DIE ENTSTEHUNG VON GOETHES GEDANKEN
ÜBER DIE BILDUNG DER TIERE
Lavaters großes Werk: «Physiognomische Fragmente zur Beförderung
der Menschenkenntnis und Menschenliebe» erschien in den Jahren
1775-1778. Goethe hatte daran regen Anteil genommen, nicht nur
dadurch, daß er die Herausgabe leitete, sondern indem er auch
selbst Beiträge lieferte. Besonders interessant ist es nun aber,
daß wir in diesen Beiträgen schon den Keim zu seinen späteren
zoologischen Arbeiten finden können.
Die Physiognomik suchte in der äußeren Form des Menschen dessen
Inneres, dessen Geist zu erkennen. Man behandelte die Gestalt nicht um
ihrer selbst willen, sondern als Ausdruck der Seele. Goethes
plastischer, zur Erkenntnis äußerer Verhältnisse geschaffener
Geist blieb dabei nicht stehen. Mitten in jenen Arbeiten, welche die
äußere Form nur als Mittel zur Erkenntnis des Inneren
behandelten, ging ihm die Bedeutung der ersteren, der Gestalt, in
ihrer Selbständigkeit auf. Wir sehen dieses aus seinen Arbeiten über
die Tierschädel aus dem Jahre 1776, welche sich im 2. Bande, 2.
Abschnitt der «Physiognomischen Fragmente»
eingeschaltet finden.25
Er liest in diesem Jahre Aristoteles
über die Physiognomik26,
findet sich dadurch zu obigen Arbeiten
angeregt, zugleich aber versucht er es, den Unterschied des Menschen
von den Tieren zu untersuchen. Er findet diesen Unterschied in dem
durch das Ganze des menschlichen Baues bedingten Hervortreten des
Hauptes, in der hohen Ausbildung des menschlichen Gehirnes, zu dem
alle Teile des Körpers als zu ihrer Zentralstätte hinweisen.
«Wie die ganze Gestalt als Grundpfeiler des Gewölbes dasteht, in dem sich der Himmel bespiegeln soll.»27
Das Gegenteil davon findet er nun beim tierischen Baue.
«Der Kopf an das Rückgrat nur angehängt! Das Gehirn, Ende des Rückenmarks, hat nicht mehr Umfang, als zur Auswirkung der Lebensgeister und zu Leitung eines ganz gegenwärtig sinnlichen Geschöpfes nötig ist.»28
Mit diesen Andeutungen
hat sich Goethe über die Betrachtung einzelner Zusammenhänge des
Äußeren mit dem Inneren des Menschen erhoben zur Auffassung
eines großen Ganzen und zur Anschauung der Gestalt als solcher.
Er ist zur Ansicht gekommen, daß das Ganze des
menschlichen Baues die Grundlage bildet zu seinen höheren
Lebensäußerungen, daß in der Eigentümlichkeit dieses
Ganzen die Bedingung liegt, welche den Menschen an die Spitze der
Schöpfung stellt. Was wir uns dabei vor allem gegenwärtig halten
müssen, ist, daß Goethe die tierische Gestalt in der
ausgebildeten menschlichen wieder aufsucht; nur daß dort die
mehr den animalischen Verrichtungen dienenden Organe in den
Vordergrund treten, gleichsam der Punkt sind, auf den die ganze
Bildung hindeutet und dem sie dient, während die menschliche Bildung
jene Organe besonders ausbildet, welche den geistigen Funktionen
dienen. Schon hier finden wir: Was Goethe als tierischer Organismus
vorschwebt, ist nicht mehr dieser oder jener sinnlichwirkliche,
sondern ein ideeller, der sich bei den Tieren mehr nach einer
niederen, bei dem Menschen nach einer höheren Seite ausbildet. Schon
hier liegt der Keim zu dem, was Goethe später Typus nannte und womit
er «kein einzelnes Tier», sondern die «Idee» des Tieres bezeichnen
wollte. Ja noch mehr: Schon hier findet man einen Anklang an ein
später von ihm ausgesprochenes, in seinen Konsequenzen wichtiges
Gesetz, daß nämlich
«die Mannigfaltigkeit der Gestalt daher entspringt, daß diesem oder jenem Teil ein Übergewicht über die andern zugestanden ist.»29
Es wird ja schon hier der
Gegensatz von Tier und Mensch darinnen gesucht, daß sich eine
ideelle Gestalt nach zwei verschiedenen Richtungen hin ausbildet,
daß jedesmal ein Organsystem das Übergewicht gewinnt und das
ganze Geschöpf davon seinen Charakter erhält.
