GOETHE UND DER
NATURWISSENSCHAFTLICHE ILLUSIONISMUS
Diese Darstellung ist nicht aus dem Grunde geschrieben worden, weil in
eine Goethe-Ausgabe (in Kürschners Deutscher National-Literatur) eben
auch die Farbenlehre, mit einer begleitenden Einleitung versehen,
aufgenommen werden muß. Sie entstammt einem tiefen
Geistesbedürfnisse des Herausgebers dieser Ausgabe. Derselbe ist von
dem Studium der Mathematik und Physik ausgegangen und
wurde durch die vielen Widersprüche, die das System unserer modernen
Naturanschauung durchsetzen, mit innerer Notwendigkeit zur kritischen
Untersuchung über die methodologische Grundlage derselben geführt. Auf
das Prinzip des strengen Erfahrungswissens wiesen ihn seine
anfänglichen Studien, auf eine streng wissenschaftliche
Erkenntnistheorie die Einsicht in jene Widersprüche. Gegen ein
Umschlagen in rein Hegelsche Begriffskonstruktionen war er durch
seinen positiven Ausgangspunkt geschützt. Er fand endlich mit Hilfe
seiner erkenntnistheoretischen Studien den Grund vieler Irrtümer der
modernen Naturwissenschaft in der ganz falschen Stellung, welche die
letztere der einfachen Sinnesempfindung angewiesen hat. Unsere
Wissenschaft verlegt alle sinnlichen Qualitäten (Ton, Farbe, Wärme
usw..) in das Subjekt und ist der Meinung, daß «außerhalb»
des Subjektes diesen Qualitäten nichts entspreche als
Bewegungsvorgänge der Materie. Diese Bewegungsvorgänge, die das
einzige im «Reiche der Natur» Existierende sein sollen, können
natürlich nicht mehr wahrgenommen werden. Sie sind auf Grund der
subjektiven Qualitäten erschlossen..
Nun kann aber diese Erschließung konsequentem Denken gegenüber
nicht anders denn als eine Halbheit erscheinen. Bewegung ist
zunächst nur ein Begriff, den wir aus der Sinnenwelt entlehnt haben,
d. h. der uns nur an Dingen mit jenen sinnlichen Qualitäten
entgegentritt. Wir kennen keine Bewegung außer einer solchen an
Sinnesobjekten. Überträgt man nun dieses Prädikat auf nichtsinnliche
Wesen, wie es die Elemente der diskontinuierlichen Materie (Atome)
sein sollen, so muß man sich doch dessen klar bewußt sein,
daß durch diese Übertragung einem sinnlich wahrgenommenen
Attribut eine wesentlich anders als sinnlich gedachte Daseinsform
beigelegt wird. Demselben Widerspruch verfällt man, wenn man zu einem
wirklichen Inhalte für den zunächst ganz leeren Atombegriff kommen
will. Es müssen ihm eben sinnliche Qualitäten, wenn auch noch so
sublimiert, beigelegt werden. Der eine legt dem Atome
Undurchdringlichkeit, Kraftwirkung, der andere Ausdehnung u. dgl. bei,
kurz ein jeder irgendwelche aus der Sinnenwelt entlehnte
Eigenschaften. Wenn man das nicht tut, bleibt man vollständig im
Leeren..
Darin liegt die Halbheit. Man macht mitten durch das
Sinnlich-Wahrnehmbare einen Strich und erklärt den einen Teil für
objektiv, den anderen für subjektiv. Nur das eine ist konsequent: Wenn
es Atome gibt, so sind diese einfach Teile der Materie mit den
Eigenschaften der Materie und nur wegen ihrer für unsere Sinne
unzugänglichen Kleinheit nicht wahrnehmbar..
Damit aber verschwindet die Möglichkeit, in der Bewegung der Atome
etwas zu suchen, was als ein Objektives den subjektiven Qualitäten des
Tones, der Farbe usw. gegenübergestellt werden dürfte. Und es hört
auch die Möglichkeit auf, in dem Zusammenhang zwischen der Bewegung
und der Empfindung des «Rot» z. B. mehr zu suchen als zwischen zwei
Vorgängen, die ganz der Sinnenwelt angehören..
Für den Herausgeber war es also klar: Ätherbewegung, Atomlagerung usw.
gehören auf dasselbe Blatt wie die Sinnesempfindungen selbst. Die
letzteren für subjektiv zu erklären, ist nur das Ergebnis einer
unklaren Reflexion. Erklärt man die sinnliche Qualität für subjektiv,
so muß man es mit der Ätherbewegung geradeso tun. Wir nehmen die
letztere nicht aus einem prinzipiellen Grunde nicht wahr, sondern nur
deswegen, weil unsere Sinnesorgane nicht fein genug organisiert sind.
Das ist aber ein rein zufälliger Umstand. Es könnte sein, daß
dann die Menschheit bei zunehmender Verfeinerung der Sinnesorgane
dereinst dazu käme, auch Ätherbewegungen unmittelbar wahrzunehmen.
Wenn dann ein Mensch jener fernen Zukunft unsere subjektivische
Theorie der Sinnesempfindungen akzeptierte, so müßte er diese
Ätherbewegungen ebenso für subjektiv erklären, wie wir heute Farbe,
Ton usw..
