DIE ENTSTEHUNG
DER METAMORPHOSENLEHRE
Wenn man der Entstehungsgeschichte von Goethes Gedanken über die
Bildung der Organismen nachgeht, so kommt man nur allzuleicht in
Zweifel über den Anteil, den man der Jugend des Dichters, d. h. der
Zeit vor seinem Eintritte in Weimar zuzuschreiben hat. Goethe selbst
dachte sehr gering von seinen naturwissenschaftlichen Kenntnissen in
dieser Zeit: «Von dem ..., was eigentlich äußere Natur
heißt, hatte ich keinen Begriff und von ihren sogenannten drei
Reichen nicht die geringste Kenntnis.» (Siehe Goethes
Naturwissenschaftliche Schriften in Kürschners Deutscher
National-Literatur4,
1. Band [S. 64].) Auf diese
Äußerung gestützt, denkt man sich meistens den Beginn seines
naturwissenschaftlichen Nachdenkens erst nach seiner Ankunft in
Weimar. Dennoch erscheint es geboten, noch weiter zurückzugehen, wenn
man nicht den ganzen Geist seiner Anschauungen unerklärt lassen will.
Die belebende Gewalt, welche seine Studien in jene Richtung lenkte,
die wir später darlegen wollen, zeigt sich schon in frühester Jugend.
Als Goethe an die Leipziger Hochschule kam, herrschte in den
naturwissenschaftlichen Bestrebungen daselbst noch ganz jener Geist,
der für einen großen Teil des achtzehnten Jahrhunderts
charakteristisch ist und der die gesamte Wissenschaft in zwei Extreme
auseinanderwarf, welche zu vereinigen man kein Bedürfnis fühlte. Auf
der einen Seite stand die Philosophie Christian Wolffs (1679-1754),
welche sich ganz in einem abstrakten Elemente bewegte; auf der anderen
die einzelnen Wissenschaftszweige, welche in der äußerlichen
Beschreibung unendlicher Einzelheiten sich verloren und denen jedes
Bestreben mangelte, in der Welt ihrer Objekte ein höheres Prinzip
aufzusuchen. Jene Philosophie konnte den Weg aus der Sphäre ihrer
allgemeinen Begriffe in das Reich der unmittelbaren Wirklichkeit, des
individuellen Daseins nicht finden. Da wurden die
selbst-verständlichsten Dinge mit aller Ausführlichkeit behandelt. Man
erfuhr, daß das Ding ein Etwas sei, welches keinen
Widerspruch in sich habe, daß es endliche und unendliche
Substanzen gebe usw. Trat man aber mit diesen Allgemeinheiten an die
Dinge selbst heran, um deren Wirken und Leben zu verstehen, so stand
man völlig ratlos da; man konnte keine Anwendung jener Begriffe auf
die Welt, in der wir leben und die wir verstehen wollen, machen. Die
uns umgebenden Dinge selbst aber beschrieb man in ziemlich
prinziploser Weise, rein nach dem Augenschein, nach ihren
äußerlichen Merkmalen. Es standen sich hier eine Wissenschaft
der Prinzipien, welcher der lebendige Gehalt, die liebevolle
Vertiefung in die unmittelbare Wirklichkeit fehlte, und eine
prinziplose Wissenschaft, welche des ideellen Gehaltes ermangelte,
gegenüber ohne Vermittlung, jede für die andere unfruchtbar. Goethes
gesunde Natur fand sich von beiden Einseitigkeiten in gleicher Weise
abgestoßen5
und im Widerstreite mit ihnen
entwickelten sich bei ihm Vorstellungen, die ihn später zu jener
fruchtbaren Naturauffassung führten, in welcher Idee und Erfahrung in
allseitiger Durchdringung sich gegenseitig beleben und zu einem Ganzen
werden.
Der Begriff, den jene Extreme am wenigsten erfassen konnten,
entwickelte sich daher bei Goethe zuerst: der Begriff des Lebens.
Ein lebendes Wesen stellt uns, wenn wir es seiner äußeren
Erscheinung nach betrachten, eine Menge von Einzelheiten dar, die uns
als dessen Glieder oder Organe erscheinen. Die Beschreibung dieser
Glieder, ihrer Form, gegenseitigen Lage, Größe usw. nach, kann
den Gegenstand weitläufigen Vortrages bilden, dem sich die zweite der
von uns bezeichneten Richtungen hingab. Aber in dieser Weise kann man
auch jede mechanische Zusammensetzung aus unorganischen Körpern
beschreiben. Man vergaß völlig, daß bei dem Organismus vor
allem festgehalten werden müsse, daß hier die äußere
Erscheinung von einem inneren Prinzipe beherrscht wird, daß in
jedem Organe das Ganze wirkt. Jene äußere Erscheinung, das
räumliche Nebeneinander der Glieder kann auch nach der Zerstörung des
Lebens betrachtet werden, denn sie dauert ja noch eine Zeitlang fort.
Aber was wir an einem toten Organismus vor uns haben, ist in Wahrheit
kein Organismus mehr. Es ist jenes Prinzip verschwunden, welches alle
Einzelheiten durchdringt. Jener Betrachtung, welche das Leben
zerstört, um das Leben zu erkennen, setzt Goethe frühzeitig die
Möglichkeit und das Bedürfnis einer höheren entgegen. Wir sehen
dies schon in einem Briefe aus der Straßburger Zeit vom 14. Juli
1770, wo er von einem Schmetterlinge spricht: «Das arme Tier zittert
im Netz, streift sich die schönsten Farben ab; und wenn man es ja
unversehrt erwischt, so steckt es doch endlich steif und leblos da;
der Leichnam ist nicht das ganze Tier, es gehört noch etwas dazu, noch
ein Hauptstück und bei der Gelegenheit, wie bei jeder andern, ein
hauptsächliches Hauptstück: das Leben [WA 1, 238] Derselben
Anschauung sind ja auch die Worte im «Faust» [1. Teil/Studierzimmer]
entsprungen:
«Wer will was Lebendiges erkennen und beschreiben,
Sucht erst den Geist herauszutreiben; Dann hat er die Teile in der
Hand,
Fehlt, leider! nur das geistige Band.»
