ERSTER VORTRAG
Stuttgart, 29-August 1921
Vorerst sage ich Herrn Dr. Unger und Ihnen allen den
herzlichsten Dank für Ihre so freundliche
Begrüßung. Es darf wohl in diesem Augenblick auch von
mir ausgesprochen werden, daß dieser herzliche Gruß
auch von mir selbst zu Ihnen hinübergeht, und Sie werden
es demjenigen, dessen ganzes Herz daran hängt, daß
solche Veranstaltungen wie die gestern begonnene, zum
Entwickeln der anthroposophischen Weltanschauung das
Entsprechende beitragen möchten, Sie werden es jemandem,
dessen ganzes Herz daran hängt, daß das so sein
möge, glauben, daß dieser Gruß ein innerlich
durch und durch wahrhaftiger ist und daß er aus einer
Seele heraus kommt, die gerne möchte, daß diese
Veranstaltung in dem denkbar besten Sinne verlaufe.
Anthroposophische Geisteswissenschaft, wie sie auch wiederum
durch diesen Kongreß hier vertreten werden soll, beruht
darauf, daß anerkannt werde, wie hinter der
sinnlich-physischen Welt und mit dieser innig verwoben eine
geistig-übersinnliche steht, aber auch darauf, daß
der Mensch in der Lage ist, durch Entwickelung gewisser
Erkenntniskräfte zu einer Einsicht zu kommen in diese mit
der Sinneswelt verwobene übersinnliche Welt. Weil
Anthroposophie dieses anerkennt, hat man sie vielfach nur
gehalten für eine Art Wiederaufwärmung der alten
Gnosis, welche noch lebendig blühte in den ersten
christlichen Jahrhunderten und dann überwunden, ich
könnte auch sagen, ausgerottet worden ist. Wer nur ein
einziges meiner Bücher mit ehrlichen Absichten gelesen
hat, der kann wissen, daß dieses Urteil ein durchaus
unrichtiges ist. Aber wer auf der andern Seite darauf blickt,
wie durch Anthroposophie aus einer ähnlichen
Erkenntnisgesinnung heraus eine übersinnliche Anschauung
gesucht werden soll, wie es der Fall war in der alten Gnosis
und in andern nach dem Übersinnlichen hinstrebenden
Weltanschauungen, der wird, wenn er nur nicht dem eben
ausgesprochenen Mißurteil sich hingibt, immerhin diese
Anthroposophie als eine Art von Gnosis bezeichnen können.
Dadurch aber hat sie in begreiflicher Weise zur Gegnerschaft
eine Ansicht, die sich im Verlaufe des 19. Jahrhunderts immer
mehr und mehr unter dem Einflüsse der
naturwissenschaftlichen Denkweise ausgebildet hat und die
eigentlich das Gegenteil aller gnostischen
Erkenntnisbestrebungen ist. Das ist dasjenige, was sich ja
selbst vielfach genannt hat: der Agnostizismus. Dieser
Agnostizismus ist, man möchte sagen in seiner Reinkultur,
entstanden aus denselben Untergründen auf philosophischem
Gebiete, aus denen heraus Darwin zum Beispiel auf
naturwissenschaftlichem Gebiete gearbeitet hat: aus der
Denkweise der westlichen Welt. Man kann ihn in dieser seiner
Reinkultur insbesondere studieren bei solchen Geistern wie etwa
Herbert Spencer.
Will man sagen, worinnen das Wesen dieses Agnostizismus
besteht, so wird man dies vielleicht am besten in der folgenden
Art tun. Dieser Agnostizismus will eine Art Philosophie, eine
Art Weltanschauung sein, und er will durchaus aus
naturwissenschaftlichen Voraussetzungen heraus arbeiten. Dabei
läßt er nur gelten dasjenige an menschlicher
Erkenntnismethodik, dessen sich auch die Naturwissenschaft auf
ihren verschiedenen begrenzten und beschränkten Gebieten
bedient. Diese Naturwissenschaft verfolgt die einzelnen
Erscheinungen der Natur in ihren gesetzmäßigen
Zusammenhängen; sie durchsetzt dasjenige, was sie sich da
an Ideen über die einzelnen Naturerscheinungen ausbildet,
wohl auch mit allerlei Hypothesen über
Ursächlichkeiten; aber sie lehnt es ab — und auf
ihrem Gebiete wohl auch mit Recht —, aufzusteigen von der
sinnlichen Betrachtung im Experiment, in der Beobachtung und
von dem, was sich dem Verstände, der an die Sinnlichkeit
gebunden ist, aus Experiment und Beobachtung ergibt, zu
irgendwelcher Ausgestaltung von Erkenntnissen, die auf das
Übersinnliche gehen. Sie faßt die Erscheinungen,
besser gesagt eigentlich nur die Erscheinungsgebiete, zusammen
und stellt dasjenige hin, was sie auf diese Weise an
gesetzmäßigen Zusammenhängen der Erscheinungen
ergründen kann.
