ZWEITER VORTRAG
Stuttgart, 30. August 1921
Im
heutigen Vortrage gestatten Sie mir, als eine Art von Grundlage
für die folgenden Betrachtungen einiges anzuführen
von der Art und Weise, wie geschichtlich die Erkenntniswurzeln
der Anthroposophie gefunden worden sind. Ich werde in die
Notwendigkeit versetzt sein, dabei vielleicht einige entlegene
Gebiete heranzuziehen und auch einiges Persönliche in die
Betrachtung einzumischen; insbesondere das erstere, der Exkurs
in etwas abgelegenere, scheinbar philosophische Gebiete, soll
möglichst in den nächsten Tagen vermieden werden.
Aber damit man nicht glaube, daß Anthroposophie auf
irgendwelchen laienhaften Vorstellungen beruhe, muß heute
von dieser Grundlage schon einiges gesprochen werden.
Was
als eine eigentliche Wirkung des Agnostizismus in das ganze
Leben des Menschen gekommen ist, war insbesondere in der Zeit
im höchsten Maße zu beobachten, in der sich mir der
Weg zu den Wurzeln desjenigen ergab, was heute von mir
Anthroposophie genannt wird. Es fällt das erste Suchen
nach diesen Wurzeln bei mir in die achtziger Jahre des vorigen
Jahrhunderts, und wer das damalige Suchen verfolgen will, der
wird Anhaltspunkte dafür finden in meinen Schriften, die
ich verfaßt habe als Einleitungen zu Goethes
naturwissenschaftlichen Werken, in meinen Schriften
«Goethes Erkenntnistheorie», in meiner kleinen
Schrift «Wahrheit und Wissenschaft» und dann in der
im Beginne der neunziger Jahre erschienenen «Philosophie
der Freiheit».
Damals, als diese Schriften entstanden, stand man ganz und gar
einer Erkenntnis- und Wissenschaftsgesinnung gegenüber,
die unmittelbar aus dem Agnostizismus hervorging. Überall
— auch da, wo man ernstes Erkenntnisstreben und ernstes
Streben antraf, dasjenige, was der Mensch sich als Erkenntnis
erringen kann, in die Praxis des Lebens umzusetzen —,
überall da traf man eben auf Menschen, die über den
Agnostizismus nicht hinauskommen konnten, auf Menschen, die
durch alles dasjenige, was der Agnostizismus in sie gepflanzt
hatte, durchaus ablehnend gegenüberstehen mußten
alldem, was zur Anthroposophie führen kann. Alles, was man
da an solchen Menschen erlebte, das führte einen dazu,
zwei Fragen aufzuwerfen aus dem Zeitbewußtsein heraus, die
von eminenter, rein menschlicher Bedeutung zu sein scheinen.
Für jemand, der auf der einen Seite wissenschaftliches
Streben lieben gelernt hat, der aber auch auf der andern Seite
einsieht, welchen tiefgehenden Einfluß gerade der
Wissenschaftsgeist in der neueren Zeit auf alles Leben der
Menschen gewonnen hat, ergab sich die wichtige Lebensfrage:
Kann Wissenschaft da, wo sie sich zu ihrer höchsten
Blüte entwickeln will, als Philosophie dasjenige geben,
was der Mensch aus seinem tiefsten Inneren heraus als die
eigentlichen Antworten auf die Grundfragen des Lebens haben
muß? Und diese Frage, sie spaltete sich gegenüber dem
Zeitbewußtsein der damaligen Zeit in die zwei andern: Gibt
die zeitgenössische Wissenschaft dasjenige, was der Mensch
aus seinem innersten Drange suchen muß? Und was ist es,
das der Mensch gerade in unserer Zeit gemäß diesem
seinem innersten Drange suchen muß?
Diese zwei brennenden Fragen standen in den achtziger Jahren
des vorigen Jahrhunderts vor meiner Seele, und mit diesen zwei
Fragen im Herzen betrachtete ich dasjenige, was die
verschiedenen Wissenschaften, die sich ja, indem sie
philosophisch wurden, aus dem Geiste des Agnostizismus heraus
genährt hatten, dem Menschen geben konnten. Ich fragte:
Was kann die Philosophie, die das Ende des 19. Jahrhunderts
hervorgebracht hat, dem menschlichen Drange geben? Und aus dem,
was ich empfinden mußte gegenüber diesen beiden
Fragen, formte sich mir dasjenige, was ich 1885
niedergeschrieben habe für meine «Grundlinien einer
Erkenntnistheorie der Goethe'schen Weltanschauung». Da
entrangen sich mir die Worte: «So haben wir eine
Wissenschaft, nach der niemand sucht, und ein
wissenschaftliches Bedürfnis, das von niemandem befriedigt
wird.» Denn so kam mir dasjenige vor, was dazumal als
Philosophie aus dem Agnostizismus hervorgegangen war. Diese
Philosophie behandelte Fragen von einer so entlegenen, so
abstrakten Art, daß diese nichts zu tun hatte mit dem, was
lebendig in der Seele nach einer Lösung der eigentlichen
Rätselfragen des Daseins suchte.
