SIEBENTER VORTRAG
Stuttgart, 5. September 1921
Die
bedeutsamste Frage im Geistesleben der Gegenwart, die aber ihre
Schatten in das gesamte Kulturleben hineinwirft, ist eine
solche, die eigentlich gefühlsmäßig heute schon
für jeden Menschen vorhanden ist, die aber ihren
Lösungsversuch nur finden kann auf dem Wege, der zur
übersinnlichen Erkenntnis, von dem gewöhnlichen,
gegenständlichen Erkennen aus durch Imagination und
Inspiration zur Intuition führt. Diese bedeutsamste Frage
muß sich jede Seele aufwerfen, die in voller
Unbefangenheit und mit einem wahren, innerlich ehrlichen
Interesse für das Menschenwesen sich
gegenübergestellt sieht der heute möglichen
Auffassung des moralischen, des ethischen Lebens auf der einen
Seite, und desjenigen Lebens, das sich aus der mit Recht
anerkannten naturwissenschaftlichen Weltanschauung andererseits
ergibt. Das ethische, das moralische Leben steht heute deshalb
auch mit brennenden Fragen vor uns, weil wir in dem Zeitalter
leben, in dem das Ethische zu gleicher Zeit das Soziale ist und
die soziale Frage als eine brennende Frage von jedem Menschen
empfunden werden kann.
Betrachten wir dasjenige, was sich uns vom Dasein in
Gemäßheit des heutigen Denkens durch die
Naturerkenntnis vor die Seele stellt. Das Streben nach einer
wirklichen Naturerkenntnis geht dahin, die Dinge der Welt in
ihrer Notwendigkeit, in ihren ursächlichen, in ihren
kausalen Zusammenhängen zu begreifen. Und dieser
ursächliche Zusammenhang, diese Notwendigkeit, sie sollen
gemäß einer konsequenten Weltanschauung auf alles
ausgedehnt werden, was sich in die Weltenordnung hineingestellt
sieht, also auch auf den Menschen. Insofern wir heute den
Menschen naturwissenschaftlich erkennen wollen, dehnen wir mit
einer gewissen Selbstverständlichkeit diejenige Erkenntnis
auf ihn aus, die wir gewöhnt sind, für die
Naturerscheinungen außerhalb des Menschen anzuwenden, und
wir versuchen dann in mehr oder weniger kühnen Hypothesen
das, was sich aus der Naturerkenntnis für die uns
zunächst vorliegende, von uns zu beobachtende Natur
ergibt, auszudehnen auf die Welttatsachen und Weltwesen. Wir
bilden Hypothesen über Erdenanfang und Erdenende aus den
naturwissenschaftlichen Erkenntnisvor Stellungen heraus. Da
kommen wir mit dieser naturwissenschaftlichen Erkenntnis an
einen Punkt, wo wir uns sagen müssen dann, wenn wir
konsequent vorgehen: Wir dürfen nicht haltmachen vor der
menschlichen Freiheit. Ich habe das hier vorliegende Problem ja
bereits angedeutet.
Wer
einfach aus einer gewissen Konsequenzsucht heraus eine formale
einheitliche Welterklärung sucht, der wird, indem er sich
zu entscheiden hat zwischen der Annahme einer Freiheit, die
eigentlich empirisch im unmittelbar menschlichen Erleben
gegeben ist, und zwischen der allwaltenden Naturnotwendigkeit,
der wird sich aus dem, was der Menschheit an Denk- und
Erkenntnisgewohnheiten in den letzten Jahrhunderten anerzogen
worden ist, für die Naturnotwendigkeit entscheiden. Er
wird trotz des Erlebens der Freiheit diese für eine
Illusion erklären und den Bereich absoluter Notwendigkeit
bis in die intimsten Intimitäten des menschlichen Wesens
herein fortsetzen, so daß damit der Mensch völlig in
den Kreis naturwissenschaftlicher Notwendigkeit eingesponnen
ist. Und ebenso wird man sich verhalten mit Bezug auf die
hypothetische Vorstellungswelt über dasjenige, was etwa
Erdenanfang und Erdenende ist. Man nimmt jene
Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhänge, welche
Physik, Chemie und so weiter ergeben, und man bildet aus ihnen
dann solche Hypothesen wie die Nebularhypothese, das heißt
die Kant-Laplacesche Theorie über den Erdenanfang. Man
bildet aus dem zweiten Hauptsatz der mechanischen
Wärmelehre Hypothesen über den Wärmetod, in den
die Erde verfallen werde.
Man
kann auf diese Weise bis in die Intimitäten des
Menschenwesens hinein und bis an die Grenzen des Weltenalls
dasjenige ausdehnen, dessen nicht zu bestreitende Fruchtbarkeit
sich der neuesten Zeit ergeben hat für die Erklärung
der Naturerscheinungen, wie sie uns umgeben in der Welt, in der
wir zwischen Geburt und Tod herumwandeln. Aber dann, wenn wir,
zu einer gewissen Selbstbesinnung kommend, uns fragen: Worin
ruht denn die eigentliche Menschenwürde, worin besteht
denn der eigentliche Menschenwert? — dann kommen wir
dazu, unseren Blick auch auf die moralische Welt zu werfen, auf
dasjenige, was in uns ethisch-sittlichen Antrieb für unser
Bewußtsein sein läßt. Wir fühlen, daß
wir nur in der Nachfolge gegenüber den sittlichen Idealen,
die wir durchdringen mit religiösem Erfühlen, ein
vollständig menschenwürdiges Dasein erlangen
können. Wir können sozusagen uns nicht in vollem
Sinne des Wortes Mensch nennen, wenn wir nicht diejenigen
Motive in uns wirksam denken, die wir als die moralischen
bezeichnen und die dann hinausströmen in das soziale Leben
und die wir uns innerlich durchpulst denken von dem, was wir
das Göttliche in der Weltenordnung nennen. Aber wenn man
heute völlig ehrlich sich auf den Gesichtspunkt stellt,
von dem aus man die mechanisch-kausale, die notwendige
Naturordnung überblickt, dann gibt es keine Brücke
herüber von dieser Naturordnung, in die man wegen einer
gewissen Erkenntnisehrlichkeit auch den Menschen einspannen
muß, zu der andern Ordnung, die die moralische ist und mit
der der Mensch seine ganze Würde, seinen ganzen Wert
verbunden denken muß.