In demselben Jahre (1776) finden wir aber auch, daß Goethe
Klarheit darüber gewinnt, wovon auszugehen ist, wenn man die Gestalt
des tierischen Organismus betrachten will. Er erkannte, daß
die Knochen die Grundfesten der Bildung sind30,
ein Gedanke,
den er später aufrechterhalten hat, indem er bei den anatomischen
Arbeiten durchaus von der Knochenlehre ausging. In diesem Jahre
schreibt er den in dieser
Hinsicht wichtigen Satz nieder31:
«Die beweglichen Teile formen sich nach ihnen (den Knochen),
eigentlicher zu sagen, mit ihnen und treiben ihr Spiel nur insoweit es
die festen vergönnen.» Auch eine weitere Andeutung in Lavaters
Physiognomik:
«Man kann es schon bemerkt haben, daß ich das Knochensystem für die Grundzeichnung des Menschen - den Schädel für das Fundament des Knochensystems und alles Fleisch beinahe nur für das Kolorit dieser Zeichnung halte»32,
mag wohl auf Goethes
Anregung, der sich mit Lavater oft über diese Dinge besprach,
geschrieben worden sein. Sie sind ja mit den
von Goethe verfaßten Andeutungen33
identisch. Nun macht aber
Goethe eine weitere Bemerkung dazu, welche wir besonders
berücksichtigen müssen:
«Diese Anmerkung (daß man an den Knochen und namentlich am Schädel am stärksten sehen kann, wie die Knochen die Grundfesten der Bildung sind), die hier (bei Tieren) unleugbar ist, wird bei der Anwendung auf die Verschiedenheit der Menschenschädel großen Widerspruch zu leiden haben.»34
Was tut
Goethe hier anderes, als das einfachere Tier im zusammengesetzten
Menschen wieder aufsuchen, wie er sich später (1795) ausdrückt! Wir
gewinnen hieraus die Überzeugung, daß die Grundgedanken, auf
welchen später Goethes Gedanken über die Bildung der Tiere aufgebaut
werden sollten, aus der Beschäftigung mit Lavaters Physiognomik heraus
im Jahre 1776 sich bei ihm festsetzten.
In diesem Jahre beginnt auch Goethes Studium des Einzelnen der
Anatomie. Am 22. Januar 1776 schreibt er an Lavater: «Der Herzog hat
mir sechs Schädel kommen lassen, habe herrliche Bemerkungen gemacht,
die Euer Hochwürden zu Diensten stehen, wenn dieselben Sie nicht ohne
mich fanden.» [WA 3, 20] Die weiteren Anregungen zu einem
eingehenderen Studium der Anatomie boten ihm die Beziehungen zur
Universität Jena. Wir haben die ersten Andeutungen hierüber aus dem
Jahre 1781. In dem von Keil herausgegebenen Tagebuche bemerkt er unter
dem 15. Oktober 1781, daß er nach Jena mit dem alten Einsiedel
ging und dort Anatomie trieb. Hier war ein Gelehrter, der Goethes
Studien ungeheuer förderte: Loder. Derselbe führt ihn denn auch weiter
in die Anatomie ein, wie er
am 29. Oktober 1781 an Frau von Stein35
und
am 4. November an Karl August36
schreibt. In letzterem Briefe spricht er nun auch die Absicht aus, den
«jungen Leuten» der Zeichenakademie «das Skelett zu erklären und sie
zur Kenntnis des menschlichen Körpers anzuführen». Er setzt hinzu:
«Ich tue es zugleich um meinet- und ihretwillen, die Methode, die ich
gewählt habe, wird sie diesen Winter über völlig mit den Grundsäulen
des Körpers bekannt machen.» Die Einzeichnungen im Tagebuch Goethes
zeigen, daß er diese Vorlesungen wirklich gehalten und am 16.
Januar beendet hat. Gleichzeitig wird wohl viel mit Loder über den Bau
des menschlichen Körpers verhandelt worden sein. Unter dem 6. Januar
bemerkt das Tagebuch: Demonstration des Herzens durch Loder. Haben wir
nun gesehen, daß Goethe schon 1776 weitausblickende Gedanken
über den Bau der tierischen Organisation hegte, so ist keinen
Augenblick daran zu zweifeln, daß seine jetzigen eingehenden
Beschäftigungen mit Anatomie über die Betrachtung der Einzelheiten
hinaus sich zu höheren Gesichtspunkten erhoben. So schreibt er an
Lavater und Merck am 14. November 1781, er behandele «die Knochen als
einen Text, woran sich alles Leben und alles Menschliche anhängen
läßt». [WA 5, 217 u. 220] Bei Betrachtung eines Textes bilden
sich in unserem Geiste Bilder und Ideen, die von jenem hervorgerufen,
erzeugt erscheinen. Als einen solchen Text behandelte Goethe die
Knochen, d. h. indem er sie betrachtet, gehen ihm Gedanken über alles
Leben und alles Menschliche auf. Es mußten sich bei ihm also bei
diesen Betrachtungen bestimmte Ideen über die Bildung des Organismus
geltend gemacht haben. Nun haben wir aus dem Jahre 1782 eine Ode von
Goethe: «Das Göttliche», welche uns einigermaßen erkennen
läßt, wie er über die Beziehung des Menschen zur übrigen Natur
damals dachte. Die erste Strophe heißt:
«Edel sei der Mensch,
Hilfreich und gut! Denn das allein
Unterscheidet ihn
Von allen Wesen, Die wir kennen.»
Indem in den ersten zwei Zeilen dieser Strophe der Mensch nach seinen
geistigen Eigenschaften erfaßt wird, sagt Goethe, diese
allein unterscheiden ihn von allen anderen Wesen der Welt.