Darauf baut nun der Agnostizismus. Er sagt: Man kann in der
Zusammenfassung der äußeren Erscheinungen immer
weiter und weiter gehen. Man bekommt dann gewissermaßen
ein Bild von zusammenhängenden Gedankenstrukturen, die
sich wie ein Netz über die Erscheinungen und
Erscheinungsreihen erstrecken, die die Naturwissenschaft
konstatiert. Aber man muß all dem gegenüber, was da
in das Bewußtsein des Menschen als eine Erkenntnis
über die Natur hereinkommen kann, ein Unbekanntes
annehmen, das als die eigentliche tiefere Ursachenwelt dem
zugrunde liegt, was auf diese Art bekannt werden kann. Man kann
eigentlich nur eine Erkenntnis des äußeren
sinnlich-physischen Gebietes und seiner Zusammenfassungen
haben; man kann aber nicht zu demjenigen vordringen, was nun
das Ganze hält und trägt, was nicht mehr mit den
Sinnen erreichbar sein kann, was ein Übersinnliches sein
muß. Der Mensch kann nicht haben eine Gnosis, einen
Gnostizismus. Der Mensch kann nur haben einen Agnostizismus; er
kann nur wissen, daß seiner Erkenntnis Grenzen gesetzt
sind, und daß er nicht vordringen kann bis zu demjenigen,
was der äußeren sinnlichen Welt als ihre eigentliche
übersinnliche Ursache zugrunde liegt.
Dieser Agnostizismus wird dann auch auf das seelische Gebiet
ausgedehnt. Es wird gesagt: Man kann wohl ergründen, wie
dasjenige, was als Vorstellungen in unserem Bewußtsein
auftritt, sich aneinandergliedert, sich gegenseitig hält
und trägt, wie sich Gefühle an diese Vorstellungen
angliedern, wie eine Willenswelt aus unbekannten Tiefen in
diese Vorstellungswelt hineinwirkt, wie diese Vorstellungen
angeregt werden durch Reize, die von den sinnlichen
Wahrnehmungen herkommen. Man kann aber nicht demjenigen, was
nun fortströmt innerhalb des Wechselspiels der
Vorstellungen, der Tingierung dieses Wechselspiels mit dem
Gefühl, der Durchpulsung desselben Wechselspiels mit
Willenskräften, man kann nicht dem, was da fortströmt
und was das Bewußtsein zusammenfaßt in dem Worte
«Ich», man kann dem nicht so beikommen, daß etwa
die Aspirationen des Menschen auf Erkenntnis einer
unsterblichen, einer ewigen Seele durch eine Wissenschaft
dieser Seele befriedigt werden können —
Agnostizismus auf naturwissenschaftlichem Gebiete,
Agnostizismus auf dem Gebiete des psychologischen, des
seelischen Lebens.
Eine kritische Besprechung des Agnostizismus, der weite Kreise
der heutigen Menschenwelt gründlich beherrscht,
möchte ich hier heute nicht geben. Es soll ihm in diesen
Vorträgen nicht eine Kritik entgegengestellt werden; es
soll ihm entgegengestellt werden dasjenige, was in positiver
Weise Anthroposophie zu sagen hat über ihre
Erkenntniswurzeln und ihre Lebensfrüchte.
Was
ich heute sagen will, ist einiges zur Charakteristik, wie
dieser Agnostizismus, wenn er sich der Menschenseele
bemächtigt, auf das ganze menschliche Leben wirkt. Denn
eigentlich kann nur derjenige, der nicht unbefangen genug dem
menschlichen Leben sowohl in seiner individuellen wie in seiner
sozialen Seite gegenübersteht, glauben, daß
Erkenntnis, daß so etwas wie eine agnostische Anschauung
allein für sich dastehen könne, den Grundton bilden
könne einer gewissen mehr oder weniger wissenschaftlichen
oder populären Philosophie. Wer dem Leben unbefangen
gegenübersteht, der weiß, daß es in diesem
Menschenleben so ist wie in der einzelnen menschlichen
Naturorganisation. Was in irgendeinem Gliede des menschlichen
Leibes vor sich geht, was krank oder gesund vor sich geht, das
wirkt im ganzen menschlichen Organismus, wo immer es auch in
diesem auftritt. Und so kann der Unbefangene auch sehen, wie
dasjenige, was heute als Agnostizismus in unsere Wissenschaft,
die ja für den größten Teil der Menschen,
wenigstens der zivilisierten Menschen des Abendlandes,
Autorität ist, wie der Agnostizismus in die Wissenschaft
eindringt, wie er von der Wissenschaft aus in Unterricht und
Erziehung eindringt, wie er von da aus das soziale und
religiöse Leben ergreift, wie von ihm ergriffen sind
Millionen und aber Millionen von Menschen, die tonangebend sind
für die Gegenwart und die nächste Zukunft, und die es
oftmals keineswegs wissen, wie sie trotz vielleicht dieses oder
jenes traditionellen religiösen Bekenntnisses in ihrer
tiefsten Seele dieser agnostischen Anschauung huldigen. Der
Unbefangene kann überall im Leben sehen, wie Agnostizismus
wirkt. Er tritt uns heute in seinen Wirkungen im einzelnen
Menschen und im sozialen Leben entgegen. Zunächst tritt er
ja allerdings im Vorstellungsleben auf. Das menschliche Wesen
offenbart sich sowohl als einzelnes wie als soziales durch das
Vorstellen, durch das Fühlen, durch das Wollen.