Die
neueste Zeit hat allerdings ein gewisses Auskunftsmittel
ersonnen, um sich über diesen Abgrund
hinwegzutäuschen, der zwischen zwei wesentlichen
Bestandteilen unseres Menschentums sich auf getan hat. Man hat
gesagt: In wahrem Sinne wissenschaftlich ist nur dasjenige, was
im Sinne der Naturnotwendigkeit die Welt einschließlich
des Menschen, einschließlich Weltenanfang und Weltenende,
erklären will. — Und man läßt von diesem
Gesichtspunkt aus nichts als wissenschaftlich gelten, was nicht
in widerspruchsloser Weise in ein Denken von dieser
Naturordnung eingesponnen werden kann. Daneben aber richtet man
ein Reich mit einer ganz andern Art von Gewißheit auf, ein
Reich mit der Glaubensgewißheit. Man sieht hin auf
dasjenige, was in uns als das moralische Licht leuchtet, und
man sagt sich: Keine wissenschaftliche Erkenntnis kann
irgendwie garantieren die Bedeutung dieses moralischen
Reiches, aber der Mensch muß in sich eine
Glaubensgewißheit finden; er muß aus dem Subjektiven
heraus sich dazu bekennen, damit er auf irgendeine Art seinem
Wesen nach mit jenem Reiche verbunden ist, das von den
moralischen Notwendigkeiten durchströmt wird.
Zunächst mag eine große Anzahl von Menschen wohl
Beruhigung finden, wenn sie gewissermaßen reinlich
voneinander sondern, was man wissen kann und das, was man
glauben soll; und man könnte sich denken, daß diese
Sonderung auch eine gewisse Lebensberuhigung, eine gewisse
Lebenssicherheit abgeben könnte. Aber wenn man tief genug
schürft, nicht mit einem einseitigen Denken, sondern mit
alldem, was das Denken erleben kann, wenn es sich mit den
vollmenschlichen Seelen- und Geisteskräften verbindet,
dann muß man zu folgendem kommen. Dann muß man sich
sagen: Wenn das Reich der Naturnotwendigkeit so ist, wie man im
Laufe der letzten Jahrhunderte gewohnt worden ist, es sich
vorzustellen, dann gibt es demgegenüber keine
Möglichkeit, das Reich des Moralischen zu retten. Man
muß das sagen aus dem Grunde, weil dieses Reich des
Moralischen einfach nirgends die Macht zeigt, gegen das Reich
der Naturordnung aufzukommen. Man braucht nur daran zu denken,
wie mit einer gewissen inneren Berechtigung gerade aus der
Anschauung über die Wärmeentropie sich die
Vorstellung entwickeln mußte — ich sage
ausdrücklich: entwickeln mußte —, daß
einmal alle unsere übrigen Erdenkräfte sich
verwandelt haben werden in Wärme, daß diese
Wärme sich nicht mehr in irgendwelche andere Kräfte
zurückverwandeln kann, und daß dann die Erde als
solche befallen werden wird von dem, was man den Wärmetod
nennt. Damit gibt es aber für ein ehrliches Denken, das
nach den Denkgewohnheiten der neuesten Zeit an der
Naturkausalität festhalten will, keine Möglichkeit,
anderes sich zu sagen als: Diese vom Wärmetod befallene
Erde stellt ein großes Leichenfeld nicht nur für alle
Menschen dar, sondern auch für alle moralischen Ideale;
die müßten in das Wesenlose hingeschwunden sein, wenn
unter Anerkennung der Alleingültigkeit der
Naturnotwendigkeit der Wärmetod die Erde ergriffen
hätte.
Diese Erwägung erzeugt eben eine Empfindung, die für
einen Menschen, der unbefangen der Welt sich
gegenüberstellt, etwas ist, was ihm die Sicherheit
für die moralische Weltordnung nimmt und damit ihn
überhaupt dazu führt, zwiespältig die Welt sehen
zu müssen in der Weise, daß er eigentlich nur sich
sagen kann: Wie Schaumblasen steigt das moralische Ideal aus
der Naturnotwendigkeit auf, wie Schaumblasen werden die
moralischen Impulse verschwinden. Denn, was im Innersten mit
Menschenwert und Menschenwürde zusammenhängt, das
kann nicht als Seiendes hineingeschoben werden in die
Anerkennung der bloßen Naturnotwendigkeit. — Wie
gesagt: formell ließe sich zwischen Wissen und Glauben
trennen, aber wenn man schon diese Glaubensgewißheit
annimmt, so kann sich gegenüber der dann anspruchsvoll
sein müssenden Wissenschaft die Glaubensgewißheit
keine innerliche Garantie für die Realität des
Moralischen verschaffen.