Bei dieser Negation einer Auffassung blieb aber Goethe, wie dies bei
seiner Natur wohl vorauszusetzen ist, nicht stehen, sondern er suchte
seine eigene immer mehr auszubilden, und wir erkennen in den
Andeutungen, welche wir über sein Denken von 1769-1775 haben, gar oft
schon die Keime für seine späteren Arbeiten. Er bildet sich hier die
Idee eines Wesens aus, bei dem jeder Teil den andern belebt, bei dem
ein Prinzip alle Einzelheiten durchdringt. Im «Faust» [1. Teil/Nacht]
heißt es:
«Wie alles sich zum Ganzen webt,
Eins in dem andern wirkt und lebt.»
und im «Satyros» [4. Akt]:
«Wie im Unding das Urding erquoll,
Lichtsmacht durch die Nacht scholl,
Durchdrang die Tiefen der Wesen all, Daß aufkeimte
Begehrungs-Schwall
Und die Elemente sich erschlossen,
Mit Hunger ineinander ergossen,
Alldurchdringend, alldurchdrungen. »
Dieses Wesen wird so gedacht, daß es in der Zeit steten
Veränderungen unterworfen ist, daß aber in allen Stufen der
Veränderungen sich immer nur ein Wesen offenbart, das sich als
das Dauernde, Beständige im Wechsel behauptet. Im «Satyros»
heißt es von jenem Urdinge weiter:
«Und auf und ab sich rollend ging Das all und ein' und ewig' Ding,
Immer verändert, immer beständig! »
Man vergleiche damit, was Goethe im Jahre 1807 als Einleitung zu
seiner Metamorphosenlehre schrieb: «Betrachten wir aber alle
Gestalten, besonders die organischen, so finden wir, daß nirgend
ein Bestehendes, nirgend ein Ruhendes, ein Abgeschlossenes vorkommt,
sondern daß vielmehr alles in einer steten Bewegung schwanke.»
(Natw. Schr., 1. Bd. [S. 8]) Diesem Schwankenden stellt er dort die
Idee oder «ein in der Erfahrung nur für den Augenblick Festgehaltenes»
als das Beständige entgegen. Man wird aus obiger Stelle aus
«Satyros» deutlich genug erkennen, daß der Grund zu den
morphologischen Gedanken schon in der Zeit vor dem Eintritte in Weimar
gelegt wurde.
Das, was aber festgehalten werden muß, ist, daß jene Idee
eines lebenden Wesens nicht gleich auf einen einzelnen Organismus
angewendet, sondern daß das ganze Universum als ein solches
Lebewesen vorgestellt wird. Hierzu ist freilich in den alchymistischen
Arbeiten mit Fräulein von Klettenberg und in der Lektüre des
Theophrastus Paracelsus nach seiner Rückkehr von Leipzig (1768/69) die
Veranlassung zu suchen. Man suchte jenes das ganze Universum
durchdringende Prinzip durch irgendeinen Versuch festzuhalten, es in
einem Stoffe
darzustellen.6
Doch bildet diese ans
Mystische streifende Art der Weltbetrachtung nur eine
vorübergehende Episode in Goethes Entwicklung und weicht bald einer
gesunderen und objektiveren Vorstellungsweise. Die Anschauung von dem
ganzen Weltall als einem großen Organismus, wie wir sie oben in
den Stellen aus «Faust» und «Satyros» angedeutet fanden, bleibt aber
noch aufrecht bis in die Zeit um 1780, wie wir später aus dem Aufsatze
«Die Natur» sehen werden. Sie tritt uns im «Faust» noch einmal
entgegen, und zwar da, wo der Erdgeist als jenes den All-Organismus
durchdringende Lebensprinzip dargestellt wird [1. Teil/Nacht]:
«In Lebensfluten, im Tatensturm
Während sich so bestimmte Anschauungen in Goethes Geist entwickelten,
kam ihm in Straßburg ein Buch in die Hand, welches eine
Weltanschauung, die der seinigen gerade entgegengesetzt ist, zur
Geltung bringen wollte. Es war Holbachs
«Système de la nature».7
Hatte er bis dahin nur den Umstand zu tadeln
gehabt, daß man das Lebendige wie eine mechanische
Zusammenhäufung einzelner Dinge beschrieb, so konnte er in
Holbach einen Philosophen kennenlernen, der das Lebendige wirklich für
einen Mechanismus ansah. Was dort bloß aus einer
Unfähigkeit, das Leben in seiner Wurzel zu erkennen, entsprang, das
führte hier zu einem das Leben ertötenden Dogma. Goethe sagt darüber
in «Dichtung und Wahrheit» (III. Teil, 11. Buch): «Eine Materie sollte
sein von Ewigkeit, und von Ewigkeit her bewegt, und sollte nun mit
dieser Bewegung rechts und links und nach allen Seiten, ohne weiteres,
die unendlichen Phänomene des Daseins hervorbringen. Dies alles wären
wir sogar zufrieden gewesen, wenn der Verfasser wirklich aus seiner
bewegten Materie die Welt vor unseren Augen aufgebaut hätte. Aber er
mochte von der Natur so wenig wissen als wir; denn indem er einige
allgemeine Begriffe hingepfahlt, verläßt er sie sogleich, um
dasjenige, was höher als die Natur, oder als höhere Natur in der Natur
erscheint, zur materiellen, schweren, zwar bewegten, aber doch
richtungs- und gestaltlosen Natur zu verwandeln, und glaubt dadurch
recht viel gewonnen zu haben.» Goethe konnte darinnen nichts finden
als «bewegte Materie» und im Gegensatze dazu bildeten sich seine
Begriffe von Natur immer klarer aus. Wir finden sie im Zusammenhange
dargestellt in seinem Aufsatz
«Die Natur»8,
welcher um das
Jahr 1780 geschrieben ist. Da in diesem Aufsatze alle Gedanken Goethes
über die Natur, welche wir bis dahin nur zerstreut angedeutet finden,
zusammengestellt sind, so gewinnt er eine besondere Bedeutung. Die
Idee eines Wesens, welches in beständiger Veränderung begriffen ist
und dabei doch immer identisch bleibt, tritt uns hier entgegen: «Alles
