Aus Rudolf Steiners Selbstbiographie
«Mein Lebensgang», Kap. VI
Auf Schröers Empfehlung hin lud mich 1883 Joseph Kürschner ein,
innerhalb der von ihm veranstalteten «Deutschen Nationalliteratur»
Goethes Naturwissenschaftliche Schriften mit Einleitungen und
fortlaufenden Erklärungen herauszugeben. Schröer, der selbst für
dieses große Sammelwerk die Dramen Goethes übernommen hatte,
sollte den ersten der von mir zu besorgenden Bände mit einem
einführenden Vorworte versehen. Er setzte in diesem auseinander, wie
Goethe als Dichter und Denker innerhalb des neuzeitlichen
Geisteslebens steht. Er sah in der Weltanschauung, die das auf Goethe
folgende naturwissenschaftliche Zeitalter gebracht hatte, einen Abfall
von der geistigen Höhe, auf der Goethe gestanden hatte. Die Aufgabe,
die mir durch die Herausgabe von Goethes Naturwissenschaftlichen
Schriften zugefallen war, wurde in umfassender Art in dieser Vorrede
charakterisiert.
Für mich schloß diese Aufgabe eine Auseinandersetzung mit der
Naturwissenschaft auf der einen, mit Goethes ganzer Weltanschauung auf
der andern Seite ein. Ich mußte, da ich nun mit einer solchen
Auseinandersetzung vor die Öffentlichkeit zu treten hatte, alles, was
ich bis dahin als Weltanschauung mir errungen hatte, zu einem gewissen
Abschluß bringen ...
Die Denkungsart, von der die Naturwissenschaft seit dem Beginn ihres
großen Einflusses auf die Zivilisation des neunzehnten
Jahrhunderts beherrscht war, schien mir ungeeignet, zu einem
Verständnisse dessen zu gelangen, was Goethe für die Naturerkenntnis
erstrebt und bis zu einem hohen Grade auch erreicht hatte.
Ich sah in Goethe eine Persönlichkeit, welche durch das besondere
geistgemäße Verhältnis, in das sie den Menschen zur Welt gesetzt
hatte, auch in der Lage war, die Naturerkenntnis in der rechten Art in
das Gesamtgebiet des menschlichen Schaffens hineinzustellen. Die
Denkungsart des Zeitalters, in das ich hineingewachsen war, schien mir
nur geeignet, Ideen über die leblose Natur auszubilden. Ich hielt sie
für ohnmächtig, mit den Erkenntniskräften an die belebte Natur
heranzutreten. Ich sagte mir, um Ideen zu erlangen, welche die
Erkenntnis des Organischen vermitteln können, ist es notwendig, die
für die unorganische Natur tauglichen Verstandesbegriffe erst selbst
zu beleben. Denn sie erschienen mir tot und deshalb auch nur geeignet,
das Tote zu erfassen.
Wie sich in Goethes Geist die Ideen belebt haben, wie sie
Ideengestaltungen geworden sind, das versuchte ich für eine
Erklärung der Goetheschen Naturanschauung darzustellen.
Was Goethe im einzelnen über dieses oder jenes Gebiet der
Naturerkenntnis gedacht und erarbeitet hatte, schien mir von
geringerer Bedeutung neben der zentralen Entdeckung, die ich
ihm zuschreiben mußte. Diese sah ich darin, daß er
gefunden hat, wie man über das Organische denken müsse, um ihm
erkennend beizukommen.
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