DAS SOZIALE
WOLLEN
ALS GRUNDLAGE
EINER NEUEN
WISSENSCHAFTSORDNUNG
Vortrag vor der
Zürcher Studentenschaft, SSV
Zürich, 25.
Februar 1919
Als Thema für den
heutigen Abend ist gewünscht worden «Das soziale
Wollen als Grundlage einer neuen Wissenschaftsordnung».
Ich weiß nicht, aus welchen Motiven heraus gerade dieses
Thema gestellt worden ist, aber als seine Forderung zu mir
gelangte, fand ich es außerordentlich glücklich, denn
es schlägt in der Tat denjenigen Ton an, der mir
notwendig dünkt gerade gegenüber den Tatsachen,
welche die soziale Bewegung in die Gegenwart
hereingetragen hat, und die ja wahrhaftig eine viel deutlichere
Sprache sprechen als alles dasjenige, was vorbereitend
diskutiert, verhandelt worden ist über die soziale Frage
im Laufe der letzten Jahrzehnte.
Man kann durch lange
Zeiten verfolgen diese Entwickelung der sozialen Bewegung in
der neueren Zeit, der Gegenwart, und man konnte gerade
gegenüber dem sozialen Wollen, das sich immer mehr und
mehr nach der einen oder nach der anderen Seite in diesen
sozialen oder anderen Wollungen aussprach, bemerken, daß
sich etwas hereingeflüchtet, hereingeschlichen hat
in dieses soziale Wollen, in die soziale Gesinnung der neueren
Zeit, das einem erscheinen kann wie eine Umhüllung
eines auf einem ganz anderen Gebiete herrschenden
Aberglaubens älterer mittelalterlicher Zeiten, eines
Aberglaubens, der einem wiederum vor Augen tritt, wenn
man sich vertieft in den zweiten Teil von
Goethes «Faust» und dort auf die Szene stößt,
wo Goethe seinen Wagner den Homunkulus bereiten läßt,
das Menschlein, das auf dem Wege sein möchte, aus einem
Homunkulus ein Mensch zu werden. Es beruht der Aberglaube des
Mittelalters auch nach der Meinung Goethes darauf, daß man
damals aus dem, was nur der theoretische, nur die
äußeren Tatsachen nüchtern und trocken
zusammenstellende, zusammenfassende menschliche Verstand, der
Wesenhaftes ausdenken kann, daß man nach diesem
Ausgedachten etwas wirklich Lebendiges formen wollte.
Die Unmöglichkeit, aus den Abstraktionen, die
abgezogen sind vom äußeren Leben, etwas
Lebendiges selbst zu formen, die trat Goethe ganz
besonders vor Augen. Dieses Mittelalter aber beherrscht
ja nicht gerade das heutige Denken selbst, aber es scheint mir
in all den Impulsen, in den Instinkten unserer Zeitgenossen,
vieler unserer Zeitgenossen, die sich soziales Wollen
zusprechen möchten, eine Metamorphose, möchte ich
sagen, manchen Aberglaubens zu herrschen. Man beobachtet die
Entwickelung des sozialen Lebens, wie es sich im Laufe der
Menschheitsgeschichte bis in die Gegenwart herein ergeben
hat, man denkt sich aus gewisse Prinzipien, gewisse
Grundsätze, nach denen verfahren werden soll, oder, wie
man auf manchen Seiten hört, die sich selber verwirklichen
wollen, und dann meint man dadurch, mit abstrakten Prinzipien,
nach denen der Homunkulus geformt werden sollte, auch das
formen zu können, was man den sozialen Organismus nennen
kann.
Nach diesem sozialen
Organismus nämlich strebt eigentlich, ich darf sagen, das
Unbewußte der modernen Menschheit hin. Man braucht sich
nur das Folgende klarzumachen, um das zu verstehen. Das soziale
Leben der Menschheit ist ja selbstverständlich als solches
nichts Neues, es tritt nur in einer anderen Erscheinung in der
neueren Zeit auf. Die soziale Struktur des gesellschaftlichen
Organismus wurde bis eigentlich in die neuere Zeit herauf aus
menschlichen Instinkten, aus dem Unterbewußten der
menschlichen Impulse heraus bestimmt. Und das ist das
Bedeutsame in den heraufkommenden Kräften der
neueren Zeit, daß die Menschheit nicht mehr stehenbleiben
kann bei einem bloß instinktiven Wollen, daß sie
einfach, durch die Natur der Entwickelung
herausgefordert, zu einem bewußten Wollen gerade mit
Bezug auf die Gestaltung der sozialen Struktur sich
ausrüsten muß. Will man sich aber mit einem
bewußten Wollen ausrüsten, so braucht man diesem
Wollen zugrundeliegende, wirklichkeitstragende Gedanken,
nicht bloß Gedanken, die ganz aus der Wirklichkeit
abstrahiert sind, sondern Gedanken, die das eigene Wollen
verwandt machen mit den Kräften, die im
Naturgeschehen, die im Weltenwalten selber drinnen sind.
Man muß gewissermaßen mit seinem eigenen Wollen
verwandt werden mit den Schöpferkräften des
natürlichen Daseins.
Das ist etwas, was
aber weite Kreise der Menschheit erst noch lernen müssen.
Sie müssen daran denken lernen, daß man eigentlich so
gar nicht verfahren kann, daß man sich denkt: Was soll
geschehen, um aus einer sozialen Struktur, die aus einem von
vielen als unerträglich empfundenen Leben heraus
kommen soll, eine mögliche soziale Struktur hinzustellen.
Man kann gar nicht so verfahren. Man kann nichts
ausdenken, was gewissermaßen die sozialen
Krankheiten sind. Man kann nur seine besten Bestrebungen darauf
richten, aus dem Menschen selbst zu finden, wie die in der
Gesellschaft zusammenlebenden Menschen ihre gegenseitigen
Verhältnisse in gegenseitige Harmonien bringen
müssen, um in diesem Wechselleben das zu entfalten, was
notwendig ist, um die soziale Struktur
herbeizuführen.
Da hat sich mir, wie
ich glaube, aus langjährigen Studien der sozialen Frage
ergeben, daß man diese Grundfrage, die man gerade durch
das abstrakte Denken heute als eine einheitliche
betrachtet, daß man diese soziale Frage in drei Gliedern
sehen muß, dreigliederig sehen muß, und zwar sehen
muß erstens als eine Geistesfrage, zweitens als eine
Rechtsfrage und drittens als eine Wirtschaftsfrage.
Dasjenige, was im modernen kapitalistischen
Wirtschaftsleben heraufgekommen ist, heraufgekommen ist
auf Grundlage des Technischen, das sich ausgebildet hat in der
neueren Zeit, das hat, wie hypnotisiert, den menschlichen Blick
einzig und allein auf dieses Wirtschaftsleben hingelenkt,
hat die Aufmerksamkeit ganz davon abgezogen, daß die
soziale Frage neben einer Wirtschaftsfrage vor allen
Dingen auch eine Geistesfrage ist und eine
Rechtsfrage.
Ich werde mir
erlauben, zuerst die Geistesfrage zu behandeln, nicht aus dem
Grunde, weil vielleicht, wie einige glauben, die Betrachtung
des geistigen Lebens mir subjektiv besonders nahe liegt,
sondern weil ich allerdings der Meinung bin, daß, wenn
auch gerade proletarisch denkende Menschen der heutigen
Zeit es ablehnen, im Geistigen etwas zu sehen, was zur
Lösung der sozialen Frage etwas beitragen kann, gerade
für den wirklichkeitsgemäßen Betrachter dieser
sozialen Frage sich das Geistige an erste Stelle stellen
muß. Da muß man, um das einzusehen, die Seele des von
der modernen sozialen Bewegung berührten Menschen in
ihrer wahren Gestalt betrachten. Man muß versuchen zu
erkennen, was eigentlich gerade in den sozialistisch
orientierten Kreisen an Willensimpulsen lebt. Man muß vor
allen Dingen ergründen, woher diese Willensimpulse
gekommen sind.
Sehen Sie, als mit
Technik und Kapitalismus das neuere Menschheitsleben
heraufzog, da gliederte sich immer mehr und mehr der
herrschende Teil der Menschheit, die sogenannte
herrschende Klasse, von dem ab, was sich in den verschiedensten
Gebieten als das Proletariertum herausbildete. Zwischen dem
proletarischen Wollen und dem nichtproletarischen Leben
herrscht ja heute, das wird der Einsichtige nicht
leugnen, eine Kluft, die kaum zu überbrücken
ist, wenn man nicht wenigstens den Versuch macht, nicht
nur mit den alten Gedanken und alten Willensimpulsen in der
sozialen Bewegung tätig zu sein, sondern mit neuen
Gedanken und Willensimpulsen. Es hat sich ja im Laufe der Zeit
immer mehr und mehr herausgebildet innerhalb des
Proletariertums selbst der Glaube — und man kann, so wie
die Verhältnisse liegen, diesen Glauben durchaus nicht als
einen irgendwie unbegründeten ansehen — , es hat sich
der Glaube herausgebildet, daß die sozial benachteiligte
Klasse von den sozial bis jetzt herrschenden Klassen nichts zu
hoffen habe, wenn sie auf deren guten Willen, deren Ideen und
so weiter bauen. Es hat sich, wenn ich so sagen darf, ein
tiefes Mißtrauen eingeschlichen zwischen den einzelnen
Menschenklassen. Und dieses Mißtrauen hat sich ergeben aus
Untergründen, die bisher gar nicht in das Bewußtsein
der Menschheit recht hinaufspielen, die im Unterbewußten
noch immer vorhanden sind. Es hat sich daraus ergeben, daß
die arbeitende Klasse dem Bürgertum, namentlich im Anfange
der neueren Zeit, ein letztes großes Vertrauen
entgegengebracht hat, und daß sie, nicht in ihrer
Überzeugung, aber in ihrem Gefühl von diesem letzten
großen Vertrauen getäuscht worden ist. Sehen
Sie, man redet heute von proletarischer Weltanschauung.
Viele, auch führende Persönlichkeiten, die
glauben das proletarische Wollen in ihrem Denken zum
Ausdruck zu bringen, die wissen eigentlich nicht, welches
der Ursprung ihres ganzen Denkens und Wollens ist. Was an
Forderungen, die aus dem Leben selbst kommen, heute in der
sozialen Bewegung lebt, das steht eigentlich in einem
merkwürdigen Kontraste mit dem, was über diese
Forderung, über diese sozialen Lebensimpulse sogar vom
Proletariat selbst gedacht wird.
Wenn ich kurz
ausdrücken soll, was ich auf diesem Gebiete meine, so
muß ich sagen: Es ist proletarische, es ist soziale Kultur
also entstanden; aber innerhalb des proletarischen
Fühlens, innerhalb der sozialen Kultur und des Lebens
herrscht ein Erbgut gerade aus denjenigen Anschauungen
und Lebensauffassungen heraus, die sich in dem entscheidenden
Augenblicke ihrer geschichtlichen Entwickelung gerade im
Bürgertum ergeben haben.
