberaler theologischer Forscher das
belegen kann, was jener behauptet
hat, ist er für unsere Zeitgenossen ein
großer Mann, denn wie überzeugend
muß das wirken, wenn man wirklich nachweisen kann, daß alle Aussprüche
von Christus schon früher von
anderen gesagt worden sind, daß sie also nichts
Neues waren. Dem, der die Dinge
durchschaut, erscheint ein solcher Ausspruch in anderem Lichte.
Man denke sich, Goethe
hätte ein Gedicht gemacht, noch nicht aufgeschrieben, nur gesprochen, und
ein Kind, das zuhörte,
hätte gerufen: Das sind ja alles Worte, die ich
schon gehört habe. — Wie
das Kind, so ist der Theologe, der nichts hört,
als was er schon kennt und nicht merkt,
worauf es ankommt, denn das steht
über den Aussprüchen, die früher schon da waren,
so hoch, wie ein Goethesches Gedicht
über den einzelnen Worten, die das Kind schon gehört hat. Wenn man gar nicht
weiß, was man als die Hauptsache ins Auge zu fassen hat, und glauben kann,
man treibe heute echte Theologie
dadurch, daß man sich in dieser Weise an
Worte hält, sich daran hält, was
wahr ist, daß die Aussprüche schon
dagewesen sind, so wird damit angedeutet,
daß wir in einer tiefen Krisis
in bezug auf die Erfassung des Christentums stehen, aus
der man schon wird begreifen
können, daß wirkliches Christus-Verständnis erst
dadurch in die Welt kommen kann, wenn die heutige Theologie,
die das öffentliche Amt hat, über das
Christus-Verständnis zu wachen,
erst abstirbt. Das ist es, worauf es ankommt: daß man
erfühlen lernt die ganze Größe der Tatsachen,
die sich um Golgatha abspielten.
Noch anderes Bedeutsames zeigt uns die
Akasha-Chronik: Da die Christus-Wesenheit nicht gleich eng verbunden war mit
den Leibern des Jesus, sondern nur
lose und äußerlich, so konnte in der ersten
Zeit folgendes vorkommen: Zuweilen war die
Christus-Wesenheit äußerlich verbunden mit den drei Leibern des
Jesus von Nazareth, war in solcher
Verbindung unter den Jüngern und nächsten
Anhängern, sprach mit ihnen. Aber das war nicht immer
notwendig. Es konnten die
äußeren Hüllen an irgendwelchen Orten sein und
die Christus-Wesenheit konnte sich
von ihnen entfernen; sie konnte dann als geistige Wesenheit da oder dort weit weg
erscheinen. Viele Erscheinungen des Christus sind so, daß
nur die Christus-Wesenheit den Jüngern, den Bekennern und auch anderen erscheint.
Später wandelte er mit den
Jüngern vielfach im Lande umher, lehrend,
sprechend, heilend. Während er
so mit zehn oder fünfzehn oder noch mehr Anhängern
wandelte, und die Christus-Wesenheit sich immer mehr in
seine Leiber hineinpreßte, kam wieder
eine andere Erscheinung zum Vorschein. Da zeigte es sich mehrfach, daß der
eine oder andere der Jünger
sich plötzlich von Inspiration ergriffen fühlte. Dann
verwandelte sich sein Gesicht, so daß man auch von
außen sehen konnte, wie er eine
ganz andere Physiognomie bekam. Und wenn so etwas
eintrat und er die herrlichsten
Christus-Worte sprach, da verwandelte sich die wirkliche äußere Erscheinung des
Christus Jesus so, daß er wie
der Schlichteste im Kreise ausschaute.
Das wiederholte sich immer wieder. So zeigt
es die Akasha-Chronik. Das
führte dazu, daß die Verfolger nie wußten, wer
aus der herumziehenden Schar derjenige war, den sie eigentlich
suchten, so daß sie vor der
Gefahr standen, einen zu greifen, der gar nicht der
Richtige war. Dann wäre der
Richtige entkommen. Darum wurde der Verrat des Judas notwendig. So wie er gewöhnlich
erzählt wird, ist er nicht sehr
geistreich erzählt. Denn wenn man sich in die Situation
hineindenkt, fragt man sich: Warum ist des Judas Kuß
notwendig gewesen? Er war eben erst notwendig aus dem Grunde,
den ich eben angedeutet
habe.
Viel Geheimnisvolles ist mit dem
irdisch-menschlichen Wandel des
Christus verbunden, aber was den erschütterndsten
Eindruck macht, zeigt sich, wenn man
den Blick wendet auf seinen Tod. Da muß man das sagen, was ich ungescheut ausspreche,
weil es für das okkulte
Erkennen Tatsache ist: daß an wichtigsten Punkten des
historisch-geistigen Geschehens das, was sonst getrennt
fließt, moralische und
physische Weltordnung, sich wiederum berühren. Als in
der Erdenentwickelung dieses am
stärksten der Fall war, trat das Mysterium von Golgatha
ein.