Man sieht, diese physikalische Theorie führt auf einen Widerspruch,
der nicht zu beheben ist.
Eine zweite Stütze hat nun diese subjektivische Ansicht an
physiologischen Erwägungen.
Die Physiologie weist nach, daß die Empfindung erst als das
letzte Resultat eines mechanischen Vorgangs auftritt, der sich zuerst
von dem außerhalb unserer Leibessubstanz liegenden Teil der
Körperwelt den Endorganen unseres Nervensystems in den Sinnesorganen
mitteilt, von hier aus bis zum obersten Zentrum vermittelt wird, um
dann erst als Empfindung ausgelöst zu werden. Die Widersprüche dieser
physiologischen Theorie findet man in dem Kapitel «Das
<Urphänomen>» [s. S. 266ff. dieser Schrift] dargelegt. Als
subjektiv kann man doch hier nur die Bewegungsform der Hirnsubstanz
bezeichnen. Wie weit man auch in der Untersuchung der Vorgänge am
Subjekte gehen mag, stets muß man auf diesem Wege im
Mechanischen bleiben. Und die Empfindung wird man nirgends im Zentrum
entdecken..
Es bleibt also nur die philosophische Erwägung übrig, um über
die Subjektivität und Objektivität der Empfindung Aufschluß zu
bekommen. Und diese liefert folgendes:
Was kann als «subjektiv» an der Wahrnehmung bezeichnet werden? Ohne
eine genaue Analyse des Begriffes «subjektiv» zu haben, kann man
überhaupt gar nicht vorwärtsschreiten. Die Subjektivität kann
natürlich durch nichts anderes als durch sich selbst bestimmt werden.
Alles, was nicht durch das Subjekt bedingt nachgewiesen werden kann,
darf nicht als «subjektiv» bezeichnet werden. Nun müssen wir uns
fragen: Was können wir als dem menschlichen Subjekte eigen
bezeichnen? Das, was es an sich selbst durch äußere oder
innere Wahrnehmung erfahren kann. Durch äußere
Wahrnehmung erfassen wir die körperliche Konstitution, durch
innere Erfahrung unser eigenes Denken, Fühlen und Wollen. Was
ist nun in ersterer Hinsicht als subjektiv zu bezeichnen? Die
Konstitution des ganzen Organismus, also auch der Sinnesorgane und des
Gehirnes, die wahrscheinlich bei jedem Menschen in etwas anderer
Modifikation erscheinen werden. Alles aber, was hier auf diesem Wege
nachgewiesen werden kann, ist nur eine bestimmte Gestaltung in der
Anordnung und Funktion der Substanzen, wodurch die Empfindung
vermittelt wird. Subjektiv ist also eigentlich nur der Weg, den die
Empfindung durchzumachen hat, bevor sie meine Empfindung
genannt werden kann. Unsere Organisation vermittelt die Empfindung und
diese Vermittlungswege sind subjektiv; die Empfindung selbst aber ist
es nicht..
Nun bliebe also der Weg der inneren Erfahrung. Was erfahre ich in
meinem Innern, wenn ich eine Empfindung als die meinige bezeichne? Ich
erfahre, daß ich die Beziehung auf meine Individualität in
meinem Denken vollziehe, daß ich mein Wissensgebiet auf diese
Empfindung erstrecke; aber ich bin mir dessen nicht bewußt,
daß ich den Inhalt der Empfindung erzeuge. Nur den Bezug
zu mir stelle ich fest, die Qualität der Empfindung ist eine in sich
begründete Tatsache..
Wo wir auch anfangen, innen oder außen, wir kommen nicht bis zur
Stelle, wo wir sagen könnten: Hier ist der subjektive Charakter der
Empfindung gegeben. Auf den Inhalt der Empfindung ist der Begriff
«subjektiv» nicht anwendbar.
Diese Erwägungen sind es, die mich dazu zwangen, jede Theorie der
Natur, die prinzipiell über das Gebiet der wahrgenommenen Welt
hinausgeht, als unmöglich abzulehnen und lediglich in der Sinnenwelt
das einzige Objekt der Naturwissenschaft zu suchen. Dann aber
mußte ich in der gegenseitigen Abhängigkeit der Tatsachen eben
dieser Sinnenwelt das suchen, was wir mit Naturgesetzen
aussprechen..
Und damit war ich zu jener Ansicht von der naturwissenschaftlichen
Methode gedrängt, die der Goetheschen Farbenlehre zugrunde liegt. Wer
diese Erwägungen für richtig findet, der wird diese Farbenlehre mit
ganz anderen Augen lesen, als die modernen Naturforscher dies tun
können. Er wird sehen, daß hier nicht Goethes Hypothese der
Newtons gegenübersteht, sondern daß es sich hier um die Frage
handelt: Ist die heutige theoretische Physik zu akzeptieren oder
nicht? Wenn nicht, dann aber muß sich auch das Licht verlieren,
das diese Physik über die Farbenlehre verbreitet. Welches unsere
theoretische Grundlage der Physik ist, mag der Leser aus den folgenden
Kapiteln erfahren, um dann von dieser Grundlage aus Goethes
Auseinandersetzungen im rechten Lichte zu sehen..*
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