Diesen entscheidenden
Augenblick der neueren geschichtlichen
Entwickelung
muß der
Betrachter dieser Entwickelung doch darinnen sehen, daß
sich die neuere wissenschaftliche Denkungsweise entwickelt hat
— ich bitte zu beachten, daß ich nicht sage: die
Naturwissenschaft, sondern die neuere naturwissenschaftliche
Denkungsweise — in einer solchen Art aus alten geistigen
Impulsen heraus, daß diese Wissenschaftliche
Denkungsart nicht dieselbe Stoßkraft, dieselbe geistige
Stoßkraft mitbekommen hat, welche die alten
Weltanschauungen hatten.
Die alten
Weltanschauungen wurzelten in breiteren menschlichen Impulsen
als die moderne wissenschaftliche Denkungsweise. Diese alten
Weltanschauungen waren imstande, Impulse in die menschliche
Seele hineinzusenden, durch die der Mensch empfindungs- und
gefühlsmäßig sich die ihn immer so
berührende Frage beantworten konnte: Was bin ich
eigentlich als Mensch in der Welt? — Solche
Stoßkraft in das Seelenleben hinein ist der neueren
wissenschaftlichen Denkungsweise nicht gegeben.
Selbstverständlich, aus einer geschichtlichen
Notwendigkeit heraus, die aber deshalb nicht minder ein
geschichtliches Verhängnis ist, haben sich die alten
Weltanschauungen im entscheidenden Augenblick feindlich
gestellt der neueren wissenschaftlichen Denkungsweise
gegenüber, statt in sie hineinfließen zu lassen in
voller Freundschaft mit ihr, was sie für das geistige
Leben des Menschen für seine Seele Tragendes hatte. Und so
kam folgender Tatbestand.
Die Maschine, die
kapitalistische Wirtschaftsordnung, riß eine Anzahl
von Menschen aus dem bisherigen Lebenszusammenhang heraus, aus
diesem Lebenszusammenhang, in dem diese Menschen bisher
gestanden hatten, aus ganz anderen
Lebensverhältnissen für ihr
Menschheitsempfinden, für die Empfindung ihrer
Menschenwürde. Es war ein Zusammenhang zwischen dem, was
der Mensch ist und tut. Denken Sie nur einmal an den
Zusammenhang, der im alten Handwerk bis zum 13. Jahrhundert
ganz deutlich bestand und später auch noch in Resten
bestand! Aus diesem Zusammenhange heraus ist eine große
Gruppe von Menschen an die Maschine geworfen, in die moderne
Wirtschaftsordnung hineingeworfen. Da gibt es kein
irgendwie geartetes Verhältnis zu den
Produktionsmitteln; da gibt es keine Möglichkeit,
irgendeine Wirkung herzustellen zwischen dem Menschen und dem,
was er eigentlich tut. Und so ist gerade jene Seite im
Menschen, die der moderne Proletarier im
Maschinenzeitalter nicht entwickelt, darauf angewiesen, zu
fragen: Was bin ich als Mensch wert? Was bin ich als Mensch
wert?
Diese Frage ist nicht
mehr aus überkommenen, wertlos gewordenen
Lebenszusammenhängen heraus zu beantworten, sondern sie
ist aus dem eigenen Inneren heraus zu holen, aus demjenigen,
was unabhängig ist von den äußeren
Lebenszusammenhängen. Und da ergab sich nichts anderes
für diese Menschenklasse, als dasjenige, was mit dem
Maschinenzeitalter, mit der Wirtschaftsordnung in
welthistorischer Gleichzeitigkeit heraufkam: es ergab
sich die moderne wissenschaftliche
Denkungsweise.
Die alten Klassen
waren nicht genötigt, diese wissenschaftliche
Denkungsweise zu ihrem Glauben, zu ihrer Lebensauffassung zu
machen; sie brauchten sie bloß zu ihrer theoretischen
Überzeugung zu machen. Denn dasjenige, was sie ins Leben
hineinstellte, das war etwas Überliefertes, das
waren Impulse, die aus anderen Zeiten herrührten und die
sie erbten aus älteren Zeiten. Der Proletarier allein war
es, der aus allem herausgerissen war, der daher auch
nicht sich bekennen konnte zu irgendwelcher
Lebensauffassung, die mit den alten Lebenszusammenhängen
verbunden war, und der gerade durch sein ganzes
äußerliches Dasein prädestiniert war, das Neue,
das heraufkam, zu seinem Seeleninhalt zu machen. So ist er, so
paradox es klingt, so unglaublich es für viele
ausschaut, so ist er gerade, dieser Proletarier, der
eigentliche, bloß wissenschaftlich orientierte
Mensch.
Um die ganze Tragweite
dieser Tatsache zu würdigen, muß man nicht nur
gelernt haben über die Proletarierbewegung zu denken, man
muß durch sein Schicksal in die Möglichkeit versetzt
gewesen sein, mit dem Proletarier zu denken, namentlich mit
solchen Menschen aus der Proletarierklasse zu denken, die
von der oder jener Seite her gerade zu Trägern
wurden der proletarischen Bewegung. Da konnte man das
Folgende ganz deutlich fühlen, wie es sich heute aus
älteren Zeiten gerade ausbreitet in die unmittelbare
soziale Gegenwart.
Nicht wahr, Sie
können sagen: Ja, die wissenschaftliche Denkungsweise
haben doch bürgerliche Kreise in ausgiebigem Maße
angenommen. — Aber nehmen Sie selbst intelligente
bürgerliche Kreise, denken Sie an solche Menschen, die
ganz und gar in ihrem Denken, in ihren Überzeugungen
wissenschaftlich orientiert sind: mit ihrem Fühlen, mit
ihrer ganzen Lebensempfindung stehen sie doch in
Zusammenhängen drinnen, die nicht ganz und gar bestimmt
sind durch die Wissenschaftliche
Orientierung. Man kann materialistischer Denker der modernen
Zeit sein, kann sich aufgeklärt nennen, kann
Atheistsein,
kann das
wirklieh als seine ehrliche Überzeugung bekennen,
aber man braucht durchaus nicht sich loszusagen von allen
empfindungsgemäßen Resten der alten
Lebenszusammenhänge, die doch nicht aus
dieser Wissenschaftlichen
Orientierung heraus entstanden sind, sondern die entstanden
sind in Zeiten, in denen noch geistige Impulse die vorhin
skizzierte Stoßkraft hatten.
Ganz anders wirkte die
rein wissenschaftliche Orientierung. Ich sage nicht, die
Wissenschaften, denn selbstverständlich wirkte diese
wissenschaftliche Orientierung auf ganz ungelehrte
Proletarier, ungebildete Proletarier; aber ganz anders wirkte
sie eben da, wo sie als Lebensanschauung über das
Proletariat hingetragen worden ist.
Ich möchte Ihnen
das an einem Beispiel klarmachen. Ich stand vor vielen
Jahren gemeinsam an einem Vortragstisch mit der ja jetzt in so
tragischer Weise untergegangenen
Rosa
Luxemburg; sie sprach über das Thema: «Die Wissenschaft und
die Arbeiter.» Ich muß immer wieder und wiederum
denken, wie sie zündend für eine große
Versammlung darauf hinwies, daß eigentlich alle
Vorurteile, die mit Bezug auf menschliehe soziale
Stellung, menschliche Rangordnung in den alten herrsehenden
Klassen sind, zusammenhängen mit den Vorstellungen, die
alte geistige Weltanschauungen in sich getragen haben. Dem
modernen Proletarier, meinte sie, komme es einzig und allein
zu, darauf zu hören, wie der Mensch nicht einen
engelhaften, göttlichen Ursprung genommen hat, sondern wie
er einstmals ganz unanständig auf Bäumen
herumgeklettert sein soll, aus tierischen
Untergründen herauf sich entwickelt hat, aus
Untergründen, die wahrhaftig, wenn sie in ihrer
Entwickelung verfolgt werden, die Überzeugung
begründen müssen: Mensch ist gleich Mensch. Und alle
früheren Rangunterschiede rühren von
irgendwelchen Vorurteilen her. — Man muß da
nicht auf die Formulierung sehen, sondern auf die
Stoßkraft muß man sehen, wie solche Worte auf die
proletarisch gesinnten Seelen wirken.
Hinsehen rein auf den
Begriff, habe ich eigentlich gemeint, wenn ich sage: Der
Proletarier ist in der neueren Zeit in seiner ganzen
Weltanschauung «wissenschaftlich» orientiert.
Und diese wissenschaftliche Orientierung füllte seine
Seele nicht so aus, daß er in der
wünschenswerten Weise empfindungsgemäß,
wie er es brauchte, die Frage beantworten konnte: Was bin
ich eigentlich in der Welt als Mensch?
Und woher hat der
Proletarier diese Weltanschauung bekommen? Woher rührte
diese wissenschaftliche Orientierung, die er manchmal
in ganz unrichtiger
Weise aufzunehmen hat? Sie ist doch eine
Wissenschaft. Die hat er genommen aus dem alten Erbgut der
bürgerlichen Menschenklasse. Sie ist entstanden aus alter
Weltanschauung heraus innerhalb der bürgerlichen
Menschenklasse beim Übergange in das neuere Maschinen- und
kapitalistische Zeitalter, als da Maschine und
Kapitalismus die Menschen überwältigt
hat.
Das nächste, was
man so oftmals mit der entsprechenden Färbung
betonen hört, ist: Innerhalb des Proletariats ist
das menschliche Geistesleben zu dem geworden, was als Ideologie
empfunden wird. Das hören Sie am alleröftersten, wenn
die Untergründe der proletarischen Weltanschauung
auseinandergesetzt werden: daß Kunst, Religion,
Wissenschaft, Sitte, Recht und so weiter ideologische
Spiegelbilder der äußeren materiellen Wirklichkeit
sind.
Aber diese Empfindung,
daß das alles so ist, daß das geistige Leben ein
ideologisches ist, die ist nicht entstanden innerhalb des
Proletariats, die hat der Proletarier empfangen als Mitgift vom
Bürgertum. Und das letzte Vertrauen, das letzte große
Vertrauen, das das Proletariat entgegengebracht hat dem
Bürgertum, das bestand darinnen, daß es Nahrung
übernommen hat, geistige Nahrung für seine Seele. Es
konnte ja, da es entblößt war des Geisteslebens, als
es gerufen wurde aus älterem Zusammenhang zur
Maschine und hineingestellt wurde in die soziale Struktur, es
konnte nur hinaufschauen zu dem, was sich entwickelt hatte als
Wissen über den Menschen, über die Welt; es
konnte nur hinaufschauen zu dem, was sich aus dem
Bürgertum ergeben hat: es übernahm gläubig,
dogmatisch, möchte ich sagen, es übernahm Ideologie
von dem Bürgertum. In die Überzeugung ist es
noch nicht hineingegangen, aber in die Empfindung als die
Enttäuschung, die das bieten muß, wenn man das
Geistige nicht ansehen kann als etwas, was eine in sich selbst
begründete höhere Wirklichkeit enthält, sondern
wenn man es ansehen muß nur als Ideologie. In den
unterbewußten Empfindungen lebt es bei einer
großen Anzahl der Träger der sozialen Bewegung,
wird noch nicht gewußt, wird aber deutlich empfunden: Wir
haben ein großes Vertrauen entgegengebracht dem
Bürgertum; wir haben ein Erbgut angetreten, das uns
Seelenheil, das uns tragende Kräfte hätte bringen
sollen. Das Bürgertum hat sie uns nicht gebracht; nur die
Ideologie hat es uns gebracht, die keine Wirklichkeit
enthält, die nicht das Leben tragen
kann.