Das
wirkt nicht bloß auf des Menschen theoretische
Vorstellungen. Ein Mensch, der es mit dem Leben ehrlich meint,
bei dem muß das in die tiefste Empfindungswelt
hineinwirken, und da ergreift es durch Vorgänge, die tief
im Unterbewußtsein liegen, zerstörend dasjenige, was
dem Menschen innere Sicherheit gibt, was ihm überhaupt
möglich macht, sein Verhältnis zur Welt als ein
gefestigtes nicht nur zu denken, sondern zu empfinden, zu
wollen. Und wer für solche Zusammenhänge einen Sinn
hat, der wird sich sagen können: Was in einer so
unheimlichen Weise aus den Tiefen des Menschenlebens im 20.
Jahrhundert als verheerende Wellen heraufgeworfen ist, das geht
letzten Endes dennoch aus dem Zusammenklang alles desjenigen
hervor — man könnte auch sagen: aus dem
Mißklang alles desjenigen —, was die einzelnen
menschlichen Individualitäten bei sich erleben. Unsere
furchtbare katastrophale Zeit ist doch schließlich aus den
innersten Verfassungen der Menschenseelen und Menschenherzen
heraus geboren. Ein solcher innerer Zwiespalt, wie ich ihn
geschildert habe, läuft nicht nur ab an der
Oberfläche des Seelenlebens als theoretische
Weltanschauung; er senkt sich hinunter in die Tiefen, aus denen
das instinktive Leben, das Gewissensleben kommt. Und da
schlägt dann dieser Zwiespalt um in die innerhalb der
Erdenordnung diskrepanten Gefühle, die Unordnung,
Unsoziales hervorbringen statt möglicher sozialer
Gestaltung.
Gewiß, für viele Menschen hat dasjenige, was ich
geschildert habe, heute noch nicht das volle Gewicht; aber man
kann schon voraussehen, wenn man nur ein wenig unbefangen den
Gang der menschlichen Geistesentwickelung in den letzten
Jahrhunderten, insbesondere in der neuesten Zeit verfolgt, zu
welch einem moralischen Ausleben, zu welch einer sozialen
Gestaltung dieser Zwiespalt in den Menschenseelen in der
allernächsten Zukunft führen muß. Man wird
niemals Antwort bekommen auf die brennende Frage: Warum leben
wir in einer solchen Zeit der Not? — wenn man sich nicht
einläßt, die Bausteine zu suchen für dasjenige,
was man in den Tiefen des Menschenlebens selber nötig
hat.
Demjenigen, was ich Ihnen hier geschildert habe, steht
gegenüber das, was nun von anthroposophischer
Geisteswissenschaft an Welterkenntnis auf dem Wege durch
Imagination, Inspiration zur Intuition erstrebt wird. Wir
werden sehen, wie sich anthroposophische Geisteswissenschaft
mit der heute geschilderten brennendsten Frage der Gegenwart
und der nächsten Zukunft vermöge dessen abzufinden
vermag, was sie eben auf ihrem Wege glaubt erkennen zu
können. Ich habe Ihnen den Weg geschildert, den
Geisteswissenschaft zurücklegt durch Imagination und
Inspiration. Ich habe darauf aufmerksam gemacht, wie jene
Übungen, die ich hier nicht ausführlich schildern
kann, die Sie in meinen Büchern, welche ich öfter
hier genannt habe, geschildert finden, wie jene Übungen
zur imaginativen Erkenntnis das Geistig-Seelische in derselben
Weise zum bewußten Inhalt bringen, wie das
gewöhnliche Bewußtsein von einem Inhalte durchsetzt
ist, wenn es in der Erinnerung lebt. Hinter dem, was als
Erinnerungen aufsteigt, willkürlich oder
unwillkürlich, steckt unsere physische und ätherische
Organisation. Dasjenige, was in dieser physischen und
ätherischen Organisation vor sich geht, rückt da
herauf in das Bewußtsein. Was bei der gewöhnlichen
Erinnerung unsere physisch-ätherische Organisation macht,
das bewirkt man auf rein seelisch-geistigem Wege durch jene
ausführlichen Übungen, die in meinen Büchern
geschildert sind, und man gelangt dadurch zu Vorstellungen, die
den Erinnerungsvorstellungen jetzt rein formell ähnlich
sind, die aber hinweisen auf einen äußeren
objektiven, nicht auf einen persönlich erlebten Inhalt.
Dadurch aber bereiten wir uns durch die Imagination vor
für das Erkennen einer wirklichen objektiven,
übersinnlichen Welt.
Wir
müssen dann, um zur Inspiration aufzusteigen, nicht nur
auf geistig-seelische Art das Hervorbringen solcher
Vorstellungen üben, die den erinnerten Vorstellungen
ähnlich sind, sondern wir müssen dahin arbeiten, auch
geistig-seelisch gewissermaßen das Vergessen zu üben,
das Hinausbringen solcher Imaginationen aus dem nun erlangten
Bewußtsein. Wir müssen uns üben, nicht mehr die
ja unrealen Imaginationen zu haben, sondern diese
willkürlich aus unserem Bewußtsein zu entfernen, so
daß wir dann dieses Bewußtsein, wenn ich mich so
ausdrücken darf, mit einer gewissen Leerheit haben.
Gelangen wir dahin, dann haben wir die Möglichkeit, mit
dem durch alle diese Ubungsvorgänge verstärkten Ich
uns in die Offenbarungen der objektiv-übersinnlichen Welt
hineinzufinden. Statt der vorherigen subjektiven Imaginationen
leuchten auf im Bewußtsein objektive Imaginationen, und
das Aufleuchten solcher objektiver Imaginationen, die jetzt
nicht von uns selber kommen, die aus der geistigen
Objektivität kommen, das ist eben die Inspiration. Wir
gelangen gewissermaßen bis an die Grenzen des
Übersinnlichen, das sich uns in seiner Außenseite
durch diese Imaginationen offenbart. Genau in derselben Weise,
wie wir durch unsere sinnliche Wahrnehmungswelt, wenn wir nur
den ganzen Menschen in dieser sinnlichen Wahrnehmungsweit
tätig sein lassen, uns überzeugen von der
Realität der dieser Sinnenwelt zugrunde liegenden
objektiven Außenwelt, so offenbaren uns die nunmehr
erlangten Imaginationen mit voller Überzeugungskraft die
übersinnliche Welt, deren Ausdruck sie sind.
