DRITTER VORTRAG
Stuttgart, 31. August 1921
Gestern erlaubte ich mir darauf hinzuweisen, wie ich dasjenige,
was ich in den achtziger und neunziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts gegen die agnostische Gesinnung zu formulieren
versuchte, aus den Quellen anthroposophischer Weltanschauung
1893 niedergelegt habe in meiner «Philosophie der
Freiheit». Diese «Philosophie der Freiheit»
trägt auf ihrem Titelblatt das Motto: «Seelische
Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher
Methode.» Zunächst war dieses Motto gerichtet gegen
eine Weltanschauungsrichtung, die ich bis zu einem gewissen
Grade außerordentlich verehrte: gegen die
Weltanschauungsrichtung Eduard von Hartmanns, dessen
«Philosophie des Unbewußten» das Motto trug:
«Spekulative Resultate nach
induktiv-naturwissenschaftlicher Methode.»
«Spekulative Resultate», das war etwas, was mir im
Grunde zu widerstreben schien dem eigentlichsten Sinn
wirklicher Geistes- und Menschenerkenntnis, denn unter
spekulativen Resultaten, spekulativen Denkinhalten kann man nur
das verstehen, was sich dann ergibt, wenn man durch eine
abstrakte Logik aus dem, was man wahrnimmt, schließt auf
irgend etwas nicht Wahrnehmbares, wenn man also durch
Schlußfolgerung gewissermaßen rekurriert nach einem
Unbekannten hin, das eben nur durch Denkfolgerungen, nicht
durch Wahrnehmung erreichbar sein soll.
Gegen diese ganze Denkweise mußte ich geltend machen,
daß restlos dasjenige, was für den Menschen
Erkenntnis und Lebensinhalt in jeder Richtung sein soll, in
irgendeiner Weise unmittelbar in die Beobachtung, in die
Wahrnehmung auch eintreten müsse. Gerade so, wie
äußerliche naturwissenschaftliche Tatsachen sich vor
das Bewußtsein hinstellen und beobachtet werden
können, so müssen auch seelisch-geistige Inhalte vor
das Bewußtsein hintreten und dadurch der Beobachtung
zugänglich sein. Denn könnte man nicht dahin
gelangen, alles dasjenige, was in irgendeiner Hinsicht den
Menschen gerade in bezug auf sein tiefstes Inneres angeht, auch
in sein Bewußtsein hereinzubringen, dann müßte
man annehmen, der Mensch werde gelenkt und geleitet an
Fäden aus unbekannten Welten herein, aus Welten,
die man höchstens im abstrakten Denken
erschließen, die man aber niemals erleben kann. Wer aber
das Phänomen der Freiheit, das Erlebnis der Freiheit im
vollen Sinne des Wortes unmittelbar in seinem Bewußtsein
trägt, der kann nicht anders, als metaphysische Resultate
in dem Sinne, wie ich das angedeutet habe, abweisen; er
muß streben, als Beobachtungsresultate, als möglichen
gegenwärtigen Seeleninhalt dasjenige zu haben, was auf ihn
gerade in bezug auf sein intimstes Wesen Einfluß haben
kann. Freiheitsphilosophie erschien mir unzertrennlich von
demjenigen, was ausgesprochen werden kann in dem Satze:
«Seelische Beobachtungs-Resultate nach
naturwissenschaftlicher Methode», das heißt, die
Beobachtungsmethode, auf die die Naturwissenschaft gelernt
hatte zu halten, müßte auch auf das ausgedehnt
werden, was Inhalt des geistigen Lebens für den Menschen
werden soll.
Die
Frage nach einer Freiheitsphilosophie wurde aus solchen
Grundlagen heraus zu einer brennenden, denn was der Begriff der
Freiheit in sich einschließt, ist eine unmittelbare
menschliche Erfahrung, und man braucht im Grunde genommen nur
Unbefangenheit genug dazu, um sich zu sagen: Die menschliche
Freiheit wird erlebt. — Es gibt im
Bewußtsein das Erlebnis des freien menschlichen Wesens.
Die aus dem Agnostizismus hervorgehende Naturanschauung kann in
diesem Falle, weil sie alles dasjenige, was nach dem Geiste
hinweist, eigentlich ablehnt, kein unbefangenes Urteil gewinnen
über dieses unmittelbare Freiheitserlebnis; denn sie sieht
ja ihr Ideal darin, alles nach der sogenannten kausalen Methode
zu erklären, das heißt so, daß jegliches
Geschehen durch eine Ursache bedingt ist und sich als eine
Wirkung erweist. Und diese agnostisch-naturwissenschaftliche
Gesinnung glaubt, gegen die Gesetze einer wirklichen
Welterklärung zu verstoßen, wenn sie irgendwo etwas
gelten laßt, was nicht nach dem Prinzip der kausalen
Notwendigkeit zu erklären ist. Aber man mag sich noch so
anstrengen mit einer Welterklärung im Sinne der
Kausalnotwendigkeit: gerade wenn man diese kausale
Erklärung konsequent ausbildet, dann kommt man durch sie
nicht an das Erlebnis der menschlichen Freiheit heran. Dieses
unmittelbare Erlebnis fällt aus der Kausalerklärung
einfach heraus.