Man kann viel
streiten, ob Ideologie wirklich das ist, was der
Grundcharakter des Geisteslebens ist, oder nicht. Darauf
kommt es nicht an, sondern darauf kommt es an, daß dieses
Geistesleben heute von einem großen Teile der Menschheit
als Ideologie empfunden wird, und daß, wenn man das Leben
als Ideologie empfindet, die Seele verödet wird, leer
bleibt, die geistige Schwungkraft gelähmt wird, und das
entsteht, was heute entstanden ist: Die Entblößung
des sozialen Wollens von dem Glauben, daß irgendwo etwas
Geistiges sich entwickeln könnte, irgendwo ein Mittelpunkt
auftreten könnte, ein wirklicher Mittelpunkt, aus dem
unserer Weltanschauung oder dergleichen das Heil kommen
könnte, auch mit Bezug auf die wünschenswerte
Gestaltung der sozialen Bewegung. Ich möchte sagen, als
ein Negatives ist das Geistesleben hineingetragen in die
Entwickelung der modernen proletarischen Menschheit vor
allen Dingen; und ein Positives fordern die Sehnsüchte
dieser Menschheit. Ein Seelentragendes fordern sie, und ein die
Seele Verzehrendes ist ihnen als Erbgut gegeben
worden.
Das ist etwas, was so
weht und still rinnt durch unsere ganze gegenwärtige
soziale Bewegung, was man nicht mit Begriffen erfaßt, was
aber die Gestaltung des einen der Glieder — wir werden
drei kennenlernen — der sozialen Bewegung, der
gegenwärtigen sozialen Bewegung ausmacht. Und sobald man
einsieht, daß dies so ist, dann frägt man sich auch
sachgemäß: Woher ist es gekommen und wie kann ihm
abgeholfen werden? Statt daß das Wollen weiterhin
gelähmt ist, dieses soziale Wollen, wie kann es
befeuert werden, wie kann es durchkraftet werden? Diese Frage
muß man sich vorlegen.
Nun trat ein Ereignis
ein, als das moderne Geistesleben an den entscheidenden
Punkt kam, den ich schon angedeutet habe. Die
herrschenden Klassen von damals, die waren durch ihre
ganzen Lebensverhältnisse mit dem verbunden, was wir
heute Staat nennen. Es ist von einzelnen Menschen oftmals
betont worden — ich kann das alles heute der Kürze
der Zeit wegen nicht anführen, inwiefern es richtig ist es
ist oft betont worden, daß der moderne Mensch glaube, das,
was er heute Staat nennt, hätte eigentlich so immer
bestanden. Das ist aber durchaus nicht richtig. Das, was wir
heute Staat nennen, was zum Beispiel im Hegeltum geradezu wie
der Ausdruck des Göttlichen selbst erscheint, das ist im
Grunde nur ein Produkt des Denkens der letzten vier bis
fünf Jahrhunderte. Die sozialen Organismen
früherer Zeiten waren ganz anders.
Nehmen Sie nur eine
einzige Tatsache, nehmen Sie die jüngst noch aufgetretene
Tatsache, daß sich aus den freien Lehranstalten, freien
höheren Lehranstalten früherer Zeiten, die ganz auf
sich selbst gebaut waren gegenüber dem Staate, lauter
Staatsanstalten herausgebildet haben, daß
gewissermaßen der Staat zum Verwahrer des Geistesgutes der
Menschheit geworden ist. Daß er das geworden ist, das ist
ein bürgerliches Interesse im Beginne der neueren
Zeit. Der Staat war es, der dem Bürger an die Seele
heranwuchs, dem er mit all seinen Bedürfnissen verbunden
war. Und aus diesem Impuls heraus erwuchs das Verhältnis,
das neuere Verhältnis zwischen dem Geistesgut der
Menschheit und zwischen dem Staate, erwuchs das, daß
dieser Staat Verwahrer dieses Geistesgutes der Menschheit
wurde, und daß er verlangte von denjenigen, die zu
diesem Verwahrer kommen sollten, daß sie ihr Leben
für ihn eigentlich einrichteten.
Wenn man etwas tiefer
hineinblickt in das innere Gefüge des menschlichen
Geistesgutes, dann kommt man darauf, daß nicht etwa
bloß die äußere Verwaltung dieses Geistesgutes,
die Gesetzgebung über Universitäten staatlich
geworden ist, über Schulen, Volksschulen staatlich
geworden ist, sondern staatlich ist auch der Inhalt
dieses Geistesgutes geworden.
Gewiß, die
Mathematik trägt nicht einen staatlichen Charakter; aber
andere Zweige unseres Geistesgutes haben ihr Gepräge,
haben das Zusammenwachsen dieses Geistesgutes mit
staatlichen Interessen in der neueren Zeit erhalten. Und dieses
Zusammenwachsen ist nicht ohne Anteil an dem Werden zur
Ideologie von Seiten des Geistesgutes. Dieses Geistesgut kann
nur seine eigene innere Wirklichkeit recht bewahren, in sich
tragen, wenn es sich selbst, unter seine eigenen Kräfte
gestellt, verwalten kann, wenn es aus seiner
unmittelbaren Initiative heraus dem Staat gibt, was des Staates
ist, wenn es aber vom Staate nicht die Forderungen zu
empfangen hat.
Gewiß, es wird
heute noch viele geben, die in dem, was ich eben
ausgesprochen habe, keine fundamentale soziale Tatsache
sehen. Man wird aber sehen, daß erst dann wiederum der in
der Wirklichkeit waltende Geist der Menschheit das Rechte geben
kann, wenn dieser Geist von der äußeren staatlichen
Organisation getrennt, auf sich selbst gestellt ist. Ich
weiß, was man für Einwände dagegen machen kann,
aber darauf kommt es nicht an; sondern allein darauf kommt es
an, daß der Geist, um recht gedeihen zu können,
fordert, daß er immerfort hervorgehen kann aus der
unmittelbaren freien Initiative der menschlichen
Persönlichkeit.
So kommt man auf die
wahre Gestalt des einen Gliedes der modernen sozialen Frage
heran, daß man das geistige Leben recht betrachtet und die
Notwendigkeit einsieht, daß dasjenige, was in die Struktur
des Staates hineinstößt, allmählich aus
diesem Staat wiederum herausgebracht wird, so daß es seine
eigene innere Tragkraft entfalten kann und dann wiederum
zurückwirken kann, gerade weil es befreit ist, weil es
sich selbständig neben den anderen Gliedern der sozialen
Struktur entwikkelt, und gerade dadurch richtig auf diese
soziale Struktur wirken kann. Soll man über das Praktische
in diesem ersten Gliede der sozialen Fragen reden, so muß
man sagen: Die Tendenz der Entwickelung muß auf
Entstaatlichung des geistigen Lebens im weitesten Umfange
gehen. Und sogar ein Glied dieses geistigen Lebens muß
entstaatlicht werden, demgegenüber es heute
wahrscheinlich höchst paradox erscheint, daß man so
über dasselbe reden kann: das Verhältnis, in das eine
richtende Persönlichkeit eintritt zu den Menschen,
die mit dem Strafgesetz oder irgendwie mit dem Privatrecht zu
tun haben, das ist ein so menschliches — man hat in
gewissen psychologisch orientierten Kreisen heute das auch
eingesehen, aber die Sache von einer ganz verkehrten Seite
angefaßt ein so persönliches, daß das Richten
unmittelbar auch zu demjenigen gehört, was zum
Internen des Geisteslebens gerechnet werden muß. So
daß ich sowohl dasjenige, was als religiöse
Überzeugung in der Menschheit geltend ist, alles
künstlerische Leben, aber auch alles auf Privatrecht und
Strafrecht Bezügliche zu dem rechnen muß, bei dem die
Tendenz sich zu entwickeln hat nach
Entstaatlichung.
Warum sollte
derjenige, der von radikalen Maßregeln hört, gleich
an eine gewaltsame Revolution denken? Auch in sozialistischen
Kreisen der neueren Zeit denkt man ja allmählich nicht
daran. Ich denke mir auch nicht, daß von heute auf morgen
alles entstaatlicht werden kann; aber ich denke mir, daß
in das soziale Wollen der Menschheit das eingehen kann,
daß die einzelnen Maßnahmen, die zu treffen sind
gegenüber dem oder jenem — und daß muß ja
selbst täglich da oder dort geschehen hinorientiert werden
nach einem solchen allmählichen Loslösen des
geistigen Lebens vom Staatlichen. Sie werden ganz konkret sich
vorstellen können, was damit eigentlich gemeint
ist.
Den Staat müssen
wir als etwas betrachten, was dem in der neueren Zeit immer
mehr und mehr sich zur herrschenden Klasse ausbildenden
Bürgertum besonders an die Seele gewachsen ist. Dieses
Bürgertum hat nun in diesen Staat hineingetragen nicht nur
das geistige Leben, sondern auch dasjenige, was sozusagen
innerhalb der neueren menschheitlichen Entwickelung wie
überwältigt hat den ganzen sozialen Organismus:
nämlich das wirtschaftliche Leben. Dieses wirtschaftliche
Leben hineintragen in das Staatsleben hat damit begonnen,
daß man gerade Verkehrsinteressen, Post, Eisenbahn
und so weiter verstaatlicht hat. Daraus ist ein gewisser
Aberglaube gegenüber dem Staat, gegenüber
derStaatlich
orientierten menschlichen Gemeinschaft entstanden. Und der
letzte Rest dieses Glaubens ist der Glaube der sozialistisch
orientierten Menschen: daß eigentlich das Heil nur zu
sehen ist in der gemeinsamen Verwaltung des gesamten
Wirtschaftslebens. Auch das ist also als ein Erbgut
übernommen worden von der bürgerlichen Denk- und
Anschauungsweise.
Nun ist das
Geistesleben auf die eine Seite gestellt, das
Wirtschaftsleben auf die andere Seite gestellt; mitten
drinnen steht der Staat.
Sie können sich
fragen: Was soll denn nun eigentlich dem Staat
verbleiben? — denn wir werden gleich nachher sehen,
daß auch das wirtschaftliche Leben die Konfundierung
mit dem eigentlichen Staatsleben nicht verträgt. Wir
kommen zu einer klaren Ansicht über diese Frage vielleicht
dadurch, daß wir uns vor Augen halten, was eigentlich an
dem sich herausbildenden modernen Staat die bürgerlichen
Klassen gefunden haben. Sie haben in diesem Staat
gefunden den Hort ihrer Rechte.