Nun
handelt es sich zunächst darum, diesen Erkenntnisweg noch
bis zu einer nächsten Stufe fortzusetzen. Das aber
erlangen wir dadurch, daß wir nicht bloß das
Vergessen so weit treiben, daß wir Imaginationen aus uns
herausschaffen, sondern noch um einen Schritt weitergehen.
Gelangt man nämlich zur imaginativen Welt, so zeigt sich
einem ja zuerst das eigene Leben in seinem Verlaufe. Man lebt
nicht nur im Augenblick mit seinem Bewußtsein, man lebt in
dem ganzen Strom des Lebens fast bis zur Geburt zurück.
Ist man dann imstande, vorzurücken zur Inspiration, dann
erweitert sich die Überschau, die man vorher über das
Leben seit der Geburt gehabt hat, bis zu dem Wahrnehmen einer
übersinnlichen Welt, aus der heraus man durch die Geburt
oder durch die Empfängnis in die sinnlich-physische Welt
hereingekommen ist. Es dehnt sich das geistige Blickfeld aus
über diejenigen Welten, die wir vor der Geburt oder vor
der Empfängnis durchlebt haben und die wir durchleben
werden, wenn wir durch die Pforte des Todes gegangen sind. Der
Ausblick auf die übersinnliche Welt, der wir
angehören, ergibt sich durch die inspirierte
Erkenntnis.
Wenn wir uns nun weiter bemühen, nicht nur diejenigen
Imaginationen fortzuschaffen, die Einzelheiten innerhalb des
Horizontes der imaginativen Welt enthalten, sondern wenn wir
die Imagination unseres ganzen Wesens als Mensch
gewissermaßen vergessen, das heißt, wegschaffen, wenn
wir die Kraft erlangen, auszutilgen dasjenige, was sich in
unserem Ich zusammenfaßt aus den Erlebnissen seit unserer
Geburt, was sich auch hinzufügt dadurch, daß sich der
Horizont erweitert in eine geistige Welt, dann gelangen wir
dazu, das Ich jetzt nicht zu schwächen, sondern gerade
dadurch, daß es sich selbst vergißt, erst recht zu
stärken. Und dadurch kommen wir allmählich hinein in
die Wirklichkeit der geistigen, der übersinnlichen Welt.
Wir leben uns zusammen mit der Wirklichkeit dieser geistigen
Welt. Wir gelangen dazu, die Anschauung von den vorangegangenen
wiederholten Erdenleben als etwas zu erkennen, was uns unser
Ich auf verschiedenen Stufen zeigt. Dann, wenn wir uns die
Fähigkeit erworben haben, dieses Ich auf seiner heutigen
Stufe zu vergessen, das heißt, seinen imaginativen Inhalt
auszuschalten, dann gelangen wir dazu, das ewige Ich zu
schauen.
Die
Dinge, von denen anthroposophische Geisteswissenschaft spricht,
sind so, daß man sie nicht aus irgendeiner blaudunstigen
Mystik heraus erhält, sondern daß man Schritt
für Schritt zu jeder einzelnen Erkenntnis den Weg angeben
kann. Der Weg ist nicht nur kein äußerlicher, er ist
ein innerlicher in seinem ganzen Verlauf, aber ein solcher, der
zu dem Erfassen einer wirklichen objektiven, aber
übersinnlichen Realität führt. Dadurch aber,
daß man sich auf diese Weise zur wahrhaft intuitiven
Erkenntnis erhebt, gelangt man eigentlich erst zu einem
wirklichen, zu einem wahren Durchschauen desjenigen, was
eigentlich unser Denken, unser Vorstellen ist, das wir im
gewöhnlichen Leben anwenden, mit dem wir unsere
Wahrnehmungen durchsetzen. Man gelangt zur vollen, zur ganzen
Wirklichkeit von dem, wovon man bis zu einem gewissen Grade
sich eine Vorstellung, eine empirische Vorstellung verschaffen
kann auch auf die Art, wie ich es versucht habe darzustellen in
meiner «Philosophie der Freiheit». Da habe ich
versucht, auf das reine Denken hinzuweisen, auf dasjenige
Denken, das in uns auch leben kann, bevor wir gerade diese
Partie des Denkens mit irgendeiner äußeren
Wahrnehmung zur vollen Wirklichkeit zusammengebracht haben. Ich
habe hingewiesen darauf, daß dieses reine Denken selber
als innerer Seeleninhalt wahrgenommen werden kann; aber was es
seinem Wesen nach ist, das läßt sich erst erkennen,
wenn die wirkliche Intuition auf dem höheren
Erkenntniswege in der Seele auftritt. Dann durchschaut man
gewissermaßen dieses eigene Denken; man lebt sich jetzt
erst durch Intuition in dieses eigene Denken hinein, denn die
Intuition besteht eben darinnen, daß man sich in ein
Übersinnliches mit seinem eigenen Wesen hineinlebt,
daß man in dieses Obersinnliche untertaucht.