Aus
dieser Stimmung heraus entstand dann dasjenige, was ich genannt
habe «Erkenntnistheorie der Goethe'schen
Weltanschauung». Denn aus alldem, was damals die
zeitgenössische Philosophie bieten konnte, bekam man einen
gewissen Ausblick erst, wenn man versuchte, sich mit einem
Geiste auseinanderzusetzen, der seinem eigentlichen Wesen nach
im Grunde genommen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts tot
war, von dem man zwar in bezug auf allerlei
Äußerlichkeiten viel sprach, in den man aber nicht
dem Geiste nach wirklich eindringen wollte: ich meine
Goethe, Und was einem auffallen konnte an Goethe, das
war, daß wirklich auch da, wo er sich mit einem engeren
Gebiete wissenschaftlicher Forschung befaßte, zum Beispiel
mit den Pflanzen, mit den Tieren, mit den Farben, daß da
immer die Tendenz zugrunde lag, hinaufzugelangen aus
menschlicher Einzelwissenschaft zu einer umspannenden
Wissenschaft von den Weltenrätseln.
Goethe hat gewiß die verschiedenen Wege, die aus den
Niederungen in die Höhen hinaufführen können,
nicht alle betreten. Er war trotz seiner Größe in
einer gewissen Weise außerordentlich innerlich bescheiden;
aber darauf kam es ja nicht an, sondern darauf, ob man bei
Goethe überall die Tendenz sieht, aus den Niederungen
wissenschaftlichen Lebensstrebens hinaufzudringen zu den
Gipfeln des Daseins. Und diese Tendenz konnte man deutlich
sehen. Man nahm aber bei Goethe etwas wahr, was einem
zunächst ein Wegweiser sein konnte. Ich erinnere an einen
Ausspruch, den Goethe getan hat im Verlauf seiner italienischen
Reise in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts und der sich
wiederfindet in seiner gedruckten Schrift von der
«Italienischen Reise». Ich erinnere daran, daß
Goethe diese italienische Reise nicht nur dazu benützt
hat, um nach seiner Art in das Wesen des künstlerischen
Schaffens einzudringen, sondern auch dazu, um aus der
Beobachtung des Mineralisch-Geo-gnostischen, das ihm
entgegentrat, aus der Beobachtung des Pflanzen- und
Tierwesens, eine wissenschaftliche Weltanschauung zu gewinnen.
Und nachdem er schön viele Monate auf dieser Reise
zugebracht hatte, nachdem er bereits allerlei wissenschaftliche
Prinzipien — das heißt solche, die von ihm so
angesehen worden sind — ausgestaltet hatte, schrieb er
eben das bedeutungsvolle Wort: Nach dem, was ich hier an
Pflanzen und Fischen gesehen habe, möchte ich... eine
Reise nach Indien antreten, nicht um etwas Neues zu entdecken,
sondern um das Entdeckte nach meiner Art anzusehen.
Wer
sich ganz in dasjenige vertieft, was in Goethes Seele lebte, da
er einen solchen Ausspruch tat, dem kann dieser eben ein ganz
besonderer Wegweiser sein; denn wenn er von dem Sinn eines
solchen Ausspruchs ausgeht, so wird ihm allmählich
aufgehen, wie Goethe erkennend zu der Außenwelt ganz
anders stand als viele andere Menschen. Und insbesondere in den
achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts war es gegenüber den
Früchten des Agnostizismus ganz besonders wichtig, auf die
Art des Goethe'schen Erkennens hinzuschauen, denn diese ist
anders als alles dasjenige, was sich dann durch die großen
wissenschaftlichen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts als
ein Erkenntnisniederschlag für das Ende dieses 19.
Jahrhunderts und für den Anfang des 20. Jahrhunderts
ergeben hat, und da konnte man wohl Veranlassung nehmen, die
besondere Eigenart des seelischen Verhaltens, die bei Goethe
vorhanden war in seinem Erkenntnisprozesse, tiefer ins Auge zu
fassen.
Goethe stellte anders vor über die Dinge, Goethe dachte
über die Welt anders als diejenigen, die mehr in einer
gewissen Beziehung eine Art philosophischen Abschluß
glaubten errungen zu haben am Ende des 19. Jahrhunderts. Und
man kann bei Goethe dies ganz besonders sehen, wenn man
beachtet, wie er, von seiner italienischen Reise
zurückgekehrt, das klassische kleine Schriftchen
«Versuch, die Metamorphose der Pflanzen zu
erklären» geschrieben hat, und wie die Ideen dieses
Schriftchens wie als ein selbstverständliches
Seelenprodukt hervorgegangen sind aus dieser besonderen Art des
Erkenntnisstrebens. Geht man ein auf das, was hier vorliegt,
dann wird man finden, daß Goethes Erkenntnisart besonders
dafür veranlagt war, anschauend in das Leben der
Pflanzenwelt einzudringen. Am Ende des 19. Jahrhunderts aber
war man ganz besonders darauf aus, diejenigen
Erkenntnisprozesse auszubilden, die in das Weben der
unorganischen, der unlebendigen Natur eindringen. Einzelne
Menschen versuchten in ihrem Erkennen eine Art Reaktion gegen
diese Hinorientierung des ganzen Erkenntnisprozesses auf die
unlebendige Natur. Man kann sagen, Goethes Denken, Goethes
Vorstellen lebte in anderer Art im Verhältnis zu der
äußeren Wahrnehmung, zu der äußeren
sinnlichen Welt als dasjenige Denken, welches besonders
befähigt ist, in die unlebendige Welt einzudringen. Was
Goethe dachte, war gewissermaßen geneigt, sich innig zu
durchdringen mit dem, was seine Augen sahen, was seine Sinne
wahrnahmen. Was Sinne wahrnehmen, das steht dem
Gedankenprozesse, der sich namentlich an die unlebendige Natur
heranmacht, viel ferner, als bei Goethe Wahrnehmung und Denken
standen. Goethes Denken war ein solches, daß es sich
beweglich verhalten konnte, indem es den ganzen
Wachstumsprozeß der Pflanze verfolgte, indem es verfolgte,
wie die eine Pflanzenform eine Modifikation der andern ist.