Blicken wir nun auf
das hin, was eigentlich Rechte sind. Ich denke dabei nicht nur
an das Strafrecht, ich denke dabei auch nicht an
Privatrechte, insofern sie sich nicht auf das
Verhältnis von Persönlichkeit zu Persönlichkeit
beziehen, sondern ich denke an das öffentliche Recht. Zum
öffentlichen Recht gehören zum Beispiel auch die
Verhandlungen über die Besitzverhältnisse. Denn was
ist schließlich Eigentum? Eigentum ist nur der
Ausdruck für die Berechtigung, daß man irgend etwas
als Persönlichkeit allein besitzt und bearbeiten darf. Das
Eigentum wurzelte in einem Rechte. Alles dasjenige, das
wir eigentlich vielfach als äußere Sache betrachten,
das wurzelt in seinem Verhältnis zum Menschen in
Rechten. Solche Rechte hatte sich in der neueren Zeit, die
unserer modernen Staatsauffassung vorangingen, das
Bürgertum und was mit ihm verwandt war, schon früher
erworben; solche Rechte fand es am besten beschützt, wenn
es hereinnahm alles dasjenige, was sich auf solche Rechte
beziehen konnte, in das Staatsleben selbst.
Und so entstand die
Tendenz, das Wirtschaftsleben immer mehr und mehr
hereinzuziehen in das Staatsleben. Das Staatsleben durchdringt
die Struktur des Wirtschaftslebens mit einer Summe von Rechten.
Nun, diese Rechte sollen dem Staatsleben auch keineswegs in der
Entwickelung der Zukunft genommen werden. Aber das
soziale Wollen muß sich gerade dahin ausbilden, genau zu
unterscheiden zwischen alledem, was Rechtsleben ist, was
eigentliches Geistesleben ist, und was Wirtschaftsleben
ist.
Die moderne soziale
Bewegung macht dies ganz besonders dadurch anschaulich,
daß die herrschenden Kreise etwas nicht hereingenommen
haben in das Rechtsleben ihres modernen Staates. Während
sie vieles aus dem Wirtschaftsleben herausgenommen haben, aus
dem bloßen isolierten Wirtschaftsleben
herausgenommen und in die Rechtsstruktur des Staates
eingegliedert haben, haben sie eines nicht in die
Rechtsstruktur des Staates eingegliedert: und das ist die
Arbeitskraft des proletarischen Arbeiters. Diese Arbeitskraft
des proletarischen Arbeiters ist drinnen-gelassen worden in der
Zirkulation des Wirtschaftsprozesses.
Das ist es, was
zutiefst eingeschlagen hat in das Gemüt des modernen
Proletariers, daß ihm durch den Marxismus und seine
Nachfolger klargemacht werden konnte: Es gibt immer einen
Arbeitsmarkt, wie es einen Warenmarkt gibt. Und wie auf dem
Warenmarkt Waren angeboten werden und nach ihnen
Nachfrage ist, so bringst du deine Arbeitskraft —
das einzige, was du besitzest — auf den Arbeitsmarkt, und
sie gilt nur als Ware. Sie wird gekauft wie Ware; sie steht in
dem modernen Wirtschaftsprozeß wie eine Ware
drinnen.
Damit kommen wir auf
die wahre Gestalt der zweiten modernen sozialen Forderung.
Diese drückt sich darinnen aus, daß aus einem
gewissen Unterbewußtsein seiner Menschenwürde
heraus der moderne Proletarier es unerträglich fand,
daß seine Arbeitskraft als Ware auf dem Warenmarkt gekauft
und verkauft wird.
Gewiß, die
Theorie der sozialistischen Denker sagt: So ist es
gekommen durch die objektiven Gesetze des
Wirtschaftslebens selbst; die haben die Arbeitskraft auf den
Markt hingestellt eben wie andere Waren. Das ist im
Bewußtsein, vielleicht im Bewußtsein des Proletariers
selbst. Aber im Unterbewußtsein waltet etwas ganz anderes.
Im Unterbewußtsein waltet eine Fortsetzung der alten
Sklaverei, der alten Leibeigenschaftsfrage. Da sieht man
in diesem Unterbewußtsein nur, daß während der
Sklavenzeit der ganze Mensch als Ware auf dem
Arbeitsmarkt war und als Ware gekauft und verkauft werden
konnte, daß dann etwas weniger von dem Menschen in der
Leibeigenschaft es war, und daß jetzt noch geblieben ist
die Arbeitskraft des Arbeiters. Damit gibt er sich aber auch
ganz an den Wirtschaftsprozeß hin. Das empfindet er als
unmöglich, als unwürdig.
Daraus entsteht diese
zweite soziale Forderung der neueren Zeit: Die Arbeitskraft zu
entkleiden des Warencharakters.
Ich weiß,
daß heute noch viele, sehr viele Menschen denken: Wie soll
das gemacht werden? Wie soll denn anders überhaupt ein
Wirtschaftsleben eingerichtet werden als dadurch,
daß man die Arbeitstätigkeit, die Arbeitskraft
entlohnt? — Damit aber kauft man sie schon! Aber man
braucht ja auch nur dem entgegenhalten, daß
schließlich auch Plato
und
Aristoteles durchaus es
selbstverständlich fanden, es für
selbstverständlich hielten, daß Sklaven da sein
müssen. So muß man es schon verzeihen den modernen
Denkern, daß sie es für notwendig halten, daß
die Arbeitskraft zu Markte getragen werden
muß.
Man kann sich nicht
immer denken, was vielleicht schon in allernächster
Zeit eine Wirklichkeit ist. Aber fragen muß man heute:
Wodurch kann die Arbeitskraft des Charakters der Ware
entkleidet werden? Das kann dadurch allein geschehen, daß
sie heraufgehoben wird in das Gebiet des reinen
Rechtsstaates, desjenigen Staates, aus dem ausgeschieden wird
das geistige Leben auf der einen Seite, wie früher
charakterisiert, und ausgeschieden wird auf der anderen Seite
alles dasjenige, was im vorher charakterisierten Sinne zum
Wirtschaftsprozeß gehört. Gliedern wir den ganzen
sozialen Organismus oder denken wir ihn uns gegliedert in diese
drei Glieder: in das selbständige Geistesleben, in das
Rechtsleben und in das Wirtschaftsleben, dann haben wir
statt des Homunkulus im Gebiete des Wirtschaftslebens den
wirklichen Homo im Gebiete des Wirtschaftslebens, dann haben
wir unser geistiges Auge gestellt auf den wirklich
lebensfähigen, nicht den aus chemischen Agenzien
zusammengesetzten sozialen Organismus.
Ich will wahrhaftig
hier nicht Analogiespiel treiben zwischen Biologie und
Soziologie — das liegt mir fern, ganz fern — , will
weder in die Fehler des Schäjfle
noch des
Meray in seiner «Weltmutation» fallen; das alles will
ich nicht, darauf kommt es nicht an. Aber es kommt darauf an,
zu sehen, so wie im einzelnen menschlichen natürlichen
Organismus drei selbständig nebeneinander herrschende
Systeme tätig sind — ich habe dies im
wissenschaftlichen Bereich in meinem letzten Buche «Von
Seelenrätseln»
wenigstens skizzenhaft ausgeführt so müssen auch
im sozialen Organismus drei selbständig anzuwendende
Systemeherrschen:
das geistige System, das richterliche System, dann das System
des öffentlichen Rechtes — wie gesagt, Privatrecht
und Strafrecht ist ausgeschlössen und das
eigentliche Wirtschaftssystem.
Dann aber, wenn man
zwischen dem Geistesleben und dem Wirtschaftsieben das
regulierende Staatsleben hat, das regulierende
Rechtsieben, dann hat man etwas so Lebensfähiges
eingegliedert in den sozialen Organismus, wie man in den
natürlichen menschlichen Organismus eingegliedert
findet als ein relativ selbständiges System das
Zirkulationssystem, das Lungen-Herzsystem, zwischen das
Kopfsystem und das Verdauungssystem. Dann aber, wenn es
auf eigenem Boden ganz und gar herausgestaltet ist aus dem
bloßen Wirtschaftsleben — denken wir an eine
Verwaltung, eine demokratische Verwaltung auf diesem Boden des
Rechtslebens wenn jeder in der gleichen Weise seine Rechte in
Anspruch zu nehmen hat, die das Verhältnis von
Mensch zu Mensch allein auf diesem Boden regeln, dann wird die
Eingliederung der Arbeitskraft in den Wirtschaftsprozeß zu
etwas ganz anderem, als es jetzt der Fall
ist.
Sie sehen, ich gebe
Ihnen nicht an irgendein Prinzip, irgendeine Theorie: so
kann man es machen, wenn man die Arbeitskraft des
Warencharakters entkleiden will — , sondern ich sage
Ihnen: Wie müssen sich die Menschen zunächst stellen,
den sozialen Organismus gliedern, damit durch ihre
Tätigkeit, durch ihr Denken, durch ihr Wollen dasjenige
entsteht, was als sozialer Organismus lebensfähig
ist. — Ich will kein allgemeines Heilmittel
angeben, sondern ich will nur erzählen, wie die Menschheit
im sozialen Organismus gegliedert sein müsse, damit aus
ihrem gesunden sozialen Wollen heraus fortdauernd sich ergibt,
was den sozialen Organismus lebensfähig macht. Ich will
sozusagen an die Stelle des theoretischen Denkens ein mit der
Wirklichkeit innig verwandtes und vertrautes Denken setzen. Was
wird entstehen, wenn, ganz abgesehen vom
Wirtschaftsleben, auf einem für sich bestehenden Boden,
der nach seinen eigenen Kräften relativ selbständig
sich verwaltet und regiert, wenn auf diesem Boden über
Arbeitsrecht so rein aus den menschlichen Untergründen
heraus verhandelt wird und daraus Gesetze gegeben werden?
Dann wird etwas daraus entstehen, was ähnlich in den
Wirtschaftsprozeß hineinwirkt wie jetzt die
Naturgrundlagen dieses Wirtschaftsprozesses. Diese
Naturgrundlagen des Wirtschaftsprozesses, wir sehen sie
ja, wenn wir den Wirtschaftsprozeß wirklich studieren,
klar und deutlich vor uns. Sie regeln den
Wirtschaftsprozeß so, daß sich ihre Regelung dem, was
der Mensch selber tun kann zu diesem
Wirtschaftsprozeß, entzieht. Nicht wahr, man braucht nur
Auffälliges zu beobachten.