Und
so lernt man erkennen etwas, dessen Erleben so, wie ich es eben
angedeutet habe, wiederum eine Art Erkenntnisschicksal ist. Man
erlebt etwas ganz Gewaltiges, wenn man sich intuitiv in die
Natur des Erkennens hineinlebt. Man weiß dann, wie man als
Mensch materiell organisiert ist. Man weiß, wie weit diese
materielle Organisation reicht; aber man durchschaut auch durch
die Intuition, daß jene nur bis zu dem reicht, was als
eine Widerlage, gewissermaßen als Boden dient, auf dem
sich das Denken entwickeln kann, aber daß die materiellen
Vorgänge in sich selber abgebaut werden müssen da, wo
wirkliches Denken erscheint. In demselben Maße, in dem die
materiellen Vorgänge abgebaut werden, kann Platz greifen
in uns dasjenige, was jetzt an die Stelle der Vernichtung des
Materiellen tritt: das Denken, das Vorstellen.
Ich
weiß alles, was eingewendet werden kann gegen die
Sätze, die ich in diesem Augenblick ausspreche, aber das
intuitive Erkennen führt dahin in bezug auf das
Materielle, einzusehen, daß dort, wo das Denken sich
entwickelt, ein Nichts vom Materiellen zu erblicken ist. Es
führt dahin, zu sagen: Indem ich denke, bin ich nicht,
wenn ich das materielle Sein, das man sonst als das
maßgebende anerkennt, als einziges Sein gelten lasse. Es
muß erst die Materie sich zurückziehen im Organismus
und Platz machen dem Denken, dem Vorstellen; dann sieht dieses
Denken, dieses Vorstellen, die Möglichkeit seiner
Entfaltung im Menschen. Dort also, wo wir das Denken in seiner
Wirklichkeit wahrnehmen, nehmen wir Abbau, Vernichtung
des materiellen Daseins wahr. Wir schauen hinein, wie
die Materie ins Nichts übergeht.
Hier ist es, wo wir an der Grenze des Gesetzes von der
Erhaltung der Materie und der Kraft stehen. Man muß
den Ausdehnungsbereich dieses Gesetzes von Materie und
Kraft erkennen, damit man den Mut fassen kann, ihm dann zu
widersprechen, wenn es nötig ist. Niemals kann irgend
jemand die Wesenheit des Denkens unbefangen an der Stelle, wo
Materie sich selbst vernichtet, durchschauen, der das Gesetz
von der Erhaltung des Stoffes als ein absolutes anerkennt, der
nicht weiß, daß es gilt im Bereich dessen, was wir
äußerlich überschauen im physischen, im
chemischen Felde und so weiter, daß es aber nicht gilt
dort, wo unser Denken auf dem Schauplatze unserer eigenen
menschlichen Organisation auftritt. Wenn es nicht nötig
wäre, aus gewissen Untergründen heraus diese
Erkenntnis heute vor die Welt hinzustellen, man würde sich
nicht all den Spöttereien und all den Einwänden
aussetzen, die ganz begreiflicherweise kommen müssen von
denjenigen, die aus den bekannten Voraussetzungen heraus das
Gesetz von der Erhaltung der Materie und der Kraft für
absolut halten, für ausnahmslos geltend.
Aber ebenso wie man durch Intuition das Verhältnis vom
Denken zu der gewöhnlichen Materie kennenlernt, die uns
sonst in der physischen Welt umgibt, so lernt man durch
Intuition das Verhältnis der Inspiration erkennen, der im
Geiste waltenden Inspiration, zu dem menschlichen
Gefühlsund rhythmischen Leben. Im Nerven-Sinneswesen wird
physische Materie vernichtet. Deshalb kann das
Nerven-Sinneswesen Grundlage sein für das Vorstellen,
für das Denken. Das zweite System des Menschen ist das
rhythmische System. Mit ihm hängt seelisch zusammen das
Gefühlsleben so, wie das Denkleben mit dem
Nerven-Sinneswesen zusammenhängt. Das Verhältnis des
außermenschlichen Objektiven, dem wir durch Inspiration
uns nahen, zum Menschen, zeigt uns, daß wir durch die
Inspiration einer Weltwesenheit uns bewußt werden, die in
uns hereinspielt, so wie durch das Vorstellen die Sinneswelt
hereinspielt. Diese inspirierte Welt spielt in uns namentlich
herein durch den Atmungsprozeß, der seinen Rhythmus auch
bis in die Gehirnvorgänge und in den übrigen
Organismus fortsetzt. . Man lernt nun erkennen dasjenige, was
innerlich im menschlichen Wesen als Rhythmus lebt. Da wird zwar
nicht in gleicher Weise wie im Denkvorgang die Materie
ertötet, aber es wird das Leben abgelähmt, so
daß es sich immer neu anfachen muß. Und dem
gewöhnlichen, rein mechanischen Atmungsrhythmus liegt
zugrunde dieses Beleben und Ablähmen eines inneren
Rhythmus, der sich gewissermaßen dualistisch in den
physischen Atmungsvorgang und in den seelischen
Gefühlsvorgang spaltet. Die Einheit dieses seelischen
Gefühlsvorganges und der physischen Atmungsrhythmen
erblicken wir als eine Inspiration, als eine Wesenheit, die in
Inspirationen objektiv lebt und durch Intuition durchschaut
werden kann. Kurz, wir lernen den ganzen Zusammenhang von
Gefühlswelt und rhythmischem Menschen auf diese Art
erkennen, lernen erkennen, daß hier nicht wie im
Nerven-Sinnessystem eine völlige Aufhebung des Materiellen
stattfindet, sondern eine Herablähmung des Materiellen.
Wir lernen also nach und nach den Menschen durchschauen. Und so
sehen wir hin auf das menschliche Gefühlsleben und sehen
in ihm dasjenige, was nur da sein kann dadurch, daß in
rhythmischen Vorgängen das Leben immer abgelähmt wird
und sich neu anfachen muß.