Wie
hat sich die agnostisch-naturwissenschaftliche Gesinnung nun
geholfen? Sie hat einfach, ich mochte sagen, das unmittelbare
Erlebnis der menschlichen Freiheit sich verdunkelt durch die
kausale Erklärung. Man sagt: Die Kausalerklärung
läßt die menschliche Freiheit nicht zu; also ist sie
nicht da. — Und so wird man, wenn man auf der einen Seite
nicht anders kann, als unbefangen auf das Freiheitserlebnis
hinzuschauen und anderseits es ehrlich meint mit der
Naturwissenschaft der neueren Zeit, als Mensch vor den
Zwiespalt hingestellt, entweder die Freiheit abzuschaffen, was
man nur kann, wenn man eben die Unbefangenheit sich verdunkelt,
oder allerlei Auskunftsmittel zu ersinnen, damit in scheinbarer
Weise doch diese Freiheit in irgendeinen
begriffsmäßigen Zusammenhang gebracht werden
könne mit der Kausalerklärung der
Naturwissenschaft.
Diese Wege könnten für ein anthroposophisches Denken
nicht gegangen werden. Das müßte gerade, wenn es mit
der naturwissenschaftlichen Kausalerklärung und auch mit
dem Grundsatze: «Unbefangenheit der Beobachtung» es
ehrlich meinte, auch das Phänomen der Freiheit unbefangen
beobachten. Und so ergab sich denn die Notwendigkeit,
den Geist naturwissenschaftlicher Anschauung, jenen Geist, der
ausgebildet ist im Beobachten der physischen, der biologischen,
der sonstigen Erscheinungen der äußeren Natur, auch
anzuwenden auf die Erscheinung, auf die Offenbarung der
menschlichen Freiheit. Das aber konnte nur geschehen dadurch,
daß die ganze erkennende Seelenverfassung gegenüber
diesem Freiheitsproblem eine andere wurde, als sie in der
naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise ist. Die letztere
mußte man auf der einen Seite festhalten; aber, um in
ihrem Sinne zum Freiheitsproblem hinüberzukommen,
mußte man sie auf der andern Seite weiter ausgestalten.
Man mußte gewissermaßen dasjenige, was man in der
Naturwissenschaft sich erringt durch ein die Naturerscheinungen
zusammenfassendes und durchhellendes Denken, in das freie
menschliche Erleben selber heraufheben.
Im
Naturbeobachten lehnt man sich an die äußere
Sinneserfahrung an. Man entwickelt der Sinneserfahrung entgegen
die menschliche Gedankenwelt, den Inhalt des Denkens, und es
ergibt sich als die wahre Wirklichkeit dasjenige, was sich
zusammenfügt aus dem einseitigen Erfahrungsinhalte der
Außenwelt und dem einseitigen Inhalte des Denkens.
Man ergänzt dasjenige, was, wie ich gestern sagte, als
eine halbe Wirklichkeit dem Menschen durch seine Organisation
entgegentritt. Man kann, wenn man diese Freiheit erfassen will,
die ja ein unmittelbar mit dem Menschen identisches Erlebnis
ist, nicht an Äußeres sich anlehnen. Man muß das
Denken selber verbinden mit demjenigen, was man, ich
möchte sagen, in dem Prozesse seines Ichs ist. Man
muß dasjenige anschauen, was in der Freiheit vor einem
steht, aber indem man anschaut, muß man zu gleicher Zeit
das Denken entwickeln, wie man es sonst an den Erscheinungen
der äußeren Natur entwickelt.
Was
Goethe so gefallen hat, als Heinroth sein Denken ein
gegenständliches genannt hat, das muß auf einer noch
höheren Stufe zutage treten, wenn man die Offenbarung der
Freiheit erfassen will, denn Goethe verband sein Denken mit dem
Äußerlich-Sinnlichen der pflanzlichen Welt. Da gelang
es ihm, das Denken untertauchen zu lassen in das Objekt, mit
dem aktiven Denken in dem Objekt selbst drinnen zu leben; aber
das Objekt blieb passiv. Will man dieses, wenn ich es da noch
so nennen darf, gegenständliche Denken auf die Freiheit
anwenden, dann muß man ein Übersinnlich-Geistiges,
das im Menschenseelenweben in fortwährender Tätigkeit
ist, noch auf eine viel innigere Weise durchdringen mit der
Aktivität des Denkens. Man muß nicht ein
Äußerliches, man muß dasjenige, was in einem
selber sich entwickelt, mit der Aktivität des Denkens
durchdringen. Dadurch aber reißt sich das, was nun Inhalt
des Denkens wird, los von einem jeglichen Haften an einem
Objekt im gewöhnlichen Sinne.
Was
hier das Denken vollzieht, es wird selber ein Akt der
Befreiung. Es hebt sich das Denken, indem es nicht inhaltlos
wird, sondern gerade indem es angefüllt ist mit dem
intimsten Fließen des Menschenwesens selbst, herauf zu
einem freien Flüsse, der das eine aus dem andern
hervorströmen läßt. Es erfüllt sich der
Seeleninhalt mit etwas, das er selber erzeugt und das in seiner
Erzeugung zu gleicher Zeit objektiv ist. Der Geist
naturwissenschaftlicher Denkungsweise ist heraufgetragen in das
Aufsuchen der dem Menschen wichtigsten Seelenresultate.