Nehmen Sie nur einmal
— ich will radikal deutliche Beispiele anführen
— die Tatsache, daß in gewissen Gegenden, die
allerdings den unsrigen entfernt liegen, die Banane ein
außerordentlich bedeutsamer Artikel ist. Aber die Arbeit,
die man hat, um die Banane hinzubringen an den Ort, wo sie
konsumiert werden kann, ist außerordentlich gering an
ihrem Ausgangspunkt, sagen wir im Vergleich zu der, die
notwendig in unseren natürlich europäischen
Gegenden ist, um den Weizen von seinem Ausgangsort bis zu
seinem Konsumort zu bringen. Diese Arbeit, die die Banane
konsumfähig macht im Verhältnis zu dem Weizen,
verhält sich so ungefähr wie eins zu hundert, oder
das Verhältnis ist sogar ein noch größeres als
eins zu hundert. Also hundertmal größere Arbeit, als
man für die Banane braucht, ist notwendig für die
Konsumtion von Weizen. Und so könnten wir auch innerhalb
des Wirtschaftsgebietes die großen Unterschiede
anführen, welche in bezug auf die Regelung des
Wirtschaftslebens bestehen. Diese sind unabhängig
von dem, was der Mensch selbst hinzubringt: die liegen in der
Ergiebigkeit des Bodens, in anderen Verhältnissen noch,
und dergleichen; die stellen sich hinein in das
Wirtschaftsleben wie ein konstanter Faktor, wie ein vom
wirtschaftenden Menschen unabhängiger Faktor. Das
stellt sich von der einen Seite aus her.
Denken Sie sich nun
das Arbeits-Rechtsleben ganz abgesondert auf der anderen Seite
von dem Wirtschaftsleben, dann wird sich, wenn nicht mehr
wirtschaftliche Interessen in die Festsetzung der Arbeitszeit,
in die Verwendung der Arbeitskraft selbständig
hineinspielen in den rein menschlichen Verkehr zwischen Mensch
und Mensch, etwas bilden, unabhängig vom
Wirtschaftsleben, das von der anderen Seite ebenso
hineinspielt in dieses Wirtschaftsleben, wie von jener
Seite hineinspielen die von der Naturgrundlage gegebenen
Faktoren.
Man muß sich in
der Preisbildung, man muß sich in dem, was die Ware Wert
hat am Warenmarkt, nach dem richten, wie die
Naturfaktoren wirken. Man wird sich in der Zukunft, wenn
der soziale Organismus lebensfähig sein soll, auch danach
zu richten haben, wie produziert werden muß, wie die
Warenzirkulation verlaufen muß. Wenn nicht diese
Warenzirkulation bestimmt Entlohnung, Arbeitszeit, Arbeitsrecht
überhaupt, sondern wenn unabhängig von der
Warenzirkulation, von dem Warenmarkt, auf dem Gebiete des
staatlichen Rechtslebens, bloß aus den menschlichen
Bedürfnissen, bloß aus rein menschlichen
Gesichtspunkten heraus die Arbeitszeit festgesetzt werden
wird, dann wird es so sein, daß einfach eine Ware so viel
kostet, als das Notwendige kostet zu ihrer Aufbringung der
Zeit, die für eine bestimmte Arbeit notwendig ist,
die aber geregelt ist durch ein von dem Wirtschaftsleben
unabhängiges Leben, während zum Beispiel das
Wirtschaftsleben heute von sich aus regelt das
Arbeitsverhältnis, so daß nach den Preisen der Ware
sich vielfach im volkswirtschaftlichen Prozeß regeln
muß Arbeitszeit, Arbeitsverhältnis. Das
Umgekehrte wird eintreten bei einer richtigen Gliederung
des sozialen Organismus.
Man kann heute diese
Verhältnisse erst andeuten. Sie sehen aber, sie
entspringen aus einem sozialen Wollen, welches ganz verschieden
ist von dem, das uns heute in eine so traurige Lage im
Weltgeschehen hineinversetzt hat; sie entspringen aus dem
sozialen Wollen, das nicht in einer gewissen
gemeinnützigen Weise aus dem menschlichen Denken alles
herausspinnen wird, herausspinnen, wie man es muß, damit
dies oder jenes in der richtigen Weise vor sich geht, sondern
sie entspringen aus einem Denken, das so mit der Wirklichkeit
verwandt ist, daß es nicht zutage tritt, wenn die Menschen
in diesem oder jenem Verhältnis so oder so im sozialen
Organismus gegliedert sein werden. Dann werden sie, weil sie
dann gesund gegliedert sind im sozialen Organismus, das Rechte
festsetzen, dann werden sie in der rechten Weise
wirken.
Man muß nur
erlebt haben, wie die anderen Sozialwollenden im
wirklichen Leben drinnen die Verhältnisse
bestimmten, eben in dem schon jetzt untergegangenen Osterreich.
Ein Staat war es, aber im Staate lebte nicht bloß das
Rechtsleben, im Staate lebte sogar in ganz
ausgesprochener Weise das von den Interessen der
einzelnen menschlichen Kreise entsprungene Wirtschaftsleben.
Denken Sie doch nur einmal, wie das alte österreichische
Parlament war bis in das Ende der neunziger
Jahre!
Und aus dem, was in
diesem Parlament vertreten war, gingen doch die
Verhältnisse hervor, diebis
in die
Weltkriegskatastrophe hineinspielten, aus diesem Parlament, das
aus vier Kurien bestand: der Handelskammer, der
Großgrundbesitzer, aus der Kurie der Städte,
Märkte und Industrialorte, und der Kurie der
festeingefahrenen Wirtschaftskreise. Diese Wirtschaftskreise
waren nicht auf dem Boden eines
Wirtschaftsparlaments
vertreten, sondern
ihre Interessen bestimmten das Staatswesen, also die
öffentlichen Rechte wurden nach ihren Interessen
bestimmt. Geradeso wie es unmöglich ist, daß
eine konfessionelle Gesinnungspartei, wie es im letzten
deutschen Reichstag war, entsteht, und aus den Definitionen,
Institutionen heraus das Rechtsleben des Staates
beeinflußt, ebensowenig ist ein sozialer Organismus
lebensfähig, der so gestimmt ist, daß wirtschaftliche
Interessenkreise das Rechtsleben bestimmen. Abgesondert
muß dieses Rechtsleben sich entwickeln, heraus nur aus
dem, was das Verhältnis zwischen Mensch und Mensch
meinetwillen in ganz demokratischer Weise betrifft. Dann
wird durch dieses Rechtsleben in entsprechender Weise der
dreigliederige Organismus auf der einen Seite das
Wirtschaftsleben, auf der anderen Seite durch die
Naturgrundlage dieses Wirtschaftsleben
regeln.
Und innerhalb dieses
Wirtschaftslebens, das nun wiederum Vertreter der
verschiedensten Seiten dastehen hat, werden rein
wirtschaftliche Faktoren und Interessen nötig sein. Man
wird den sozialen Organismus haben, in dem — wenn ich
mich jetzt nach den Gewohnheiten der Zeit ausdrücken darf
— nun drei Klassen, drei Gebiete sind, jedes mit eigener
Gesetzgebung und eigener Verwaltung. Sie stehen zueinander, ich
möchte sagen, als souveräne Staaten, wenn sie sich
auch durchdringen; sie rechnen miteinander. Das mag kompliziert
sein, das mag dem Menschen unbequem sein; aber es ist das
Gesunde, ist dasjenige, was einzig und allein den sozialen
Organismus für die Zukunft lebensfähig machen wird.
Denn das Wirtschaftsleben selbst wird aus seinen Faktoren
heraus nur dann bestimmt werden können, wenn auf seinem
Boden einzig und allein Wirtschaftsinteressen tätig
erscheinen, die nur bestimmt werden können durch das im
Wirtschaftsleben notwendige Verhältnis zwischen Produktion
und Konsumtion. Dieses
Verhältniszwischen
Produktion und
Konsumtion kann sich aber im Wirtschaftsleben nur ergeben auf
assoziativer Grundlage, auf assoziativer Grundlage, wie es
hätte werden können im Gewerkschafts-,
Genossenschaftszusammenhang. Aber heute tragen Gewerkschafts-,
Genossenschaftszusammenhänge durchaus noch den
Charakter, daß sie gerade herausgewachsen sind aus dem
Staatsleben. Sie müssen hineinwachsen in das
Wirtschaftsleben, müssen bloß dem
wirtschaftlichen Leben dienende Körperschaften
werden. Dann entwickelt sich der soziale Organismus in
einer gesunden Weise.
Ich weiß,
daß dasjenige, was ich gesagt habe, manchem
außerordentlich radikal erscheint. Aber ob radikal oder
nicht, darauf kommt es nicht an; sondern es kommt darauf an,
daß der soziale Organismus lebensfähig werde,
daß die Menschen, indem sie den Anfang machen von dem
alten instinktiven sozialen Leben zu dem bewußten sozialen
Leben, sich durchdringen mit Impulsen, die aus der Einsicht
entspringen, wie man drinnensteht im ganzen sozialen
Organismus. Man ist heute ein ungebildeter Mensch, wenn
man das Einmaleins nicht kann; man ist heute ein ungebildeter
Mensch, wenn man irgend etwas anderes, was zur Bildung nun
einmal gehört, nicht weiß; aber man ist kein
ungebildeter Mensch, wenn man kein soziales Bewußtsein
hat, oder wenn man mit schlafender Seele im sozialen Organismus
drinnensteht. Das ist etwas, was in der Zukunft gründlich
anders werden muß! Es wird anders werden, wenn das Urteil
entstehen wird, daß es einfach zur allerelementarsten
Schulbildung gehört, sich mit sozialem Wollen
auszurüsten, wie man sich mit der Kenntnis des Einmaleins
ausrüstet. Heute muß jeder wissen, wieviel dreimal
drei ist. In Zukunft wird es auch nicht schwieriger erscheinen,
zu wissen, wie sich Kapitalzins zur Grundrente verhält,
wenn ich etwas aus dem heutigen Leben heraus wähle. Es
soll gar nicht schwieriger sein in Zukunft, als zu wissen,
daß dreimal drei neun ist. Aber dieses Wissen wird eine
Grundlage geben für ein gesundes Drinnenstehen im sozialen
Organismus, das heißt für ein gesünderes
soziales Leben. Und dieses gesunde soziale Leben muß
angestrebt werden.
Es bereitet sich vor
im gesunden Menschheitsbewußtsein dasjenige, was ich
gesagt habe. Man muß nur einen Spürsinn haben
für das, was sich vorbereitet und was in unserem
gegenwärtigen neueren Leben nach Offenbarung und nach
Gestaltung ringt.
Denken Sie zurück
an die drei großen Ideale der Französischen
Revolution: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.
Derjenige, der verfolgt, was diese Ideen in den Köpfen der
Menschen im Laufe der Zeit für Schicksale durchgemacht
haben, der weiß, wie oftmals die Menschen logisch gerungen
haben mit dem Widerspruch, der besteht zwischen der Freiheit
auf der einen Seite, die auf die einzelne persönliche
Initiative hinweist, und der Gleichheit auf der anderen Seite,
die realisiert werden soll in der Zentralisierung des staatlich
orientierten sozialen Organismus. Das geht doch nicht.
Aber die Sucht nach dieser Konfundierung ist entstanden in der
neueren Zeit. Daß der Kapitalismus von heute noch nicht
die Konzeption fassen konnte nach dem dreigliederigen sozialen
Organismus, das ist entstanden aus der Idee des ganz
zentralisierten Staates heraus.
