Am 18. August des Jahres 1787 schrieb Goethe von Italien aus an
Knebel: «Nach dem, was ich bei Neapel, in Sizilien von Pflanzen und
Fischen gesehen habe, würde ich, wenn ich zehn Jahre jünger wäre, sehr
versucht sein, eine Reise nach Indien zu machen, nicht um etwas
Neues zu entdecken, sondern um das Entdeckte nach meiner Art
anzusehen.»
[WA 8, 2501]
In diesen Worten liegt der
Gesichtspunkt, aus dem wir Goethes wissenschaftliche Arbeiten zu
betrachten haben. Es handelt sich bei ihm nie um die Entdeckung neuer
Tatsachen, sondern um das Eröffnen eines neuen Gesichtspunktes,
um eine bestimmte Art die Natur anzusehen. Es ist wahr, daß
Goethe eine Reihe großer Einzelentdeckungen gemacht hat, wie
jene des Zwischenknochens und der Wirbeltheorie des Schädels in der
Osteologie, der Identität aller Pflanzenorgane mit dem Stammblatte
in der Botanik usf. Aber als belebende Seele aller dieser
Einzelheiten haben wir eine großartige Naturanschauung zu
betrachten, von der sie getragen werden, haben wir in der Lehre von
den Organismen vor allem eine großartige, alles übrige in den
Schatten stellende Entdeckung ins Auge zu fassen: die des Wesens
des Organismus selbst. Jenes Prinzip, durch welches ein Organismus
das ist, als das er sich darstellt, die Ursachen, als deren Folge uns
die Äußerungen des Lebens erscheinen, und zwar alles, was wir in
prinzipieller Hinsicht diesbezüglich zu fragen haben, hat er
dargelegt.2
Es ist dies vom Anfange an das Ziel alles
seines Strebens in bezug auf die organischen Naturwissenschaften; bei
Verfolgung desselben drängen sich ihm jene Einzelheiten wie von selbst
auf. Er mußte sie finden, wenn er im weiteren Streben nicht
gehindert sein wollte. Die Naturwissenschaft vor ihm, die das Wesen
der Lebenserscheinungen nicht kannte und die Organismen einfach nach
der Zusammensetzung aus Teilen, nach deren äußerlichen Merkmalen
untersuchte, so wie man dieses bei unorganischen Dingen auch macht,
mußte auf ihrem Wege oft den Einzelheiten eine falsche Deutung
geben, sie in ein falsches Licht setzen. An den Einzelheiten als
solchen kann man natürlich einen solchen Irrtum nicht bemerken. Das
erkennen wir eben erst, wenn wir den Organismus verstehen, da die
Einzelheiten für sich, abgesondert betrachtet, das Prinzip ihrer
Erklärung nicht in sich tragen. Sie sind nur durch die Natur des
Ganzen zu erklären, weil es das Ganze ist, das ihnen Wesen und
Bedeutung gibt. Erst nachdem Goethe eben diese Natur des Ganzen
enthüllt hatte, wurden ihm jene irrtümlichen Auslegungen sichtbar; sie
waren mit seiner Theorie der Lebewesen nicht zu vereinigen, sie
widersprachen derselben. Wollte er auf seinem Wege weiter gehen, so
mußte er dergleichen Vorurteile wegschaffen. Dies war beim
Zwischenknochen der Fall. Tatsachen, die nur dann von Wert und
Interesse sind, wenn man eben jene Theorie besitzt, wie die
Wirbelnatur der Schädelknochen, waren jener älteren Naturlehre
unbekannt. Alle diese Hindernisse mußten durch Einzelerfahrungen
aus dem Wege geräumt werden. So erscheinen uns denn die letzteren bei
Goethe nie als Selbstzweck; sie müssen immer gemacht werden, um einen
großen Gedanken, um jene zentrale Entdeckung zu
bestätigen. Es ist nicht zu leugnen, daß Goethes Zeitgenossen
früher oder später zu denselben Beobachtungen kamen, und daß
heute vielleicht alle auch ohne Goethes Bestrebungen bekannt wären;
aber noch viel weniger ist zu leugnen, daß seine große,
die ganze organische Natur umspannende Entdeckung bis heute von keinem
zweiten unabhängig von Goethe in gleich vortrefflicher Weise
ausgesprochen worden
ist3,
ja es fehlt uns bis heute an
einer auch nur einigermaßen befriedigenden Würdigung derselben.
Es erscheint im Grunde gleichgültig, ob Goethe eine Tatsache zuerst
oder nur wiederentdeckt hat; sie gewinnt durch die Art, wie er sie
seiner Naturanschauung einfügt, erst ihre wahre Bedeutung. Das ist es,
was man bisher übersehen hat. Man hob jene besonderen Tatsachen zu
sehr hervor und forderte dadurch zur Polemik auf. Wohl wies man oft
auf Goethes Überzeugung von der Konsequenz der Natur hin, allein man
beachtete nicht, daß damit nur ein ganz nebensächliches, wenig
bedeutsames Charakteristikon der Goetheschen Anschauungen gegeben ist
und daß es beispielsweise in bezug auf die Organik die
Hauptsache ist, zu zeigen, welcher Natur das ist, welches jene
Konsequenz bewahrt. Nennt man da den Typus, so hat man zu sagen,
worinnen die Wesenheit des Typus im Sinne Goethes besteht.
Das Bedeutsame der Pflanzenmetamorphose liegt z. B. nicht in der
Entdeckung der einzelnen Tatsache, daß Blatt, Kelch, Krone usw.
identische Organe seien, sondern in dem großartigen gedanklichen
Aufbau eines lebendigen Ganzen durcheinander wirkender
Bildungsgesetze, welcher daraus hervorgeht und der die Einzelheiten,
die einzelnen Stufen der Entwicklung, aus sich heraus bestimmt. Die
Größe dieses Gedankens, den Goethe dann auch auf die Tierwelt
auszudehnen suchte, geht einem nur dann auf, wenn man versucht, sich
denselben im Geiste lebendig zu machen, wenn man es unternimmt ihn
nachzudenken. Man wird dann gewahr, daß er die in die Idee
übersetzte Natur der Pflanze selbst ist, die in unserem Geiste
ebenso lebt wie im Objekte; man bemerkt auch, daß man sich einen
Organismus bis in die kleinsten Teile hinein belebt, nicht als toten,
abgeschlossenen Gegenstand, sondern als sich Entwickelndes, Werdendes,
als die stetige Unruhe in sich selbst vorstellt.
Indem wir nun im folgenden versuchen, alles hier Angedeutete eingehend
darzulegen, wird sich uns zugleich das wahre Verhältnis der
Goetheschen Naturanschauung zu jener unserer Zeit offenbaren,
namentlich zur Entwicklungstheorie in moderner Gestalt.
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