ist neu und immer das Alte.» «Sie (die Natur) verwandelt sich ewig,
und ist kein Moment Stillstehen in ihr,» aber «ihre Gesetze sind
unwandelbar.» Wir werden später sehen, daß Goethe in der
unendlichen Menge von Pflanzengestalten die eine Urpflanze
sucht. Auch diesen Gedanken finden wir hier schon angedeutet: «Jedes
ihrer (der Natur) Werke hat ein eigenes Wesen, jede ihrer
Erscheinungen den isoliertesten Begriff, und doch macht alles Eins
aus.» Ja sogar die Stellung, welche er später Ausnahmefällen
gegenüber einnahm, nämlich sie nicht einfach als Bildungsfehler
anzusehen, sondern aus Naturgesetzen zu erklären, spricht sich hier
schon ganz deutlich aus:
«Auch das Unnatürlichste ist Natur» und «ihre Ausnahmen sind selten.»9
Wir haben gesehen, daß Goethe sich schon vor seinem Eintritte in
Weimar einen bestimmten Begriff von einem Organismus ausgebildet
hatte. Denn wenngleich der erwähnte Aufsatz «Die Natur» erst lange
nach demselben entstanden ist, so enthält er doch größtenteils
frühere Anschauungen Goethes. Auf eine bestimmte Gattung von
Naturobjekten, auf einzelne Wesen hatte er diesen Begriff noch nicht
angewendet. Dazu bedurfte es der konkreten Welt der lebenden Wesen in
unmittelbarer Wirklichkeit. Der durch den menschlichen Geist
hindurchgegangene Abglanz der Natur War durchaus nicht das Element,
welches Goethe anregen konnte. Die botanischen Gespräche bei Hofrat
Ludwig in Leipzig blieben ebenso ohne tiefere Wirkung, wie die
Tischgespräche mit den medizinischen Freunden in Straßburg. In
bezug auf die wissenschaftlichen Studien erscheint uns der junge
Goethe ganz als der die Frische ursprünglichen Anschauens der Natur
entbehrende Faust, welcher seine Sehnsucht nach derselben mit den
Worten ausspricht [1. Teil/Nacht]:
«Ach! könnt' ich doch auf Bergeshöhn In deinem (des Mondes) lieben
Lichte gehn, Um Bergeshöhle mit Geistern schweben, Auf Wiesen in
deinem Dämmer weben.»
Wie eine Erfüllung dieser Sehnsucht erscheint es uns, wenn ihm bei
seinem Eintritte in Weimar gegönnt ist, «Stuben-und Stadtluft mit
Land-, Wald- und Gartenatmosphäre zu vertauschen» (Natw. Schr., 1.
Bd., S. 64).
Als die unmittelbare Anregung zum Studium der Pflanzen haben wir des
Dichters Beschäftigung mit dem Pflanzen von Gewächsen in den ihm von
dem Herzoge Karl August geschenkten Garten zu betrachten. Die
Empfangnahme desselben von seiten Goethes erfolgte am 21. April 1776
und das von R. Keil herausgegebene «Tagebuch» meldet uns von nun an
oft von Goethes Arbeiten in diesem Garten, die eines seiner
Lieblingsgeschäfte werden. Ein weiteres Feld für Bestrebungen in
dieser Richtung bot ihm der Thüringerwald, wo er Gelegenheit hatte,
auch die niederen Organismen in ihren Lebenserscheinungen
kennenzulernen. Es interessieren ihn besonders die Moose und Flechten.
Am 31. Oktober 1777 bittet er Frau von Stein um Moose von allen Sorten
und womöglich mit den Wurzeln und feucht, damit sie sich wieder
fortpflanzen. Es muß uns höchst bedeutsam erscheinen, daß
Goethe sich hier schon mit dieser tiefstehenden Organismenwelt
beschäftigte und später die Gesetze der Pflanzenorganisation doch von
den höheren Pflanzen ableitete. Wir haben dies in Erwägung dieses
Umstandes nicht, wie viele tun, einer Unterschätzung der Bedeutung der
weniger entwickelten Wesen, sondern vollbewußter Absicht
zuzuschreiben.
Nun verläßt der Dichter das Reich der Pflanzen nicht mehr. Schon
sehr früh mögen wohl Linnés Schriften vorgenommen worden sein. Wir
erfahren von der Bekanntschaft mit denselben zuerst aus den Briefen an
Frau von Stein im Jahre 1782.
Linnés Bestrebungen gingen dahin, eine systematische Übersichtlichkeit
in die Kenntnis der Pflanzen zu bringen. Es sollte eine gewisse
Reihenfolge gefunden werden, in der jeder Organismus an einer
bestimmten Stelle steht, so daß man ihn jederzeit leicht
auffinden könne, ja daß man überhaupt ein Mittel der
Orientierung in der grenzenlosen Menge der Einzelheiten hätte. Zu
diesem Zwecke mußten die Lebewesen nach Graden ihrer
Verwandtschaft untersucht und diesen entsprechend in Gruppen
zusammengestellt werden. Da es sich dabei vor allem darum handelte,
jede Pflanze zu erkennen und ihren Platz im Systeme leicht
aufzufinden, so mußte man insbesondere auf jene Merkmale
Rücksicht nehmen, welche die Pflanzen voneinander unterscheiden. Um
eine Verwechslung einer Pflanze mit einer anderen unmöglich zu machen,
suchte man vorzüglich diese unterscheidenden Kennzeichen auf. Dabei
wurden von Linné und seinen Schülern äußerliche Kennzeichen,
Größe, Zahl und Stellung der einzelnen Organe als
charakteristisch angesehen. Die Pflanzen waren auf diese Weise wohl in
eine Reihe geordnet, aber so, wie man auch eine Anzahl unorganischer
Körper hätte ordnen können: nach Merkmalen, welche dem Augenscheine,
nicht der inneren Natur der Pflanze entnommen waren. Sie erschienen in
einem äußerlichen Nebeneinander, ohne inneren, notwendigen
Zusammenhang. Bei dem bedeutsamen Begriffe, den Goethe von der Natur
eines Lebewesens hatte, konnte ihm diese Betrachtungsweise nicht
genügen. Es war da nirgends nach dem Wesen der Pflanze geforscht.