Faßt man heute
dasjenige, was schon in diesem Wollen, das sich in den drei
Idealen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit zum
Ausdrucke bringt, auf, so faßt man es heute leicht so auf,
daß man es betrachtet von dem Gesichtspunkte des
dreigliederig geordneten sozialen Organismus. Dann findet man
als erstes Glied das geistige Leben. Es muß sich ganz
durchdringen von dem Prinzip, dem Impuls der Freiheit. Da
muß alles gestellt sein auf die freie Initiative des
Menschen, und kann es auch, wird am fruchtbarsten wirken, wenn
es so gestellt ist. In bezug auf den Rechtsstaat, in bezug auf
das zwischen dem geistigen und dem wirtschaftlichen Leben
regulierende Staatswesen, das eigentlich politische System, ist
dasjenige, was alles durchdringen muß, die Gleichheit von
Mensch und Mensch. Und in bezug auf das Wirtschaftsleben kann
einzig und allein gelten die Brüderlichkeit, das soziale
Miterleben des ganzen äußeren und inneren Lebens des
einen Menschen durch den anderen.
Im sozialen Organismus
kann innerhalb des Wirtschaftslebens nur herrschen das
Interesse. Dieses Interesse aber, das bringt eine ganz
bestimmte Eigenschaft des wirtschaftlichen Organgliedes
hervor. Worauf deutet eigentlich im Grunde genommen alles,
worauf läuft alles hinaus im Wirtschaftsleben? Es
läuft alles darauf hinaus im Wirtschaftsleben, daß in
der besten, zweckmäßigsten Weise, was der
Wirtschaftsprozeß erzeugt, auch verbraucht werden kann.
Ich rede vom Verbrauchen im engeren Sinne, aus dem das Geistige
dann ausgeschlossen ist. Verbraucht werden kann zum Beispiel
Arbeitskraft, menschliche Arbeitskraft. Das fühlt
aber der moderne Mensch: bloß verbraucht darf seine
Arbeitskraft nicht werden. Er muß ebenso, wie er ein
Interesse erwirbt durch seine Arbeitskraft, bei der geistigen
Produktion auch ein Interesse erwerben durch seine Ruhe, durch
seine ruhevolle Aufnahmefähigkeit des Geistigen. Der
Mensch wird im Wirtschaftsleben verbraucht. Er muß sich
fortwährend aus diesem Wirtschaftsleben herausreißen
durch die anderen beiden Glieder des gesunden sozialen
Organismus, wenn er innerhalb des Wirtschaftslebens nicht
verbraucht werden soll.
Die soziale Frage ist
nicht so da im modernen Leben, wie sie jetzt entstanden
ist und vielleicht gelöst werden kann, und dann eben
gelöst ist. Nein, die soziale Frage ist als etwas da, was
in das moderne Leben eingetreten ist und nicht mehr aus
diesem Leben in aller Menschenzukunft herauskommen wird. Eine
soziale Frage wird es im Hinblick auf die Zukunft immer
mehr geben. Aber diese soziale Frage wird auch nicht auf
einmal, nicht durch diese oder jene Maßnahme, sondern
durch das fortdauernde Wollen der Menschen gelöst
werden, indem immerzu dasjenige, was der
Wirtschaftsprozeß vom Menschen verbraucht, reguliert wird
durch das Rechtsleben vom rein politischen Standpunkt aus, und
immerzu das Verbrauchte wiederum durch die geistige Produktion
ausgeglichen werden kann durch den selbständigen
geistigen Organismus.
Wer gesehen hat, wie
sich in den letzten Jahrzehnten die soziale Frage entwickelt
hat — es ist ja verhältnismäßig noch nicht
so lange her, daß die soziale Frage sich zu ihrer
gegenwärtigen Gestaltung vorbereitet hat — , wer
aufmerksam und mit innigem Anteil beobachtet hat, wie sich
diese soziale Frage aus ihren Anfängen heraus entwickelt
hat, der kann gerade mit Bezug auf soziales Wollen und seinen
richtunggebenden Impuls für die zukünftige Gestaltung
des Menschenlebens zu Gedanken kommen, die man vielleicht durch
das Folgende charakterisieren kann.
Die soziale Frage
sahen viele Menschen, auch viele recht aufgeklärte
Menschen vor Jahrzehnten noch überhaupt nicht als etwas
Existierendes an. Ich habe noch in meiner Jugend einen
österreichischen Minister kennengelernt, der
hinübersah über die böhmisch-deutsche Grenze und
den grotesken Ausspruch getan hat: Die soziale Frage hört
bei Bodenbach auf! — Und ich erinnere mich noch
sehr gut daran, wie die ersten sozialdemokratischen Bergleute
mit einer großen Gruppe an der Wohnung meiner Eltern
vorbeigezogen sind und zu ihrer Versammlung gezogen sind.
Ich habe dann beobachtet, wie das soziale Wollen
entstanden ist, nicht als Denken über die soziale
Bewegung, sondern durch das Miterleben dieser sozialen
Bewegung. Da mußte ich mir sagen: Vieles mußte
durchgemacht werden, viele Irrtümer auch mußten
durchgemacht werden! Und selbst bei sozialistisch
orientierten Denkern der neueren Zeit sind diese Irrtümer
recht zahlreich gewesen. Es scheint gerade auf diesem
Gebiete, daß die Menschen durch die Köpfe, die sie
entwickeln, dies nicht erleben. Der Irrtum ist zu einer
furchtbaren Breite gekommen.
Aus einem Geiste, der
sich mir aus solchen Beobachtungen heraus ergeben hat,
habe ich versucht, heute Abend über das soziale Wollen zu
Ihnen zu sprechen. Sie haben mich dazu eingeladen als
Mitglieder einer Menschengemeinschaft, die hinschaut auf
dasjenige, was das soziale Wollen zum Menschenheil in der
Zukunft bringen soll.
Diejenigen, die als
ältere Leute, wie zum Beispiel ich, immer durch Jahrzehnte
zu solchen Menschen sprechen, die blicken zuweilen auch
zurück auf dasjenige, was alles durchwandelt werden
mußte, um zu dem Heutigen zu kommen. Dann aber bekommen
sie durch manches, was durchwandelt werden mußte, doch
auch die Überzeugung, daß der Irrtum nicht
fruchtlos war, daß, selbst wenn heute die Tatsachen eine
traurige, oftmals eine erschreckende Sprache sprechen,
die Menschen doch stark genug sein werden, den Ausweg zu finden
aus demjenigen, was als unerträglich von einem großen
Teile der Menschheit heute empfunden wird.
In diesem Sinne bitte
ich Sie, aufzunehmen dasjenige, was ich mir erlaubte, am
heutigen Abend zu Ihnen zu sprechen. Denn die Tatsachen
sprechen auf manchem Gebiet eine deutliche Sprache. Und sie
sprechen auch das deutliche Wort: Je mehr Menschen unter jenen,
die heute noch jung sind, wahrhaftiges, lebensfähiges
soziales Wollen aufnehmen, desto lebensfähiger wird der
tüchtige, menschliche soziale Organismus
sein.
Wer sich zum Wort zu
melden wünscht, der möge es tun. Herr
Dr. Boos, der heute vor einer Woche ungefähr einen Vortrag
gehalten hat, hat sich bereit erklärt, die Diskussion zu
führen.
Ein Redner meldet sich
zum Wort (Stenogramm unvollständig).
Dr.
Steiner: Dasjenige, was Sie geltend gemacht haben, das bekommt
seine Form dadurch, daß Sie übersehen haben, was
eintreten muß durch die Gliederung zu relativer
Selbständigkeit des Rechtsstaates auf der einen Seite, und
des Wirtschaftslebens auf der anderen Seite. Die
Arbeitsorganisationen, die zum Teil Produktionsgesellschaften,
oder Konsumtionsgesellschaften, oder auch Verbindungen zwischen
beiden sein werden, die haben es überhaupt nur zu tun mit
Wirtschaftsfaktoren, die innerhalb des Wirtschaftslebens selbst
spielen.
Die Regelung des
Arbeitsrechtes, die fällt dem relativ selbständigen
Staate zu. Dort wird nicht anders entschieden als auf
demokratischer Basis, sagte ich, alles dasjenige, was da
betrifft das Verhältnis von Mensch zu Mensch. Deshalb
erwähnte ich auch bei dem Boden dieses rein demokratischen
Staates, daß das ein Verbindungsglied zwischen den beiden
anderen Faktoren ist; auf diesem Boden herrscht Gleichheit der
Menschen vor dem Gesetze. Da werden aufhören die
bloßen Wünsche einzelner wirtschaftlicher
Organisationen, weil sie sich in dem demokratischen
Rechtsleben ausgleichen müssen mit den Interessen
anderer Kreise. — Also das ist gerade das, was
bewirkt werden soll; dem soll eben abgeholfen werden, was Sie
als einen Schaden empfinden, der ganz gewiß entstehen
würde, wenn zum Beispiel die Arbeitszeit selbst
festgesetzt würde innerhalb der Organisation des
Wirtschaftslebens. Die Organisationen des Wirtschaftslebens
haben es nur zu tun mit dem Wirtschaftsleben selbst: die
Regelung im Sinne des Arbeitsrechtes also. Aber die
Feststellung der Arbeitszeit, die unterliegt nurmehr der
Staatskörperschaft, die es zu tun hat mit dem
Verhältnis von Mensch zu Mensch.
Wir dürfen nicht
vergessen, welch große Veränderungen von Mensch zu
Mensch dadurch auftreten werden, daß einseitige Interessen
sich abschleifen werden. Selbstverständlich, ganz
vollkommen wird natürlich nichts auf der Welt sein; aber
einseitige Interessen werden sich abschleifen im
demokratischen Staatsgebilde, das die Gleichheit des Menschen
vor dem Menschen zu seiner Grundlage hat.
Denken wir nur daran,
daß wenn zum Beispiel eine gewisse
Wirtschaftsorganisation ein Interesse hat, eine bestimmte
kurze Zeit zu arbeiten, so wird sie sich bequemen müssen,
dieses Interesse auszugleichen mit den Interessen
derjenigen Menschen, die leiden würden unter dieser kurzen
Arbeitszeit. Aber wenn man gar nicht denkt an
irgendwelche unterbewußte Kräfte, so wird sich
— geradeso wie sich im Naturorganismus wenigstens
annähernd ergibt, immer annähernd natürlich,
daß immer gleichviel Männer und gleichviel Frauen da
sind, was aber doch natürlich nicht ein striktes
Naturgesetz sein darf oder werden kann-, so wird sich auch
ergeben, daß, wenn in der richtigen Weise die
einzelnen Faktoren des sozialen Organismus
zusammenwirken, nicht ein Unzuträgliches dadurch
entstehen wird, daß einzelne kleine Interessen
werden entwickeln können, die für andere in
weitestem Maße schädlich sind.