Auf
diese Art sehen wir ein zweites Wichtiges in der menschlichen
Wesenheit, indem wir den Zusammenklang von Belebung und
Ablähmung in solcher Art durchschauen. Wir sehen, was das
ganze rhythmische Wesen im Menschen für eine Bedeutung
hat, wie es im Menschen zusammenhängt mit seiner
leiblich-seelischen Gesamtwesenheit. Und indem wir dieses
zweite Element im Menschen überschauen, wird uns
allerdings klar, daß der Mensch in sich selber eine reale
Kraft trägt, welche in rhythmischem Wechselverhältnis
steht zu einer äußeren Kraft, die aber nun im
Übersinnlichen ist. Wir sehen gewissermaßen dieses
Hinundherschwingen einer inneren und einer äußeren
Kraft. Und in ähnlicher Weise können wir auch den
Menschen des Stoffwechsel-Gliedmaßensystems
überblicken. Indem wir uns zur Inspiration, zur Intuition,
zur Imagination erheben, sehen wir auf geistig-seelische Art
dasjenige, was im Menschen als reale Kräfte sonst
unbewußt wirkt. Unsere gewöhnliche
gegenständliche Erkenntnis gibt uns nur Formales; durch
sie sind wir gewissermaßen nur Zuschauer einer Welt.
Dasjenige aber, was wir uns erringen durch Imagination,
Intuition, Inspiration, haben wir zunächst als freies,
inneres seelisches Erzeugnis, aber wir beziehen es in einer
übersinnlichen Erkenntnis auf etwas, was objektiv in dem
Menschen ist, und können endlich durchschauen, wie der
menschliche Wille nun wirkt in der ethischen Handlung. Hat man
zuerst erkannt, daß das reine Denken ein Abbauen der
Materie ist, überhaupt mit den ertötenden, als
Rückentwickelung wirkenden Prozessen zusammenhängt,
so kommt man dazu, einzusehen, wie alles, was
seelisch-willenshaft auftritt, mit den Aufbauprozessen, mit den
Wachstumsprozessen zusammenhängt. Die Wachstums-, die
Aufbauprozesse, die Organisations- und Reproduktionsprozesse in
uns dämpfen unser gewöhnliches Bewußtsein
für die Tiefen der Menschenorganisation herunter, und der
Wille steigt aus solchen Tiefen des Menschenwesens herauf, bis
zu welchen das gewöhnliche Bewußtsein nicht
hinuntergelangt. So wie das Denken im Ertötenden lebt, so
lebt das Willenshafte im Wachsenden, im Gedeihenden, im
Fruchtenden.
Man
durchschaut dann wieder durch Intuition, wie aus dem
Stoffwechsel heraus durch den Willen, der aber jetzt seine
Motive im reinen Denken hat, der Stoff in der menschlichen
Organisation an die Stelle hingeschoben wird, wo abgebaut
werden soll. Das Denken als solches baut ab, der Wille baut
auf. Er baut allerdings so auf, daß zunächst in dem
Leben bis zum Tode hin das Aufbauen latent in der menschlichen
Organisation bleibt. Aber es ist ein Aufbauen da. Wir leben
also, indem wir es in unseren sittlichen Motiven im Sinne
meiner «Philosophie der Freiheit» zu wirklich freien,
sittlichen Intuitionen bringen, ein solches Menschenleben, das
aus seiner Organisation heraus willenshaft dorthin umgestaltete
Materie setzt, wo Materie vernichtet worden ist. Der Mensch
wird innerlich schöpferisch, innerlich aufbauend. Mit
andern Worten: Wir sehen innerhalb des Kosmos in der
menschlichen Organisation das Nichts erfüllt von
Neubildung in ganz materiellem Sinne. Das heißt nichts
anderes, als daß man, sofern man konsequent den Weg
anthroposophischer Erkenntnis verfolgt, dahin kommt, wo
innerhalb des Menschen rein sittliche Ideale weltbildend bis zu
der Materialität hin auftreten.
Damit haben wir gewissermaßen entdeckt, wo die moralische
Welt selber schöpferisch wird, wo etwas entsteht, was aus
der menschlichen Sittlichkeit heraus seine eigene Realität
verbürgt, weil sie sie in sich trägt, weil sie sie
selber schafft. Und lernen wir dann durch diese Intuition die
äußere Welt kennen, so stellt sich uns zunächst
das mineralische Reich dar als in einem Ertötungsprozesse,
in einem Vergehensprozesse begriffen, den wir in dem eigenen
Denken entsprechenden materiellen Prozesse gut kennengelernt
haben. Und wir lernen demgemäß auch erkennen, wie
dieser Vergehensprozeß in sich pflanzliches, tierisches
Leben mit hineinreißt. Wir blicken dann nicht auf den
Wärmetod, der innerhalb gewisser Grenzen Berechtigung hat,
aber etwas Einseitiges ist, sondern wir blicken auf das
Verschwinden der ganzen Welt, die von Mineralität
durchsetzt ist und die um uns herum ist. Diejenige Welt also,
die wir als eine kausalnotwendige erkennen, erblicken wir in
ihrer Vergänglichkeit, und die Welt, die wir aus den
reinen moralischen Idealen aufbauen, die erkennen wir als
diejenige, die nun ersteht auf dem Boden der ersterbenden
andern Welt. Mit andern Worten: Wir erkennen jetzt, wie die
moralische Weltordnung mit der physisch-kausalen Weltordnung
zusammenhängt. Wir haben in dem moralisch reinen Willen im
Menschenwesen etwas, das im Menschen und dadurch für die
ganze Welt die Kausalität selber besiegt. Wer ehrlich an
die kausale Naturerklärung denkt, der findet innerhalb
ihres eigenen Bereiches keine Stelle in der Welt, wo sie nicht
gilt. Und weil sie gilt, muß es eine Macht geben, die ihre
Gültigkeit vernichtet. Diese Macht ist die moralische
Welt. Die moralische Welt, aus der Gesamtnatur des Menschen
heraus erkannt, enthält in sich die Kraft, die
Naturkausalität selber zu durchbrechen, allerdings nicht
durch Wunderwirkungen, sondern durch einen
Entwickelungsverlauf. Denn dasjenige, was sich innerhalb des
einzelnen Menschen also vernichtend für die
Kausalität hinstellt, das gewinnt erst eine Bedeutung in
Zukunftswelten. Aber wir sehen die Realität des
menschlichen Willens, der seinen Bund eingeht mit dem reinen
Denken. Dadurch aber gewinnen wir — und das ist die
schönste Lebensfrucht anthroposophischer
Wissenschaftlichkeit — einen Einblick in den Menschenwert
innerhalb des Kosmos, dadurch auch gewinnen wir ein Gefühl
für Menschenwürde innerhalb des Kosmos.