Goethes Denken war kein starres, kein steif konturiertes; es
war ein solches, daß sich seine Begriffe fortwährend
metamorphosierten, und dadurch wurden sie, ich mochte sagen,
innig angepaßt an den Gang, den gerade die pflanzliche
Natur selber durchmacht.
Man
kann es daher verstehen, daß es Goethe besonders ansprach,
als er nach Jahrzehnten eine Beschreibung dieser seiner
besonderen Erkenntnisart bei dem Psychologen Heinroth
fand. Heinroth nannte Goethes Denken ein
«gegenständliches Denken». Und dieses Wort
«gegenständliches Denken», es gefiel Goethe ganz
besonders, denn er fühlte, daß sein Denken in einer
gewissen Weise untertaucht in dasjenige, was es beobachtet,
daß es sich innig verbindet mit dem Beobachteten, daß
es gewissermaßen herausschlüpft aus der
Subjektivität und hineinschlüpft in das Objekt,
daß die Gegenstände der Wahrnehmung ganz ergriffen
werden von den Begriffen und die Begriffe wiederum ganz
untertauchen in den Gegenständen der Wahrnehmung.
«Gegenständliches Denken», so sagte Heinroth,
und Goethe fand darin wirklich eine Charakteristik desjenigen,
was in seinem Erkenntnisprozeß lebte.
Man
kann nun dasjenige, was ich hier als den besonderen
Erkenntnisprozeß Goethes andeute, weiter ausführen.
Das ist in den genannten Einleitungen zu Goethes
naturwissenschaftlichen Schriften geschehen und auch in meinem
kleinen Büchelchen «Erkenntnistheorie der
Goethe'schen Weltanschauung». Aber dabei kann einem eines
auffallen: Goethe hat mit seinem Denken in einer
außerordentlich einleuchtenden Weise die Metamorphose der
Pflanzen beschrieben. Er wurde ein klassischer Morphologe der
Pflanzenwelt. Aber obwohl Goethe eigentlich bei seinen
naturwissenschaftlichen Studien über die organische Welt
zunächst nicht von dem Pflanzlichen ausgegangen ist,
sondern von dem Tierisch-Menschlichen, so brachte er es
trotzdem in der Betrachtung des Tierisch-Menschlichen nicht zu
derselben Vollendung wie in der Verfolgung
der Geheimnisse der Pflanzenwelt. Es ist vielleicht bekannt
und es kann in meinen Schriften nachgelesen werden, wie Goethe
sich auflehnte gegen die Kluft, die aufgerichtet werden sollte
von einigen Anatomen und Physiologen zwischen dem Tier und dem
Menschen dadurch, daß man diesem einen
Zwischenkieferknochen in der oberen Kinnlade absprach,
während ein solcher bei allen Tieren vorhanden ist. Goethe
war nicht geneigt, als er mit der Sache bekannt wurde,
zuzulassen, daß der Unterschied zwischen der Tierheit und
der Menschheit in einer so untergeordneten Einzelheit gesehen
werden soll. Goethe wollte das, was den Menschen heraufhob
über die Tierheit, in etwas ganz anderem als in einer
solchen Einzelheit suchen. Daher kam er zu dem Bestreben, zu
zeigen, daß dem Menschen wie den übrigen Tieren ein
Zwischenkieferknochen in der oberen Kinnlade zuzuschreiben sei.
Dieses ist von ihm wieder in einer klassischen Weise geschehen,
indem er sich aller damals möglichen wissenschaftlichen
Hilfsmittel zu diesem Nachweis bedient hat. Und als dann Goethe
von dem Studium des Tierisch-Menschlichen überging zu dem
Studium des Pflanzlichen und das, ich möchte sagen,
einströmen ließ in die genannte außerordentlich
bedeutsame Abhandlung von 1790, da kam ihm auch der Gedanke,
diese Metamorphosenanschauung auszudehnen auf das Tierische,
also auf dasjenige, was nicht nur lebt wie die Pflanze, sondern
was beseelt ist wie das Tier.
Wenn man sich nun darauf einläßt, zunächst zu
sehen, wie Goethe sich dieser Aufgabe unterzogen hat, so wird
man bemerken können: er hat viele Ansätze gemacht,
auch eine Art Metamorphose der tierischen Organe zu schreiben.
Er hat unermeßlich viele Studien gemacht, um eine solche
Tiermetamorphose zu schreiben; aber man wird nicht finden,
daß irgendeine dieser Studien auch nur im entferntesten an
dasjenige heranreicht, was ihm gelungen war mit seiner
Metamorphose der Pflanzen. Und man sieht auch, wie Goethe immer
wieder angefangen hat, wenigstens auf dem Gebiet der
Knochenlehre, die Metamorphosenlehre auszubauen. Aber er
hörte immer wieder auf mit dem Weiterschreiten. Alle diese
Dinge sind Fragment geblieben. Er konnte nicht bis zu dem
Punkte kommen, wo sich sein Denken als innerliches Seelenleben
so verlebendigt hätte, daß es auch hätte
untertauchen können in die Tierheit wie in die
Pflanzenwesenheit und ihre Verwandlungen. Und so ergab sich
gerade beim Studium Goethes die große Frage nach dem Wesen
und den Wegen des menschlichen Erkennens überhaupt, und
hier liegt geschichtlich — wenigstens für mich
— eine der Wurzeln der Anthroposophie.