Damit aber war für das Gebiet, das dem Menschen als
ethisches, als sittliches Wesen zugrunde liegt, die
geisteswissenschaftliche Methode geltend gemacht, und diese
besteht in nichts anderem als in dem Erleben eines Inhalts, der
da ist, wenn das menschliche Seelenleben sich losreißt von
dem Haften an einem äußeren Objekte. Und wenn die
Seele dann noch etwas erleben kann, dann ist das Erlebnis ein
übersinnliches. Qualitativ ist dasjenige, was da erstrebt
worden ist als seelische Beobachtungsresultate, nichts anderes,
als was später von mir geltend gemacht worden ist mit
Bezug auf die Erforschung der verschiedenen Gebiete der
übersinnlichen Welten. Man wird durch dasjenige, was
später geltend gemacht worden ist, allerdings in andere
Gebiete geführt als diejenigen, die dem Menschen
zunächst im gewöhnlichen Leben vorliegen; aber man
verfährt mit Bezug auf das Innerste der Seelenverfassung
auch für diese übersinnlichen Gebiete nicht anders,
als man zu verfahren hat, wenn man das Wesen der menschlichen
Freiheit untersucht, so daß man eine wirkliche Erkenntnis
dieses Wesens erhält. Man beschränkt den Gegenstand
der Untersuchung zunächst auf den Menschen als freies
Wesen innerhalb der physischen Welt, aber dieses freie Wesen
wurzelt in einem Übersinnlichen. Man bewegt sich in den
Freiheitsuntersuchungen in einem Strom übersinnlicher
Forschung. Wer dann in vollem Sinne ernst nimmt, was er da
eigentlich tut, was da eigentlich in ihm geschieht, indem er
sich in diesem Strom übersinnlicher Forschung bewegt, bei
dem bietet sich nach und nach selbst der Weg, dasjenige, was er
nun angewendet hat behufs Untersuchung der menschlichen
Freiheit, auch für weitere Gebiete anzuwenden. Und eines
tritt für ihn hervor aus solchen Untersuchungen mit einer
deutlich sprechenden Notwendigkeit: daß der Mensch, wenn
er sich nur nicht durch naturwissenschaftliche Vorurteile den
Weg zur Freiheit verdunkelt, wenn er unbefangen dasjenige im
Freiheitswesen untersucht, was ihm im alleralltäglichsten
Leben vorliegt, daß der Mensch dazu kommt, wenigstens
zunächst für dieses Gebiet anzuerkennen, daß er
imstande ist, sich in seinem inneren Seelenleben
loszureißen von der Leiblichkeit, die sonst das
"Werkzeug des Denkens ist, weil diese Leiblichkeit eben gerade
das liefern muß, was die äußere Beobachtung
bietet, zu der dann der Gedanke als die Ergänzung
hinzutritt. Und man weiß, was übersinnliche Forschung
ist, wenn man in richtiger Weise geforscht hat über das
Freiheitsproblem. Man steht in dem Geiste dieser Forschung
schon drinnen, der dann auch hinaufführt in die Höhe
der übersinnlichen Welt. Gerade aber aus dem Grunde, weil
der Geist des Agnostizismus es dahin gebracht hat, lieber ein
unbefangenes Beobachtungsresultat wie dasjenige, das von der
Untersuchung der Freiheit kommt, hinwegzuleugnen, als den Sinn
der Kausalerklärung zu modifizieren, war es
tatsächlich notwendig, sich entgegenzustellen dem, was
naturwissenschaftliche Weltanschauung am Ende des 19.
Jahrhunderts aus dem Freiheitsproblem gemacht hatte.
Was
der Mensch in seinem Innersten erlebt, was er erlebt in bezug
auf sein Verhältnis zur Welt, das erfordert, daß er
sich verständigt mit sich selbst über das in der Welt
und in seinem Wesen, woraus der Impuls der Freiheit quillt.
Wenn sich der Mensch über dieses nicht mit sich selbst
verständigen kann, dann treten für ihn die Folgen im
unmittelbaren Leben auf. Dann treten diese so auf, daß er
sich selber ein unverständliches, ein für seine
eigene Erkenntnis und dadurch auch für sein Leben nicht
durchsichtiges Wesen ist. Er fühlt sich dann in der Welt
so, als ob er nicht auf einem richtigen Boden mit seiner
Erkenntnis stünde. Er sieht gewissermaßen in sich
hinein, und da, wo er sein eigenes Wesen glänzen und
leuchten sehen wollte, da sieht er eine Art Aushöhlung.
Über diese Aushöhlung läßt sich
«Ignorabimus» sagen, läßt sich diskutieren
und philosophieren, mit dieser Aushöhlung läßt
sich aber nicht leben. Sie höhlt das Leben selber aus,
verödet es, ertötet seine wichtigsten, seine
intensivsten Antriebe, tilgt aus dasjenige, was der Mensch
braucht an innerem Lebensgehalt, um den Zusammenhang zu finden
mit dem äußeren Lebensgehalt in der für ihn und
die Welt notwendigen Betätigung. Will man den Menschen in
seinem Verhältnisse zur Tat begreifen, dann braucht man
eine Freiheitsphilosophie. Dann braucht man aber auch,
zunächst wenigstens für das Problem der Freiheit,
eine übersinnliche Forschung.
An
diesem Problem der Freiheit zeigt es sich mit aller
Schärfe, wie das menschliche Wesen selber sich
entgegenstellen muß der agnostischen Weltanschauung. Das
konnte, wollte man zur Anthroposophie vorrücken, sich
einem schwer auf die Seele legen, wenn man es zu gleicher Zeit
ganz ehrlich meinte mit dem, was in großartiger Weise
naturwissenschaftliche Forschung in der neueren Zeit
hervorgebracht hat. Denn wer die Erkenntnis so betrachtet, wie
ich das gestern geschildert habe — als einen
Lebensprozeß, nicht nur als etwas Formales —, der
muß, wenn er nach Erkenntnis strebt, sein Leben
verbinden mit diesem realen Erkenntnisprozeß selbst. Und
indem er ein Mensch der Tat wird, verbindet sich dasjenige, was
er für die Welt ist, mit dem, was sich durch seine
Erkenntnis in ihm als sein innerstes Wesen ihm selber
offenbart.