Goethe mußte sich die Frage vorlegen: Worin besteht dasjenige
«Etwas», welches ein bestimmtes Wesen der Natur zu einer Pflanze
macht? Er mußte ferner anerkennen, daß dieses Etwas in
allen Pflanzen in gleicher Weise vorkomme. Und doch war die unendliche
Verschiedenheit der Einzelwesen da, welche erklärt sein wollte. Wie
kommt es, daß jenes Eine sich in so mannigfaltigen Gestalten
offenbart? Dies waren wohl die Fragen, welche Goethe beim Lesen der
Linnéschen Schriften aufwarf, denn er sagt ja selbst von sich:
«Das, was er - Linné - mit Gewalt auseinanderzuhalten suchte, mußte, nach dem innersten Bedürfnis meines Wesens, zur Vereinigung anstreben.»10
Ungefähr in dieselbe Zeit, wie die erste Bekanntschaft mit Linné,
fällt auch die mit den botanischen Bestrebungen des Rousseau. Am 16.
Juni 1782 schreibt Goethe an [Herzog] Karl August: «In Rousseaus
Werken finden sich ganz allerliebste Briefe über die Botanik, worin er
diese Wissenschaft auf das faßlichste und zierlichste einer Dame
vorträgt. Es ist recht ein Muster, wie man unterrichten soll und eine
Beilage zum Emil. Ich nehme daher den Anlaß, das schöne Reich
der Blumen meinen schönen Freundinnen aufs neue zu empfehlen.» [WA 5,
347] Rousseaus Bestrebungen in der Pflanzenkunde mußten auf
Goethe einen tiefen Eindruck machen. Das Hervorheben einer aus dem
Wesen der Pflanzen hervorgehenden und ihm entsprechenden Nomenklatur,
die Ursprünglichkeit des Beobachtens, das Betrachten der Pflanze um
ihrer selbst willen, abgesehen von. allen Nützlichkeitsprinzipien, die
uns bei Rousseau entgegentreten, alles das war ganz im Sinne Goethes.
Beide hatten ja auch das gemeinsam, daß sie nicht durch ein
speziell herangezogenes wissenschaftliches Bestreben, sondern durch
allgemein menschliche Motive zum Studium der Pflanze gekommen waren.
Dasselbe Interesse fesselte sie an denselben Gegenstand.
Die nächsten eingehenden Beobachtungen der Pflanzenwelt fallen in das
Jahr 1784. Wilhelm Freiherr von Gleichen, genannt Rußwurm, hatte
damals zwei Schriften herausgegeben, welche Untersuchungen zum
Gegenstande hatten, die Goethe lebhaft interessierten: «Das Neueste
aus dem Reiche der Pflanzen» (Nürnberg 1764) und «Auserlesene
mikroskopische Entdeckungen bei Pflanzen, Blumen und Blüten, Insekten
und anderen Merkwürdigkeiten» (Nürnberg 1777-81). Beide Schriften
behandelten die Befruchtungsvorgänge an der Pflanze. Der Blütenstaub,
die Staubfäden und Stempel wurden sorgfältig untersucht und die dabei
stattfindenden Prozesse auf schön ausgeführten Tafeln dargestellt.
Diese Untersuchungen machte nun Goethe nach. Am 12. Januar 1785
schreibt er an Frau von Stein: «Ein Mikroskop ist aufgestellt, um die
Versuche des v. Gleichen, genannt Rußwurm, mit Frühlingsantritt
nachzubeobachten und zu kontrollieren.» [WA 7, 8] In demselben
Frühlinge wurde auch die Natur des Samens studiert, wie uns ein Brief
an Knebel vom 2. April 1785 zeigt: «Die Materie vom Samen habe ich
durchgedacht, soweit meine Erfahrungen reichen.» [WA 7, 36] Bei allen
diesen Untersuchungen handelt es sich bei Goethe nicht um das
Einzelne; das Ziel seiner Bestrebungen ist, das Wesen der Pflanze zu
erforschen. Er meldet davon am 8. April 1785 an Merck, daß er in
der Botanik «hübsche Entdeckungen und Kombinationen gemacht
hat». [WA 7, 41] Auch der Ausdruck Kombinationen beweist uns hier,
daß er darauf ausgeht, denkend sich ein Bild der Vorgänge in der
Pflanzenwelt zu entwerfen. Das Studium der Botanik näherte sich jetzt
rasch einem bestimmten Ziele. Wir müssen dabei nun freilich daran
denken, daß Goethe im Jahre 1784 den Zwischenknochen entdeckt
hat, wovon wir unten ausdrücklich sprechen wollen und daß er
damit dem Geheimnis, wie die Natur bei der Bildung organischer Wesen
verfährt, um eine bedeutende Stufe nähergerückt war. Wir müssen ferner
daran denken, daß der erste Teil von Herders «Ideen zur
Philosophie der Geschichte» 1784 abgeschlossen wurde und daß
Gespräche über Gegenstände der Natur zwischen Goethe und Herder damals
sehr häufig waren. So berichtet Frau von Stein an Knebel am 1. Mai
1784: «Herders neue Schrift macht wahrscheinlich, daß wir erst
Pflanzen und Tiere waren ... Goethe grübelt jetzt gar denkreich in
diesen Dingen und jedes, was erst durch seine Vorstellung gegangen
ist, wird äußerst interessant.» [Zur deutschen Literatur und
Geschichte, hrsg. von H. Düntzer, Bd. 1, Nürnberg 1857, S. 120.] Wir
sehen daraus, welcher Art Goethes Interesse für die größten
Fragen der Wissenschaft damals war. Es muß uns also jenes
Nachdenken über die Natur der Pflanze und die Kombinationen, die er
darüber im Frühling 1785 macht, ganz erklärlich erscheinen. Mitte
April dieses Jahres geht er nach Belvedere eigens um seine Zweifel und
Fragen zur Lösung zu bringen und am 15. Juni [1786!] macht er an Frau
von Stein folgende Mitteilung: «Wie lesbar mir das Buch der Natur
wird, kann ich dir nicht ausdrücken, mein langes Buchstabieren hat mir
geholfen, jetzt ruckts auf einmal, und meine stille Freude ist
unaussprechlich.» [WA 7, 229] Kurz vorher will er sogar eine kleine
botanische Abhandlung für Knebel schreiben, um ihn für diese
Wissenschaft zu gewinnen.11
Die Botanik zieht ihn so an,
daß seine Reise nach Karlsbad, die er am 20. Juni 1785 antritt,
um den Sommer dort zuzubringen, zu einer botanischen Studienreise
wird. Knebel begleitete ihn. In der Nähe von Jena treffen sie einen
17-jährigen Jüngling, [Friedrich Gottlieb] Dietrich, dessen
Blechtrommel zeigte, daß er eben von einer botanischen Exkursion
heimkehrt. Über diese interessante Reise erfahren wir näheres aus
Goethes «Geschichte meines botanischen Studiums» und aus einigen
Mitteilungen von [Ferdinand] Cohn12
in Breslau, der
dieselben einem Manuskripte Dietrichs entlehnen konnte. In Karlsbad
bieten nun gar oft botanische Gespräche eine angenehme Unterhaltung.