Als Christus ans Kreuz geschlagen worden
war, trat eine weit über die
Gegend sich ausbreitende Verfinsterung ein. Aus der
Akasha-Chronik war bisher noch nicht zu konstatieren, woher
sie gekommen ist, ob sie irdischen
oder kosmischen Ursprungs war. Aber sie war da, und was eine solche Verfinsterung bedeutet, kann
okkult beobachtet werden bei einer Sonnenfinsternis. Ich will
nicht sagen, daß es damals eine
Sonnenfinsternis war, es könnte sich auch um eine
bedeutende Wolkenverfinsterung gehandelt haben. Aber es ist
etwas anderes, wenn die Sonne bei
Tag verfinstert am Himmel steht, als wenn es einfach Nacht ist. Was eine solche allgemeine
Verfinsterung aber für eine
Wirkung hat, ist schon bei einer zum Beispiel durch den
Mond eintretenden Sonnenbedeckung zu
erkennen. Dabei gehen große
okkulte Veränderungen bei allen Lebewesen, Menschen,
Tieren und Pflanzen vor sich; das ganze Gefüge zum
Beispiel zwischen physischem Leib
und Ätherleib der Pflanzen verändert sich, die
ganze Welt sieht ganz verändert
aus und mit ihr die Erdenaura. Das letzte Mal hat es einen ganz besonders erschütternden
Eindruck auf mich gemacht, als ich
es beobachten konnte bei einer Sonnenfinsternis während
eines kurzen Vortragszyklus in Stockholm. Es ist da
tatsächlich so, daß
für das Stück Erdenaura, wo die Verfinsterung am
größten ist, große
Veränderungen vor sich gehen. Und durch ein
solcherart beeinflußtes
Stück Erdenaura floß der Christus-Impuls damals in
die Erdenentwickelung ein, als der
Christus Jesus am Kreuze starb. Das ist das Wunderbare, das heilige Ereignis der
Verfinsterung weithin um das Kreuz
auf Golgatha.
Das andere ist das, was ich schon einmal in
Karlsruhe angedeutet habe und was
auch in dem gedruckten Zyklus von Karlsruhe steht,
was auch das Fünfte Evangelium zeigt,
wie der physische Leib des Jesus von
Nazareth gleichsam aufgesogen wurde von der physischen
Erde, denn als der Leichnam ins Grab gelegt
war, hat in der Tat eine erdbebenartige Durchrüttelung der Erde
stattgefunden, verbunden mit einem
Sturm, so daß ein Erdspalt sich öffnete und den Leib
aufnahm. Der Sturm wirbelte so, daß sich tatsächlich
die eigentümliche Aufwickelung
und Lage der Tücher ergab, die das Johannes-Evangelium
schildert. Es schloß sich dann der Spalt, der sich durch
das Erdbeben gebildet hatte, und so
konnte der Leib natürlich nicht vorgefunden werden. Den
Suchenden konnte nur die Antwort aus okkulten Regionen gegeben werden: Der, den ihr suchet,
ist nicht mehr hier. — Ein
ähnliches ereignete sich später, als sich viele
in Europa als Kreuzfahrer
aufmachten, des Christus Gedächtnis in Golgatha zu suchen.
Auch ihnen wurde, wenn auch für sie nicht vernehmlich, die
Antwort: Der, den ihr suchet, ist nicht mehr hier.
Denn der Christus-Impuls geht geistig durch
die Seelen der Menschen, er wirkt als Tatsache auch in denen,
die ihn nicht verstehen. Nicht darf
man bloß von dem großen Lehrer sprechen. Was
geschah, wirkt als Tatsache und gab
die großen Impulse für die fernere
Menschheitsentwickelung. Das wird die Aufgabe der wirklichen
okkulten Forschung auf diesem
Gebiete sein, daß man immer besser wird verstehen lernen,
anders den Christus zu suchen, damit einem nicht die
Antwort gegeben werden müßte:
Der, den ihr suchet, ist nicht mehr hier. — Aber wenn man ihn immer geistiger wird
suchen wollen, wird man die wahre,
der Wirklichkeit entsprechende Antwort finden
können.
Dieses wollte ich Ihnen heute erzählen
und in diesen Mitteilungen liegt,
glaube ich, für die Schilderung des Mysteriums von
Golgatha gegenüber den
Abstraktionen der Theologen das große Schwergewicht. So
wie diese Tatsachen in der Akasha-Chronik erscheinen,
lassen sie erkennen, daß in jener Zeit
ein Allerwichtigstes vorgegangen ist.
Der Okkultist ist von Folgendem
überzeugt: Wenn einmal die Gemüter der Menschheit
sich etwas in anderer Richtung als bisher werden erhoben haben
über all das, was heute mit so viel Wissenshochmut
und Unlogik die Seelen beherrscht, wie ich
es anfangs charakterisieren mußte, wenn einmal die Gemüter von richtigem
Denkvermögen sich werden
durchzogen haben, dann werden — trotzdem manche
glauben könnten: Was hat Denken
zu tun mit dem Entgegennehmen solcher Mitteilungen und dem Versuch, sie zu erkennen? —
dann werden sich die Gemüter
dadurch reif machen, auch solche Dinge, die scheinbar
mit dem Denken nichts zu tun haben,
wirklich zu verstehen, weil gerade
durch das wahre Denken die Seelen durchzogen werden von
dem echten Wahrheitssinn, der das in diesen
beiden Vorträgen Gegebene nicht als lächerlich
empfindet, sondern als sorgfältig gemachte
Forschungen aus der Akasha-Chronik
hinzunehmen strebt.
|