Nun
konnte einem in dieser Epoche des Agnostizismus auch eine
menschliche Erscheinung gegenübertreten, die sich
darstellt wie die lebendige Verkörperung der Frage: Wie
läßt sich leben mit demjenigen, was agnostische
Gesinnung als eine absolute, unumstößliche Wahrheit
ansieht? — Demjenigen, der sich im letzten Drittel des
19. Jahrhunderts auseinandersetzen wollte mit dieser
bedeutsamen Lebensrätselfrage, mußte diese
menschliche Erscheinung in irgendeiner "Weise selber wie ein
Zeitenrätsel begegnen. Mit dieser menschlichen Erscheinung
meine ich Friedrich Nietzsche. Friedrich Nietzsche war
wohl für jeden in dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts
eine menschliche Erscheinung, die wie lebendig verkörperte
dasjenige, was sich einem vor die Seele drängte, wenn man
nach den Erkenntnisquellen anthroposophischen Lebens suchte.
Das ist das Einzigartige der Persönlichkeit Friedrich
Nietzsches, daß gewissermaßen in seiner Seele sich
ablud alles dasjenige, was man gerade an den hervorragendsten
nach dem Agnostizismus hindrängenden Gedanken- und
Empfindungswelten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts
erleben konnte.
Friedrich Nietzsche war ausgegangen von einem rechten
Erkenntnisleben, und obwohl er eigentlich ein ausgezeichneter
Philologe war, so ausgezeichnet, daß, bevor er noch seinen
Doktor gemacht hatte, er eine Universitätsprofessur
erlangte, lebte sich in seiner Seele aus ein Zusammenhang mit
der naturwissenschaftlichen Richtung seiner Zeit. Er konnte
nicht anders, als sich zur Welt so verhalten, daß ihm
diese Welt Wahrnehmung wurde im Sinne der
naturwissenschaftlichen Gesinnung seiner Zeit. Da er erleben
mußte aus dem Ganzen, aus dem Vollmenschentum heraus, so
brauchte er für diese Wahrnehmungswelt, die doch nur die
halbe Welt ist, dasjenige, was aus dem Inneren der Seele sich
mit dieser Wahrnehmungswelt zu einer vollen Wirklichkeit erst
verbinden muß. Nietzsche sah die äußere
Wahrnehmungswelt, und er sah sie so an, wie man sie eben
ansehen mußte im Sinne seiner Epoche. Und der Eindruck
dieser Wahrnehmungswelt schmerzte Nietzsche. Man muß nur
die ganze Psychologie dieser Nietzsche-Seele sich selber einmal
vor die eigene Seele rücken, um den Satz verstehen zu
können: Die äußere Beobachtung, tingiert von
naturwissenschaftlicher Gesinnung, wurde für Nietzsche zum
innerlichen Schmerz. — Nichts Geringeres liegt hier vor,
als daß allmählich die naturwissenschaftliche
Denkweise die äußere Wahrnehmungswelt zu einer
solchen gemacht hat, die innerlich Schmerz macht, wenn man sie
auf sich wirken läßt. Denn alles dasjenige macht
Schmerz, was der Mensch so ansehen möchte, daß es ihn
erfüllt, daß es seiner Seele Inhalt gibt, und von dem
er dann doch gewahr wird, daß es dieser nicht einen vollen
Inhalt gibt, daß es ihn leer läßt. Dann tritt
das Furchtbare in seiner Seele auf, daß er Hunger hat nach
dem, was ihm die Welt geben sollte, und daß er diesen
Hunger nicht sättigen kann, weil ihm die Welt kerne volle
Sättigung geben kann.
Das
fühlte Nietzsche zunächst, als er in den sechziger
Jahren des 19. Jahrhunderts Mann wurde. Da wandte er sich an
dasjenige, was ihn gewissermaßen über diesen im
Innersten seiner Seele an der äußeren Wahrnehmung
erlebten Schmerz, über dieses Weltenleid hinwegführen
konnte. Er suchte überall nach Elementen in dem, was ihm
in der Weltenkultur, in der Menschheitsentwickelung
entgegentreten konnte, um sich hinwegzuheben über den
großen inneren Schmerz, den er im Verkehr mit der Welt
erlebte. Und da ergab sich ihm zunächst zweierlei: Erstens
lebte er sich ein in die wunderbare Richard Wagner`sche
musikalische Welt und künstlerische Weltanschauung. Er
suchte mit seiner ganzen Seele aufzugehen in die Art und Weise,
wie Richard Wagner, hinter sich lassend die
äußere Welt, sich erhob zu einer vom Menschen zu
schaffenden Welt, die alles das zu Hilfe nimmt, was die
Menschheit in ihren Mythen und so weiter jemals geschaffen hat,
um hinauszukommen über das unmittelbare äußere
Dasein. Und das verband sich für Friedrich Nietzsche mit
dem zweiten Element, mit der Schopenhauerschen Philosophie,
deren Anhänger Richard Wagner selbst nach seiner
Feuerbach`schen Zeit geworden war. In der Schopenhauerschen
Philosophie lebte für Nietzsche erst ganz die
Bestätigung, daß die Wahrnehmung der Außenwelt
wirklich nur den Pessimismus anregen kann. Es lebte für
ihn die Bestätigung, daß dasjenige, was die Seele
erleben muß, nicht in der äußeren Welt, nicht in
der Welt des blinden Willens zu finden sei, daß der Mensch
sich also hinwegheben muß durch ein von ihm selbst
Geschaffenes über dasjenige, was äußere
Beobachtung geben kann. Für Friedrich Nietzsche war es
eine Wohltat, von Schopenhauer auf der einen Seite zu
hören, daß die menschliche Vorstellungswelt, die in
Gemäßheit seiner Epoche nur ein unvollkommenes,
schmerzvolles Bild der Welt liefern konnte, eigentlich nur eine
illusorische sei, und daß dasjenige, was nicht Illusion
ist, der Wille, im Grunde genommen für den Menschen nichts
Zwingendes hat, so daß der Mensch ein Recht hat, sich
gewissermaßen durch die Illusion über die Blindheit
und Torheit des Willens in der Welt hinwegzuheben.