Dasjenige, was meiner
sozialen Denkweise zugrunde liegt, das unterscheidet sich
von vielen anderen sozialen Denkweisen dadurch, daß diese
letzteren mehr abstrakt sind. Logisch kann man immer das eine
von dem anderen sehr gut ableiten; es folgt manches Logische
aus dem anderen. Entscheidend in solchen Fragen kann aber
eigentlich nur die Lebenserfahrung sein. Natürlich kann
ich nicht logisch beweisen — das kann kein Mensch
— , daß nicht in einem solchen zukünftigen
Organismus einmal eine Diskrepanz der Interessen
eintreten kann; aber anzunehmen ist, daß, wenn die
Kräfte sich innerhalb ihres eigenen Kreises, der ihnen
angemessen ist, entwickeln können, dann eine humane
Entwickelung eintreten wird. Ich meine, wenn Sie das
gerade betrachten, was ich vorlegen möchte, die
Festsetzung der Arbeitszeit aus dem bloßen
Wirtschaftsprozeß heraus in den Rechtskreis des Staates,
daß dann diese Schäden nicht werden entstehen
können im praktischen Gebiete. Das ist es, was ich dazu zu
sagen habe.
Ein weiterer Redner
äußert sich (Stenogramm
unvollständig).
Dr.
Steiner: Ich möchte zu der Ausführung des verehrten
Vorredners folgendes bemerken: Selbstverständlich leidet
ja gewissermaßen jeder Vortrag daran, daß man nicht
in einem einzelnen Vortrage alles sagen kann, und ich weiß
nicht, aus welchen Auslassungen meines Vortrages der verehrte
Vorredner die Schlußfolgerung gezogen hat, daß ich
keine Stellungnahme hätte zu der modernen Arbeiterpsyche,
daß ich die moderne Arbeiterbewegung nicht
berücksichtigen würde und dergleichen. Jeder
tut das selbstverständlich nach seiner Art. Ich war
jahrelang zum Beispiel Lehrer auf den verschiedenen Gebieten
einer Arbeiterbildungsschule, habe mit den Arbeitern in
Gewerkschaften und auch in politischen Organisationen
Redeübungen getrieben. Ich darf heute das berechtigte
Bewußtsein haben, daß eine ganz zahlreiche Menge von
Arbeitern, die heute in Deutschland ihre Reden halten, das
Reden dazu in meinen Redeübungen gelernt haben. Bei diesen
Redeübungen wurden alle möglichen Fragen
besprochen, und Fragen, die nun wahrhaftig nicht ferne standen
den allerintimsten Eigentümlichkeiten der
Arbeiterpsyche. Also ich weiß nicht — ich
hatte natürlich keine Veranlassung, auch diese besondere
praktische Seite meines sozialen Wirkens und Wollens ins helle
Licht zu stellen, aber ich kann auch nicht recht
verstehen, aus welchen Auslassungen meiner Rede
hervorgegangen sein soll, daß ich der praktischen
Arbeiterbewegung so absolut fernstehen
sollte.
Gewiß, es ist ein
Selbstverständliches, daß innerhalb der modernen
sozialen Bewegung gerade die Arbeiter selbst
berücksichtigt werden. Aber bedenken Sie nur, daß ich
den ganzen Abend immer betont habe, wie es aussieht eigentlich
gerade innerhalb des Proletariats. Ich habe ja von dem
Proletariat als solchem gesprochen. Sie haben bemerken
können, wenn Sie gut zugehört haben, wie gerade
das in meinen Vortrag hereinspielte, was ich glaube, praktisch
auseinandergesetzt zu haben, was praktisch gerade in der
proletarischen Arbeiterschaft von heute lebt.
Was nun den Vorwurf
betrifft, daß ich vielleicht zu einseitig
dargestellt habe die, wie mir scheinen will, fundamental
bedeutsame Tatsache, daß die bürgerliche Denkweise
übernommen worden ist von der Arbeiterschaft, von
namentlich den Führern der Arbeiterschaft, so beruht
dieser Ausspruch, den ich getan habe und den ich ja auch
nur von einzelnen Seiten her selbstverständlich beleuchtet
habe, wirklich auf einem genaueren Studium gerade der
Arbeiterpsyche und der ganzen modernen
Arbeiterbewegung.
Ich möchte Sie
dabei zum Beispiel auf folgendes aufmerksam machen: Ein mir
auch persönlich bekannter russischer Schriftsteller hat
jüngst auf eine sehr eigentümliche Weise darauf
hingewiesen, daß die Philosophie, die Jünger hat,
gerade hier in Zürich eine große Rolle gespielt hat:
die Philosophie des Avenarius, die doch ihrerseits gewiß aus rein
bürgerlichem Untergrund erwachsen ist. Ich kann mir
wenigstens nicht vorstellen, daß Avenarius daran
gedacht hat, daß seine Philosophie in der Arbeiterbewegung
in Rußland diejenige Rolle spielt, die sie heute spielt.
Soviel ich weiß, ist sehr stark hier vertreten, gerade in
Zürich, von Adler namentlich, die aus der Naturwissenschaft
entnommene philosophische Überzeugung von
Mach. Diese beiden philosophischen Richtungen sind
gewissermaßen die Amtsphilosophien des Bolschewismus, des
radikalsten Sozialismus. Der russische
Schriftsteller Berdjajev sagt das in einem Aufsatz — er ist enthalten
in der Übersetzung eines sehr interessanten Buches
über «Rußlands politische Seele» — ,
und in diesem Aufsatz hat Berdjajev in sehr deutlicher Weise
gerade diese politische Seele herausgearbeitet. Und so
könnte man Ihnen zahlreiche Beispiele anführen; ich
könnte Ihnen zahlreiche Beispiele anführen, die
ähnlich wären dem, das ich Ihnen vorhin entnommen
habe aus der Rede der verstorbenen Rosa Luxemburg, die Ihnen beweisen würden, daß eben
das letzte bedeutende und gerade in die Arbeiterbewegung tief
eingreifende Erbstück aus dem bürgerlichen Leben die
bürgerliche Denkweise ist, die wissenschaftlich orientiert
ist. Die Möglichkeit, das geistige Leben überhaupt
zur Ideologie zu machen, ist bürgerlichen Ursprungs.
Das Bürgertum, wenn man solche Kategorien gebrauchen darf,
hat zuerst die wissenschaftlich orientierte Denkweise auf dem
Gebiete des Naturerkennens zur Ideologie gemacht. Sie hat
es nicht innerhalb ihrer Klasse auf das eigentlich
wissenschaftliche Denken übertragen. Diese letztere
Konsequenz hat dann das proletarische Denken gezogen.
Gewiß, das proletarische Denken hat andere
Konsequenzen gezogen; aber es hat eben Konsequenzen gezogen aus
den Grundlagen, die heute deutlich zu erkennen sind als
innerhalb der bürgerlichen wissenschaftlichen
Vorstellungsart wurzelnd, und nur etwas weiter
fortgebildet. Das sollte eben in seiner Wichtigkeit nicht
verkannt werden.
Denn derjenige, der
tiefer drinnensteht auch in der Gesamtheit, der tieferes
Interesse entwickelt hat für den Anteil, den die moderne
Arbeiterpsyche an der modernen Arbeiterbewegung hat, der
wartet, ich möchte sagen, mit einer gewissen Sorge auf der
einen Seite, aber auch mit einer gewissen inneren Befriedigung
auf der anderen Seite auf den Moment, wo das innerhalb der
modernen sozialistischen Bewegung zum Vorschein kommen wird.
Man wird eines Tages bemerken, zum Bewußtsein
heraufbringen, was jetzt noch im Unterbewußten ruht, man
wird eines Tages bemerken: Aha, das haben wir noch in unserem
Seelenoberdenken — wenn ich den Ausdruck
gebrauchen darf — , in
unserem seelischen Oberdenken; das
muß heraus. Wir haben die Sehnsucht, unsere ganze
Menschenwürde wissenschaftlich zu orientieren; das hat uns
die bürgerliche Erblinie der Wissenschaft bis jetzt nicht
möglich gemacht. Wir müssen ein anderes
Geistesleben suchen.
Ich glaube allerdings,
daß dann, wenn dieser Moment eingetreten sein wird, wenn
die ganze, volle Sehnsucht des vielleicht von einer gewissen
Seite her einzig modernen Menschen, nämlich des
proletarischen Menschen herauskommt — wenn es auch in der
modernen Zeit noch nicht zum vollen Ausdruck gekommen ist
— , wenn diese Sehnsucht des modernen Proletariers nach
einer völligen Ausbildung der wissenschaftlichen
Denkweise zur Weltanschauung, mit der Kraft der alten
Religionen, wenn das eingetreten sein wird, wenn er nicht mehr,
weil er darauf gekommen ist, daß er nicht mehr Ware sein
soll, die Konsequenz der bürgerlichen Denkweise ziehen
wird, dann wird der Moment eingetreten sein, wo man
überhaupt erst wird davon reden können, daß
fruchtbares Organisieren des sozialen Wollens da
ist.
In dem bloßen
Sozialismus und in seiner Beziehung, die der verehrte Herr
Vorredner hervorgehoben hat, zu der Philosophie
des Bergson, glaube ich, daß man nicht so
dogmatisch sich stellen darf. Ich will ja
selbstverständlich nicht über solche philosophischen
Fragen heute diskutieren. Der Herr Vorredner sagte,
daß Bergson ein typischer Vertreter und
Repräsentant der bürgerlichsten Denkweise ist. Dann
würde der Sozialismus aus der Philosophie des Bergson
gerade eben recht bürgerliehe Untergründe
herausgenommen haben! Man kann heute zum Beispiel
nachweisen, daß Bergsons Philosophie ihrem Inhalte nach
von ganz unermeßbar vielen
«Schopenhauerianismen» durchzogen ist, daß
Bergson viel mehr beeinflußt ist von Schopenhauer, als Sie
nur irgend denken.
Nun, wollte man eine
solche Sache ausführlich erörtern, so müßte
man eben wirklich recht ausführlich sein können. Ich
kann das heute nicht; aber ich erwähne Ihnen nur, daß
es auch einen innerhalb der proletarischen Welt sich als
Denker fühlenden Menschen gibt, wie zum
Beispiel Mehring,
Franz Mehring, der
also in vielem in Wirklichkeit ähnlich ist dem Bergson;
der hat Schopenhauer gerade als den Repräsentanten des
bürgerlichsten Spießertums in der Philosophie
charakterisiert!
Über diese Dinge
kann man verschiedener Ansicht sein, und ich glaube nicht,
daß man über diese Dinge so dogmatisieren darf. Man
kann ja die Ansicht haben, daß Bergson der
fortgeschrittenste Philosoph ist und irrationale Elemente
drinnen hat in seiner Philosophie. Aber man möchte fragen:
Was hat denn irrationales Element mit der sozialen Frage zu
tun? — Irrational kann doch geradesogut ein Proletarier
sein wie ein Bürgerlicher, Ich kann nicht recht einsehen,
was das ganze Irrationale damit zu tun hat. Da muß
man schon die dogmatische
Voraussetzung
machen: Bergson ist
absolut derjenige, der der moderne Philosoph ist; wenn
also die Proletarier richtig denken sollen, so müssen sie
Bergsonianer werden, nicht wahr. Das ging durch die ganze
Frage.
