SECHSTER VORTRAG
Stuttgart, 3. September 1921
Sie
werden aus den vorhergehenden Betrachtungen entnommen haben,
daß imaginative Erkenntnis etwas Ähnliches hat mit
dem Walten der Erinnerungen in der menschlichen Seele. Man kann
in der Tat das imaginative Erkennen auch dadurch
charakterisieren, daß man es mit dem Leben in der
Erinnerung vergleicht. Man muß dann nur etwas genauer in
dieses Leben der Erinnerung einzudringen versuchen, als dies
bei den heute gebräuchlichen psychologischen
Untersuchungen der Fall ist.
Erinnerung wird sehr häufig so vorgestellt, als ob sich an
die äußere Wahrnehmung, die wir durch unsere Sinne
machen, Gedanken anknüpfen und als ob wir während der
Wahrnehmung, vielleicht noch etwas danach, diese Gedanken an
das Wahrgenommene hatten, dann diese Gedanken irgendwie
hinunterrollten in ein Unterbewußtes und aus diesem
Unterbewußten bei entsprechender Anstrengung wiederum
heraufkämen als erinnerte Vorstellungen. Eine
Philosophieschule hat davon gesprochen, daß solche
Gedanken oder Vorstellungen gewissermaßen unter die
Schwelle des Bewußtseins hinuntergehen, um im
entsprechenden Augenblick wiederum über diese Schwelle
heraufzukommen. Es ist zwar eine bequeme Art zu denken, wenn
man den Akt, der sich da vollzieht, so vorstellt, daß die
Vorstellungen an den Wahrnehmungen zuerst erregt werden und
dann, wenn wir sie nicht mehr haben, irgendwo herumspazieren
oder herumschwimmen in einem Unterbewußtsein —
über das man sich ja nicht eigentlich Gedanken macht
— und dann wiederum heraufspazieren, wenn man sie
braucht. Denn schon eine oberflächliche Betrachtung der
menschlichen Seelenerlebnisse kann zeigen, daß dies ganz
gewiß nicht so ist.
Zunächst ist für die unmittelbare Beobachtung kein
beträchtlicher Unterschied zwischen dem Auftreten einer
Vorstellung durch äußere Wahrnehmung und dem in der
Erinnerung. Das eine Mal erregt die Außenwelt unsere
Vorstellung. Die äußere Wahrnehmung ist da, die
Vorstellung gliedert sich an. Wir haben allerdings ein
Bewußtsein von der äußeren Wahrnehmung und
verfolgen dann in Besonnenheit den Vorgang bis zur
Vorstellungserregung. Aber das macht nicht das Wesentliche aus.
Richtig ist, daß, wenn eine Erinnerungsvorstellung
auftritt, dasjenige, was da von innen heraus diese Vorstellung
anregt, zunächst für unser Bewußtsein nicht
unmittelbar da ist. Aber das Wesentliche ist eben doch nicht,
wie ich eben angedeutet habe, daß wir über die
Wahrnehmung Bescheid wissen, sondern daß von irgendeiner
Seite her, das eine Mal von außen, das andere Mal von
innen, eine Vorstellung erregt wird.
Gewissermaßen konnte man sagen, wenn man die Worte nicht
mißbraucht: in beiden Fällen ist es ein Objektives,
das uns drängt zu Vorstellungsbildungen. Und wenn wir den
Vorgang des Wahrnehmens und die sich daran knüpfende
Vorstellung weiter verfolgen, so werden wir als ein
Wesentliches doch das ansehen müssen, daß wir gewisse
Übungen vornehmen, wenn wir uns etwas ganz besonders in
die Erinnerung einprägen wollen, wenn wir also bestrebt
sind, unser Erleben einer Tatsache nicht einfach dem Vergessen
anheimzuliefern, sondern wenn wir auf das Behalten ausgehen.
Man muß nur einmal studieren, welche Machinationen man zum
Behufe des guten Behaltens in seiner Jugend gemacht hat, wenn
man dieses gute Behalten nötig hatte. Es geht eben
durchaus dasjenige, was zum Erinnern führt, hinaus
über das, was zum bloßen Bilden der Vorstellung
führt. Wenn man die Erinnerung selber studiert, so wird
man merken, daß in der Art und Weise, wie zuweilen rein
durch leibliche Dispositionen das Erinnerungsvermögen
herabgedämpft, oder auch wohl gesteigert wird, unser
Gesamtorganismus etwas zu tun hat mit der Bildung der
Erinnerungen, daß wir also, wenn wir im Akte des
wahrnehmenden Vorstellens leben, eine Tätigkeit
ausüben, die organisch ist. Diese organische
Tätigkeit bleibt zunächst dem Bewußtsein halb
oder ganz verborgen, aber sie ist es, welche das Erinnern
eigentlich bewirkt. Dieses beruht darauf, daß eine
Vorstellung nicht etwa, wenn sie sich an eine Wahrnehmung
anknüpft, hinuntertanzt in das Unterbewußte und dann
wieder heraufkommt, sondern es beruht darauf, daß sich an
unser wahrnehmendes Vorstellen noch etwas anderes anknüpft
als bloß die Vorstellungsbildung. Die Vorstellung klingt
ab. Und wenn wir an dem vorgestellten Wahrnehmungsvorgange
vorbeigegangen sind, ist eben die Vorstellung abgeklungen; aber
es ist etwas anderes in uns vorgegangen, was bei entsprechender
Gelegenheit wiederum die Vorstellung hervorrufen kann.