Dieses «allein» zeigt uns ganz klar, daß Goethe den
Menschen seiner physischen Konstitution nach durchaus in
Übereinstimmung mit der übrigen Natur auffaßte. Es wird bei ihm
der Gedanke, auf den wir schon oben aufmerksam machten, immer
lebendiger, daß eine Grundform die Gestalt des Menschen sowohl
wie der Tiere beherrsche, daß sie bei ersterem sich nur zu einer
solchen Vollkommenheit steigere, daß sie fähig ist, der Träger
eines freien geistigen Wesens zu sein. Seinen sinnenfälligen
Eigenschaften nach muß auch der Mensch, wie es in jener Ode
weiter heißt:
«Nach ewigen, ehrnen
Großen Gesetzen»
Seines ... «Daseins
Kreise vollenden.»
Aber diese Gesetze bilden sich bei ihm nach einer Seite aus, die es
ihm möglich macht, daß er das «Unmögliche» vermag:
«Er unterscheidet,
Wählet und richtet;
Er kann dem Augenblick
Dauer verleihen.»
Nun muß man dazu noch bedenken, daß, während sich diese
Anschauungen bei Goethe immer bestimmter ausbildeten, er in lebendigem
Verkehre mit Herder stand, der im Jahre 1783 seine «Ideen zu einer
Philosophie der Geschichte der Menschheit» aufzuzeichnen begann.
Dieses Werk ging beinahe hervor aus den Unterhaltungen der beiden, und
manche Idee wird wohl auf Goethe zurückzuführen sein. Die Gedanken,
welche hier ausgesprochen werden, sind oft ganz Goethisch, nur in
Herders Weise gesagt, so daß wir aus denselben einen sicheren
Schluß auf die damaligen Gedanken Goethes machen können.
Herder hat nun im ersten Teil37
von dem Wesen der Welt
folgende Auffassung. Es muß eine Hauptform vorausgesetzt werden,
welche durch alle Wesen hindurchgeht und sich in verschiedener Weise
verwirklicht. «Vom Stein zum Kristall, vom Kristall zu den Metallen,
von diesen zur Pflanzenschöpfung, von den Pflanzen zum Tier, von
diesem zum Menschen sahen wir die Form der Organisation steigen,
mit ihr auch die Kräfte und Triebe des Geschöpfs vielartiger
werden, und sich endlich alle in der Gestalt des Menschen, sofern
diese sie fassen konnte, vereinen.» Der Gedanke ist ganz klar: Eine
ideelle, typische Form, die als solche selbst nicht sinnenfällig
wirklich ist, realisiert sich in einer unendlichen Menge räumlich
voneinander getrennter und ihren Eigenschaften nach verschiedenen
Wesen bis herauf zum Menschen. Auf den niederen Stufen der
Organisation verwirklicht sie sich stets nach einer bestimmten
Richtung; nach dieser bildet sie sich besonders aus. Indem diese
typische Form bis zum Menschen heransteigt, nimmt sie alle
Bildungsprinzipien, die sie bei den niederen Organismen immer nur
einseitig ausgebildet hat, die sie auf verschiedene Wesen verteilt
hat, zusammen, um eine Gestalt zu bilden. Daraus geht auch die
Möglichkeit einer so hohen Vollkommenheit beim Menschen hervor. Bei
ihm hat die Natur auf ein Wesen verwendet, was sie bei den
Tieren auf viele Klassen und Qrdnungen zerstreut hat. Dieser Gedanke
wirkte ungemein fruchtbar auf die nachherige deutsche Philosophie. Es
sei hier die Darstellung, welche Oken später für dieselbe Vorstellung
gegeben hat, zu ihrer Verdeutlichung erwähnt.
Er sagt38:
«Das Tierreich ist nur ein Tier, d. h. die Darstellung der
Tierheit mit allen ihren Organen jedes für sich ein Ganzes. Ein
einzelnes Tier entsteht, wenn ein einzelnes Organ sich vom allgemeinen
Tierleib ablöst und dennoch die wesentlichen Tierverrichtungen ausübt.
Das Tierreich ist nur das zerstückelte höchste Tier: Mensch. Es gibt
nur eine Menschenzunft, nur ein Menschengeschlecht, nur eine
Menschengattung, eben weil er das ganze Tierreich ist.» So gibt es z.
B. Tiere, bei denen die Tastorgane ausgebildet sind, ja die ganze
Organisation auf die Tätigkeit des Tastens hinweist und in ihr das
Ziel findet, andere, bei denen besonders die Freßwerkzeuge
ausgebildet sind usf., kurz bei jeder Tiergattung tritt einseitig ein
Organsystem in den Vordergrund; das ganze Tier geht in demselben auf;
alles übrige tritt bei ihm in den Hintergrund. In der menschlichen
Bildung nun bilden sich alle Organe und Organsysteme so aus,
daß eines dem andern Raum genug zur freien Entwicklung
läßt, daß jedes einzelne in jene Schranken zurücktritt,
welche nötig erscheinen, um alle andern in gleicher Weise zur Geltung
kommen zu lassen. So entsteht ein harmonisches Ineinanderwirken der
einzelnen Organe und Systeme zu einer Harmonie, welche den Menschen
zum vollkommensten, die Vollkommenheiten aller übrigen Geschöpfe in
sich vereinigenden Wesen macht. Diese Gedanken haben nun auch den
Inhalt der Gespräche Goethes mit Herder gebildet, und Herder verleiht
ihnen in folgender Weise Ausdruck: daß «das Menschengeschlecht
als der große Zusammenfluß niederer organischer Kräfte»
anzusehen ist, «die in ihm zur Bildung der Humanität kommen
sollten». Und an einem anderen Orte:
«Und so können wir annehmen: daß der Mensch ein Mittelgeschöpf unter den Tieren, d. i. die ausgearbeitete Form sei, in der sich die Züge aller Gattungen um ihn her im feinsten Inbegriff sammeln.»39
Um den Anteil, welchen Goethe an Herders Werke «Ideen zu einer
Philosophie der Geschichte der Menschheit» nahm, zu kennzeichnen,
wollen wir folgende Stelle aus einem Briefe Goethes an Knebel vom 8.