Nach Hause zurückgekehrt widmet Goethe sich mit großer Energie
dem Studium der Botanik; er macht an der Hand von
Linnés Philosophia13
Beobachtungen über Pilze, Moose, Flechten und
Algen, wie wir solches aus seinen Briefen an Frau von Stein ersehen.
Erst jetzt, wo er bereits selbst vieles gedacht und beobachtet, wird
ihm Linné nützlicher, er findet bei ihm Aufschluß über viele
Einzelheiten, die ihm bei seinen Kombinationen vorwärts helfen. Am 9.
November 1785 berichtet er an Frau von Stein: «Ich lese im Linné fort,
denn ich muß wohl, ich habe kein ander Buch. Es ist die beste
Art ein Buch gewiß zu lesen, die ich öfters praktizieren
muß, besonders da ich nicht leicht ein Buch auslese. Dieses ist
aber vorzüglich nicht zum Lesen, sondern zum Rekapitulieren gemacht
und tut mir nun die trefflichsten Dienste, da ich über die meisten
Punkte selbst gedacht habe.» [WA 7, 118] Während dieser Studien wurde
ihm immer klarer, daß es doch nur eine Grundform sei, welche
in der unendlichen Menge einzelner Pflanzenindividuen erscheint, es
wurde ihm auch diese Grundform selbst immer anschaulicher, er
erkannte ferner, daß in dieser Grundform die Fähigkeit
unendlicher Abänderung liege, wodurch die Mannigfaltigkeit aus der
Einheit erzeugt wird. Am 9. Juli 1786 schreibt er an Frau von
Stein: «Es ist ein Gewahrwerden der. . . Form, mit der die Natur
gleichsam nur immer spielt und spielend das mannigfaltige Leben
hervorbringt.» [WA 7, 242] Nun handelte es sich vor allem darum,
das Bleibende, Beständige, jene Urform, mit welcher die Natur
gleichsam spielt, im einzelnen zu einem plastischen Bilde auszubilden.
Dazu bedurfte es einer Gelegenheit, das wahrhaft Konstante, Dauernde
in der Pflanzenform von dem Wechselnden, Unbeständigen zu trennen. Zu
Beobachtungen dieser Art hatte Goethe noch ein zu kleines Gebiet
durchforscht. Er mußte eine und dieselbe Pflanze unter
verschiedenen Bedingungen und Einflüssen beobachten; denn nur dadurch
fällt das Veränderliche so recht in die Augen. Bei Pflanzen
verschiedener Art fällt es uns weniger auf. Dieses alles brachte die
beglükkende Reise nach Italien, welche er am 3. September von Karlsbad
aus angetreten hatte. Schon an der Flora der Alpen ward manche
Beobachtung gemacht. Er fand hier nicht bloß neue von ihm noch
nie gesehene Pflanzen, sondern auch solche, die er schon kannte,
aber verändert. «Wenn in der tiefern Gegend Zweige und Stengel
stärker und mastiger waren, die Augen näher aneinanderstanden und die
Blätter breit waren, so wurden höher ins Gebirg hinauf Zweige und
Stengel zarter, die Augen rückten auseinander, so daß von Knoten
zu Knoten ein größerer Zwischenraum stattfand und die Blätter
sich lanzenförmiger bildeten. Ich bemerkte dies bei einer Weide und
einer Gentiana und überzeugte mich, daß es nicht etwa
verschiedene Arten wären. Auch am Walchensee bemerkte ich
längere und schlankere Binsen als im Unterlande».14
Ähnliche
Beobachtungen wiederholten sich. In Venedig am Meere entdeckt er
verschiedene Pflanzen, welche ihm Eigenschaften zeigen, die ihnen nur
das alte Salz des Sandbodens, mehr aber die salzige Luft geben konnte.