Mit
diesem zweiten Element verband sich etwas anderes für
Nietzsche. Es verband sich das, was sich ihm ergab aus seinen
philologischen Vertiefungen heraus: ein Sich-Hin-einleben in
die Art und Weise der griechischen Seelenverfassung, in die Art
und Weise, wie der Grieche sich auf seine Art hinweggeholfen
hat über das unbefriedigende Dasein, wie Nietzsche meinte.
Er vertiefte sich in den eigentlichen Sinn der griechischen
Kunst, und ihm kam dieser Sinn so vor, als ob der Grieche voll
empfunden hätte die ganze Tragik und den ganzen Schmerz
des unbefriedigenden sinnlichen Daseins. Er meinte, daß
der Grieche zur Kunst gegriffen habe, um sich hinwegzuheben
über den sonst notwendigen Pessimismus des Daseins.
Griechische Kunst, deren Wiedererneuerung Nietzsche auch
für den modernen Menschen wünschte, war für ihn
ein Trost, den die Menschheit suchte gegenüber der nur in
pessimistischem Sinne zu erfühlenden äußerlichen
Wahrnehmungswelt.
Der
Mensch brauchte, so meint Nietzsche, die Flucht hinauf in eine
Welt, die ihn hinwegführte über den Schmerz des
Daseins. Und aus dieser Gesinnung heraus, aus dieser Tragik,
aus diesem Seelenschmerze heraus schrieb Nietzsche sein erstes
Buch «Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der
Musik». Der Geist, aus dem heraus er es schrieb, war der
Glaube, daß der Grieche das Tragische des wahrnehmbaren
Daseins so tief empfand, daß er sich über diese
Tragik nur hinwegbringen konnte, indem er sich über alle
Wirklichkeit die Tragödie im Geiste schuf, um in dieser
Trost zu empfinden für die Tragödie der
äußeren Wahrnehmungs-Wirklichkeit. Von diesem Sinn
des Weltenseins, wie er ihn auffaßte, war dann Nietzsche
erfüllt, als er seine «Unzeitgemäßen
Betrachtungen» schrieb, als er David Friedrich
Strauß abfertigte, als er das Unbefriedigende einer
bloß historischen Darstellungsweise, die nur immer
registriert, schildern wollte, als er den eigentlichen Geist
der Wagner`schen Musik angeben wollte und als er über
Schopenhauer selber sprechen wollte. Das war alles in der
ersten Hälfte der siebziger Jahre des 19.
Jahrhunderts.
In
diesen «Unzeitgemäßen Betrachtungen» hielt
Nietzsche seiner Zeit, die an der unbefriedigenden, für
ihn schmerzvollen Wahrnehmung haftete, den Spiegel so vor,
daß er überall dem, was die Zeitgenossen sagten, das
entgegensetzte, was der Vollmensch in sich finden und erfinden
muß, um überhaupt das zu ertragen, worinnen nach
Nietzsches Meinung die Zeitgenossen philiströs
glücklich zu sein sich einbilden konnten. David Friedrich
Strauß stellte er geradezu als den Typus des Philisters
hin, der hinweist auf das Befriedigende der äußeren
Wahrnehmungswelt, der in hausbackener Art nicht aufsteigen will
zu einem über diese Wahrnehmungswelt hinwegführenden
Geist.
Dann aber kam für Nietzsche die Zeit um 1876, in der sich
ihm zeigte, welchen Druck diese naturwissenschaftliche
Gesinnung der neueren Zeit, die im Grunde genommen doch alles
durchdringt, was einem geistig entgegentritt, auf die
menschliche Seele ausüben kann. Zuletzt wurde die Kraft,
mit der sich Nietzsche in eine Trosteswelt hinaufflüchten
wollte gegenüber dem Unbefriedigenden der
äußeren Wahrnehmungswelt, flügellahm. Er konnte
sich nicht mehr dem Glauben hingeben, daß man irgendwie
aus dem Menschen selber heraus finden könne einen Ausweg
in eine trostvolle, selbstgeschaffene Welt, denn er empfand
nach und nach dasjenige, was sich da über die
äußere Wahrnehmungswirklichkeit erheben will, wie
eine Lüge, wie eine lügenvolle Illusion. Und die
Jahre 1875, 1876 wurden für ihn solche, wo er, wie er sich
selber ausdrückte, eine solche Lebenslüge nach der
andern aufs Eis legte, damit sie erfrieren müßte.