Dezember 1783 anführen: «Herder schreibt eine Philosophie der
Geschichte, wie Du Dir denken kannst, von Grund aus neu. Die ersten
Kapitel haben wir vorgestern zusammen gelesen, sie sind köstlich ...
Welt- und Naturgeschichte rast jetzt recht bei uns.» [WA 6, 224] Die
Ausführungen Herders im 3. Buch VI und im 4. Buch 1, daß die in
der menschlichen Organisation bedingte aufrechte Haltung und was damit
zusammenhängt, die Grundbedingung seiner Vernunfttätigkeit ist,
erinnert direkt an das, was Goethe 1776 im 2. Abschnitt des zweiten
Bandes der «Physiognomischen Fragmente» Lavaters über den
Geschlechtsunterschied des Menschen von den Tieren angedeutet hat, und
was wir schon oben erwähnt haben. Es ist nur eine Ausführung jenes
Gedankens. Das alles berechtigt uns aber anzunehmen, daß Goethe
und Herder in bezug auf ihre Ansichten über die Stellung des Menschen
in der Natur in jener Zeit (1783ff.) der Hauptsache nach einig waren.
Nun bedingt eine solche Grundanschauung aber, daß jedes Organ,
jeder Teil eines Tieres sich im Menschen müsse wiederfinden lassen,
nur in die durch die Harmonie des Ganzen bedingten Schranken
zurückgedrängt. Ein Knochen z. B. muß allerdings bei einer
bestimmten Tiergattung zu seiner besonderen Ausbildung kommen,
muß sich hier vordrängen, allein er muß sich bei allen
übrigen auch wenigstens angedeutet finden, ja er darf beim Menschen
nicht fehlen. Nimmt er dort jene Gestalt an, welche ihm vermöge seiner
eigenen Gesetze zukommt, so hat er sich hier einem Ganzen zu fügen,
seine eigenen Bildungsgesetze denen des ganzen Organismus anzupassen.
Fehlen aber darf er nicht, wenn nicht in der Natur ein Riß
geschehen soll, wodurch die konsequente Ausgestaltung eines Typus
gestört würde.
So stand es mit den Anschauungen bei Goethe, als er auf einmal eine
Ansicht gewahr wurde, welche diesen großen Gedanken durchaus
widersprach. Den Gelehrten der damaligen Zeit war es vornehmlich darum
zu tun, Kennzeichen zu finden, welche eine Tiergattung von der andern
unterscheiden. Der Unterschied der Tiere von dem Menschen sollte darin
bestehen, daß die ersteren zwischen den beiden symmetrischen
Hälften des Oberkiefers einen kleinen Knochen, den Zwischenknochen
haben, der die oberen Schneidezähne enthält, und welcher dem Menschen
fehlen soll. Als Merck im Jahre 1782 anfing, sich lebhaft für die
Knochenlehre zu interessieren und sich um Beihilfe an einige der
bekanntesten Gelehrten damaliger Zeit wandte, erhielt er von einem
derselben, dem bedeutenden Anatomen Sömmerring, am 8. Oktober 1782
folgende Auskunft über den Unterschied von
Tier und Mensch40:
«Ich wünschte, daß Sie Blumenbach
nachsähen, wegen des ossis intermaxillaris, der ceteris paribus der
einzige Knochen ist, den alle Tiere vom Affen an, selbst der Orang
Utang eingeschlossen, haben, der sich hingegen nie beim Menschen
findet; wenn Sie diesen Knochen abrechnen, so fehlt Ihnen nichts,
um nicht alles vom Menschen auf die Tiere transferieren zu können. Ich
lege deshalb einen Kopf von einer Hirschkuh bei, um Sie zu überzeugen,
daß dieses os intermaxillare (wie es Blumenbach) oder os
incisivum (wie es Camper nennt) selbst bei Tieren vorhanden ist, die
keine Schneidezähne in der obern Kinnlade haben.» Obwohl Blumenbach an
den Schädeln ungeborener oder junger Kinder eine Spur quasi rudimentum
des ossis intermaxillaris fand, ja sogar an einem solchen Schädel
einmal zwei völlig abgesonderte kleine Knochenkerne als wahren
Zwischenknochen fand, so gab er die Existenz eines solchen doch nicht
zu. Er sagt davon: «Es ist noch himmelweit vom wahren osse
intermaxillari verschieden.» Camper, der berühmteste Anatom der Zeit,
war derselben Ansicht.
Der letztere sagt41
z. B. von den
Zwischenknochen: «die nimmer by menschen gevonden wordt, zelfs niet by
de Negers.» Merck war für Camper von der innigsten Verehrung
durchdrungen und befaßte sich mit seinen Schriften.