Er fand da eine Pflanze, die ihm wie unser «unschuldiger Huflattich»
erschien,
«hier aber mit scharfen Waffen bewaffnet und das Blatt wie Leder, so auch die Samenkapseln, die Stiele, alles war mastig und fett.»15
Da sah Goethe alle äußeren Merkmale der
Pflanze, alles was an ihr dem Augenscheine angehört, unbeständig,
wechselnd. Er zieht daraus den Schluß, daß also in diesen
Eigenschaften das Wesen der Pflanze nicht liege, sondern tiefer
gesucht werden müsse. Von ähnlichen Beobachtungen, wie hier Goethe,
ging auch Darwin aus, als er seine Zweifel über die Konstanz der
äußeren Gattungs- und Art-formen zur Geltung brachte. Die
Resultate aber, welche von den beiden gezogen werden, sind durchaus
verschieden. Während Darwin in jenen Eigenschaften das Wesen des
Organismus in der Tat für erschöpft hält und aus der Veränderlichkeit
den Schluß zieht: Also gibt es nichts Konstantes im Leben der
Pflanzen ,geht Goethe tiefer und zieht den Schluß: Wenn jene
Eigenschaften nicht konstant sind, so muß das Konstante in einem
anderen, welches jenen veränderlichen Äußerlichkeiten zugrunde
liegt, gesucht werden. Dieses letztere auszubilden wird Goethes Ziel,
während Darwins Bestrebungen dahin gehen, die Ursachen jener
Veränderlichkeit im einzelnen zu erforschen und darzulegen. Beide
Betrachtungsweisen sind notwendig und ergänzen einander. Man geht ganz
fehl, wenn man Goethes Größe in der organischen Wissenschaft
darinnen zu finden glaubt, daß man in ihm den bloßen
Vorläufer Darwins sieht. Seine Betrachtungsweise ist eine viel
breitere; sie umfaßt zwei Seiten: 1. Den Typus, d. i. die sich
im Organismus offenbarende Gesetzlichkeit, das Tier-Sein im Tiere, das
sich aus sich herausbildende Leben, das Kraft und Fähigkeit hat, sich
durch die in ihm liegenden Möglichkeiten in mannigfaltigen,
äußeren Gestalten (Arten, Gattungen) zu entwickeln. 2. Die
Wechselwirkung des Organismus und der unorganischen Natur und der
Organismen untereinander (Anpassung und Kampf ums Dasein). Nur die
letztere Seite der Organik hat Darwin ausgebildet. Man kann also nicht
sagen: Darwins Theorie sei die Ausbildung von Goethes Grundideen,
sondern sie ist bloß die Ausbildung einer Seite der letzteren.
Sie blickt nur auf jene Tatsachen, welche veranlassen, daß sich
die Welt der Lebewesen in einer gewissen Weise entwickelt, nicht aber
auf jenes «Etwas», auf welches jene Tatsachen bestimmend einwirken.
Wenn die eine Seite allein verfolgt wird, so kann sie auch durchaus
nicht zu einer vollständigen Theorie der Organismen führen, sie
muß wesentlich im Geiste Goethes verfolgt werden, sie muß
durch die andere Seite von dessen Theorie ergänzt und vertieft werden.
Ein einfacher Vergleich wird die Sache deutlicher machen. Man nehme
ein Stück Blei, mache es durch Erhitzen flüssig und gieße es
dann in kaltes Wasser. Das Blei hat zwei aufeinander folgende Stadien
seines Zustandes durchgemacht; das erste wurde bewirkt durch die
höhere, das zweite durch die niedrigere Temperatur. Wie sich die
beiden Stadien gestalten, das hängt nun nicht allein von der Natur der
Wärme, sondern ganz wesentlich auch von jener des Bleies ab. Ein
anderer Körper würde, durch dieselben Medien gebracht, ganz andere
Zustände zeigen. Auch die Organismen lassen sich von den sie
umgebenden Medien beeinflussen, auch sie nehmen, durch letztere
veranlaßt, verschiedene Zustände an und zwar durchaus ihrer
Natur entsprechend, entsprechend jener Wesenheit, die sie zu
Organismen macht. Und diese Wesenheit findet man in Goethes Ideen.
Derjenige, der ausgerüstet mit dem Verständnisse dieser Wesenheit ist,
der wird erst imstande sein zu begreifen, warum die Organismen auf
bestimmte Veranlassungen gerade in einer solchen und keiner andern
Weise antworten (reagieren). Ein solcher wird erst imstande sein, sich
über die Veränderlichkeit der Erscheinungsformen der Organismen und
die damit zusammenhängenden Gesetze der Anpassung und des Kampfes ums
Dasein die richtigen
Vorstellungen zu machen.16
Der Gedanke der Urpflanze bildet sich immer bestimmter, klarer in
Goethes Geist aus. Im botanischen Garten zu Padua (Italienische Reise,
27. Sept. 1786), wo er unter einer ihm fremden Vegetation einhergeht,
wird ihm der «Gedanke immer lebendiger, daß man sich alle
Pflanzengestalten vielleicht aus einer entwickeln könne». Am 17.
November 1786 schreibt er an Knebel: «So freut mich doch mein
bißchen Botanik erst recht in diesen Landen, wo eine frohere,
weniger unterbrochene Vegetation zu Hause ist. Ich habe schon recht
artige, ins allgemeine gehende Bemerkungen gemacht, die auch dir in
der Folge angenehm sein werden.» [WA 8, 58] Am 19. Februar 1787 (siehe
Italienische Reise) schreibt er in Rom, daß er auf dem Wege sei,
«neue schöne Verhältnisse zu entdecken, wie die Natur solch ein
Ungeheures, das wie nichts aussieht, aus dem Einfachen das
Mannigfaltigste entwickelt.» Am 25. März bittet er, Herdern zu sagen,
daß er mit der Urpflanze bald zustande ist. Am 17. April (siehe
Italienische Reise) schreibt er in Palermo von der Urpflanze die Worte
nieder: «Eine solche muß es doch geben! Woran würde ich sonst
erkennen, daß dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn
sie nicht alle nach einem Muster gebildet wären.» Er hat im Auge den
Komplex von Bildungsgesetzen, welcher die Pflanze organisiert, sie zu
dem macht, was sie ist und wodurch wir bei einem bestimmten Objekte
der Natur zu dem Gedanken kommen: Dieses ist eine Pflanze -, das ist
die Urpflanze. Als solche ist sie ein Ideelles, nur im Gedanken
Festzuhaltendes; sie gewinnt aber Gestalt, sie gewinnt eine gewisse
Form, Größe, Farbe, Zahl ihrer Organe usw. Diese äußere
Gestalt ist nichts Festes, sondern sie kann unendliche Veränderungen
erleiden, welche alle jenem Komplexe von Bildungsgesetzen gemäß