Das
war im Grunde genommen ein noch tragischerer Seelenzustand als
der frühere, denn in dem früheren glaubte er,
daß er Trost finden könne in den Lebensillusionen
über die Wahrnehmungswelt, die sich als Wirklichkeit trotz
ihrer Einseitigkeit aufdrängte. Jetzt aber konnte er nicht
einmal mehr an diesen Illusionen als an einem Trost festhalten,
und er wurde in einer gewissen Beziehung ein
Wahrheitsfanatiker, so daß er sich sagte: Mag diese
Wirklichkeit, die die äußeren Sinne darbieten, noch
so tief die Seele innerlich schmerzvoll zerreißen, sie ist
die Wirklichkeit, die uns zunächst vorliegt. — Diese
ungeheure Last übte die agnostische Gesinnung auf
Friedrich Nietzsche aus. Er konnte fortan diese Last nicht mehr
heben, und so seufzte er denn aus dasjenige, was er in seinen
Aphorismenbüchern «Menschliches
Allzumenschliches» gab: O du armer Mensch — so etwa
empfand Nietzsche —, o du armer Mensch, du malst dir
Ideale, Illusionen vor, in denen du dich hinausflüchtest
aus dem sinnlichen in ein übersinnliches Gebiet; du willst
dich erheben von einem Menschlichen zu einem Göttlichen;
du fällst, indem du Kräfte entwickelst, die zu
solchen Illusionen dich verführen, nur noch tiefer in die
menschlichen Untergründe hinein, und dasjenige, was du
zunächst in naiver Weise als dein Menschliches entwickelt
hast, das wird ein Untermenschliches, ein Allzumenschliches.
Prüfe deine Instinkte, prüfe deinen Egoismus, und du
wirst sehen, wie du dir die Selbstlosigkeit als Illusion, als
ein moralisches Ideal vorzauberst! Die Wahrheit ist, daß
du redest von selbstlosen Idealen, aber im Grunde genommen nur
einem feineren, einem allzumenschlichen Egoismus huldigst; in
deinem Unterbewußtsein lebt ein Element, das tief unter
deinem Menschlichen steht, nicht nur steht unter dem, wozu du
dich hinaufschrauben willst, als zu einem Göttlichen.
— Aus solcher Stimmung heraus entstanden für einen
wirklichen Wahrheitssucher die Schriften «Menschliches
Allzumenschliches».
Aber Nietzsche war nicht bloß ein theoretischer Erkenner,
Nietzsche war eine Seele, innerhalb der sich ablud alles
dasjenige, was man in der Weltanschauungsentwickelung im
letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erleben konnte. Nietzsche
konnte auch diesen Wahrheitsfanatismus nicht so ausgießen
in seine Schriften und seine Gedanken, in seine Worte, wie ihn
ausgießen die Theoretiker. Nietzsche konnte nicht in der
selbstgenügsamen Weise etwa reden wie ein Emil Du
Bois-Reymond in seiner Ignorabimus- oder
Welträtsel-Rede. Das Reden in solcher Art war für
Nietzsche unsäglich weltenfremd, denn für ihn war
Weltennähe dasjenige, was unmittelbar im Intimen der
menschlichen Seele lebt, was sich erleben läßt, wenn
man gerade in sein tiefstes Inneres hinuntersteigt. Deshalb
konnte es für Nietzsche die Stimmung nicht geben, die
aalglatt sich von Begriff zu Begriff elegant hinschlängelt
in Ignorabimus-Reden. Man beobachte nur einmal vom rein
menschlichen, aber vom vollmenschlichen Standpunkt, Stil und
Haltung einer solchen Ignorabimus-Rede. Da ist es, als ob der
Mensch so redete, daß sein Herz bei seiner Rede, daß
sein Vollmensch bei seiner Rede gar nicht dabei wäre,
daß automatisch ablaufen die Gedanken des Kopfes. Es
windet sich aalglatt irgend etwas recht wenig Festes und
Dichtes durch alle die Satzgefüge, die von dem
Laplace'schen Weltgedanken und dergleichen reden und dann
davon, daß da, wo die naturwissenschaftlich erfaßbare
Welt aufhört, der Supernaturalismus beginnen müsse,
daß aber, wo Supernaturalismus beginnt, eben die
Wissenschaft aufhören müsse.
Für Nietzsche wurde das, was er da erleben konnte, ein
wirklicher Lebensinhalt und eine Lebenstragik. Die
wissenschaftliche Entwickelung selber im letzten Drittel des
19. Jahrhunderts wurde für Friedrich Nietzsche zur
innersten Lebenstragik, denn er mußte jetzt, nachdem er
ein Wahrheitsfanatiker, ein Positivist, ein Voltairianer
geworden war, dasjenige, was sich in seinem Kopfe entlud, mit
seinem ganzen Menschen durchdringen, er mußte das
Vollmenschliche dabei empfinden. Was er früher aus dem
Geiste des menschlichen Hauptes heraus, aus dem Kopfwissen,
sich erträumt hatte in seiner «Geburt der
Tragödie aus dem Geiste der Musik», in seinen
«Unzeitgemäßen Betrachtungen» als den Trost
über die wissenschaftliche Lebenstragik, das konnte er
jetzt nicht mehr aus seinem Gedankensystem gewinnen, das ergab
für ihn nicht mehr das Denken. Er wollte in der ersten
Epoche seines Lebens die dunkle — wie ich gestern
charakterisiert habe —, wie aus einem Schlafe heraus
wirkende Wahrnehmung durchdringen und erleuchten mit
menschlichem Seeleninhalte. Aber dieser menschliche
Seeleninhalt wurde für ihn nur dasjenige, was sich ihm
dann als Illusion entpuppte. Und so fühlte er sich in
seiner positivistischen Periode hingewiesen auf die einseitige
Wahrnehmungswelt, die nur ein Teil der Wirklichkeit ist, aber
nicht die volle Wirklichkeit.