Nicht nur Merck, sondern auch Blumenbach und Sömmerring standen mit
Goethe im Verkehre. Der Briefwechsel mit ersterem zeigt uns, daß
Goethe an dessen Knochenuntersuchungen den innigsten Anteil nahm und
über diese Dinge seine Gedanken mit ihm austauschte. Am 27. Oktober
1782 ersuchte er Merck, ihm etwas von Campers Inkognito zu schreiben
und ihm dessen
Briefe zu schicken.42
Ferner haben wir im
April des Jahres 1783 einen Besuch Blumenbachs in Weimar zu
verzeichnen. Im September desselben Jahres geht Goethe nach Göttingen,
um dort Blumenbach und alle Professoren zu besuchen. Am 28. September
schreibt er an Frau von Stein: «Ich habe mir vorgenommen alle
Professoren zu besuchen und Du kannst denken, was das zu laufen gibt,
um in ein paar Tagen herumzukommen.» [WA 6, 202] Er geht hierauf nach
Kassel, wo er mit Forster und Sömmerring zusammentrifft. Von dort aus
schreibt er an Frau von Stein am 2. Oktober: «Ich sehe sehr schöne und
gute Sachen und werde für meinen stillen Fleiß belohnt. Das
Glücklichste ist, daß ich nun sagen kann, ich bin auf dem
rechten Wege und es geht mir von nun an nichts verloren.» [WA 6, 204]
In diesem Verkehr wird Goethe wohl zuerst auf die herrschenden
Ansichten über den Zwischenknochen aufmerksam geworden sein. Bei
seinen Anschauungen mußten ihm diese sofort als ein Irrtum
erscheinen. Die typische Grundform, nach welcher alle Organismen
gebaut sein müssen, wäre damit vernichtet. Bei Goethe konnte kein
Zweifel obwalten, daß auch dieses Glied, welches bei allen
höheren Tieren mehr oder weniger ausgebildet zu finden ist, auch an
der Bildung der menschlichen Gestalt teil haben müsse, und hier nur
zurücktreten werde, weil die Organe der Nahrungsaufnahme überhaupt
hinter denen, welche geistigen Funktionen dienen, zurücktreten. Goethe
konnte vermöge seiner ganzen Geistesrichtung nicht anders denken, als
daß ein Zwischenknochen auch beim Menschen vorhanden sei. Es
handelte sich nur um den empirischen Nachweis desselben, nur darum,
welche Gestalt er bei dem Menschen annimmt, inwiefern er sich in das
Ganze des Organismus hier einfügt. Dieser Nachweis gelang ihm nun im
Frühling des Jahres 1784 in Gemeinschaft mit Loder, mit dem er in Jena
Menschen- und Tierschädel verglich. Goethe kündigte die Sache am 27.
März sowohl der
Frau von Stein43
wie auch
Herder44
an.
Man darf nun diese einzelne Entdeckung gegenüber den großen
Gedanken, von denen sie getragen ist, nicht überschätzen; sie
hatte auch für Goethe nur den Wert, ein Vorurteil hinwegzuräumen,
welches hinderlich erschien, wenn seine Ideen bis in die
äußersten Kleinigkeiten eines Organismus konsequent verfolgt
werden sollten. Als einzelne Entdeckung erblickte sie auch Goethe nie,
immer nur im Zusammenhange mit seiner großen Naturanschauung. So
haben wir es zu verstehen, wenn er in dem obenerwähnten Briefe an
Herder sagt: «Es soll Dich auch recht herzlich freuen, denn es ist wie
der Schlußstein zum Menschen, fehlt nicht, ist auch da! Aber
wie!» Und gleich erinnert er den Freund an weitere Ausblicke: «ich
habe mir's auch in Verbindung mit Deinem Ganzen gedacht, wie schön es
da wird.» Die Behauptung: die Tiere haben einen Zwischenknochen, der
Mensch aber keinen, konnte für Goethe keinen Sinn haben. Liegt es in
den einen Organismus bildenden Kräften, bei den Tieren zwischen den
beiden Oberkieferknochen einen Zwischenknochen einzuschieben, so
müssen dieselben bei dem Menschen an jener Stelle, wo sich bei den
Tieren jener Knochen befindet, in wesentlich derselben, nur der
äußeren Erscheinung nach verschiedenen Weise tätig sein. Weil
Goethe sich den Organismus nie als tote, starre Zusammensetzung,
sondern immer als aus seinen inneren Bildungskräften hervorgehend
dachte, so mußte er sich fragen: Was machen diese Kräfte im
Oberkiefer des Menschen? Es konnte sich gar nicht darum handeln, ob
der Zwischenknochen vorhanden, sondern wie er beschaffen ist, was für
eine Bildung er annimmt. Und dieses mußte empirisch gefunden
werden.