Wer
überhaupt seelische Vorgänge beobachten kann, der
findet, daß eine Erinnerungsvorstellung als Vorstellung
durchaus eine Neubildung ist, daß sie sich in
ähnlicher Weise bildet, wie sich die
Wahrnehmungsvorstellung bildet; nur, daß das eine Mal der
Vorgang von außen nach innen, das andere Mal von innen
nach außen verläuft, daß das eine Mal die
Veranlassung als Wahrnehmung deutlich vor das Bewußtsein
tritt, das andere Mal dem Bewußtsein als ein innerer, an
den Organismus geknüpfter Vorgang verborgen bleibt. Wir
wollen einmal diese Tatsache, die ich ja nur skizzenhaft
charakterisieren konnte, hinstellen und wollen jetzt zur
Betrachtung der imaginativen Erkenntnis zurückgehen. Ich
habe beschrieben, wie die imaginative Erkenntnis dadurch
ausgebildet wird, daß der Mensch zunächst
Übungen macht, die ihn befähigen, in einer solchen
Weise innerlich bildlich vorzustellen, wie er vorstellt, wenn
er erinnert. Diese Übungen habe ich beschrieben in meinem
Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren
Welten?» und in meiner «Geheimwissenschaft im
Umriß». Durch diese Übungen kommt man zu der
Fähigkeit imaginativen Erlebens. Man kommt dazu, daß
man solche innere vorstellungsähnliche Erlebnisse mit
Bildinhalt hat, die nicht an persönlich erlebte Tatsachen
erinnern, sondern die durch ihre eigene Wesenheit den Stempel
tragen, daß sie Bilder sind von einer Wirklichkeit, die
zunächst dem gewöhnlichen Bewußtsein verborgen
ist, von einer Wirklichkeit, die wir eine geistige Wirklichkeit
nennen können.
Wenn man nun aber mit diesem Bilderbewußtsein herangeht an
denjenigen Akt, den ich jetzt eben charakterisiert habe, dann
stellt er sich in einem etwas andern Lichte dar. Man erkennt,
wie sich das vorstellende Wahrnehmen und das erinnernde
Vorstellen gegenüber der Fähigkeit des Imaginierens
ausnehmen. Da bekommt man vor allen Dingen durch die
Fähigkeit der imaginativen Erkenntnis ein besonderes
inneres Erleben von dem Vorstellen, von dem Denken selber.
Reflektiert man mit dem gewöhnlichen Bewußtsein, so
kommt man nicht weit. Der Mensch muß sich schon
philosophisch geschult haben, um überhaupt noch etwas
festhalten zu können, wenn er zum Objekte das Vorstellen,
das Denken selber haben will. Wer sich nicht mit
philosophischer Schulung abgibt, der wird ungeduldig werden,
wenn man ihm zumutet, er solle das Denken irgendwie selber
denken. Sogar Goethe pries sich glücklich, daß
er niemals über das Denken gedacht hat. Man kann sich das
gerade aus der Natur Goethes heraus sehr gut erklären.
Goethe, der, wie ich es in diesen Betrachtungen charakterisiert
habe, nach Anschaulichkeit strebte, war es so zumute, wie es
einem Fische sein müßte, wenn er aus dem Wasser in
die Luft käme, wenn er, Goethe, aus seinem
gegenständlichen Elemente in dieses Element des reinen
Denkens hineinkam, in dem er nicht geistig atmen konnte, weil
es ganz und gar seiner Natur widerstrebte.
Aber man kann allerdings und muß auch das Denken selbst
erfassen, sonst kommt man nicht zu einer abschließenden
philosophischen Anschauung. Es mag nicht jedermanns Sache sein,
aber des Philosophen Sache ist es gewiß. Nun aber wird
das, was man im gewöhnlichen Bewußtsein als das
Denken, als das Vorstellen erfassen kann, was da einen
außerordentlich abstrakten, blassen Charakter annimmt, bei
dem man nicht lange verweilen mochte, für die imaginative
Erkenntnis dichter, anschaulicher, ja, man mochte sagen, es
nähert sich das Vorstellen und Denken, das früher
abstrakt geistig ausgesehen hat, der materiellen
Anschaulichkeit.
Man
soll einen solchen Satz nicht verkennen in seiner ganzen
Bedeutung; denn es muß zunächst eigentlich
überraschend sein, daß dasjenige, was man
gewöhnlich so anspricht, als ob es nichts zu tun
hätte mit dem Materiellen, gerade wenn man es in der
ersten Stufe der übersinnlichen Erkenntnis, in der
Imagination, anschaut, selbst anschaulicher wird und sich sogar
einer Gestalt nähert, die, ich möchte sagen, schon an
etwas Materielles erinnert. Und zwar erinnert das Bild, das man
vom Denken bekommt — Bilder sind es ja, die man für
die Imagination bekommt —, an Vorgänge des Ablebens,
des sich Ertötens, des Absterbens. Man bekommt
tatsächlich für die imaginative Erkenntnis vom
Vorstellen, vom Denken, das Bild des absterbenden Materiellen.
Ich darf schon sagen, wenn man dasjenige, was ich jetzt eben
beschrieben habe, vergleichen will mit irgend etwas in der
äußeren Sinneswelt, so kann man es nicht anders
vergleichen als mit jenem Vorgange, den man beobachten kann als
das Eintreten des physischen Todes an einem Lebewesen. Man hat
im Grunde genommen beim Übergange von der
gewöhnlichen Erkenntnis zu der imaginativen des Denkens
wirklich in der Empfindung so etwas, wie man es hat, wenn man
ein Sterben in der physischen Welt mitmacht.
Die
Erkenntnis wird eben etwas Lebendigeres dadurch, daß man
sich der Imagination, der Inspiration nähert, als sie in
der abstrakten Form ist, in der sie im gewöhnlichen
Bewußtsein ist. Daher ist es auch so, daß das
Aufsteigen zu übersinnlichen Erkenntnissen eben mit dem
verknüpft ist, was ich gestern innere Schicksalserlebnisse
nannte. Man macht mit einer gewissen inneren
Gleichgültigkeit dasjenige durch, was Erkenntnisprozesse
des gewöhnlichen Bewußtseins sind. Man weiß ja,
wie das übrige Leben hinaufführt zur Lust,
hinunterführt zum Schmerz, wie wir da in den Empfindungs-
und Emotionswogen auf- und absteigen, wie aber
verhältnismäßig dasjenige, was in unserem
erkennenden Denken abläuft, etwas Eisiges, etwas uns
Kaltlassendes hat, etwas, das wenig solcher Wogen in unserem
Gemüte hervorruft.