sind, aus ihm mit Notwendigkeit: folgen. Hat man jene Bildungsgesetze,
jenes Urbild der Pflanze erfaßt, so hat man das in der Idee
festgehalten, was bei jedem einzelnen Pflanzenindividuum die Natur
gleichsam zugrunde legt und woraus sie dasselbe als eine Folge
ableitet und entstehen läßt. Ja man kann selbst jenem Gesetze
gemäß Pflanzengestalten erfinden, welche aus dem Wesen der
Pflanze mit Notwendigkeit folgen und existieren könnten, wenn die
notwendigen Bedingungen dazu einträten. Goethe sucht so gleichsam das
im Geiste nachzubilden, was die Natur bei der Bildung ihrer Wesen
vollzieht. Er schreibt
am 17. Mai 178717
an Herder: «Ferner
muß ich Dir vertrauen, daß ich dem Geheimnis der
Pflanzenzeugung und Organisation ganz nahe bin und daß es das
einfachste ist, was nur gedacht werden kann... Die Urpflanze wird das
wunderlichste Geschöpf von der Welt, um welches mich die Natur selbst
beneiden soll. Mit diesem Modell und dem Schlüssel dazu kann man
alsdann noch Pflanzen ins Unendliche erfinden, die konsequent sein
müssen, das heißt: die, wenn sie auch nicht existieren, doch
existieren könnten und nicht etwa malerische oder dichterische
Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche Wahrheit und
Notwendigkeit haben. Dasselbe Gesetz wird sich auf alles übrige
Lebendige anwenden lassen.» Es tritt nun hier noch eine weitere
Verschiedenheit der Goetheschen Auffassung von der Darwins hervor,
namentlich, wenn man berücksichtigt, wie letztere
gewöhnlich vertreten wird.18
Diese nimmt an, daß die äußeren
Einflüsse wie mechanische Ursachen auf die Natur eines Organismus
einwirken und ihn dementsprechend verändern. Bei Goethe sind die
einzelnen Veränderungen verschiedene Äußerungen des
Urorganismus, der in sich selbst die Fähigkeit hat, mannigfache
Gestalten anzunehmen und in einem bestimmten Falle jene annimmt,
welche den ihn umgebenden Verhältnissen der Außenwelt am
angemessensten ist. Diese äußeren Verhältnisse sind bloß
Veranlassung, daß die inneren Gestaltungskräfte in einer
besonderen Weise zur Erscheinung kommen. Diese letzteren allein sind
das konstitutive Prinzip, das Schöpferische in der Pflanze. Daher
nennt es Goethe
am 6. September 178719
auch ein, - 7(51)
(Ein und Alles) der Pflanzenwelt.
Wenn wir nun auf diese Urpflanze selbst eingehen, so ist darüber
folgendes zu sagen. Das Lebendige ist ein in sich beschlossenes Ganze,
welches seine Zustände aus sich selbst setzt. Sowohl im Nebeneinander
der Glieder, wie in der zeitlichen Aufeinanderfolge der Zustände eines
Lebewesens ist eine Wechselbeziehung vorhanden, welche nicht durch die
sinnenfälligen Eigenschaften der Glieder bedingt erscheint, nicht
durch mechanischkausales Bedingtsein des Späteren von dem Früheren,
sondern welche von einem höheren über den Gliedern und Zuständen
stehenden Prinzipe beherrscht wird. Es ist in der Natur des Ganzen
bedingt, daß ein bestimmter Zustand als der erste, ein anderer
als der letzte gesetzt wird; und auch die Aufeinanderfolge der
mittleren ist in der Idee des Ganzen bestimmt; das Vorher ist von dem
Nachher und umgekehrt abhängig; kurz, im lebendigen Organismus ist
Entwicklung des einen aus dem andern, ein Übergang der Zustände
ineinander, kein fertiges, abgeschlossenes Sein des Einzelnen, sondern
stetes Werden. In der Pflanze tritt dieses Bedingtsein jedes
einzelnen Gliedes durch das Ganze insofern auf, als alle Organe nach
derselben Grundform gebaut sind.
Am 17. Mai 178720
schreibt
Goethe diesen Gedanken an Herder mit den Worten: «Es war mir nämlich
aufgegangen, daß in demjenigen Organ (der Pflanze), welches wir
gewöhnlich als Blatt ansprechen, der wahre Proteus verborgen liege,
der sich in allen Gestaltungen verstecken und offenbaren könne.
Rückwärts und vorwärts ist die Pflanze immer nur Blatt, mit dem
künftigen Keime so unzertrennlich vereint, daß man sich eins
ohne das andere nicht denken darf.» Während beim Tiere jenes höhere
Prinzip, das jedes Einzelne beherrscht, uns konkret entgegentritt als
dasjenige, welches die Organe bewegt, seinen Bedürfnissen gemäß
gebraucht usw., entbehrt die Pflanze noch eines solchen wirklichen
Lebensprinzipes; bei ihr offenbart sich dasselbe erst in der
unbestimmteren Weise, daß alle Organe nach demselben
Bildungstypus gebaut sind, ja daß in jedem Teile der Möglichkeit
nach die ganze Pflanze enthalten ist und durch günstige Umstände aus
demselben auch hervorgebracht werden kann. Goethe wurde dieses
besonders klar, als in Rom Rat Reiffenstein bei einem Spaziergange mit
ihm hier und da einen Zweig abreißend behauptete, derselbe müsse
in die Erde gesteckt, fortwachsen und sich zur ganzen Pflanze
entwickeln. Die Pflanze ist also ein Wesen, welches in
aufeinanderfolgenden Zeiträumen gewisse Organe entwickelt, welche alle
sowohl untereinander, wie jedes einzelne mit dem Ganzen nach ein und
derselben Idee gebaut sind. Jede Pflanze ist ein harmonisches
Ganze von Pflanzen.21
Als Goethe dieses klar vor Augen stand,
handelte es sich für ihn nur noch um die Einzelbeobachtungen, die es
ermöglichten, die verschiedenen Stadien der Entwicklung, welche die
Pflanze aus sich heraus setzt, im besonderen darzulegen. Auch dazu war
schon das Nötige geschehen. Wir haben gesehen, daß Goethe schon
im Frühjahr 1785 Samen untersucht hat; von Italien aus meldet er
Herdern am 17. Mai 1787, daß er den Punkt, wo der Keim steckt,
ganz klar und zweifellos gefunden habe. Damit war für das erste
Stadium des Pflanzenlebens gesorgt. Aber auch die Einheit des Baues
aller Blätter zeigte sich bald anschaulich genug. Neben zahlreichen
anderen Beispielen fand Goethe in dieser Hinsicht vor allem am
frischen Fenchel den Unterschied der unteren und oberen Blätter, die
aber trotzdem immer dasselbe Organ sind.