Bei Goethe wurde nun der Gedanke immer reger, ein größeres Werk
über die Natur auszuarbeiten. Wir können dies aus verschiedenen
Äußerungen entnehmen. So schreibt er im November 1784 an Knebel,
als er ihm die Abhandlung über seine Entdeckung überschickt: «Ich habe
mich enthalten, das Resultat, worauf schon Herder in seinen Ideen
deutet, schon jetzo merken zu lassen, daß man nämlich den
Unterschied des Menschen vom Tier in nichts einzelnem finden
könne.» [WA 6, 389] Hier ist vor allem wichtig, daß Goethe sagt,
er habe sich enthalten, den Grundgedanken schon jetzo merken zu
lassen; er will das also später in einem größeren Zusammenhange
tun. Ferner zeigt uns diese Stelle, daß die Grundgedanken, die
uns bei Goethe vor allem interessieren: die großen Ideen über
den tierischen Typus längst vor jener Entdeckung vorhanden waren. Denn
Goethe gesteht hier selbst, daß sie sich schon in Herders Ideen
angedeutet finden; die Stellen aber, in denen dies geschieht, sind vor
der Entdeckung des Zwischenknochens geschrieben. Die Entdeckung des
Zwischenknochens ist somit nur eine Folge jener großen
Anschauungen. Für jene, welche diese Anschauungen nicht hatten,
mußte sie unverständlich bleiben. Es war ihnen das einzige
naturhistorische Merkmal genommen, wodurch sie den Menschen von den
Tieren schieden. Von jenen Gedanken, welche Goethe beherrschten und
die wir früher andeuteten, daß die bei den Tieren zerstreuten
Elemente sich in der einen menschlichen Gestalt zu einer
Harmonie vereinigen und so trotz der Gleichheit alles Einzelnen eine
Differenz im Ganzen begründen, welche dem Menschen seinen hohen Rang
in der Reihe der Wesen anweist, davon hatten sie wenig Ahnung. Ihr
Betrachten war kein ideelles, sondern ein äußerliches
Vergleichen; und für das letztere war allerdings der Zwischenknochen
beim Menschen nicht da. Was Goethe verlangte: mit den Augen des
Geistes zu sehen, dafür hatten sie wenig Verständnis. Das
begründete denn auch den Unterschied des Urteiles zwischen ihnen und
Goethe. Während Blumenbach, der die Sache doch auch ganz deutlich sah,
zu dem Schlusse kam: «Es ist doch himmelweit verschieden vom wahren
osse intermaxillari», urteilt Goethe: Wie läßt sich eine noch so
große äußere Verschiedenheit bei der notwendigen
inneren Identität erklären. Goethe wollte nun offenbar diesen
Gedanken konsequent ausarbeiten und er hat sich besonders in den nun
folgenden Jahren viel damit beschäftigt. Am 1. Mai 1784 schreibt Frau
von
Stein an Knebel45:
«Herders neue Schrift macht
wahrscheinlich, daß wir erst Pflanzen und Tiere waren ... Goethe
grübelt jetzt gar denkreich in diesen Dingen und jedes, was erst durch
seine Vorstellung gegangen ist, wird äußerst interessant.» In
welchem Grade in Goethe der Gedanke lebte, seine Anschauungen über die
Natur in ein einem größeren Werke darzustellen, das wird uns
besonders anschaulich, wenn wir sehen, daß er bei jeder neuen
Entdeckung, die ihm gelingt, nicht umhin kann, Freunden gegenüber die
Möglichkeit einer Ausdehnung seiner Gedanken auf die ganze Natur
ausdrücklich hervorzuheben. Im Jahre 1786 schreibt er an Frau von
Stein, er wolle seine Ideen über die Weise, wie die Natur mit einer
Hauptform gleichsam spielend das mannigfaltige Leben hervorbringt,
«auf alle Reiche der Natur, auf ihr ganzes Reich» ausdehnen. Und da in
Italien der Metamorphosengedanke für die Pflanze bis in alle
Einzelheiten plastisch vor seinem Geiste steht, schreibt er in Neapel
am 17. Mai 1787 nieder:
«Dasselbe Gesetz wird sich auf alles ... Lebendige anwenden lassen.»46
Der erste Aufsatz der
«Morphologischen Hefte» (1817) enthält die Worte:
«Mag daher das, was
ich mir in jugendlichem Mute öfters als ein Werk träumte, nun als
Entwurf, ja als fragmentarische Sammlung hervortreten.» Daß ein
solches Werk von Goethes Hand nicht zustande kam, müssen wir beklagen.
Nach alledem, was vorliegt, wäre es eine Schöpfung geworden, welche
alles, was von dergleichen in der neueren Zeit geleistet wurde, weit
hinter sich gelassen hätte. Es wäre ein Kanon geworden, von dem jede
Bestrebung auf naturwissenschaftlichem Gebiete ausgehen müßte
und an dem man ihren geistigen Gehalt prüfen könnte. Der tiefste
philosophische Geist, welchen nur Oberflächlichkeit Goethe absprechen
kann, hätte sich hier verbunden mit einer liebevollen Versenkung in
das sinnlicherfahrungsgemäß Gegebene; fern von jeder einseitigen
Systemsucht, welche durch ein allgemeines Schema alle Wesen zu
umfassen glaubt, würde hier jeder einzelnen Individualität ihr Recht
widerfahren sein. Wir hätten es hier mit dem Werke eines Geistes zu
tun, bei dem nicht ein einzelner Zweig menschlichen Strebens mit
Zurücksetzung aller anderen sich hervortut, sondern bei dem die
Totalität menschlichen Seins immer im Hintergrunde schwebt, wenn er
ein einzelnes Gebiet behandelt. Dadurch bekommt jede einzelne
Tätigkeit ihre gehörige Stelle im Zusammenhange des Ganzen. Die
objektive Versenkung in die betrachteten Gegenstände verursacht,
daß der Geist in ihnen völlig aufgeht, so daß uns Goethes
Theorien so erscheinen, als ob sie nicht ein Geist von den
Gegenständen abstrahierte, sondern als ob sie die Gegenstände selbst
in einem Geiste bildeten, der sich bei der Betrachtung selbst
vergißt. Diese strengste Objektivität würde Goethes Werk zum
vollendetsten Werke der Naturwissenschaft machen; es wäre ein Ideal,
dem jeder Naturforscher nachstreben müßte; es wäre für den
Philosophen ein typisches Musterbild für die Auffindung der Gesetze
objektiver Weltbetrachtung. Man kann annehmen, daß die
Erkenntnistheorie, welche jetzt als eine philosophische
Grundwissenschaft allerwärts auftritt, erst dann wird fruchtbar werden
können, wenn sie ihren Ausgangspunkt von Goethes Betrachtungs- und
Denkweise nehmen wird. Goethe selbst gibt den Grund, warum dieses Werk
nicht zustande kam, in den Annalen zu 1790 mit den Worten an: «Die
Aufgabe war so groß, daß sie in einem zerstreuten Leben
nicht gelöst werden konnte.»
