Stuttgart, 23. November 1913
Zweiter Vortrag (Notizen)
Wir haben heute zunächst zu reden von
dem Gespräch Jesu mit seiner Ziehmutter, die sich nach und nach zu einem
Verständnis ihres Sohnes durchgerungen hatte. Es war mit ihr eine gewaltige
Veränderung vorgegangen. In sie hatte sich hereingesenkt
der Geist der anderen Maria, der
leiblichen Mutter Jesu aus den geistigen Welten. Den trug sie
nun in sich. Von tiefer Bedeutung
erweist sich das Gespräch Jesu mit seiner Mutter für
das wirkliche Verständnis des Mysteriums von Golgatha vom
Standpunkt der geisteswissenschaftlichen Forschung.
Immer besser und besser verstand die Mutter
Jesus. Eine Art von Empfindungsverständnis war es. Nun konnte Jesus
sprechen über den dreifachen
Schmerz, den er erfahren hatte. Was er sprach, war wie
eine Art Zusammenfassung dessen, was seit
dem zwölften Jahre in seiner
Seele vorgegangen war. Er sprach zu seiner Mutter von
seinen Erlebnissen vom zwölften
bis achtzehnten Jahre. Er sprach von den großen Lehren der Bath-Kol. Er sprach davon, wie
niemand ihn hatte verstehen
können, wie er nicht sprechen konnte von dem, was
ihn drängte, es jemand mitzuteilen. Er
sagte der Mutter, wenn die alten
Lehren auch dagewesen wären, die Menschen hätten
gefehlt, sie zu
verstehen.
Dann sprach er von der zweiten Art der
schmerzlichen Erlebnisse. Er sprach
von jenen Ereignissen vor dem verfallenen Opferaltar, er
sprach davon, wie er eingedrungen war in
die alten Mysterien, bei denen die
göttlich-geistigen Wesenheiten unmittelbar
herniedergestiegen waren, wie auch in dieser Beziehung ein
Herabstieg stattgefunden hatte.
Statt der guten alten Heidengötter waren es Dämonen,
die teilnahmen an den Opferfesten. Er sprach von den
großen kosmischen Ereignissen,
von dem gewissermaßen umgekehrten Vaterunser. Es
war ein außerordentliches
Gespräch, das er da führte mit seiner Mutter.
Er sprach davon, wie er hatte erkennen
müssen, wie Luzifer und Ahriman
flohen vor den Toren der Essäer
und zu den anderen Mensehen kamen,
die die strengen Ordensregeln nicht mitmachen konnten. Von
alldem sprach er. Es war wie ein Aufrollen seines
bisherigen Lebens. Es war ein
Gespräch, das dadurch seine Prägung bekam,
daß die Worte nicht bloß
Worte der Erzählung, daß in den Worten nicht
bloß lag, was sonst in Worten liegt,
sondern was er sagte, war in Worte
geprägtes innerstes Erlebnis, in Worte gedrückter
Schmerz und Leid, umgewandelt in
unendliche Liebe, Schmerz, der sich in Liebe
und Wohlwollen verwandelt hatte. Wie
Realitäten strömten diese Worte hinüber zu der Mutter. Wie ein Stück
Seele selbst erschien es, was da von
Jesus weg und zur Mutter überging. In wenigen
Stunden drängte sich zusammen
alles das, was mehr war als ein bloßes Erlebnis. Ein
kosmisches Erlebnis war es im wahrsten Sinne des Wortes.