So
mußte Nietzsche aus andern Quellen heraus zu einer
Erfüllung der Seele mit einem Inhalt kommen, mit dem sich
für ihn wenigstens leben ließ. Was ihm der Gedanke
nicht mehr erleuchtete, das mußte, wie in einem inneren
Seelenbrande, der für ihn verhängnisvoll wurde,
Gefühl und Emotion entwickeln, und wir sehen dieses
Gefühl und diese Emotion wie gedankenverbrennend wirken in
seinen aus der Seele wie durch eine innere
Seelenentzündung heraus entstandenen Schriften aus den
siebziger Jahren «Morgenröte» und
«Fröhliche Wissenschaft». So schön diese
auch sind — es hat sich dasjenige, was sich ihm in
krankhaften Seelenerlebnissen aufgehäuft hatte, in
Entzündungen entladen, die feuriges Leben durch die Seele
gössen, und dieses feurige Leben konnte nun für kurze
Zeit ihn hinwegheben über das Unbefriedigende, über
das ihn früher jener Trost hinwegheben sollte, von dem ich
Ihnen gesprochen habe.
Aber noch war Nietzsche so fest in seinem Inneren, daß er
dieses Entzündliche seiner Seele empfand; noch war er so
fest in seinem Inneren, daß er den Drang fühlte, zu
der äußeren Wahrnehmung das innere Erlebnis
hinzuzufinden. Und indem er gewissermaßen seine letzten
Kräfte zusammenfaßte, um hinwegzukommen über die
einseitige Wahrnehmungswelt, hinzukommen zu demjenigen
Erlebnis, das mit dieser äußeren Wahrnehmung zusammen
erst die volle Wirklichkeit gibt, liegt in dieser Bestrebung
dasjenige, was sich in ihm auslebte in seiner dritten Epoche,
als er seinen «Zarathustra» schrieb, jenen
«Zarathustra», der dadurch zu charakterisieren ist,
daß Nietzsche sich sagte: Nun ist man Mensch geworden,
aber als Mensch ist man verurteilt, an der Welt zu leiden, denn
die Welt gibt einem eine Einseitigkeit, die Welt erfüllt
einen nicht. Man ist Mensch geworden und steht in der Welt.
Aber was heißt Mensch sein, wenn die Welt in dem Menschen
nicht das auslöst, was diesen zu einem Wesen macht, nach
dem seine tieferen Kräfte selber drängen müssen?
— Und so preßte sich aus der Nietzsche-Seele heraus
der Gedanke: Also darf der Mensch nicht Mensch bleiben, denn
bleibt er Mensch, so höhlt er sich aus, so muß er im
Schmerze ertrinken. Der Mensch muß zum Übermenschen
werden. Der Mensch, der sich mit seinem Wesen in der Welt nicht
verständigen kann, er muß sich überwinden. Es
muß eine Brücke geben, wie es sie gibt vom Wurm zum
Menschen, so vom Menschen zum Übermenschen. Sprengen
wollte Nietzsche diese menschliche Hülle, damit aus diesem
Sprengen das werde, was nun in Übereinstimmung mit der
Welt aus den tiefsten Triebfedern des Menschlichen heraus leben
konnte. Und Zarathustra sollte der Lehrer und Träger
dieser Übermenschen-Idee sein.
Aber da konnte Nietzsche nicht sprechen in den Formen, welche
der moderne Wissenschaftsgeist, der Geist des Agnostizismus
heraufgebracht hatte. Da mußte er sich eine andere
Sprache, eine ins Lyrisch-Episch-Dramatische drängende
Sprache finden; da mußte er eine Sprache finden, die sogar
aus dem Bewußtseinszustand herausführte, in dem
konzipiert ist dieser moderne agnostische Wissenschaftsgeist.
Es ist etwa, wie wenn Nietzsche überall, gerade in den
bedeutsamsten Partien seines «Zarathustra»,
herausdrängte aus dem gewöhnlichen Bewußtsein zu
einer Art Überbewußtsein, als ob er eine Verwandlung,
eine Metamorphose des Bewußtseins suchte, um in einer Welt
leben zu können, die mit dem gewöhnlichen
Tagesbewußtsein nicht erreichbar ist. Es war Nietzsche,
als ob er die Art, wie der Mensch mit der Welt lebt,
überwinden müsse. Zarathustra soll nicht ein Mensch
sein, der den pedantischen Schritt mitmacht, den sich die
Menschheit der neueren Zeit angewöhnt hat, in dem
Zeitenmaße, in dem sich die äußere einseitige
Wahrnehmungswelt bewegt. Zarathustra sollte werden ein
leichtfüßiger Geist, der hinwegtanzt über
dasjenige, was sonst den Menschen lastend herunterhält in
diese einseitige Wahrnehmungswelt.
Man
sieht überall ein lyrisch-pathetisches
Sich-Hinauf-arbeiten des Nietzsche-Bewußtseins in eine
höhere übersinnliche Welt, in eine Welt, in der der
Übermensch gefunden werden konnte, in eine Welt, die man
nicht finden kann innerhalb des gewöhnlichen
Bewußtseins. Und man sieht in andern Schriften dieser
letzten Periode des Nietzsche-Schaffens, wie auftaucht eine
Idee, die nach derselben Richtung hindrängt: jene
rätselvolle, geheimnisvolle Idee von der ewigen Wiederkehr
des Gleichen.