Wenn man von diesem Gesichtspunkte ausgeht, so gewinnen die einzelnen
Fragmente, welche uns von Goethes Naturwissenschaft vorliegen, eine
ungeheure Bedeutung. Ja wir lernen sie erst recht schätzen und
verstehen, wenn wir sie als hervorgehend aus jenem großen Ganzen
betrachten.
Im Jahre 1784 sollte aber, gleichsam bloß als Vorübung, die
Abhandlung über den Zwischenknochen ausgearbeitet werden.
Veröffentlicht sollte sie zunächst nicht werden, denn Goethe schreibt
am 6. März 1785 an Sömmerring darüber: «Da meine kleine Abhandlung
gar keinen Ansprach an Publizität hat und bloß als ein
Konzept anzusehen ist, so würde mir alles, was Sie mir über diesen
Gegenstand mitteilen wollen, sehr angenehm sein.» [WA 7, 21] Dennoch
wurde sie mit aller Sorgfalt und mit Zuhilfenahme aller nötigen
Einzelstudien ausgeführt. Es wurden sogleich junge Leute zu Hilfe
genommen, welche nach Campers Methode osteologische Zeichnungen unter
Goethes Leitung auszuführen hatten. Er bittet deshalb am 23. April
[1784] Merck [WA 6, 267f.] um Auskunft über diese Methode und
läßt sich von Sömmerring [WA 6, 277] Campersche Zeichnungen
schicken. Merck, Sömmerring und andere Bekannte werden um Skelette und
Knochen aller Art ersucht. Am 23. April schreibt er an Merck,
daß ihm folgende Skelette sehr angenehm sein würden: « ... eine
Myrmecophaga, Bradypus, Löwen, Tiger oder dergleichen.» [WA 6, 268] Am
14. Mai [WA 6, 278] ersucht er Sömmerring um den Schädel von dessen
Elefantenskelett und den Schädel des Nilpferdes, am 16. September um
die Schädel von folgenden Tieren: «Wilde Katze, Löwe, junger Bär,
Incognitum, Ameisenbär, Kamel, Dromedar, Seelöwe.» [WA 6, 357] Auch um
einzelne Auskünfte werden die Freunde ersucht, so Merck um die
Beschreibung des Gaumenteiles seines Rhinozeros und insbesondere um
Aufklärung darüber, «wie eigentlich das Horn des Rhinoceros auf dem
Nasenknochen sitzt». [WA 6, 267] Goethe ist in dieser Zeit ganz in
jene Studien vertieft. Der erwähnte Elefantenschädel wird durch Waitz
von vielen Seiten nach Campers Methode gezeichnet [WA 6, 356], von
Goethe mit einem großen Schädel seines Besitzes und mit anderen
Tierschädeln verglichen, da er entdeckte, daß an jenem Schädel
die meisten Suturen noch unverwachsen waren. [WA 6, 293 f.] Er macht
an diesem Schädel noch eine wichtige Bemerkung. Man nahm bis dahin an,
daß bei allen Tieren bloß die Schneidezähne im
Zwischenknochen eingefügt seien, während die Eckzähne dem
Oberkieferbein angehörten; nur der Elefant sollte eine Ausnahme
machen. Bei ihm sollten die Eckzähne im Zwischenknochen enthalten
sein. Daß dies nicht der Fall ist, zeigt ihm nun ebenfalls jener
Schädel, wie er in einem Brief an Herder schreibt. [WA 6, 308] Auf
einer Reise nach Eisenach [WA 6, 278] und Braunschweig, die Goethe in
diesem Sommer [1784] unternimmt, begleiten ihn seine osteologischen
Studien. Auf letzterer will er in Braunschweig einem «ungeborenen
Elefanten in das Maul sehen und mit Zimmermann ein wackeres
Gespräch führen». [WA 6, 332] Er schreibt von diesem Fötus weiter an
Merck: «Ich wollte, wir hätten den Fötus, den sie in Braunschweig
haben, in unserm Kabinette, er sollte in kurzer Zeit seziert,
skelettiert und präpariert sein. Ich weiß nicht, wozu ein
solches Monstrum in Spiritus taugt, wenn man es nicht zergliedert und
den innern Bau erklärt.» [WA 6, 332 u. 333] Aus diesen Studien ging
denn jene Abhandlung hervor, welche im 1. Bande [S. 277] der
Naturwissenschaftlichen Schriften in Kürschners National-Literatur
mitgeteilt wird. Bei Abfassung derselben ist Goethen Loder sehr
behilflich. Unter dessen Beistande kommt eine lateinische Terminologie
zustande. Loder besorgt ferner eine lateinische Übersetzung. [WA 6,
407] Im November 1784 schickt Goethe die Abhandlung an Knebel [WA 6,
389 f.] und schon am 19. Dezember an Merck [WA 6, 409 f.], obwohl er
noch kurz vorher (2. Dezember) glaubt, daß vor Ende des Jahres
nicht viel daraus werden wird. [WA 6, 400 f.] Das Werk war mit den
nötigen Zeichnungen versehen. Wegen Camper war die erwähnte
lateinische Übersetzung beigefügt. Merck sollte das Werk an Sömmerring
schicken. Dieser erhielt es im Januar 1785. Von da ging die Sache an
Camper. Wenn wir nun einen Blick auf die Art der Aufnahme werfen, die
Goethes Abhandlung gefunden, so tritt uns ein recht unerquickliches
Bild entgegen. Niemand hat anfangs das Organ, ihn zu verstehen
außer Loder, mit dem er zusammen gearbeitet, und Herder.