Das
wird in der Tat anders, wenn man aufsteigt zur imaginativen
Erkenntnis. Da werden die Erkenntnisvorgänge, obwohl sie
durchaus geistig-seelischer Natur sind und mit dem Physischen
nichts zu tun haben, ähnlicher den Vorgängen des
gewöhnlichen Lebens. Man wird mit den
Erkenntnisvorgängen intimer dadurch, daß sie einen
mit einem erhöhten persönlichen Interesse ergreifen.
Und jetzt lernt man eigentlich, indem man diesen Prozeß
des Anschaulichwerdens des Denkens, des Vorstellens durchmacht,
einen anschaulichen, sich schon an das Materielle
annähernden Prozeß kennen. Man kann diesen
Prozeß, wenn man sich ihn recht vergegenwärtigt,
benützen, um dem inneren Vorgang des Erinnerns
nahezukommen. Es wird gewissermaßen der menschliche
Organismus dadurch, daß man ihn sich auf diese Art
vorgestellt hat, durchsichtig. Man hat zuerst geistig-seelisch
in einer Imagination den Denkprozeß erlebt. Man erlebt
sein materielles Abbild, wenn man nunmehr das Erinnern
studiert; denn dasjenige, was dem Bewußtwerden der
Erinnerungsvorstellung vorangeht, ist eine Art materieller
Prozeß, der ähnlich ist dem, der sich in der
Anschauung als Bild ergibt, wenn man in der Imagination an das
Denken so heranrückt, wie ich es eben beschrieben habe.
Man kann sagen, hier liegt die Möglichkeit, durch
imaginatives Erkennen einzutreten in das Durchschauen des
Erinnerungsprozesses. Und wenn man dann seine
Erkenntnisbemühungen auf diesem Wege weiterführt,
dann gelangt man in der Tat zur Einsicht, daß die
Imagination selber geistig-seelisch ein ähnlicher Vorgang
ist wie physisch-leiblich der Erinnerungsvorgang ist, nur, ich
möchte sagen, in den menschlichen Leib
hineinindividualisiert, individualisiert für die
persönlichen Erlebnisse. Der Imaginationsvorgang sondert
sich ab vom menschlichen Leibe, richtet sich ein auf
außerhalb des menschlichen Leibes im Kosmos vor sich
gehende ähnliche Prozesse.
Im
Organismus ist ein physisch — leiblicher Prozeß des
Ersterbens tätig; dasjenige, was dafür im
Bewußtsein auftritt, sind die Erinnerungsvorstellungen. In
der Imagination ist ein Geistig-Seelisches tätig, und ihm
entspricht in der Außenwelt ein realer Vorgang, dem man
sich allerdings erst noch nähern muß, den man durch
die Imagination noch nicht erfassen kann, denn der
vollständige übersinnliche Erkenntnisvorgang besteht
aus Imagination, Inspiration und Intuition. Aber Sie sehen: es
gibt im menschlichen Leben Dinge wie das Erinnern, wie
überhaupt die leiblich-seelischen Vorgänge, die man
nicht durch Spekulationen, nicht durch philosophische
Erwägungen erkennen kann, sondern nur dadurch, daß
man sich durch eine Ausbildung zunächst verborgener
seelischer Fähigkeiten ihnen annähert. Und daß
man sich ihnen annähert, das geht auch noch aus dem
Folgenden hervor.
Wenn wir innerlich-seelisch in dem gewöhnlichen Denken
oder Vorstellen leben, dann haben wir gegenüber diesem
Denken das Bewußtsein: wir sind es selbst, die eine
Vorstellung an die andere reihen; ja, wir haben das deutliche
Bewußtsein: wenn wir nicht besonnen eine Vorstellung an
die andere mit einer gewissen innerlichen Willkür reihen
könnten, sondern wenn die Vorstellungen einander treiben,
so daß wir nur wie das Bild eines in uns wirkenden
Automaten wären, dann wären wir eben nicht in
Wirklichkeit Mensch. Dieses Gefühl, das wir gegenüber
unserem gewöhnlichen Denken haben, das ist, wie ich in
meiner «Philosophie der Freiheit» glaube gezeigt zu
haben, zugleich dasjenige, wovon dann ausfließt unser
Gesamtfreiheitsgefühl, durch das überhaupt das
Phänomen der Freiheit erst empirisch begriffen werden
kann.
Dieses Gefühl innerlicher Willkür verliert sich
zunächst, wenn man zur Imagination aufsteigt. Die
Imagination liefert Bilder, die, obwohl sie rein
geistig-seelisch erlebt sind, wie ich gestern gesagt habe,
nichts mit Visionärem, Halluzinatorischem und dergleichen
zu tun haben. Diese Bilder zeigen, weil sie eben inhaltsvolle
Bilder sind, daß sie uns in bezug auf ihr Zusammenfassen
und Analysieren nicht mehr dieselbe Freiheit gestatten, wie sie
waltet, wenn wir im gewöhnlichen Bewußtsein
Vorstellungen zusammenfügen oder voneinander trennen. Wir
bekommen ganz allmählich ein Gefühl, daß wir uns
mit der imaginativen Erkenntnis nicht nur in Bilder
hineinleben, wie wir uns in unsere Vorstellungen hineinleben,
die im strengen Sinne uns als einzelne von uns zu verbindende
Vorstellungen erscheinen; sondern wir bekommen allmählich
das Gefühl, daß die Imaginationen eigentlich nur von
uns in Einzelheiten zerfällt werden, daß sie aber im
Grunde genommen ein Ganzes bilden, daß gewissermaßen
durch sie hindurch eine kontinuierliche Kraft waltet. Wir
erleben etwas in dem Imaginativen Daseiendes, das wir so erst
durch diese imaginative Erkenntnis in unser Bewußtsein
hereinbekommen, von dem wir im gewöhnlichen
Bewußtsein eigentlich keine Ahnung haben.