Die
Dinge hängen in der Welt nicht nur so zusammen, wie wir
sie oftmals in unseren abstrakten Begriffen uns vorstellen,
nein, sie hängen als Realitäten zusammen, und eine
wichtige Realität ist die folgende: Gewiß, es kann
nicht jeder heute schon zur Imagination, zur Inspiration, zur
Intuition aufrücken. Dasjenige aber, was wir in alle diese
Erkenntnisstufen hinein auch als Geistesforscher mitnehmen, das
ist das Denken, das einen Gedanken aus dem andern mit innerer
Notwendigkeit entwickelt. Dieses Denken kann nun jeder Mensch,
der sich ihm unbefangen hingeben will, erleben. Und daher kommt
es, daß alle geisteswissenschaftlichen Resultate stets,
wenn sie gefunden sind, auch durch das reine Denken
nachgeprüft werden können, weil der Geistesforscher
dieses reine Denken in alle seine Vorstellungselemente mit
hineinnimmt.
Aber im Sinne der ganzen Darstellung, die ich gegeben habe,
gliedert sich an dasjenige, was man zunächst nur als ein
Bekenntnis anthroposophischer Geisteswissenschaft aufnimmt,
etwas ganz Besonderes in der Menschenseele. Die andern
Vorstellungen, die sich der Mensch bildet, sind von
äußeren Wahrnehmungen abgezogen oder sind an
äußeren Wahrnehmungen gebildet. Diese
äußeren Wahrnehmungen dienen diesem Vorstellungsleben
als Stütze. Und heute gibt es allerdings nach den Denk-
und Weltanschauungsgewohnheiten der neuesten Zeit viele
Menschen, die lassen es überhaupt nicht gelten, daß
an den Menschen etwas herantreten dürfe, das nicht in
dieser Beziehung seine Stütze an der äußeren
Wahrnehmung findet. Allein dann kommt man eben in
Lebensunmöglichkeiten hinein, wenn man nicht gelten lassen
will, daß der Mensch auch Wesenhartes verstehen kann, wenn
er sich nur seinem reinen, sich selbst organisierenden, aus
sich selbst konkret wachsenden Denken hingibt, und daß er
dann aufnehmen kann die Vorstellungen aus der
Geisteswissenschaft, die in Imagination, Inspiration und
Intuition errungen werden, von denen der steife Philister sagt:
Sie sind Phantastereien, denn sie stellen keine Wirklichkeit
dar. — Er ist zu bequem, um mit dem Denken hineinzugehen
in diejenige Wirklichkeit, die der Geistesforscher durch
Imagination, Inspiration und Intuition aufdeckt. Aber diese
Wirklichkeit hängt innig zusammen mit dem Menschenwesen.
Und mit dem Gefühl, mit der inneren Seelenverfassung, mit
denen wir uns zum Aufnehmen geisteswissenschaftlicher Begriffe
hindurchringen, die kein Korrelat in der äußeren
Sinneswelt haben, die wir frei im Geiste erleben müssen,
durchströmen wir unseren ganzen Menschen mit einem neuen
Wesen.
Das
wird gesehen werden können, wenn Geisteswissenschaft in
unser Kulturleben einzieht, daß, weil — wie ich
angedeutet habe — dasjenige, was durch Imagination,
Inspiration und Intuition geschaut wird, einem lebendigen Wesen
im Menschen selber entspricht, daß dadurch auch das
lebendige Menschenwesen durch diese Geisteswissenschaft direkt
ergriffen wird, daß der Mensch durch dieses Aufnehmen
selber eine innerliche Metamorphose und Verwandlung durchmachen
kann. Er wird innerlich reicher. Man kann es fühlen, wie
er reicher wird dadurch, daß er sich mit einem Elemente
durchdringt, das nicht entzündet werden kann an der
äußeren physischen Wirklichkeit. Mit diesem Elemente,
das dann den ganzen Menschen durchströmt, durchdrungen,
tritt man an seine Mitmenschen heran. Dadurch aber erwirbt man
sich eine Menschenerkenntnis, die man früher nicht gehabt
hat, und man erwirbt sich vor allen Dingen Menschenliebe. Was
in uns entzündet wird durch die ins Übersinnliche
zielenden Erkenntnisse anthroposophischer Geisteswissenschaft,
das ist Menschenliebe, die uns unterrichtet von Menschenwert,
die uns empfinden läßt die Menschenwürde.