Der
Agnostizismus ergreift zunächst die Vorstellungswelt, und
er macht geltend, daß, wie man auch diese Vorstellungswelt
ausbilden möge, wie man sie auch verbreiten oder vertiefen
möge, welche Zusammenhänge man auch ergründen
möge in seinem Vorstellungsleben: untertauchen in ein
Sein, in eine Wirklichkeit, kann man mit diesem
Vorstellungsleben nicht. Das Vorstellungsleben verläuft im
Strömen von Bildern, die gewiß auf irgendeine Weise
wurzeln in einem Sein, in einer objektiven Wirklichkeit; aber
dasjenige, was der Mensch in sich trägt als seine
Vorstellungen, das hat nichts in sich, was ihn hinunterweisen
könnte in dieses Gebiet der wahren Wirklichkeit. —
Diese Anschauung wird gerade von ausgezeichneten Geistern der
Gegenwart mit allem Radikalismus vertreten. Aber man denke doch
nur einmal darüber nach, wie der ganze, der volle Mensch
mit allen seinen Offenbarungen doch eigentlich wurzeln muß
nicht in irgendeinem Bilddasein, nicht in einer
Vorstellungswelt, die mit der wahren Wirklichkeit nichts zu tun
hat, sondern wie er wurzeln muß in dieser wahren
Wirklichkeit selbst. Mag man denken wie man will über das
Verhältnis desjenigen, was wir vorstellen, zu der wahren
Wirklichkeit der Welt: das kann kein Mensch zugeben, daß,
was der Mensch fühlt, was der Mensch will, was der Mensch
als Taten verrichtet, daß das nicht in dieser wahren
Wirklichkeit wurzle. Auch der einfachste Schritt in die
Lebenspraxis zeigt das.
Es
hat Skeptiker gegeben, welche noch nicht ganz bis zum
Agnostizismus haben vordringen wollen, welche aber doch die
äußere sinnliche Welt in einem absoluten Sinne als
eine Art von Schein betrachtet haben. Es haben sich, an solche
Skeptiker anknüpfend, Legenden gebildet. So erzählte
man von einem Skeptiker des Altertums, daß er, wenn er an
einen Abgrund gekommen ist, seine Schritte nicht angehalten
habe, weil er das Vorhandensein des Abgrundes in der
äußeren Sinnenwelt lediglich für einen Schein
gehalten habe. Sie werden es unmittelbar bei einer solchen
Legende in all ihrer Absurdität einsehen, daß es
unmöglich ist, die letzte Praxis aus einer Anschauung zu
ziehen, die etwa dasjenige, was der Mensch tut, was er selbst
als seine Realität beurteilt, nicht wurzeln läßt
in einer wahren Wirklichkeit, in einem objektiven
Weitenzusammenhange. Durchdringt man sich aber ganz innerlich
ehrlich mit der Anschauung, daß alles das, was man
vorstellen kann, nur Bild ist, das nicht hinunterdringt zu den
Wurzeln des wahrhaft Wirklichen, dann sondert man das ganze
menschliche Vorstellen ab von dem, was der Mensch eigentlich
ist. Dann geht man in der Welt herum, indem man auf der einen
Seite voraussetzen muß, daß der Mensch in einer
wahren Wirklichkeit wurzle, aber zu gleicher Zeit, daß
alles dasjenige, was er sich in seinem Bewußtsein
vergegenwärtigen kann, nichts zu tun habe mit dieser
Wirklichkeit. Der Mensch sondert dasjenige, was ihm gerade den
wichtigsten Inhalt seines Zivilisationslebens gibt —
seine Vorstellungs-, seine Gedankenwelt —, ab nicht nur
von der Wirklichkeit, sondern von sich selbst; er spaltet sich
in sich selbst. Und wird so etwas nicht bloß als eine
Phrase, als eine eitle Theorie genommen, wird so etwas aus dem
ganzen Menschentum heraus wie eine innerliche Wahrheit
durchlebt, dann ist es unmöglich, ein innerlich starker
Mensch zu sein, ein Mensch mit einer sicheren Lebensbasis, wenn
man sich in dieser Weise spaltet und sein Bestes absondert von
dem, was man eigentlich in Wirklichkeit, in Wahrheit ist.