Und
wiederum: wenn wir nun studieren das gewöhnliche Leben,
wenn wir namentlich in der Weise, wie Goethe das mit seinen
Metamorphosenstudien getan hat, das Werden des Pflanzlichen,
den Übergang der einen Form in die andere, dieses in sich
lebende Metamorphosieren beobachten, dann finden wir, daß
in diesem Leben des pflanzlichen Materiellen dasjenige
vorhanden ist, von dem das ein Bild ist, was wir jetzt als eine
kontinuierliche Kraftentfaltung in der Welt der Imaginationen
erleben. So kommen wir allmählich darauf, daß wir uns
mit der Imagination hindurchgearbeitet haben zu dem Ergreifen
desjenigen, was Wachstumskraft ist. Wir kommen darauf, daß
wir noch stärker, als das die Mechanisten getan haben, die
erspekulierte Lebenskraft ablehnen müssen, weil dasjenige,
was auf dem Gebiete dieser Lebenskraft liegt, niemals sich dem
gewöhnlichen Gedanken, der gewöhnlichen
philosophischen Spekulation ergeben kann, sondern erst einer
höheren Auffassungsweise, die errungen werden muß.
Wir kommen darauf, wie sich nur das Anorganische dem
gewöhnlichen Verstände ergibt und wie dasjenige, was
im Wachstum lebt, erfaßt werden muß in einer inneren
Seelenverfassung, die wir erst haben, wenn wir uns die
Imagination angeeignet haben. So lebt in unserem Organismus
diese Wachstumskraft. Wir durchschauen sie, indem wir uns dem
imaginativen Leben hingeben.
Hier muß aufmerksam darauf gemacht werden, daß
für jene Übungen, die zum imaginativen Erkennen
hinführen, wirklich die Regeln beobachtet werden
müssen, die ich in meinen Büchern angegeben habe.
Denn worauf zielen alle diese Regeln? Sie zielen darauf,
daß alles, was derjenige ausführt, der sich bestrebt,
ein höheres Erkenntnisvermögen auszubilden, mit einer
solchen inneren Klarheit durchgeführt werden muß, wie
man sie hat, wenn man mathematische Vorstellungen ausbildet.
Das Bewußtsein muß die Verfassung haben-, die es beim
Geometrisieren hat, wenn es sich hineinlebt in all das, was
notwendig ist, um die Imagination und auch die folgenden Stufen
der übersinnlichen Erkenntnis, die Inspiration und
Intuition, auszubilden. Wenn Sie denken an das pathologische
visionäre, halluzinatorische Leben, an das wenigstens
den Schatten des Pathologischen darstellende Traumleben,
so werden Sie den gewaltigen Unterschied von alledem und einem
mit mathematischer Klarheit dahinlebenden Bewußtsein in
Erwägung ziehen können. Es darf dasjenige, was
hinführen soll zur Imagination, nicht mit herabgestimmtem
Bewußtsein angestrebt werden; denn indem man dasjenige,
was rein seelisch-geistig mit mathematischer Klarheit
angestrebt werden muß, traumhaft, mystisch, verworren,
verdunkelt anstreben würde, könnte man nicht
aufsteigen zu höheren Erkenntniskräften, sondern man
würde hinuntersinken in Kräfte, die man früher
schon hat, nämlich in die Wachstumskräfte, in die
inneren Reproduktionskräfte des menschlichen Organismus.
Die würde man anreizen zum Wuchern, und es würden
eben die Tendenzen des Visionären, des Halluzinatorischen
statt der imaginativen Erkenntnis entstehen. Man sieht schon,
wie die Dinge zusammenhängen, wenn man sich diese
Beschreibung des Weges zu der imaginativen Erkenntnis wirklich
vor Augen führt.
In
dieser imaginativen Erkenntnis lebt man, wie ich es geschildert
habe, in einer Welt von Bildern, nur, daß die Bilder durch
ihre eigene Wesenheit die Signatur tragen, daß sie
Abbilder sind von Realitäten. Aber die Realitäten hat
man nicht; man hat vielmehr das allerdeutlichste
Bewußtsein, in einer nicht realen Bilderwelt zu leben, und
das ist gerade das Gesunde. Der Halluzinierende, der
Visionär nimmt seine Visionen, seine Halluzinationen
für Wirklichkeit. Der Imaginierende hat gerade dadurch
seine nicht nur gewöhnliche, sondern erhöhte
Besonnenheit, daß er weiß: Alles dasjenige, was er in
der Imagination erlebt, ist Bild, Bild einer Wirklichkeit, aber
doch Bild. Er kann gar nicht zu einer Verwechslung dieser
Bilderwelt mit Wirklichkeiten kommen. Denn was uns
gewissermaßen hinüberträgt in die Wirklichkeit
von der Bilderwelt, das ist nun die Inspiration.
Die
Imagination gibt zunächst Bild der übersinnlichen
Wirklichkeit, die Inspiration weist uns hinüber in diese.