Am 25. März22
bittet er Herdern zu melden, daß seine Lehre von den Kotyledonen
so sublimiert sei, daß man schwerlich wird weitergehen können.
Es war nur noch ein kleiner Schritt zu tun, um auch die Blütenblätter,
die Staubgefäße und Stempel als metamorphosierte Blätter
anzusehen. Dazu konnten die Untersuchungen des englischen Botanikers
Hill führen, welche damals allgemeiner bekannt wurden und die
Umbildungen einzelner Blütenorgane in andere zum Gegenstande haben.
Indem die Kräfte, welche das Wesen der Pflanze organisieren, ins
wirkliche Dasein treten, nehmen sie eine Reihe räumlicher
Gestaltungsformen an. Es handelt sich nun um den lebendigen Begriff,
welcher diese Formen rückwärts und vorwärts verbindet.
Wenn wir die Metamorphosenlehre Goethes, wie sie uns aus dem Jahre
1790 vorliegt, betrachten, so finden wir darinnen, daß bei
Goethe dieser Begriff der des wechselnden Ausdehnens und
Zusammenziehens ist. Im Samen ist die Pflanzenbildung am stärksten
zusammengezogen (konzentriert). Mit den Blättern erfolgt hierauf die
erste Entfaltung, Ausdehnung der Bildungskräfte. Was im Samen auf
einen Punkt zusammengedrängt ist, das tritt in den Blättern räumlich
auseinander. Im Kelche ziehen sich die Kräfte wieder an einem
Achsenpunkte zusammen; die Krone wird durch die nächste Ausdehnung
bewirkt; Staubgefäße und Stempel entstehen durch die nächste
Zusammenziehung; die Frucht durch die letzte (dritte) Ausdehnung,
worauf sich die ganze Kraft des Pflanzenlebens (dies entelechische
Prinzip) wieder im höchst zusammengezogenen Zustande im Samen
verbirgt. Während wir nun so ziemlich alle Einzelheiten des
Metamorphosengedankens bis zur endlichen Verwertung in dem 1790
erschienenen Aufsatze verfolgen können, wird es mit dem Begriffe der
Ausdehnung und Zusammenziehung nicht so leicht gehen. Doch wird man
nicht fehlgehen, wenn man annimmt, daß dieser übrigens tief in
Goethes Geist wurzelnde Gedanke auch schon in Italien mit dem Begriffe
der Pflanzenbildung verwebt wurde. Da der Inhalt dieses Gedankens die
durch die bildenden Kräfte bedingte größere oder geringere
räumliche Entfaltung ist, also in dem liegt, was sich an der Pflanze
dem Auge unmittelbar darbietet, so wird er wohl dann am leichtesten
entstehen, wenn man den Gesetzen der natürlichen Bildung
gemäß die Pflanze zu zeichnen unternimmt. Nun fand Goethe in
Rom einen strauchartigen Nelkenstock, welcher ihm die Metamorphose
besonders klar zeigte. Darüber schreibt er nun:
«Zur Aufbewahrung dieser Wundergestalt kein Mittel vor mir sehend, unternahm ich es, sie genau zu zeichnen, wobei ich immer zu mehrerer Einsicht in den Grundbegriff der Metamorphose gelangte.»23
Solche
Zeichnungen sind vielleicht noch öfters gemacht worden und dies konnte
dann zu dem in Rede stehenden Begriff führen.*
Im September 1787 bei seinem zweiten Aufenthalte in Rom trägt Goethe
seinem Freunde Moritz die Sache vor; er findet dabei, wie lebendig,
anschaulich die Sache bei einem solchen Vortrage wird. Es wird
immer auf geschrieben, wie weit sie gekommen sind. Aus dieser
Stelle und einigen anderen Äußerungen Goethes erscheint es
wahrscheinlich, daß auch die Niederschrift der
Metamorphosenlehre wenigstens aphoristisch noch in Italien geschehen
ist. Er sagt weiter:
«Auf diese Art - im Vortrage mit Moritz - konnt' ich allein etwas von meinen Gedanken zu Papier bringen.»24
Es ist nun keine Frage, daß am Ende des Jahres 1789 und am
Anfange des Jahres 1790 die Arbeit in der Gestalt, wie sie uns jetzt
vorliegt, niedergeschrieben wurde; allein Inwieweit diese letztere
Niederschrift bloß redaktioneller Natur war und was noch
hinzukam, das wird schwer zu sagen sein. Ein für die nächste
Ostermesse angekündigtes Buch, welches etwa dieselben Gedanken hätte
enthalten können, verleitete ihn im Herbste 1789, seine Ideen
vorzunehmen und ihre Veröffentlichung zu befördern. Am 20. November
schreibt er dem Herzoge, daß er angespornt sei, seine
botanischen Ideen zu schreiben. Am 18. Dezember überschickt er die
Schrift bereits dem Botaniker Batsch in Jena zur Durchsicht; am 20.
geht er selbst dorthin, um sich mit Batsch zu besprechen; am 22.
meldet er Knebel, daß Batsch die Sache gut aufgenommen habe. Er
kehrt nach Hause zurück, arbeitet die Schrift noch einmal durch,
überschickt sie dann wieder an Batsch, der sie am 19. Januar 1790
zurückschickt. Welche Erlebnisse nun die Handschrift sowohl wie die
Druckschrift machte, hat Goethe selbst ausführlich erzählt (siehe
Natw. Schr., 1. Bd. [S. 91ff.]). Die große Bedeutung der
Metamorphosenlehre, sowie das Wesen derselben im einzelnen werden wir
unten [570ff.] in dem Aufsatze: «Über das Wesen und die Bedeutung von
Goethes Schriften über organische Bildung» abhandeln.
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