Dadurch werden, wenn solch eine Weltanschauung ehrlich
innerlich erlebt wird, die Vorstellungen unmutig; sie werden
etwas Kraftloses, sie entwickeln sich gewissermaßen nach
und nach immer mehr und mehr als ein Gleichgültiges, und
sie werden, während sie einen großen Teil der
menschlichen geschichtlichen Entwickelung hindurch die
eigentlich treibenden Motoren des menschlichen Lebens waren,
depossediert zugunsten der Instinkte und Triebe, zugunsten
desjenigen, was nun nicht vorstellungsgemäß aus dem
Animalischen in das menschliche Bewußtsein
heraufspielt.
Wer
könnte verkennen, daß im Grunde genommen die moderne
Menschheit in einem hohen Grade auf einem solchen Wege zur
innerlichen Spaltung des Menschen, zur Entwertung des
Vorstellungslebens gekommen ist! Aber ein Vorstellungsleben,
das also verläuft, durchdringt auch nicht das
Gefühlsleben. Ein Gefühlsleben, das nicht
durchdrungen wird von stärken Vorstellungen, die in sich
selber das Bewußtsein tragen, daß sie in der Wahrheit
drinnenstehen, das wird nach und nach unwahr, das fühlt
sich nach und nach als im Unwahren drinnenstehend, und dann
artet es nach zwei verschiedenen Seiten hin aus. Es verliert
seine Natürlichkeit, es verliert seine innerliche
Ehrlichkeit und Wahrheit und es artet entweder aus zu einer
falschen Sentimentalität, wo man sich wie gezwungen
fühlt, sich hinzugeben als Mensch gewissen Gefühlen;
aber man steht nicht drinnen, weil dahinter nicht die starken
Vorstellungen stehen. Man redet sich nur ein, sich solchen
Gefühlen hingeben zu dürfen. Man legt dann in diese
Gefühle allerlei, was nicht wirklich erlebt wird. Man
steigert sich hinauf, ich möchte sagen
gefühlsduselig, phrasenhaft, in eine Empfindungshöhe,
die innerlich erlogen ist. Das ist das Ausarten nach der einen
Seite. Oder aber das Gefühlsleben kann nach der andern
Seite unwahrhaftig werden dadurch, daß es gerade annimmt
den Charakter, den ich schon angedeutet habe, den Charakter,
der die Vorstellung verleugnet, dafür aber dasjenige, was
animalisch ist, sprechen laßt. Wird die Vorstellung
blaß, verliert sie das innere Bewußtsein, daß
sie vom Sein durchdrungen ist. Dann kann sie auch nicht in das
Gefühl sich hineinleben, dann muß der Mensch in jenes
Bewußtlose untertauchen, das in seinem Animalischen lebt.
Dann wird er in seinen Gefühlen ein Spielball seines
inneren Wohlseins oder Nichtwohlseins, seiner Instinkte,
Triebe, seiner Bedürfnisse, die nicht von dem Lichte des
Bewußtseins durchhellt sind. Er folgt, weil er sich als
Mensch nicht zur wahrhaftigen Menschlichkeit erheben kann, dem
Spiel der Natur in seinem organischen Wesen.
Das
sind die zwei Abirrungen in die Unwahrhaftigkeit, die das
Gefühl unter dem Einfluß des Agnostizismus nehmen
kann. Diese Abirrungen zeigen sich ganz besonders in dem
Künstlerischen, das die Menschheit hervorbringt. Das
Künstlerische, das im wesentlichen aus der
Gefühlswelt entspringen muß, wird selbst
unwahrhaftig, wenn ihm zugrunde liegt eine unwahrhaftige
Gefühlswelt, eine sentimentalische oder eine animalische
Gefühlswelt. Wir haben beides in der neuesten Zeit, in dem
Zeitalter des Agnostizismus, heraufkommen sehen. Wir haben
heraufkommen sehen die Süßlichkeit, die
Sentimentalität, die innerliche Verlogenheit, die sich
hineinsteigert in Gefühle, die nicht aus dem wahren
Menschenwesen mit elementarer Kraft herausquellen, sondern die
erkünstelt, die gemacht und daher unwahr sind. Wir haben
gesehen auf der andern Seite, wie diejenigen, die durchschaut
haben das Unwahrhaftige dieser Sentimentalität und nicht
anders konnten, als das sprechen lassen, was naturhaft im
Menschen ist, wie diese dann geführt wurden zu dem
krassesten Naturalismus, zu der bloßen Nachahmung
desjenigen, was in der Natur draußen schon geschaffen
wird.