Wir erreichen diese Inspiration dadurch, daß wir mit einer
inneren Technik, so wie wir durch Meditation, durch
Konzentration die Möglichkeit der Imagination
herbeiführen, eine andere Fähigkeit ausbilden, die
man im gewöhnlichen Leben mit Recht gar nicht besonders
schätzen kann. Man muß nämlich so beobachten,
daß man sich zu einem einigermaßen klaren
Bewußtsein bringt, was das Vergessen, das Hinauswerfen
einer Vorstellung aus dem Bewußtsein ist. Man muß
sich meditierend üben im künstlichen Vergessen, im
Aussondern von Vorstellungen, und muß sich dadurch die
Fähigkeit heranbilden, das imaginative Leben, das Leben in
Bildern, das man sich angeeignet hat, nun auch ablehnen und
zuletzt auslöschen zu können. Wer es nur dahin
gebracht hat, Imaginationen zu haben, der kann noch nicht in
eine geistige Wirklichkeit eindringen, sondern erst derjenige,
der es dahin gebracht hat, diese Imaginationen, die
zunächst, ich mochte sagen, nur wie eine Realisierung des
imaginativen Vermögens auftreten, wieder zu tilgen, denn
diese Imaginationen sind allerdings ein mehr oder weniger
Selbstgemachtes. Es handelt sich darum, daß man das
Bewußtsein gewissermaßen ganz leer bekommt, daß
man den Akt des Vergessens willkürlich anwendet auf dieses
imaginative Leben, so daß man wissen lernt, was es
heißt, in einem völlig wachen Bewußtsein, das
nicht vorstellt, das es aber durch ein vorhergehendes
Imaginieren zu seiner inneren Energie gebracht hat und jetzt
seinen Inhalt losgeworden ist, was es heißt, in einem
solchen kraftvollen Bewußtsein zu leben. Das muß man
wissen lernen, dann steigt man auf vom Imaginieren zu der
Erkenntnis durch Inspiration, dann weiß man auch, daß
man berührt wird von einer geistigen Wirklichkeit, die
sich einem offenbart in einem seelisch-geistigen Vorgang, der
verglichen werden kann mit dem Ein- und Ausatmen,
überhaupt mit dem rhythmischen Atmungsvorgang. Wie der
rhythmische Atmungsvorgang darin besteht, daß wir die
äußere Luft in uns aufnehmen, sie innerlich
durcharbeiten und dann in einer andern Form wiederum abgeben,
nachdem wir mit ihr in einer gewissen Weise uns identisch
gemacht haben, so lernen wir einen geistig-seelischen Vorgang
kennen, der darin besteht, daß wir die innere Kraft des
Bewußtseins, die wir gewonnen haben, erfühlen
können, gewissermaßen seelisch-geistig einatmen
können in dieses durch die Imagination erkraftete
Bewußtsein. Dadurch aber leuchtet in diesem erkrafteten
Bewußtsein die objektive Imagination auf. Wir atmen ein
die geistige Welt, wir bekommen sie in uns herein, wir machen
uns mit ihr identisch, wir leben uns aus uns heraus; eine
rhythmische Wechselwirkung mit der geistigen Welt tritt
ein.
Im
alten Indien hatte man instinktive Bestrebungen, um zu einer
höheren Erkenntnis zu kommen. Diese instinktiven
Bestrebungen, die in dem Joga lebten, benützten, wie Sie
vielleicht wissen werden, den Atmungsprozeß, um auf
physische Weise, möchte ich sagen, dahin zu kommen, diesen
Atmungsprozeß selber als einen geistig-seelischen Vorgang
zu erleben. Indem in der orientalischen Jogaübung das
Atmen — Einatmen, Atemhalten, Ausatmen — in einer
gewissen Weise geregelt wird und eine Hingabe an diesen
Atmungsprozeß stattfindet, saugt man gewissermaßen
dadurch das Geistig-Seelische aus diesem Atmungsprozeß
heraus. Man sondert den Atmungsprozeß von dem
Bewußtsein ab gerade dadurch, daß man ihn
hereindrückt, und man behält dann das
Geistig-Seelische übrig. Diesen Prozeß, der in der
Jogaübung durchgemacht worden ist, können wir nach
der Organisation unserer gegenwärtigen Kultur nicht
nachmachen; und wir sollen ihn nicht nachmachen. Er würde
uns herunterwerfen in die leibliche Organisation. Es liegt
gewissermaßen unser Seelenleben nicht mehr auf dem Felde,
auf dem das Seelenleben des Inders lag. Der hatte das
Seelenleben mehr noch gegen die Sensibilität hin; wir
haben es gegen die Intellektualität hin. Und in der
Sphäre der Intellektualität würde das Jogaatmen
den Menschen in die Gefahr bringen, seine leibliche
Organisation zu zerstören. Beim Leben in dem
intellektuellen Felde ist man genötigt, solche
Übungen anzuwenden, wie ich sie beschrieben habe in meinem
Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren
Welten?». Diese halten sich rein im Geistig-Seelischen.
Sie lassen höchstens anklingen — aber das auch nur
selten oder gar nicht für die meisten Fälle —
etwas von dem leiblich-physischen Atmungsprozeß. Das
Wesentliche aber läuft für unsere Übungen zur
Erlangung der Imagination rein im Geistig-Seelischen ab, in der
Sphäre, die der Mensch erlebt, wenn er geometrisiert und
mathematisiert. Auch das, was zur Inspiration getan werden
muß, läuft in dieser Sphäre ab.