Indem Nietzsche dieses Leben betrachtete, wie es durchlebt wird
zwischen Geburt und Tod, kam es ihm aus alldem, was ich jetzt
als Ablagerung in seiner Seele geschildert habe, so vor, als ob
es sich unmöglich in sich erschöpfen könnte, als
ob es ein Nonsens wäre, wenn es ebenso verliefe, wie es
sich darstellte zwischen Geburt und Tod. Da drängte sich
aus seinem Inneren heraus die Idee von der Wiederkehr des
Gleichen, die Idee, daß das Leben, das ich jetzt durchlebe
zwischen Geburt und Tod, nicht das einzige ist, sondern immer
wiederkehrt und wiederkehren muß. Und nun tritt, ich
möchte sagen, erst das höchst Tragische in Nietzsche
auf: die Ungenügsamkeit an dem einen Erdenleben, aber auch
das Unvermögen, sich zu einer wahrhaftigen weit- und
geistgemäßen Entwickelungsidee zu erheben, welche in
den wiederholten Erdenleben einen Fortschritt, einen Aufstieg
der Menschheit sieht. Unvermögend war Nietzsche, den
wiederholten Erdenleben, die er annahm, einen Sinn aus einem
geistgefaßten Entwickelungsgedanken heraus zu geben. So
ergriff er krampfhaft die wiederholten Erdenleben, so war er
unvermögend, hinauszukommen über eine solche
Wiederholung, die immer nur das Gleiche ablaufen
läßt, so oft sich auch dieses Erdenleben wiederholen
mag. Dieses Erdenleben trägt die Forderung, nicht einzig
dazustehen, für ihn in sich. Aber es zeigt sich
unvermögend, auch in ewigen Wiederholungen jemals etwas
anderes hervorzubringen als das, was das einmal im tiefsten
Sinne Unbefriedigende und Tragik-Erweckende ist.
Wenn man dasjenige, was ich da als Nietzsches Seeleninhalt
schildere, so nimmt, daß es nun nicht ein System
abstrakter Gedanken ist, sondern daß es heraufquillt aus
der Vollnatur des Menschen, heraufquillt aus dem Menschen so,
daß alles dasjenige dabei ist, was dieser Mensch nach
Geist, Seele und Körper ist, dann kann man schon so
hinschauen auf diese Persönlichkeit, daß man versteht
ihr Zusammenbrechen am Ende der achtziger Jahre des 19.
Jahrhunderts. Und es kann uns schon aufmerksam machen auf die
besondere Natur der Erkenntnisquellen, die wir brauchen, wenn
man sieht, wie ein solches Leben zusammengebrochen ist an den
Erkenntnisquellen, die der Agnostizismus als die alleinigen,
als die absolut richtigen ansieht.
Friedrich Nietzsche hat sich im allerredlichsten Sinne
bemüht, mit seinem vollen, ganzen menschlichen Anteil in
demjenigen zu leben, was die Erkenntnis im letzten Drittel des
19. Jahrhunderts dem Menschen für sein Leben geben kann.
In seinem Erleben wurde Nietzsche ein Kämpfer gegen seine
Zeit. So habe ich mein Buch, das ich über Nietzsche
geschrieben habe, genannt: «Nietzsche, ein Kämpfer
gegen seine Zeit». Nietzsche entwickelte in sich eine
Gesinnung, wie sie gerade bei einem tief erlebenden Menschen im
letzten Drittel des 19. Jahrhunderts durch die
Wissenschaftsentwickelung kommen mußte. Er erlebte diese
so, wie sie in einer solchen Persönlichkeit durchlebt
werden kann, und er erlebte das, was eine solche
Persönlichkeit zu einem Kämpfer gegen diese Zeit,
diese Zeit des Agnostizismus machen muß. Nietzsche war
zwar veranlagt zu einem Kämpfer gegen seine Zeit; aber er
ist zusammengebrochen, und bevor er zusammengebrochen ist,
fühlte er sich mit seinem innerlichen Kampfesgeist noch am
wohlsten, wenn er viele Meter über dem Meere als Eremit
leben konnte, über alldem, was der Mensch unseres
Zeitalters mit seinem Leben, so wie es sich herausgebildet hat,
mitmacht. Zum Kämpfer gegen seine Zeit und zum Einsiedler
machte Nietzsche dieses Miterleben mit den Erkenntnisquellen
des 19. Jahrhunderts, überhaupt unserer Zeit.
Darum konnte Nietzsche nicht diejenige Forderung erfüllen,
die gerade vor den Erkennenden als eine so gewaltige in unserem
Zeitalter hintritt. Fordert dieses Zeitalter von uns, daß
wir uns nach einem Sils-Maria als Eremit zurückziehen, um
mit unserer Zeit wenigstens leben zu können? Nein, dieses
Zeitalter, gerade wenn es uns zum Kämpfer gegen die Epoche
macht, dann fordert es von uns, daß wir uns mitten
hineinstellen in das soziale Menschenleben, da hinein, wo die
großen Probleme nicht in abgesonderten Theorien, wo sie
lebensvoll einer Lösung entgegengeführt werden
müssen. Nietzsche zeigt uns, was eine die Zeit echt
erlebende erkennende Natur durchmachen muß; er zeigt uns
die Tragik des Lebens einer solchen erkennenden
Kämpfernatur. Aber er zeigt uns doch zugleich — so
wahr er auch aus innerster Gesinnung heraus zum Kämpfer
seiner Zeit gebildet war, so wahr es ist, daß dieser Kampf
gegen das Agnostische in unserer Zeit notwendig ist —,
daß ihm, Friedrich Nietzsche, dem tragischen Kämpfer
gegen diese agnostische Epoche, die rechten Waffen fehlten zu
diesem notwendigen Kampf. Nach diesen rechten Waffen muß
man ausschauen; und es ist einmal meine ehrliche
Überzeugung, daß für unsere Zeit diese rechten
Waffen, diese Geisteswaffen allein die Mittel, die
Forschungsweise, die Lebensimpulse der anthroposophisch
orientierten Geisteswissenschaft geben können.
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