Was
in der Natur schon geschaffen wird, das kann die Natur noch
immer besser schaffen als der Mensch, und wenn dieser als
Landschafter oder was immer die Natur nachahmen will, so wird
er, auch wenn er ein noch so großer Künstler ist,
hinter der Natur dennoch — der Unbefangene kann das
merken — zurückbleiben müssen.
Überflüssig ist im Grunde genommen dasjenige, was
Naturnachahmung ist.
Will man dann nicht verfallen in das phrasenhafte
Sich-Hinaufsteigern in ein Unreales, weil man das Reale glaubt
nicht erfassen zu können, will man nicht ausarten in
Manier, so muß man eben bei der bloßen
Naturnachahmung bleiben. Wahre Kunst erhebt sich über
Manier und Nachahmung zum Stil. Aber der Stil kann sich nicht
anders entwickeln als dadurch, daß der Mensch mit seinem
ganzen Innenleben in einer wahren Wirklichkeit wurzelt, die
noch hinausgeht über dasjenige, was sinnlich-physischer
Natur ist, aus der heraus daher auch etwas geschaffen werden
kann, was nur aus der menschlichen Schöpferkraft kommen
kann. Wahre Kunst, sie muß zum Stile streben, und wahrer
Stil, er kann nur auf dem Erleben des Übersinnlichen durch
den Menschen beruhen. Wer in der Kunst nicht etwas wie eine
Luxusbeigabe zum Leben sieht, sondern eine notwendige Bedingung
jedes menschenwürdigen Daseins, etwas, was den Menschen
erst zum ganzen Menschen macht und die menschliche Zivilisation
erst zu ihrem vollen Sinne bringt, der wird sich sagen
müssen: Agnostizismus nimmt den Menschen jene Wahrheit,
die in der Kunst leben will und leben muß.
Auch das kann jeder, der sehen will, an dem Gang unserer
neueren Zivilisations- und Kulturentwickelung sehen. Er kann
sehen, wie diejenigen, welche agnostisch gesinnt sind, alles
Übersinnliche in der Kunst nach und nach abgewiesen haben,
wie sie anerkennen nur dasjenige, was, wie sie sagen,
natürlich ist, was sie erinnert an irgend etwas, das sie
äußerlich mit ihren Sinnen und ihrem Verstände
wahrnehmen können. Dann aber erfüllt die Kunst nur
ein Sensationsbedürfnis, das wir befriedigen wollen, wenn
wir uns von der Arbeit der Woche für den Sonntag ausruhen;
dann gibt sich der Mensch der Kunst wie einem Luxus hin, dann
ist die Kunst kein Notwendiges im Leben. Agnostizismus
drängt die Kunst als einen notwendigen Lebensinhalt aus
dem menschlichen Dasein selbst hinaus, macht sie zu einem
Sonntagsvergnügen, zu einem Lebensluxus. Das ist sie
für weiteste Kreise geworden. Ist sie etwas anderes, wenn
wir heute sehen, wie große Menschengruppen durch Museen
geführt werden? Das ist ein Grundton in unserem neueren
Geistesleben. Derjenige, der die Dinge nicht
äußerlich betrachtet, sondern die innerlichen
Zusammenhänge des Lebens, der sieht, wie das, was ich hier
eben als Kunstverderbnis charakterisiert habe,
zusammenhängt mit der agnostischen Richtung des
Zeitalters.
Und
weiter: nicht nur auf das Vorstellungsleben, nicht nur auf das
Gefühlsleben, auch auf das Willensleben hat der
Agnostizismus seinen Einfluß. Man mag noch so sehr
philosophieren darüber, daß man über die Natur
und über die Welt denken mag, wie man will — es
werde doch sprechen im Menschen dasjenige, was Pflicht ist,
dasjenige, was das Gute ist, durch eine Art kategorischen
Imperativs. Deklamieren, philosophieren kann man von einem
solchen kategorischen Imperativ innerhalb einer Sphäre des
Agnostizismus. Dann aber, wenn der Agnostizismus nicht Theorie,
wenn er Gesinnung, wenn er auch Gefühl ist, dann entstehen
eben die kategorischen Imperative nicht. Und nicht darauf kommt
es an, wie man über eine Sache denkt, sondern darauf, was
in der menschlichen Seele wirklich entstehen kann. Es entstehen
keine neuen kategorischen Imperative, wenn diejenigen alten
immer mehr und mehr abnehmen, welche noch durch Tradition aus
früheren menschlichen Epochen herauf fortgepflanzt sind.