Durch die Inspiration tritt die Möglichkeit ein, ein
Bewußtsein zu erlangen von einer geistig-seelischen
Außenwelt, einer geistig-seelischen Objektivität. Das
aber ist verbunden damit, daß nun das
Bewußtseinsleben selber eine innere Metamorphose
durchmacht. Der Mensch muß es über sich ergehen
lassen, daß er als physisches Wesen im Durchleben der
Kinder-, der Jugend-, der Alters-, der Greisenjahre
äußerliche Wachstumsmetamorphosen durchmacht. In
bezug auf das Bewußtsein selbst fühlt der Mensch eine
leise Furcht, eine Scheu, solche Metamorphosen, solch ein
Lebendiges in dem ganz inneren Seeleninhalt durchzumachen. Das
aber muß durchgemacht werden, wenn man zu einer
übersinnlichen Erkenntnis kommen will. Was Goethe bis zu
einer besonderen Vollkommenheit ausgebildet hat, das Anschauen
der Metamorphose, das kann sich besonders gut im Felde des
imaginativen Lebens bewegen aus dem Grunde, weil alles
dasjenige, was der Imagination unterliegt, sich als lebendige,
sich verwandelnde Gestaltungen darstellt. Es tritt irgendeine
Gestalt auf vor dem Bewußtsein. Sie verwandelt sich,
vielleicht mit Übergängen oder auch ohne
Übergänge, in eine ganz andere Gestalt, aber man kann
doch gewissermaßen die Kontur der ersten Gestalt in die
Kontur der zweiten Gestalt überführen. Es gibt eine
Möglichkeit, das eine aus dem andern zu bilden, ohne
daß man einen wesentlichen Sprung macht. Das hört
auf, wenn man an diejenige Wesenhaftigkeit der Welt herantritt,
die durch Inspiration aufgefaßt werden muß: es
hört auf, sobald man an die tierische Organisation
herantritt.
Ich
mochte Ihnen dasjenige, dem man sich nähern muß, wenn
man an die tierische Organisation herantritt, durch folgendes
veranschaulichen. Man kann, wenn man als Psychologe oder auch
als Logiker das menschliche Denken studiert, so daß man es
etwa bis zu einer Definition des Denkens bringt, einen gewissen
Begriff des Denkens aufstellen, und es wird der Stolz der
Logiker, der Erkenntnistheoretiker, der Psychologen sein, zu
einem solchen klaren, durchsichtigen, deutlichen Begriff des
Denkens zu kommen. Sie werden froh sein, wenn sie einen solchen
haben, wenn sie sagen können: Denken ist. .. —, und
jetzt kommen Prädikate. Aber nehmen wir an, jemand
wäre ganz glücklich gewesen darin, einen solchen
Begriff des Denkens aufzustellen, und er würde dann in dem
Falle sein, in dem ich war, als ich meine «Philosophie der
Freiheit» geschrieben habe: er würde das Denken
verfolgen müssen von jener Form, in der es lebt, wenn es
sich an die äußere anschauliche Wahrnehmung
anknüpft, bis zu derjenigen Form, wo es lebt in freier
Geistigkeit in der menschlichen Persönlichkeit als
Willensimpuls, als Handlungsimpuls. Da ergibt sich das Denken
so, daß wir es durchaus noch als reines, geläutertes
Denken erkennen. Wir können von dem Gedanken, den wir
studiert haben an der Wahrnehmung, mit der er sich verbindet,
übergehen zu jenen Gedanken, die Motive sind für
unser Handeln, wenn wir als freie Menschen handeln. Aber wenden
wir uns zu diesem Denken, so ist es zwar wirkliches Denken,
aber es deckt sich nicht mehr mit der Definition, die wir uns
von dem Denken an der Wahrnehmung gemacht haben. Wir
können mit dieser Definition nichts mehr machen, denn
dieses Denken, das dem Handeln zugrunde liegt als Motiv, obwohl
es ein Denken ist, sieht jetzt nicht mehr einem Denken
ähnlich, sondern es ist durch und durch zugleich Wille. Es
hat sich, man möchte sagen, in sein Gegenteil, in den
Willen hinübermetamorphosiert, ist Wille geworden, ist
durch und durch, wenn ich mich des Ausdruckes bedienen darf,
substantieller Wille. Sie sehen auch daraus, wie man innerlich
beweglich werden muß im Begriffsgebrauche. Wer sich
angewöhnt, einen Begriff auszubilden und ihn anzuwenden,
der kann sehr leicht in den Fall kommen, daß die
Wirklichkeit seinen Begriffsgebrauch zuschanden macht.
Nun, nehmen wir an — und das ist ja auch schließlich
in bezug auf die äußere Wirklichkeit der Fall
—, wir haben uns von Josef Müller in seinem
siebenten Jahre einen Begriff gemacht. Wenn wir ihn wieder
kennenlernen in seinem fünfzigsten Jahre, dann hilft uns
der Begriff nicht, um ihn dann adäquat zu durchschauen. Da
müssen wir mit einer Metamorphose rechnen, da hat sich
etwas gewandelt. Die Definition des jungen Müller mit
sieben Jahren wird uns nicht helfen, wenn wir den
fünfzigjährigen Müller vor uns haben. Das Leben
spottet der Definition, der scharf konturierten, inhaltsvollen
Begriffe. Das ist dasjenige, was die Misere ausmacht bei vielen
Diskussionen und Disputationen des Lebens, daß man
eigentlich disputiert jenseits der Wirklichkeit, während
die Wirklichkeit der starren Definitionen und starren
Beschreibungen spottet. Und so ist es auch, daß man eine
Einsicht gewinnen muß, wie Denken Wille und Wille Denken
wird.
Wenn das zunächst ein Fall ist, der auf den Menschen
anwendbar ist, so ist es annähernd schon der Fall, wenn
wir durch Inspiration einfach die tierische Organisation
kennenlernen wollen. Da können wir nicht bloß von
solchen Metamorphosen sprechen, von denen Goethe für das
Pflanzenreich gesprochen hat, bei denen wir gewissermaßen
noch eine Kontur in die andere überführen
können, sondern da müssen wir von innerlichen
Übergängen sprechen — oder wenn ich mich des
gestern von Dr. Unger und mir gebrauchten Wortes bedienen darf
—, da muß man sich der
«Umstülpungen», und zwar nicht bloß der
geometrischen, sondern der qualitativen Umstülpungen
bedienen, um von dem einen ins andere zu kommen. Kurz, man
muß sich schon dazu bequemen, daß die innere
Seelenverfassung selber eine Metamorphose durchmacht, daß
man gewissermaßen ein Erwachsenwerden seines inneren
Erlebnisinhaltes, Erkenntnisinhaltes durchmacht.