Denn zweifellos ist
es, daß auf den verschiedenste^ Gebieten im modernen Leben
Tendenzen aufgetreten sind, die sich nach dem hin richten, was
ich heute charakterisiert habe. Es wäre doch nun wirklich
traurig um das menschliche Leben bestellt, wenn es immer
gerade, möchte ich sagen, überzwerch gehen
würde, wenn es immer in der entgegengesetzten
Richtung von dem Rechten sich entwickeln würde! Nicht
wahr, das kann natürlich nicht der Fall sein. Ich sagte
selbst, daß zum Beispiel auf dem Gebiete des
Gerichtswesens von einigen ganz psychologisch
orientierten Menschen gewisse Dinge angefacht sind. Solche
Beispiele könnte man natürlich unzählige
anführen. Aber es ist auch eine Ableitung der Diskussion
auf Nebengeleise, wenn man nicht eingeht auf dasjenige, was
geltend gemacht worden ist, sondern eine Lieblingsmeinung
vorbringt. Gewiß, man kann ja sehr sympathisieren mit
manchem, was heute als doch mehr auf geschichtliche Perioden
hindeutende Prinzipien in bezug auf Impulse gesagt worden
ist; aber ohne mehr auf das letztere einzugehen — wollte
man auf alle diese Dinge eingehen, müßte ich Sie aber
sehr lange hier aufhalten also ohne mehr auf das letzte
einzugehen, möchte ich sagen: Sehr viele Menschen sind
heute noch innerlich obstinat, wenn man von dieser
Dreigliederung spricht, von der ich heute gesprochen habe. Sie
sagen dann: Es kann doch nicht drei verschiedene Glieder
geben, die nach verschiedenen Prinzipien gelenkt und geleitet
werden.
Aber ich habe nicht
von drei verschiedenen Gliedern gesprochen, die nach drei
verschiedenen Prinzipien gelenkt würden, sondern von einer
Dreigliederung des sozialen Organismus habe ich gesprochen!
Bedenken Sie nur, daß diese Dreigliederung des
sozialen Organismus in unserer Zeit ihrer ganzen
Denkweise nach ebenso entsprechend gefunden werden muß
nach und nach, wie zum Beispiel die uralten Gliederungen, die
Sie bei Plato auch finden und die damals berechtigt waren. Mir
hat einmal jemand hinterher nach meinem Vortrag gesagt: Also
haben wir doch wiederum einen Hinweis auf die alten
Gliederungen Platos: Nährstand, Wehrstand,
Lehrstand! — Das, was ich gesagt habe, ist das
Gegenteil der Gliederung in Nähr-, Wehr- und
Lehrstand; denn es werden nicht die Menschen in Stände
gegliedert, sondern es wird eine Gliederung versucht des
sozialen Organismus. Wir Menschen sollen gerade nicht abgeteilt
werden! Es kann ganz gut derselbe Mensch tätig sein in dem
geistigen Glied, oder tätig sein im rechtlichen und sogar
in dem wirtschaftlichen Gliede. Der Mensch ist gerade dadurch
emanzipiert von irgendwelcher Einseitigkeit in irgendeinem der
Glieder des sozialen Organismus. Es handelt sich also nicht
darum, daß die Menschen in solche selbständigen
Klassen abgeteilt werden sollen, wenn man den gesunden
sozialen Organismus entwickelt, sondern daß der soziale
Organismus selber nach seinen Gesetzen geordnet wird. Das
ist der durchgreifende Unterschied. Früher hat man
Menschen gegliedert. Nun soll, der Denkweise unserer Zeit
entsprechend, der soziale Organismus selbst gegliedert werden,
damit der Mensch hinschauen kann auf das jenige, worin er
drinnen lebt, um je nach seinen Bedürfnissen, nach seinen
Verhältnissen und Fähigkeiten in dem einen oder in
dem anderen Gliede tätig sein zu können. Es wird zum
Beispiel ganz gut möglich sein, daß in der Zukunft
ein Mensch, der im Wirtschaftsleben tätig ist, zu gleicher
Zeit Abgeordneter ist auf dem Gebiet des rein politischen
Staates. Er wird aber dann ganz selbstverständlich seine
wirtschaftlichen Interessen in einer anderen Weise geltend
machen müssen, als er geltend machen kann dasjenige, was
allein in Betracht kommt auf dem Gebiete des Rechtsstaates.
Diese drei Glieder werden selber sorgen für die
Abgrenzung ihrer Territorien. Es wird nicht alles
durcheinanderkonfundiert werden, daß sich das eine in das
andere hineinmischt.
Es wird auf viel
bessere Weise erreicht, wenn die Dinge getrennt werden.
Es sind ja natürlich dieselben menschlichen Anlagen, die
in dem einen und anderen Gliede entscheiden. Aber so wie es in
der menschlichen natürlichen Organisation —
trotzdem ich kein Analogiespiel treiben will, möchte
ich dies erwähnen — drei in sich zentralisierte
Teile hat: das Nerven-Sinnessystem, das Lungen-Atmungssystem
und das Stoffwechselsystem,
so hat der gesunde
soziale Organismus drei Glieder. Das ist etwas, was heute noch
zu den gewöhnlichen Denkgewohnheiten nicht gehört,
von dem ich aber glaube, daß es sich in die
Denkgewohnheiten der Menschen hineinfinden wird, und
daß man es doch nicht weniger gründlich, meine ich,
nehmen muß, als man es nimmt, wenn man nur
gewissermaßen seine Lieblingsmeinung
auseinandersetzt.
Dr. Roman
Boos: Darf ich mir noch gestatten, die Frage an den Herrn
Referenten zu richten in bezug auf das, was eben auf
strafrechtlichem Gebiet gefragt worden ist? Nun, wenn von der
Freiheit der Richter gesprochen worden ist, ob damit auch ein
Verstoß gegen den Satz gemeint ist, daß keine
Strafe ohne Gesetz ausgesprochen werden soll — wie mir
scheint, ist das so gemeint, daß das Strafgesetz als
solches doch nicht aus dem Gebiet des freien Geisteslebens
heraus gegeben werden soll, sondern aus der politischen
Instanz, daß die Frage wahrscheinlich ein
Mißverständnis enthält bei dem Herrn Dr.
Weiß, der gemeint hat, es werde ein Verstoß gegen das
Prinzip gefordert, daß keiner zu einer Strafe verurteilt
werden kann, der nicht ein bestimmtes Gesetz übertreten
hat. — Darf ich vielleicht noch bitten, sich dazu zu
äußern?
Dr.
Steiner: Nicht wahr, in dieser Frage berühren sich ja
selbstverständlich das System des öffentlichen
Rechts mit dem System der praktischen Gerichtsbarkeit. Was ich
betont habe, ist die Trennung des praktischen Richtens. Deshalb
habe ich den Ausdruck «Richten» gebraucht,
ausdrücklich des praktischen Richtens von dem allgemeinen
öffentlichen Rechtsleben, das ich bei dem gesunden
sozialen Organismus im politischen Staat zentralisiert so
denken muß, daß der gesunde soziale Organismus in
seinem öffentlichen Rechtsleben dafür sorgen
muß, daß entsprechend nach einem von ihm bestimmten
Gesetze verfahren werden muß. Daß nicht in der
willkürlichsten Weise gerichtet werden kann, das ist ganz
selbstverständlich. Aber ich habe nicht an solche Dinge
gedacht, die abstrakt sind und die in ihrer Abstraktheit
mehr oder weniger selbstverständlich sind. Ich habe auch
heute nicht über, sagen wir, den Wirkungsbereich des
Rechtes zu sprechen gehabt, sondern ich habe über den
sozialen Organismus und über soziales Wollen zu sprechen
gehabt. Und da bitte ich Sie, im Sinne des Themas das
Folgende zu bedenken.
Sehen Sie, ich habe
eine fast ebensolange Zeit meines Lebens in
Österreich zugebracht wie in Deutschland. Ich habe
das österreichische Leben gründlich kennenlernen
können; Sie dürfen mir glauben, daß es nicht
eine abrupte Behauptung ist, wenn ich sage, daß vieles von
dem, was im österreichischen sogenannten Staate in letzter
Zeit geschehen ist, zusammenhängt mit Ereignissen,
die sich gerade in den siebziger, achtziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts als tiefe Mißverhältnisse ergeben haben.
Vergessen Sie nicht, daß in einem solchen Staate wie
Österreichauf anderen Gebieten würde sich das
nicht in so radikaler Weise charakterisieren lassen, aber
vorhanden ist es in dieser oder jener Form auch besonders weil
in Österreich durcheinandergeschoben sind die
verschiedenen Sprachgebiete, Sie es zum Beispiel erleben
konnten, daß ein Deutscher, weil er gerade
zufällig in irgendeinen Gerichtssprengel
hineingehörte, in dem ein tschechischer Richter
amtierte, der nicht Deutsch konnte, daß er abgeurteilt
wurde von einem tschechischen Richter in einer Sprache, die er
nicht verstand. Er wußte nicht, was über ihn
geurteilt wurde und was geschah mit ihm; er merkte nur,
daß man ihn abführte. Ebenso war es umgekehrt
der Fall, wenn ein deutscher Richter, der nicht Tschechisch
verstand, einen Tschechen aburteilte, der kein Deutsch
verstand. Was ich meine, ist die individuelle Gestaltung, die
freie Gestaltung des Verhältnisses des zu Verurteilenden
zum Richter.
Also ein solcher Staat
wie Österreich hätte hiervon einen großen
Erfolg zu erwarten. Aber dieser Impuls hätte
erfordert, daß immer, für vielleicht fünf oder
zehn Jahre — die Verhältnisse verschieben sich
fortwährend jedenfalls von dem zu Verurteilenden
oder zu Richtenden sein Richter hätte gewählt werden
können, in freier Wahl des Richters.
(Lücke im
Stenogramm)
Das ist einfach ein
Gegenstand gar nicht des geistigen Lebens, sondern es ist
von vornherein ein Gegenstand des Lebens im Rechtsstaat;
dafür, daß also nur nach einem Gesetze gerichtet
wird, welches bestanden hat, als die Tat begangen worden
ist, wird das zweite, das staatliche Gesetz, als zu seiner
Kompetenz rechnend, schon sorgen; es wird schon für jeden
Fall seine Konsequenzen ziehen,
selbstverständlich.
Aber die Frage ist
eine ganz andere; wenn Sie die Dinge genauer nehmen, so
werden Sie sehen, daß alle Lösungen dieser Fälle
sehr, sehr konsequent sich ergeben. Ich konnte Ihnen ja
heute nur die allerersten Voraussetzungen sagen; ich
müßte sonst nicht nur die ganze Nacht, sondern auch
noch am morgigen Tage weiter reden.