Wenn diese Traditionen sich verlieren, dann hören
allmählich die kategorischen Imperative auf. Dann
fühlt der Mensch an derjenigen Stelle seines Wesens, wo
der Wille als Impuls für das Leben wirkt, die innerliche
Leerheit. Gedanken, Vorstellungen werden durch das Erleben des
Agnostizismus kraftlos gemacht. Gefühle werden stumpf
gemacht, der Wille wird leer gemacht, und dann ist der Mensch
ausgeliefert entweder irgendeiner äußerlichen
Autorität, die ihm seinen Imperativ gibt, oder aber dem
Animalischen, demjenigen, was als die physischen
Bedürfnisse sich geltend macht, demjenigen, was aus der
tiefsten unterbewußten Welt ohne alles Vorstellen, ja ohne
alles Regulativ des Fühlens heraufquillt. Dann ist
der Mensch entweder darauf angewiesen, den bestehenden
Autoritäten sich bedingungslos auszuliefern, oder neue zu
begründen, oder aber zuzugeben, daß das
Menschengeschlecht nichts anderes könne, als seine
physischen Instinkte ausleben.
Auch diese Anschauungen sind, wenn vielleicht auch mehr oder
weniger schüchtern, in unserem Zeitalter genügend
vertreten worden. Was heute immer mehr und mehr hindrängt
zum Autoritätsglauben, zum Autoritätsgefühl, was
gar nicht anders sein kann als in Anlehnung an diesen
Autoritätsglauben, an dieses Autoritätsgefühl,
was wir so furchtbar überhandnehmen sehen, das hängt
mit dem Agnostizismus zusammen. Denn so etwas wie der
Agnostizismus kann in einer Generation Theorie sein —
diese Generation kann ihn vielleicht sehr geistreich
begründen —, in der nächsten Generation ist er
Leben, und wenn er Leben ist, dann entstehen eben diejenigen
Dinge, die ich geschildert habe. So sehen wir den theoretischen
Agnostizismus unserer Vorväter in dem Autoritätsdrang
der gegenwärtigen Menschheit auferstehen, oder wir sehen
ihn auch auferstehen in dem Unglauben an alles dasjenige, was
aus dem Geiste des Menschen heraus die menschlichen
Bedürfnisse regeln könnte, was ein menschliches
soziales Leben begründen könnte. Wir sehen ihn an der
Aufrichtung der Meinung, daß im Grunde genommen dennoch
der Mensch nichts anderes könne als seinen animalischen
Impulsen leben und diese organisieren.
Nun, was da in Vorstellen, Fühlen und Wollen zunächst
im Menschen sich auslebt, das führt ihn auf seinem Wege
dann weiter zu dem eigentlichen religiösen Erleben.
Für mich ist auch der stärkste Materialist ein
religiöser Mensch, denn es kommt schließlich beim
Allgemeinen der Religion nicht darauf an, ob man zu dem oder
jenem sich bekennt, sondern darauf, wie man sich in seiner
Seele oder auch, wenn man sie leugnet, in seiner ganzen
Menschlichkeit verbunden fühlt mit dem Weltenwesen.
So
ist es gekommen, daß in der neuen Zeit immer mehr und mehr
der Mensch auch mit Bezug auf das religiöse Erleben sich
innerlich leer fühlt und deshalb Anlehnung sucht. Eine
Erscheinung kann einem da vor Augen stehen, die vielleicht
heute noch nicht von sehr vielen, die nicht gerade
drinnenstehen, bemerkt wird, die aber in vielleicht gar nicht
so ferner Zeit sehr gründlich wird bemerkt werden
können: das ist die Hinneigung gerade intelligenter,
gerade seelenvoller Menschen zu den äußerlich
begründeten, strammen alten Kirchenorganisationen. Die
Menschenseele, die innerlich leer ist, kann in sich die Kraft
nicht finden, die sie verbindet mit dem göttlichen
Weltengrunde; sie tendiert deshalb dazu, eine
äußerliche Anlehnung zu haben. Die Seele, die sich
selbst nicht innerlich mit dem Gotte verbunden fühlt, die
will in der Außenwelt das finden, was sie zu diesem Gotte
hinführt. Zahlreiche Menschen, von denen man das
vielleicht nicht geglaubt hätte, tendieren hin zum
römischen Katholizismus. Zahlreiche Menschen geben sich
aber gar nicht aus andern Untergründen der Seele als
diesem zum Katholizismus hin Tendierenden der materialistischen
Religionsauffassung hin. Auf der andern Seite sehen wir Seelen,
die gerade fein-religiös organisiert sind, die
gewissermaßen das Unbefriedigende der religiösen
Traditionen des Abendlandes gründlich empfunden haben.