Es konnte Jesus von Nazareth nur Worte
reden, aber es lag ein Teil seiner
Seele in diesen Worten. Und vieles müßte man
erzählen, wenn man
charakterisieren wollte, was die Akasha-Chronik gibt. So kam
es im Verlaufe dieses
Gesprächs, daß es klar vor Jesus' Seele stand,
an welchem Punkte die
Menschheitsentwickelung angelangt war. Jetzt
dämmerte in ihm auf ein immer
deutlicheres Bewußtsein, daß die Zarathustra-Seele in ihm war. So fühlte er, wie er
als Zarathustra die damalige
Menschheitsentwickelung mitgemacht hatte. Was ich jetzt
zu Ihnen spreche, waren nicht die Worte,
die Jesus zu seiner Mutter sprach,
sondern er drückte sich so aus, wie es für sie
verständlich war. Was er da
fühlte, machte ihm das Geheimnis der
Menschheitsentwickelung klar. Unvergleichlich ist der Eindruck,
wie Jesus das innerlich empfindet und erlebt, während er
mit seiner Mutter spricht. Er redet
der Mutter davon, wie jedes Menschenalter seine
bestimmten Kräfte hat und
daß dies von großer Bedeutung ist. Es gab einmal
ein Menschheitszeitalter, die uralt
indische Kultur, wo die Menschen ganz besonders groß waren dadurch, daß das ganze
Leben durchglüht war von den
kindlich sonnenhaften Kräften des ersten
Kindheitsalters. Etwas von diesen
Kräften ist heute noch in uns von unserem ersten
bis siebenten Lebensjahr.
Dann kam eine zweite Periode, die uralt
persische Zeit, die beseelt war von
den Kräften, die heute beim Menschen wirken zwischen
dem siebenten und vierzehnten
Lebensjahr.
Dann lenkte Jesus den Blick auf das dritte
Zeitalter, die ägyptische Zeit,
in welcher die Kräfte herrschten, die jetzt beim Menschen
wirken vom vierzehnten bis
einundzwanzigsten Jahre, da wo die Empfindungsseele eine
große Rolle spielt in der einzelnen Entwickelung.
In dieser ägyptischen Zeit
wurden die astronomischen und mathematischen Wissenschaften
gepflegt.
Und nun stieg in Jesu die Frage auf: In
welchem Zeitalter leben wir jetzt,
was kann der Mensch erleben zwischen dem einundzwanzigsten und
achtundzwanzigsten Lebensjahr? Und er empfand, daß
das, was das äußere Leben
beherrschte, die Kräfte waren, die ausgegossen
waren über die griechisch-lateinische
Kultur, daß das aber auch die letzten Kräfte waren. Der Sinn des einzelnen
menschlichen Lebens stand in seiner
ganzen Wucht vor den Augen des Jesus von Nazareth.
Vom achtundzwanzigsten bis
fünfunddreißigsten Jahre überschreitet
der Mensch dann die Mitte des Lebens und
beginnt seinem Alter entgegenzuleben. Da sind keine neuen
Lebenskräfte mehr vorhanden; die ererbten Kräfte der Götter sind
erschöpft. Die aufsteigenden Kräfte sind bis hierher da, sie werden aufgezehrt
bis zur Lebensmitte. Was nun? Es
zeigte sich nirgends etwas Neues, woraus Kräfte für
die Menschheit entstehen
könnten. Die Menschheit müßte verdorren,
wenn nichts Neues geschieht. Diese Krisis
mußte Jesus eine gewisse Zeit
durchleben, und dann löste sich das Zarathustra-Ich,
dessen Besitz ihm kurz vorher erst aufgeblitzt war. Er hatte
sich gleichsam so identifiziert mit
der Menschheitsentwickelung, daß das
Zarathustra-Ich während seiner Worte an die Mutter wegging.
Zurück blieben nur die drei
Hüllen, und Jesus wurde wieder das, was er mit zwölf
Jahren gewesen war, aber mit alldem,
was er durch die Erlebnisse des Zarathustra hatte hereinsenken
können. Nun war es wie ein Impuls, der ihn hinzog an den Jordan zu Johannes dem Täufer.
Und dort senkte sich in den Jesus
von Nazareth dasjenige, was verjüngend in den
Menschheitsprozeß einfließen
mußte, damit die Menschheit nicht
verdorre: die Christus-Wesenheit. Dieser Christus-Impuls zog ein
zu einer Zeit, als die Menschen zu
seiner Aufnahme am schlechtesten vorbereitet waren. Mit dem
Gemüte konnten die Menschen sich hingezogen fühlen zu
Christus, aber von den Weisheiten und Kräften der
früheren Zeitalter war nichts mehr
vorhanden. So wirkte Christus zunächst nur als Kraft, nicht als Lehrer. Aber
auch heute noch ist die Menschheit
nicht besonders weit im Verstehen des
Christus-Impulses.