So
mußte man aus den Wirkungen des Agnostizismus vom Ende des
19. Jahrhunderts heraus die Grundfrage stellen: Was geschieht
denn da eigentlich im Menschen, wenn er erkennt? — Es ist
offenbar diese Erkenntnis eine Tätigkeit, die er innerlich
ausübt; aber es ist nicht bloß eine
gleichgültige Tätigkeit. Es ist eine Tätigkeit,
die ihn zusammenbringen soll mit dem Wesen der
Welterscheinungen, eine Tätigkeit, durch die er sich
orientieren soll, wie er mit seinem eigenen Wesen in den
Welttatsachen drinnen-steht. Ist Erkennen etwas, mit dem man,
ich möchte sagen, nur wie das fünfte Rad am Wagen
neben der äußeren Welt steht, und hat man in seinen
Vorstellungen, die den Erkenntnisprozeß bilden, lediglich
etwas zu finden, was Abbild der äußeren Wirklichkeit
ist? Oder ist der Erkenntnisprozeß nicht so etwas
bloß Formelles, mit dem man sich in die Ecke stellt,
während der Weltprozeß draußen abläuft,
durch das man in sich diesen Weltenprozeß spiegeln
läßt, so daß es für diesen höchst
gleichgültig wäre, ob der Mensch da in der Ecke steht
und sich außer allem übrigen, was geschieht, auch
noch das zuträgt, daß er durch sein Denken allerlei
Begriffe und Ideen bildet über diesen Weltenprozeß?
Mit andern Worten: Ist das Erkennen etwas bloß Formelles,
etwas, was der Mensch für sich macht, oder ist das
Erkennen etwas Reales? Steht der Mensch mit dem Erkennen als
mit etwas Realem, mit einem realen Prozeß in dem
Weltenganzen drinnen? Erlebt man, indem man erkennt, irgend
etwas, was in der Welt und durch die Welt geschieht, und das
sich nur wegen der besonderen Organisation der Welt nicht
außerhalb, sondern im Menschen abspielt so, daß der
Mensch in sich selber der Schauplatz wird für wichtige
Weltenereignisse, die sich auf diesem Schauplatz abspielen?
Wenn das letztere der Fall ist, dann steht der Mensch mit
seiner Erkenntnis als mit einem realen Prozesse im
Weltenzusammenhang drinnen- Dann ist er nicht ein Eckensteher
des Daseins, dann ist gewissermaßen im Weltenprozesse auf
ihn gerechnet; dann ist seine Organisation so, daß die
Welt nicht vollständig wäre, wenn dasjenige, was in
ihm, gewissermaßen innerhalb seiner Haut sich abspielt,
nicht auch geschähe und gerade den Gipfel des
Geschehens in der Welt abgäbe.
Das
etwa ist die Frage, die sich herausrang in der Seele aus dem
Erleben des Agnostizismus. Und da ergab sich dann, indem
herangezogen wurde alles dasjenige, was im menschlichen
Erkenntnisprozesse tätig ist, was diese Tätigkeit,
die entweder bloß eine formale oder eine reale ist,
eigentlich in sich schließt. Wenn man nun versucht, einen
charakteristischen Gegensatz herauszufinden innerhalb dieser
Tätigkeit, dann findet man dasjenige, was einen dann
weiterbringt, was einen hineinstellt in die Möglichkeit,
die Frage zu beantworten, was bei Goethe Erkennen war und was
deshalb noch nicht vollkommenes Erkennen war, weil er abbrechen
mußte zwischen der Pflanzenwelt und der Tierwelt. Diese
Frage läßt sich nur beantworten, wenn man sich
reinlich den Gegensatz zwischen dem Denken auf der einen Seite
und dem Wahrnehmen auf der andern Seite vor Augen stellt. Im
menschlichen inneren Erleben gibt es eigentlich keinen
größeren Gegensatz als den zwischen dem Denken und
dem Wahrnehmen.
In
dem Denken leben wir ja so, daß wir ganz einer inneren
Tätigkeit hingegeben sind. Im wirklichen Denken ist alles
Aktivität in uns. Kein Gedanke kann Platz greifen in
unserem Bewußtsein, ohne daß wir mit unserer
ureigensten Tätigkeit an dem Entstehen und an der weiteren
Entwicklung dieses Gedankens teilnehmen. Denn wenn in unserem
Vorstellen ein Traum oder ein Erinnerungsbild auftauchen, dann
ist das kein Denken; wir fühlen, wir sind beim Traum und
Erinnerungsbild oder bei andern Bewußtseinsinhalten nicht
bis zu dem vorgedrungen, was wirkliches Denken ist. Wirkliches
Denken ist nur dann da, wenn wir mit unserer Aktivität
ganz bei diesem Denken sind. Wir können das Denken am
reinsten, am klarsten ausbilden, wenn wir ganz absehen von
aller Außenwelt und uns dem sich selbst
vollziehenden Denkprozeß überlassen. Da nehmen wir
wahr, wie Gedanke such aus Gedanke entwickeln kann, und wir
nehmen auch wahr, wie dieses eigentümliche Hervorgehen des
Gedankens aus dem Gedanken für das Innere seelisches
Erleben ist.