Diese Seelen geben sich hin allerlei Dingen, die man ihnen aus
dem alten oder auch aus dem neuen Orient herüberbringt.
Sie suchen nicht dasjenige, was aus der eigenen Gegenwartsseele
quillt; sie berücksichtigen nicht, daß, wenn ein
religiöses Leben Wahrheit ist, es immer quellen muß.
Sie möchten sich anlehnen an ein Fremdes, an ein Altes.
Die innere Leerheit ist es, die wir hier walten sehen, die
innerliche Leerheit, die Anlehnung nach außen sucht.
Mit
all dem, was ich geschildert habe, kann der Mensch nur bis zu
einem gewissen Grade leben, und die Entwickelung der neuesten
Zeit hat ja gezeigt, daß es sich bis zu einem gewissen
Grade mit all dem leben läßt. Das hat seinen tiefen
Grund in der ganzen neueren Zivilisations- und
Kulturentwickelung. Als eine Folge der wissenschaftlichen
Denkweise ist heraufgekommen die moderne Technik, die
eigentlich nur arbeiten kann in dem, was vom Menschen
abgesondert istr in demjenigen, in das der Mensch
mit seiner eigenen inneren Wesenheit nicht hineindringt. Diese
Technik stellt etwas um uns herum dar, das unsere Arbeit so in
Anspruch nimmt, daß wir uns selber nach und nach ihr
eingegliedert haben wie etwas, das sich ihr hingibt, wie etwas,
das sich mit ihrem Besten hingibt. Man braucht sich nur zu
erinnern an allerlei Arbeitssysteme, die in der
westlichen Zivilisation ihren Ursprung haben, wie diese
Arbeitssysteme den Menschen hineinstellen möchten in die
Welt der Technik selber wie ein Glied einer Maschine, so
daß dasjenige, was ihm lieb ist, was seine Sympathie,
seine Antipathie erregt, was ihn veranlaßt, einmal irgend
etwas schneller, ein andermal etwas langsamer zu machen,
daß das ausgeschaltet wird, daß man rechnen kann auf
das, was als seine Tätigkeit aus ihm kommt, wie man
rechnen kann auf die Tätigkeit einer Maschine.
Niemals konnte die Menschheit auf die Dauer irgendwie
befriedigt sein durch eine solche Hingabe, durch eine solche
Anlehnung an ein Fremdes, sei es ein äußerlich
Physisches, sei es ein Geistiges. Natürlich ist es,
daß unter dem Einflüsse der triumphalen Technik
gerade bei den zivilisiertesten Menschen des neuesten
Zeitalters sich so etwas ausgebildet hat. Aber es ist in
gewisser Beziehung heute auch an seinem Kulminationspunkte
angelangt, es ist da angelangt, wo deutlich die Rufe
hörbar sind nach einer Umkehr, wo deutlich schon
gefühlt werden kann die innere Entzweiung des Menschen im
Vorstellungsleben, das Dumpfwerden seines Gefühlslebens,
das Leerwerden seines Willens- und religiösen Lebens, das
Leerwerden auch seiner sozialen Impulse.
Wir
stehen an dem Zeitpunkte, wo erlebt werden können die
Früchte des Agnostizismus, der als Theorie begonnen hat,
der aber als eine Art von Lebenspraxis überall heute schon
unser soziales Leben durchzieht. Und im Leben ist •alles
im Grunde genommen nicht nur eine Wirkung von der einen nach
der andern Seite, sondern auch von der andern Seite nach der
ersten zurück. Wenn der Mensch heute drinnensteht in einem
praktisch-technischen Leben, das seine Subjektivität, das
seine Persönlichkeit ganz auszuschalten strebt, wenn er
sich selbst in eine Lage gebracht hat, in der sein Wille an
innerer Leerheit, seine Gefühle und Empfindungen an einer
gewissen Stumpfheit kranken, dann können wir sehen, wie
das alles wiederum zurückwirkt auf das Vorstellungsleben.
Dadurch ist der Mensch heute zu einer gewissen Bequemlichkeit
in seinem Vorstellungsleben gekommen.
Es
ist heute durchaus so, daß man sagen kann: Was auch immer
auftaucht an Anschauungen, an Impulsen, um den
Niedergangskräflen Aufgangskräfte entgegenzusetzen
— das menschliche Vorstellungsleben ist nicht mehr
empfänglich genug, das menschliche Vorstellungsleben
entwickelt passive, aber nicht innerlich aktive Kräfte,
artet sich nicht mehr so, daß es etwas mit Enthusiasmus
ergreifen kann, um zu sehen, ob es standhält im Leben.