So
kommt es denn, daß wir, indem wir aufsteigen von der
Imagination zur Inspiration, nicht dieselben Begriffe
gebrauchen können, die nur allzuwirklich und
rechtmäßig gebraucht werden für das
gewöhnliche Bewußtsein, die natürlich immer zur
Orientierung bleiben müssen, aber die modifiziert werden
müssen, wenn die Erkenntnis in das eigentliche Innere, das
heißt geistige Wesen der Dinge hineinsteigt. Und so wird
die logische Unterscheidung von «richtig» und
«unrichtig» aus ihrer Abstraktheit herausgehoben,
wenn man vom Imaginieren zum Inspirieren aufsteigt. Man kommt
nicht mehr aus gegenüber der "Welt, die man da als eine
geistige Außenwelt erkennt, wenn man in derselben Weise
die Begriffe «richtig» oder «unrichtig»
verwendet, die man mit Recht auf einer vorhergehenden Stufe der
Erkenntnis verwenden gelernt hat. Diese Begriffe verwandeln
sich in viel Konkreteres, und zwar in das, was man jetzt in den
aufleuchtenden Imaginationen erlebt. Denen gegenüber kann
man nicht in derselben Weise sagen «richtig» und
«unrichtig», wie den Vorstellungen des
Verstandeslebens gegenüber; sondern jetzt treten gerade
auf diesem geistig-seelischen Gebiet die konkreteren
Vorstellungen auf: das eine ist «gesund», das andere
ist «krank», das eine ist lebenfördernd, das
andere lebentötend. Der abstrakte Begriff des Richtigen
verwandelt sich in den konkreteren Begriff, so daß
dasjenige, was wir versucht sind, «richtig» zu
nennen, als ein Gesundendes, Lebendiges hineingreift in die
geistige Welt, was wir versucht sind, «unrichtig» zu
nennen, das greift in einer krankmachenden, ertötenden,
lähmenden Weise in die geistige Welt hinein.
Anschauungen also, die wir gewöhnt worden sind, im
physischen Leben anzuwenden, erstehen uns in einer neuen Form,
wenn wir die Schwelle zur geistigen Welt überschritten
haben, aber wir erleben eben dann den Inhalt dieser Begriffe
auf geistig-seelische Weise. Daher werden Sie finden, wie in
der Tat bei dem, der es ehrlich meinen darf mit den
Erkenntnissen der übersinnlichen Welten, andere
Charakterisierungen eintreten; wie er nicht mehr jongliert mit
den Begriffen «richtig» oder «unrichtig»,
sondern wie er ganz von selbst hineinkommt in einen Gebrauch
von Ausdrücken wie «gesund» und
«ungesund» und ähnlichen. Damit aber habe ich
zunächst versucht zu beschreiben — und ich werde in
den nächsten Vorträgen viel eingehender auf diese
Sachen zurückkommen —, wie man aufsteigen kann von
der gewöhnlichen Erkenntnis zur Imagination, zur
Inspiration, wie man dadurch in die wahre Wesenheit, das
heißt, in die geistig-übersinnliche Wesenheit der
Welt methodisch hineinkommt.
Nun
möchte ich daran erinnern, wie ich genötigt war, in
meiner «Philosophie der Freiheit», um das menschliche
Handeln zu beschreiben, um das Phänomen der Freiheit zu
begreifen, auf der einen Seite scharf herauszuarbeiten den
Begriff der reinen Wahrnehmung, mit der sich das Denken
verbindet. Auf der andern Seite machte ich dazumal aufmerksam,
daß die sittlichen Impulse als Intuitionen aus einer
geistigen Welt entnommen werden. Ich war also, indem ich
versuchte, eine reale Ethik zu begründen, genötigt,
auf der einen Seite scharf zu charakterisieren das vom Denken
zu durchdringende Wahrnehmen der äußeren Sinneswelt
an dem einen Pol, die moralische Intuition auf dem andern Pol
des menschlichen Seins, gegenständliches Anschauen oder
Erkennen auf der einen Seite, intuitives Erkennen auf der
andern Seite. Wenn man den Menschen, wie er in dieser
physischen Welt lebt, durchschauen will in bezug auf die Art
und Weise, wie er sinnlich wahrnimmt, und in bezug auf die Art
und Weise, wie er aus dem tiefsten Inneren seines Wesens heraus
zum Handeln seine Impulse entwickelt, dann ist man
genötigt, aufmerksam zu machen auf der einen Seite auf das
vom Denken durchdrungene Wahrnehmen, das die Wirklichkeit
darstellt, und man ist genötigt, andererseits aus der
reinen geistigen Empirie heraus eine Wirklichkeit an dem andern
Pol zu suchen, diejenige, die in einem intuitiven Erleben der
Sittenimpulse wurzelt.
Jetzt in diesen Betrachtungen obliegt es mir, Ihnen
vorzuführen die verschiedenen Stufen des Erkennens, die
hineinführen in die geistige Welt, das heißt aber
nichts anderes als in diejenige Welt, die mit unserer
sinnlichen zusammen die volle Wirklichkeit ausmacht. Da
müssen wir beginnen mit dem gegenständlichen
Erkennen, das ich in der «Philosophie der Freiheit»
an den einen Pol setzte, und wir müssen aufsteigen zu dem
imaginativen und inspirierten Erkennen. Da werden wir von der
geistigen Wirklichkeit berührt. Dann steigen wir auf zur
Intuition, und in der Intuition — ich werde das in den
nächsten Vorträgen darzustellen haben — werden
wir nicht nur berührt von der geistig-übersinnlichen
Wirklichkeit, sondern wir leben uns in sie hinein, wir werden
mit ihr eins.