Dem
steht gegenüber dann dasjenige, was wir als Seelenerlebnis
haben im Wahrnehmen, wenn wir durch unsere Augen, durch unsere
Ohren, durch unsere andern Sinne der von außen gegebenen
Welt gegenüberstehen. Wahrnehmung trägt in ihrer
hauptsächlichsten Charakteristik den vollen Gegensatz zum
Denken. Eine Wahrnehmung, bei der wir schon mit unserer
Aktivität anwesend wären, wäre keine reine
Wahrnehmung; in sie hatte sich schon das Denken
gemischt. Eine reine Wahrnehmung ist allein diese, die wir ganz
passiv erleben.
Diese zwei Gegensätze des menschlichen Seelenerlebens
konnten sich einem gerade aus dem Agnostizismus heraus vor die
Seele stellen. Dann aber mußte man sich die Frage
vorlegen: Wie benimmt sich die menschliche Seele, indem
sie in die Wahrnehmung fortwährend das Denken
hineindrängt, fortwährend im Erkenntnisprozesse
dasjenige, was an passiver Wahrnehmung auftaucht, mit der
Aktivität des Denkens durchdringt und dann lebendig
drinnensteht in dem fortwährenden Durchdringen der
passiven Wahrnehmung mit dem aktiven Denken?
Gerade die Zeit des Agnostizismus — ich
möchte sagen die Kulminationszeit des Agnostizismus
— hat einen darauf hingewiesen, die Wahrnehmung selber,
dasjenige also, was in völliger Passivität erlebt
wird, in aller Reinheit sich vor die Seele zu stellen. Ich
erinnere mich, wie eine Schrift auf mich einen energischen
Eindruck gemacht hat, die 1884 erschienen ist von jener
Persönlichkeit, die später das umfangreiche Buch
geschrieben hat «Das Ganze der Philosophie und ihr
Ende»; es war die Schrift «Gehirn und
Bewußtsein» von Richard Wähle. Ich sah
dazumal den besonderen Vorzug dieser Schrift darin, daß
Richard Wähle scharf charakterisiert hat, was eigentlich
der Mensch wahrnimmt, was noch dableibt, wenn man von dem
Seeleninhalt alles heraussondert, was durch die Aktivität
des Denkens hineingetragen ist. Gerade durch diese Schrift
konnte man mit einem Wichtigen sich auseinandersetzen, mit dem,
daß in dem gewöhnlichen menschlichen Seelenerleben
durchaus nicht streng gesondert wird dasjenige, was
wahrgenommen wird, von dem, was schon mit dem Denken
durchmischt ist.
Für das gewöhnliche Bewußtsein ist es ja
durchaus so, daß der Mensch von morgens, wo er aufwacht,
bis zum Abend, wo er einschläft, eigentlich immer in
seelischen Inhalten lebt, die das Wahrnehmen schon mit dem
Denken durchmischt haben. Erst eine wirklich gründliche
Analyse muß dasjenige, was passive Wahrnehmung ist,
absondern von dem, was durch das Denken hineingetragen ist.
Dann kommt man darauf, wie eigentlich unser Wahrnehmungsbild
aussieht. Dieses Wahrnehmungsbild, man verfolge es nur, indem
man, ich will sagen, nur durch fünf Minuten sich des
zusammenfassenden Denkens enthält und nur registriert, was
man der Reihe nach wahrnimmt. Solche Denker, wie Richard
Wähle und Johannes Volkelt, haben dies getan, haben
registriert, wie, sagen wir, ein Briefträger hereinkommt,
einen Brief überreicht, was dann mit diesem Briefe
geschieht, wie sich da Wahrnehmungsbild an Wahrnehmungsbild
gegenüber dem ordnenden Denken chaotisch reiht. Dadurch
aber bekommt man einen richtigen Einblick in die
fortwährend vor sich gehende, nur zum geringsten Teil
bewußte Tätigkeit in der Menschenseele, die darinnen
besteht, fortwährend die Wahrnehmung mit dem Denken, also
das passiv Angeschaute mit dem innerlich aktiv Erzeugten zu
vermischen.
Nun
aber stand einem dazumal aus den Früchten, die aus dem
Agnostizismus aufgingen über den Erkenntnisprozeß,
nichts anderes vor der Seele als dasjenige, was sich in
Ausgestaltung des Kantianismus ergeben hat und was sich ferner
in Ausgestaltung desjenigen gezeigt hat, was die Maxime des
physiologischen Vorstellens im 19-Jahrhundert seit Johannes
Müller gewesen war. Nicht anders dachte man da, als:
das eigentlich Wirkliche sei da zu erforschen, wo das
Draußen ist, und das Denken habe nur die Aufgabe, dieses
Äußere abzubilden; man würde zu dem richtigen
Denken dadurch kommen, wenn man nicht aus dem menschlichen
Inneren heraus etwas in die Wahrnehmung hineintrüge,
sondern wenn man das Denken nur ganz passiv dazu benützen
würde, Bilder der Wirklichkeit zu schaffen. Diese
Wirklichkeit aber, dachte man, sei schon, ganz abgesehen von
dem Denkprozeß, von dem innerlichen Seelenprozeß,
irgendwo fertig da. Solches Denken verführt ja dann dazu,
zu imaginären Begriffen zu kommen, wie zum Beispiel der
ist von dem bekannten oder unbekannten «Ding an
sich». Zu sprechen von diesem «Ding an sich» hat
nur einen Sinn, wenn man meint, irgendwo müsse an sich,
abgesehen von der menschlichen Erkenntnis, die Wirklichkeit
sein, und man brauche nur durch irgendwelche Prozeduren sich
eben eine Erkenntnis zu verschaffen von dieser Wirklichkeit.