Erkenntnis von Menschenwert, Erfühlen von
Menschenwürde, Wollen in Menschenliebe, das sind
schönste Lebensfrüchte, die sich im Menschen
heranerziehen durch das Erleben geisteswissenschaftlicher
Ergebnisse.
Damit aber wirkt diese Geisteswissenschaft auf den Willen so,
daß dieser zu dem sich hinaufschwingen kann, was ich in
meiner «Philosophie der Freiheit» als die moralischen
Intuitionen gekennzeichnet habe. Und es tritt das Gewaltige ins
Menschenleben herein, daß diese moralischen Ideale, diese
moralischen Intuitionen durchsetzt werden von dem, was sonst
die Liebe ist, daß wir frei handelnde Menschen werden
können aus der Liebe unserer Individualität heraus.
Damit aber nähert sich die Geisteswissenschaft einem
Ideal, das nun auch aus der Goethe-Zeit stammt; nur sprach es
am deutlichsten Goethes Freund Schiller aus. Als
Schiller sich einlebte in die Kantische Philosophie, nahm er
vieles von Kant auf in bezug auf das
Theoretisch-Philosophische. In bezug auf Kants Moralphilosophie
konnte er mit Kant nicht mitgehen. In dieser Kantischen
Moralphilosophie fand Schiller einen starren Pflichtbegriff,
der von Kant so vorgestellt wird, daß er dasteht
wie eine Naturmacht selber, wie etwas, was zwingend wirkt auf
den Menschen. Schiller fühlte Menschenwert und
Menschenwürde und wollte nicht gelten lassen, daß der
Mensch, um sittlich zu sein, einem geistigen Zwang unterliegen
müsse. Schiller sprach ja die schönen Worte aus:
«Gerne dien' ich den Freunden, doch tu' ich es leider mit
Neigung, und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft
bin.» Denn im kantischen Sinne, meint Schiller, müsse
man eigentlich zunächst versuchen, alle Neigung zum
Freunde zu unterdrücken und dann dasjenige, was man
für ihn tut, aus dem starren Pflichtbegriff heraus
tun.
Daß des Menschen Verhalten zur Sittlichkeit ein anderes
sein müsse als dieses kantische, das stellte Schiller,
soweit es in seiner Zeit dargestellt werden konnte, in seinen
Briefen «Über die ästhetische Erziehung des
Menschen» dar, wo er zeigen wollte, wie die Pflicht sich
heruntersenken müsse, so daß sie Neigung wird, wie
die Neigung heraufsteigen müsse, so daß einem
dasjenige sympathisch wird, was der Inhalt der Pflicht ist.
Pflicht müsse heruntersteigen, Naturinstinkt müsse
heraufsteigen im freien Menschen, der aus seiner Neigung heraus
das tut, was der Gesamtmenschheit frommt. Und indem man
aufsucht, wo im Menschenwesen die moralischen Intuitionen
wurzeln, indem man aufsucht, welches das eigentlich treibende,
sittliche Motiv in den moralischen Intuitionen ist, entdeckt
man die aufs höchste ins Geistige hinauf geläuterte
Liebe. Da, wo diese Liebe geistig wird, da saugt sie in sich
die moralischen Intuitionen auf; und man ist ein moralischer
Mensch, weil man die Pflicht liebt, weil sie etwas ist,
was als ein unmittelbar Kraftendes aus der menschlichen
Individualität selbst herauskommt.
Das
war es, was mich bewogen hat, in der «Philosophie der
Freiheit» eine entschiedene Antithese gegenüber der
Kantischen Moralauffassung nun auch aus der Anthroposophie
heraus aufzustellen. Die Kantische These lautet ja:
«Pflicht! Du erhabener, großer Name, der du nichts
Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir
fassest, sondern Unterwerfung verlangst ...», der du
«ein Gesetz aufstellst ..., vor dem alle Neigungen
verstummen, wenn sie gleich ihm entgegenwirken.»
Durch einen solchen Pflichtbegriff kann der Mensch niemals
hinaufvergeistigt werden, so daß er in seinem innersten
Wesen der freie Urheber seiner moralischen Handlungen ist. Aus
diesen Versuchen heraus, durch wirkliche anthroposophische
Menschenerkenntnis zum Durchschauen des Menschenwesens zu
kommen, setzte ich in der «Philosophie der Freiheit»
diesem starren Begriffe im Kantianismus dasjenige entgegen, was
Sie in der «Philosophie der Freiheit» finden:
«Freiheit! du freundlicher, menschlicher Name, der du
alles sittlich Beliebte, was mein Menschentum am meisten
würdigt, in dir fassest, und mich zu niemandes Diener
machst, der du nicht bloß ein Gesetz aufstellst, sondern
abwartest, was meine sittliche Liebe selbst als Gesetz erkennen
wird, weil sie jedem nur auferzwungenen Gesetze gegenüber
sich unfrei fühlt.»
So
glaubte ich in der «Philosophie der Freiheit»
sprechen zu müssen davon, wie das Moralische
menschenwürdig erscheint in vollstem Maße, wenn es
mit der Freiheit des Menschen eins ist und wenn es wurzelt in
wirklicher Menschenliebe. Durch Anthroposophie aber kann
gezeigt werden, wie diese Liebe zur Pflicht im weiteren Sinne
zur Menschenliebe wird und damit zu demjenigen, was wir weiter
betrachten wollen, zu dem eigentlichen Fermente des sozialen
Lebens. Was heute sich als gewaltige, brennende soziale Frage
vor uns hinstellt, durchschaut werden kann es nur, wenn man
sich zu erkennen bemüht den Zusammenhang von: Freiheit,
Liebe, Menschenwesen, Geist und Naturnotwendigkeit.
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