Dann leben wir in der Intuition, wenn wir mit der geistigen
Wirklichkeit einig sind, das heißt nichts anderes als: an
dem einen Pol des Menschen, wie er heute in dieser
Weltenperiode dasteht, lebt das gegenständliche Erkennen,
auf dem andern Pole das intuitive Erkennen. Zwischen beiden
stehen drinnen Imagination und Inspiration. Aber wenn man den
Menschen des gewöhnlichen Lebens schildern will, dann
muß man, wenn man ihn als Handelnden, als moralisch
Tätigen auffaßt, für dieses eine
herausgeschälte Gebiet der sittlichen Motive, schon zum
Behufe einer Freiheitsphilosophie, die moralische Intuition
finden. Man findet dann, wenn man dasselbe für den ganzen
Kosmos ausbildet, was man durch eine solche
Freiheitsphilosophie für die Grundlage des
menschlichen Handelns ausbildet, die Intuition über den
ganzen Kosmos realisiert, während man sie sonst nur auf
dem eingeschränkten Gebiete des menschlichen Handelns
findet. Aber während man einfach durch die
gewöhnlichen natürlichen Anlagen des Menschen hier in
der physischen Welt zu dem gegenständlichen Erkennen des
Alltags die moralische Intuition hinzufügt, wenn man ein
moralischer Mensch ist, muß man, wenn man zu wirklicher
Welterkenntnis kommen und, ich möchte sagen, landen will
bei der kosmischen Intuition, die im Kosmos entspricht der
moralischen Intuition für das Innere des Menschen, dann
muß man die beiden Stufen der Imagination und Inspiration
durchlaufen. Mit andern Worten: schildert man den Menschen, so
kann man das tun durch eine Freiheitsphilosophie. Da ist man
nur genötigt, zu dem eingeschränkten Gebiet des
intuitiven Erlebens für das menschliche Handeln zu kommen.
Sucht man eine dieser Freiheitsphilosophie entsprechende
kosmische Anschauung, dann muß man dasselbe, was man dort
auf eingeschränktem Gebiete getan hat, erweitern, indem
man die Stufen der Erkenntnis ausbildet: gegenständliches
Erkennen, Imagination, Inspiration, Intuition. Prinzipiell also
liegt schon zwischen dem, was die erste Hälfte meiner
«Philosophie der Freiheit» ist, wo ich herausarbeite
die Wirklichkeit des gegenständlichen Erkennens, und
zwischen dem zweiten Teil der «Philosophie der
Freiheit», wo ich in dem Kapitel «Die moralische
Phantasie» die moralische Intuition herausarbeite,
zwischen dem liegt darinnen dasjenige, was Imagination und
Inspiration ist. Das konnte damals, als die «Philosophie
der Freiheit» ausgearbeitet worden ist, nur angedeutet
werden. Es wurde angedeutet, indem ich in der «Philosophie
der Freiheit» die Worte ausgesprochen habe: «Das
einzelne menschliche Individuum ist von der Welt nicht
tatsächlich abgesondert. Es ist ein Teil der Welt, und es
besteht ein Zusammenhang mit dem Ganzen des Kosmos der
Wirklichkeit nach, der nur für unsere Wahrnehmung
unterbrochen ist. Wir sehen fürs erste diesen Teil als
für sich existierendes Wesen, weil wir die Riemen und
Seile nicht sehen, durch welche die Bewegung unseres
Lebensrades von den Grundkräften des Kosmos bewirkt
wird.» Wollen wir nur den Menschen für diese Welt
erkennen, so kennen wir den direkten Übergang nicht von
dem gegenständlichen Erkennen zu der moralischen
Intuition.
Dasjenige, worauf bei einer solchen Betrachtung —
selbstverständlich sind die Riemen und Seile bildlich
gemeint — nur hingedeutet werden kann: daß der
Mensch etwas in sich hat, was sein Wesen an den ganzen Kosmos
bindet, das müßte im weiteren ausgeführt werden.
Es müßte gezeigt werden, wie der Mensch eben so, wie
er durch einen Empirismus, der die zwei Mittelglieder
überspringen kann, von dem gegenständlichen
Wahrnehmungserkennen zu der moralischen Intuition kommen kann,
so auch von seinem menschlichen Wahrnehmungserleben zu der
kosmischen Intuition kommen kann; denn er hängt mit Riemen
und Seilen, das heißt mit geistigen Wesenhaftigkeiten, in
seiner Menschlichkeit mit dem Kosmos zusammen. Aber er
überschaut das, wie er zusammenhängt, nur, wenn er
jetzt ausfüllt, was für die gewöhnliche
Betrachtung unausgefüllt bleiben darf zwischen
gegenständlichem Erkennen und Intuition, das heißt,
wenn er aufsteigt vom gegenständlichen Erkennen durch
Imagination und Inspiration zu der kosmischen Intuition.
Das
ist der Zusammenhang aller ausgebildeten anthroposophischen
Wissenschaft mit demjenigen, was als Keim veranlagt war in der
«Philosophie der Freiheit»; nur muß man
allerdings einen Sinn haben dafür, daß Anthroposophie
etwas Lebendiges ist, daß sie also erst als Keim auftreten
mußte, bevor sie sich weiter zu Blättern und zu etwas
Weiterem entwickeln konnte. Denn in dieser Lebendigkeit liegt
gerade der charakteristische Unterschied anthroposophischer
Erkenntnis von dem Toten, das doch schon viele in derjenigen
Weisheit empfinden, welche heute noch Anthroposophie ablehnen
will, weil sie sie zum Teil nicht verstehen kann, zum Teil
nicht verstehen will.
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