Dann wäre der Erkenntnisprozeß eben nichts real
Erlebtes, dann wäre er nur etwas formell neben dem
wirklichen Geschehen und den wirklichen Dingen in der Ecke
Stehendes. Demgegenüber ergab sich mir, daß das
Erkennen nun tatsächlich etwas Reales ist; denn durch die
Prüfung des eigentlichen Wahrnehmungsinhaltes, desjenigen
also, dem wir hingegeben sind, wenn wir passiv die
Außenwelt auf uns durch unsere Sinne wirken lassen, zeigte
sich, daß diese Außenwelt eben nicht die Wirklichkeit
enthält, sondern daß der Mensch so in die Welt
hereingeboren ist, daß, wenn er nur durch seine Sinne in
diese Außenwelt hineinschaut, er eben nur die Hälfte
dieser Wirklichkeit, nur eine Seite der Wirklichkeit, durch
seine Sinne erlebt.
Sie
können in meinen Schriften bis zu dem Buche «Die
Rätsel der Philosophie» überall die
Versuche finden, nachzuweisen, daß dasjenige, was sinnlich
für die Wahrnehmung vorliegt, eben nicht die Wirklichkeit
ist; daß also dem Menschen, indem er in die Welt
hereingeboren wird, mit seiner Wahrnehmung nicht die
Wirklichkeit übergeben wird, und daß diese
Wirklichkeit dem Menschen erst dadurch vor die Seele tritt,
daß er aus seinem Inneren heraus die Aktivität des
Denkens erzeugt und der unvollständigen Wirklichkeit, der
einen Seite der Wirklichkeit, das andere gegenüberstellt,
was zu dieser Wirklichkeit gehört, dasjenige, was ihm im
Geiste zunächst als das Denken gegeben ist. Es stellt sich
die Sache so, daß Wirklichkeit erst Seelenerlebnis wird,
wenn der Mensch sich mit der Wahrnehmung durch sein Denken, das
in seinem Geiste aufgeht, verbindet. Wirklichkeit ist etwas,
was durch das Erkennen wird. Wirklichkeit ist nicht etwas, was
wir suchen müssen. Wirklichkeit ist etwas, was wir
erzeugen, an dem wir erzeugenden Anteil nehmen; und das
Geheimnis des Menschen besteht darinnen, daß ihn, indem er
geboren wird, eine Welt umgibt, die nicht volle Wirklichkeit
ist, und daß er dazu geboren wird, zu dem, was sich ihm da
darstellt in der äußeren sinnlichen Erscheinung,
etwas hinzuzubringen, das nur in seinem Inneren aufgeht. Erst
in diesem Zusammenhang, in diesem Zusammenleben desjenigen, was
ihm in seinem Inneren aufgeht, mit dem, was er
äußerlich wahrnimmt, lebt er sich in die Wirklichkeit
hinein.
Solange wir bloß hinausschauen mit unseren Sinnen auf
dasjenige, was wir außerhalb wahrnehmen können, haben
wir keine Wirklichkeit vor uns. Wenn wir ringen, alles
Wahrnehmbare mit demjenigen zu verbinden, was wir von einer
ganz andern Seite aus den Weltenwurzeln in dieses Dasein
hineintragen, wenn wir ringen mit dem, was zunächst in
unserem Denken aufgeht, und wenn wir in unserer eigenen aktiven
Erkenntnistätigkeit diese zwei Seiten der Wirklichkeit
miteinander verbinden, so bringen wir zu der äußeren
Wahrnehmung dasjenige hinzu, was noch fehlt von der
Wirklichkeit; wir gestalten sie erst zu der Wirklichkeit. Der
Erkenntnisprozeß ist dasjenige, zu dem sich der Mensch
erheben muß, damit Wirklichkeit in seiner Welt enthalten
sei. In seiner Welt wäre nicht Wirklichkeit, wenn er nur
wahrnehmen würde, wenn er nicht ringen könnte, mit
dem Wahrgenommenen zu verbinden dasjenige, was nicht die
Wahrnehmung geben kann, was er aus ganz anderer Weltenecke zu
der Wahrnehmung hinzubringt und was sich zunächst in
seinem Denken offenbart.
Weil sich der Mensch mit seinem Erkenntnisprozeß in die
Wirklichkeit so hineinstellt, daß dieser
Erkenntnisprozeß selber eine Realität ist, daß
also in dem Prozeß, der zum Wissen führt, die
Wirklichkeit erst erzeugt wird, erst aufsteigt, deshalb konnte
ich dasjenige Schriftchen, worinnen ich gerade diese Art des
menschlichen Erkennens darstellen wollte, «Wahrheit und
Wissenschaft» nennen. Ich gab gewissermaßen dazumal
in diesem Schriftchen nach meiner Ansicht eine Art Versuch
einer Verständigung des menschlichen Bewußtseins mit
sich selbst. Das menschliche Bewußtsein stellt sich
gewissermaßen die Frage: Wie stehst du zu der
Wirklichkeit? Bist du das fünfte Rad am Wagen oder der
Eckensteher, der mit seiner Erkenntnis etwas vollführt,
das nichts zu tun hat mit der Wirklichkeit? Ist da draußen
schon die Wirklichkeit vielleicht nur verhohlen und hast du sie
durch deine Erkenntnis bloß zu suchen? Oder ist der
Erkenntnisprozeß etwas, das an dem Zustandekommen der
vollen Wirklichkeit beteiligt ist? — Diese Frage
ließ sich nicht anders als in dem letzteren Sinne
beantworten. Allerdings ist es aber notwendig, wenn man diese
Antwort, die dem Agnostiker zunächst wie ein Paradoxon
erscheint, in ihrer Richtigkeit durchschauen will, daß man
dann die ganz besondere Natur des Denkens als ein Reales von
der einen Seite wirklich erfasse und auf der andern Seite
wirklich erfasse, wie die Wahrnehmung überall sich so
erweist, daß sie an uns herantritt wie dasjenige, was
eigentlich in sich dunkel und finster ist. Man muß sich
die Empfindung von diesem Gegensatz von Denken und Wahrnehmung
so vergegenwärtigen, daß man klar anschaut, wie wir
in dem Denken etwas haben, worinnen wir voll wachen.