Die Wirksamkeit des Christus hing
zunächst nicht ab von dem Verständnis, das ihm
entgegengebracht wurde. Durch drei Jahre hindurch senkte sich
in den Jesus von Nazareth die Christus-Wesenheit.
Daß ein Gott in einen menschlichen
Leib einzog, das war nicht nur eine
Angelegenheit der Menschen, das war zugleich eine Angelegenheit
der höheren Hierarchien. Inkarniert sein in einem
menschlichen Leibe, das hatte bis
dahin kein Gott erlebt. Das ist das Erschütternde:
das Leben eines Gottes im Menschenleibe
während dieser drei Jahre. Aber
es war nötig, damit wieder ein Aufwärts kommen der
Menschen möglich
wurde.
Erst war die Christus-Wesenheit nur lose
verbunden mit dem Jesus von
Nazareth, aber immer dichter und dichter verband sie sich
mit seinem Leibe bis zum Kreuzestode
hin in fortwährender Entwickelung. An Verständnis in
bezug auf geistige Dinge, hat die Menschheit
seither nicht zugenommen. Unmöglich
wäre sonst ein heutiges Vorkommnis, wie es das Buch
Maeterlincks «Vom Tode» ist. Das ist ein
dummes Buch. Darin wird gesagt: Wenn der
Mensch entkörpert sein wird,
dann sei er ja Geist, dann könne er nicht mehr leiden.
— Das ist gerade das Gegenteil
von dem, was wahr ist. Leiden muß immer der
Geist, nicht der Leib. In dem Maße,
als sich die Individualität steigert, steigern sich auch die Schmerzen, die Gefühle.
Unmöglich ist daher auch
für den heutigen Menschen das Verständnis für
den erlittenen Schmerz des
verkörperten Gottes.
Eine der Frauen wollte Jesus im Grabe
suchen. Ein Geistleib war er. Nicht
mit physischen Sinnen war Christus zu suchen. Wie eine
Wiederholung dieses Suchens waren die
Kreuzzüge im Mittelalter. Das
war dasselbe vergebliche Suchen. Und gerade um diese Zeit
der Kreuzzüge standen die
deutschen Mystiker auf, welche wieder in der
rechten Weise eine Verbindung mit Christus
suchten. Christus wirkte auch da, wo
seine Lehre nicht war; er wirkte als Kraft in der ganzen
Menschheit.
Nach der Taufe am Jordan war der Christus
noch lose gebunden an den Leib des
Jesus. Der erste, der ihm begegnete, war Luzifer. Er
ließ walten alle die Kräfte, die
man in einer Wesenheit in bezug auf Hervorrufen des Hochmuts entfalten kann. «Wenn du
mich anerkennst, will ich dir alle Reiche der Erde geben.»
Rasch war diese Attacke
zurückgeschlagen. Bei der zweiten Versuchung kamen Luzifer
und Ahriman zusammen, indem sie in den Worten «Stürze
dich hinab» bei Christus
hervorrufen wollten Furcht und Angst.
Beim drittenmal erschien Ahriman allein mit
seiner Aufforderung: « Sprich,
daß diese Steine Brot werden.» Diese Frage des
Ahriman ließ einen
ungelösten Rest zurück; sie wurde nicht restlos
beantwortet. Daß das nicht
geschehen konnte, hängt zusammen mit den innersten
Kräften der Erdentwickelung, insofern
Menschen dazugehören.
Darin liegt etwas wie die Geldfrage. Diese
hängt zusammen mit der ahrimanischen Frage. Ahriman behielt einen Teil seiner
Gewalt über Christus Jesus. Das
zeigte sich in dem Judas Ischariot. In dem Verrat
des Judas wirkt diese ungelöste Frage
nach.
Dann wurde noch davon gesprochen, daß
es nur in der Finsternis möglich war, daß der Christus-Impuls sich
beim Kreuzestod der Erde mitteilen
konnte. Ob es eine Sonnenfinsternis war oder ob die Finsternis
von etwas anderem herrührt, kann heute noch nicht bestimmt
gesagt werden. Zuletzt
sehr dringende Bitte um Geheimhaltung
dieser Enthüllungen.
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