Dieses innerlich Tätige des Vorstellungslebens ist
einer gewissen Bequemlichkeit gewichen. Wenn man irgend etwas
hört, was einem ungewohnt ist, was man nicht selbst schon
gedacht hat, möchte man nicht das Innere so anstrengen,
daß nun anders konturierte Vorstellungen, anders tingierte
Vorstellungen aufleben in einem als diejenigen, die schon
dagewesen sind. Man prüft nicht eigentlich an dem inneren
Leben, das einem ermöglicht ist, dasjenige, was auftaucht,
sondern man fragt nur: Bin ich gewöhnt daran, daß
solche Vorstellungen in mir auftauchen? — Findet man,
daß man nicht gewohnt ist, daß solche Vorstellungen
auftauchen, wie sie einem entgegengebracht werden, dann
läßt man sich nicht auf sie ein. Ich will nicht
einmal sagen, daß man immer energisch ablehnt, sondern man
greift gar nicht an, man läßt die Vorstellungen
vorübergehen.
Es
ist heute nicht bloß so zum Beispiel in politischen
Versammlungen. Man kann dort Verschiedenes reden. Dann tritt
ein anderer Redner auf, so einer, der so ganz hinein sich
gelebt hat in eine Parteischablone. Man hört ihn dann
reden in all den Formen, die er seit dreißig Jahren
gewohnt ist; dasjenige, was ein bißchen angeklungen hat an
das, was er seit dreißig Jahren gewohnt ist, das spricht
er dann nach, das andere hat er überhaupt nicht
gehört. Er wird innerlich unbewußt unwillig, wenn er
irgend etwas hören soll, woran er nicht gewöhnt ist.
Das ist im Grunde genommen eine Wirkung des Agnostizismus,
indem dieser aus einer Theorie Leben geworden ist.
Das
tritt auch in unser Erziehungswesen ein. Haben wir denn die
lebendige Anschauung, daß die Erziehung so gestaltet
werden müsse, wie das Leben selber ist? Das Leben ist so,
daß, was wir als vier-, fünfjähriges Kind an
Gliedern haben, ganz anders ist, wenn wir erwachsen sind. Alles
metamorphosiert sich, alles gestaltet sich um. Wenn wir dem
Kinde etwas beibringen, möchten wir am liebsten es ihm so
beibringen, daß es bleiben kann, daß das Kind
später sich so erinnert, daß in der Erinnerung das
Beigebrachte ganz genau so auftritt, wie wir es beigebracht
haben. Wer aber lebensvoll denkt, der muß an eine
Erziehung denken, die dem Kinde alles dasjenige, was sie ihm
beibringt, so vermittelt, daß dieses mit dem Kinde
wächst, daß dieses von vorneherein ein Wachsendes,
ein Sich-Entwickelndes ist. Man muß die Dinge so an das
Kind heranbringen, daß sie sich ebenso wie die organischen
Glieder des Kindes metamorphosieren, umgestalten.
All
das haben wir aber hinschwinden sehen aus der menschlichen
Anschauung, aber auch aus der menschlichen Lebenspraxis unter
dem Einflüsse des Agnostizismus. Ich betone es noch einmal
ausdrücklich: Weder wollte ich heute eine Kritik des
Agnostizismus geben, noch wollte ich in positiver Weise ihm
etwas entgegensetzen. Ich wollte nur gewissermaßen eine
allerdings von einem innerlichen Standpunkt aus gegebene
Charakteristik unseres Zeitalters zunächst hinstellen,
wollte zeigen, wie äußerlich im menschlichen
individuellen, im sozialen, im religiösen, im sittlichen
Leben überall auftreten gewisse Früchte, die
zurückgeführt werden müssen auf die Saat des
Agnostizismus. So kann uns diese Zeit erscheinen, wenn wir sie
ansehen nicht so, wie wir es aus gewissen Vorurteilen heraus
möchten, wie wir es unter den Einflüssen gewisser
agitatorischer Ideale möchten, sondern wenn wir dieses
Zeitalter, in dem wir selber leben, seiner Wirklichkeit
gemäß anschauen.
Das, meine sehr verehrten Anwesenden, wollte ich vorausschicken
den Vorträgen, die in den nächsten Tagen handeln
sollen von einer Lebensauffassung, nach der sich sehnen
muß ein Zeitalter, an dem sich die Tragik des
Agnostizismus erfüllt hat. Diese Lebensauffassung, das
will, wie Sie sehen werden, die Anthroposophie als eine
lebensvolle Weltanschauung sein, eine Weltanschauung, die bis
zu demjenigen vordringen will, mit dem der Mensch sich
verbindet als mit der wahren Wirklichkeit, eine Weltanschauung,
die zeigen wird, daß der Mensch auch Mittel hat, um zu
dieser wahren Wirklichkeit vorzudringen.
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