Der
Wachprozeß hat ja seine Stufen, seine Grade. Wollen wir
ihn erfassen in seiner ureigensten Gestalt für unser
gewöhnliches Bewußtsein, so können wir das nur,
indem wir uns erleben mit der vollen Aktivität der Seele
im Denken. Und dann werden wir erleben, wie wir im Wahrnehmen
eigentlich da sind. Haben wir es dazu gebracht, etwa in dem
Sinne von Richard Wähle oder Johannes Volkelt, die
Wahrnehmung in ihrer wahren Gestalt uns vor die Seele
hinzustellen, und prüfen wir dann, wie die Seele lebt,
indem sie nur in der Wahrnehmung lebt, dann finden wir keinen
Unterschied mehr zwischen diesem Erleben der Seele und der noch
ganz vom Denken undurchdrungenen Wahrnehmung in dem
eigentlichen Schlaf zustand. Und gerade so, wie unser
tägliches Leben wechselt zwischen Wachen und Schlafen, so
wechselt das webende, wellende Seelenleben fortwährend,
indem es in Verkehr mit der Außenwelt tritt, zwischen dem,
wohinein es sich eigentlich nur schlafen kann, der Wahrnehmung,
und zwischen dem, worinnen es vollständig wacht, dem
aktiven Denken.
Was
sich sonst in der Zeit vollzieht, wo wir die Finsternis
des Schlafens durchleuchten mit der Helligkeit des
Wachens, das vollzieht sich eigentlich auf einem andern Felde
in jedem Augenblick, indem wir die Dunkelheit des Wahrnehmens
durchdringen mit dem Lichte, das in uns lebt, indem wir im
aktiven Denken da sind. Wir erhellen fortwährend die
dunkle Wahrnehmung. Das ist das Lebendige, das sich abspielt
zwischen dem, was in dem Eindrucke, den die Wahrnehmung auf uns
macht, schläft, und demjenigen, was sich hineinwacht in
dieses schlafende Leben, indem wir es mit der Aktivität
des Denkens durchdringen. Es kommt einem wirklich etwas vor die
Seele wie eine Art Abwechslung von Wachen und Schlafen
während des gewöhnlichen Wachzustandes, wenn wir ganz
lebendig uns hineinversetzen in diese Beziehung zwischen Denken
— das heißt, der im Geiste erlebten Aktivität
— und dem Wahrnehmen, das heißt demjenigen, das
fortwährend den Geist außer sich bringt, das
fortwährend den Geist so macht, daß er es nur
ergreifen kann in seiner Unbewußtheit, wie er die
Vorgänge während des Schlafens nur in seiner
Unbewußtheit ergreifen kann. Bei dem Verfolgen eines
solchen Erkenntnisweges bekommt man einen richtigen Einblick in
das, was eigentlich dieser Erkenntnisprozeß ist, wie er
wirklich ein realer Prozeß ist, wie er arbeitet drinnen in
der Wirklichkeit, nicht in der Ecke als ein bloß
formaler.
Dennoch ist es außerordentlich schwierig, auf diesem Wege
rein philosophisch hinzukommen zu der Erfassung der
Aktivität des Denkens, und ich kann es vollständig
verstehen, daß Geister wie Richard Wähle, der sich
einmal klar vor die Seele gestellt hat, wie das Wahrnehmen
eigentlich nur Chaotisches vor unsere Seele hinsetzt, und wie
solche Denker, die wirklich nur dasjenige vor sich haben, was
Johannes Volkelt mit Recht genannt hat die einzelnen
nebeneinandergesetzten Fetzen des äußeren
Wahrnehmens, die das Denken erst ordnen muß — ich
kann es verstehen, wie solche Denker dann, weil sie sich ganz
einleben in das Wahrnehmen, nicht dazu kommen, sich auch
einleben zu können in die aktive Wesenheit des Denkens,
sich nicht aufschwingen können dazu, anzuerkennen,
daß wir, indem wir die Aktivität des Denkens
erleben, in einer Tätigkeit ganz drinnenstehen, und weil
wir ganz drinnenstehen, sie mit unserem Bewußtsein
völlig verbinden können. Ich kann mir gut vorstellen,
wie unbegreiflich es solchen Denkern ist, wenn man ihnen aus
dem vollen Erleben dieser Aktivität des Denkens die
Worte entgegnet: Im Denken haben wir das Weltgeschehen selber
an einem Zipfel erfaßt! —, wie ich es in meiner
«Philosophie der Freiheit» ausgesprochen habe.
Daß das so der Fall ist, daß wir wirklich das
Weltengeschehen im Denken an einem Zipfel erfassen, das konnte
nur zunächst dargestellt werden an jenem Denken, das dem
menschlichen Handeln zugrunde liegt, jenem Denken, das sich
entwickelt dann, wenn wir die sittliche Welt in unseren
Handlungen aus unserem reinen Denken heraus gestalten. Denn
dann sind wir gezwungen, zunächst das reine Denken in der
Seele zu entwickeln, also das Denken gewissermaßen in
seiner Reinkultur zu haben und die Anschauung dann selber dazu
zu gestalten. Da zwingen uns die Tatsachen selber, Anschauen,
Wahrnehmen und Denken voneinander zu sondern, um sie im
Handeln, in der sittlichen Tat miteinander zu verbinden. Wie
gerade bei der Verfolgung des ethischen, des sozialen
Lebens einem die wahre Wesenheit der denkerischen
Aktivität aufgeht, was ich entwickelt habe in meiner
«Philosophie der Freiheit», davon will ich dann
morgen sprechen.
Aus
dem heute Dargestellten möchte ich, daß Ihnen
hervorgehen könnte, wie gerade aus dem Erleben des
Agnostizismus des 19. Jahrhunderts vor die Seele ein
Problem tritt, das etwa so lautet: Ist die äußere
Welt, die wir wahrnehmen durch die Sinne, eine abgeschlossene,
eine endgültige Wirklichkeit, deren Sinn wir nur passiv zu
suchen haben-oder ist diese äußere Wirklichkeit nur
eine Seite der wahren Wirklichkeit? Haben wir diese
Wirklichkeit selbst als lebendige Menschen auch im
Erkenntnisprozesse erst mitzuschaffen?
Alles dasjenige, was ich heute, allerdings nur andeutend,
gesagt habe, wird Ihnen begreiflich machen, daß ich
hinschreiben mußte schon in meiner «Erkenntnistheorie
der Goethe'schen Weltanschauung»: daß die wichtigste
Frage unseres Zeitalters die ist, ob die Art unserer
äußeren Erfahrung uns schon eine Wirklichkeit
entgegenhält. Denn hält uns die äußere
Erfahrung schon eine volle Wirklichkeit entgegen dann
dürfte unsere Erkenntnis nur eine Wiederholung dieser
äußeren Wirklichkeit sein. Hält uns aber die
äußere Wirklichkeit nur die halbe, nur einen Teil der
gesamten, der wahren Wirklichkeit entgegen, dann muß das
Folgende gesagt werden, das Sie in meiner 1886 erschienenen
Schrift «Grundlinien einer Erkenntnistheorie der
Goethe'schen Weltanschauung» finden: «Ganz anders
verhielte es sich, wenn wir es in dieser Form der
Wirklichkeit» — die durch die äußeren
Sinne vermittelt wird — «nicht mit dem Wesen der
Wirklichkeit, sondern nur mit ihrer ganz unwesentlichen
Außenseite zu tun hätten, wenn wir nur eine
Hülle von dem wahren Wesen der Welt vor uns hätten,
die uns das Wesen der Welt verbirgt und uns auffordert, weiter
nach demselben zu forschen. Wir müßten dann danach
trachten, diese Hülle zu durchdringen. Wir
müßten von der ersten Form der Welt ausgehen, um uns
ihrer wahren (wesentlichen) Eigenschaften zu bemächtigen.
Wir müßten die Erscheinung für die Sinne
überwinden, um daraus eine höhere Erscheinungsform zu
entwickeln.»
Diese Frage wurde von mir dazumal gestellt, und sie konnte aus
den Voraussetzungen, die ich einigermaßen, aber nur
andeutungsweise heute charakterisiert habe, nicht anders als so
beantwortet werden, daß in der Wissenschaft selber etwas
Real-Tatsächliches, etwas, was teil an dem Weltenprozesse
hat, vorliegt; und daß auch in der Kunst, die ja ebenfalls
eine gewisse Beeinflussung, wie ich gestern gezeigt habe, aus
der agnostischen Denkungsweise erfahren hat, dasjenige leben
muß, was vom Menschen über die äußere
Wirklichkeit hinaus in lebendiger Geistigkeit erlebt wird. Und
wenn ich heute eine Devise suchte, ein Motto für
dasjenige, was ich Ihnen aus der Geisteswissenschaft, aus der
Anthroposophie heraus als deren wahren Sinn zu charakterisieren
habe, dann müßte ich für die ganze
Anthroposophie und insbesondere für diese Vorträge
folgendes Motto hinstellen:
«Überwindung der Sinnlichkeit durch den Geist ist das
Ziel von Kunst und Wissenschaft. Die Wissenschaft
überwindet die Sinnlichkeit, indem sie sie ganz in Geist
auflöst, jene — die Kunst nämlich —,
indem sie ihr — nämlich der Sinnlichkeit — den
Geist einpflanzt.»
Nun, es gibt Leute, die da sagen, von mir ist Anthroposophie
ausgebildet worden, nachdem ich mich von anderer
Wissenschaftsgesinnung getrennt habe. Dasjenige, was ich heute
hinsetzen möchte vor das, was ich Ihnen in den
nächsten Tagen zu sagen habe, es ist kein anderes als
dieses:
«Überwindung der Sinnlichkeit durch den Geist ist das
Ziel von Kunst und Wissenschaft. Die Wissenschaft
überwindet die Sinnlichkeit, indem sie sie ganz in Geist
auflöst, die Kunst überwindet die Sinnlichkeit, indem
sie ihr den Geist einpflanzt.»
Das
aber — all denjenigen sei es gesagt, die von angeblichen
Widersprüchen in meinem Entwicklungsgange sprechen
—, das habe ich geschrieben nicht heute, nicht gestern,
nicht vor zehn, nicht vor zwanzig Jahren, sondern das steht in
meiner 1886 erschienenen «Erkenntnistheorie der
Goethe'schen Weltanschauung».
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