Merck hat über die Abhandlung Freude, ist aber von der Wahrheit
des Asserti nicht durchdrungen. [WA 7, 11 f.] Sömmerring
schreibt in dem Briefe, mit dem er die Ankunft der Abhandlung
Merck anzeigt: «Die Hauptidee hatte schon Blumenbach.» Im, der
sich anfängt: «Es wird also kein Zweifel [übrig bleiben]», sagt er
[Goethe], «da die übrigen (Grenzen) verwachsen»; schade nur, daß
diese niemals da gewesen. Ich habe nun Kinnbacken von Embryonen, von
drei Monaten bis zum Adulto vor mir, und an keinem ist jemals eine
Grenze vorwärts zu sehen gewesen. Und durch den Drang der Knochen
gegen einander die Sache zu erklären? Ja, wenn die Natur als ein
Schreiner mit Keil und Hammer arbeitete!»47
Am 13. Februar
1785 schreibt Goethe an Merck: «Von Sömmerring habe ich einen
sehr leichten Brief. Er will mir's gar ausreden. Ohe!» [WA 7, 12] -
Und Sömmerring schreibt am 11. Mai 1785 an Merck:
«Goethe will, wie ich aus seinem gestrigen Briefe sehe, von seiner Idee in Ansehung des ossis intermaxillaris noch nicht ab.»48
Und nun Camper.49
Am 16. September 178550
teilte er Merck mit, daß die beigegebenen
Tafeln durchaus nicht nach seiner Methode gezeichnet seien. Er findet
dieselben sogar recht tadelnswert. Das Äußere des schönen
Manuskriptes wird gelobt, die lateinische Übersetzung getadelt, ja dem
Autor sogar der Rat erteilt, sich hierinnen auszubilden.
Drei Tage später51
schreibt er, daß er eine Zahl von
Beobachtungen über den Zwischenknochen gemacht habe, daß er aber
fortfahren müsse zu behaupten, der Mensch habe keinen Zwischenknochen.
Er gibt alle Beobachtungen Goethes zu, nur nicht die auf den Menschen
bezüglichen.
Am 21. März 178652
schreibt er noch einmal,
daß er aus einer großen Zahl von Beobachtungen zu dem
Schlusse gekommen sei: der Zwischenknochen existiere beim Menschen
nicht. Campers Briefe zeigen deutlich, daß er den besten
Willen hatte in die Sache einzudringen, daß er aber nicht
imstande war, Goethe auch nur im geringsten zu verstehen.
Loder sah Goethes Entdeckung sogleich in dem rechten Lichte. Er
hebt sie in seinem
«Anatomischen Handbuch» von 178853
hervor und behandelt sie von nun an in allen seinen Schriften
wie eine der Wissenschaft vollgültig angehörige Sache, an welcher
nicht der mindeste Zweifel sein kann.
Herder schreibt darüber an Knebel:
«Goethe hat uns seine Abhandlung vom Knochen vorgelegt, die sehr einfach und schön ist; der Mensch geht auf dem wahren Naturwege, und das Glück geht ihm entgegen».54
Herder war eben imstande, die Sache mit dem
«geistigen Auge», mit dem sie Goethe ansah, zu betrachten. Ohne dieses
konnte man mit ihr nichts anfangen. Man kann dies am besten aus
folgendem sehen. Wilhelm Josephi (Privatdozent an der Universität
Göttingen) schreibt in seiner «Anatomie der Säugetiere» 1787: «Man
nimmt die ossa intermaxillaria mit als ein Hauptunterscheidungszeichen
der Affen vom Menschen an; indes meinen Beobachtungen nach hat der
Mensch ebenfalls solche ossa intermaxillaria wenigstens in den ersten
Monaten seines Seins, welche aber gewöhnlich schon früh, und zwar
schon im Mutterleibe mit den wirklichen Oberkiefern vorzüglich nach
außen verwachsen, so daß öfters noch gar keine merkliche
Spur davon zurückbleibt.» Hier ist Goethes Entdeckung allerdings auch
vollkommen ausgesprochen, aber nicht als eine aus der konsequenten
Durchführung des Typus geforderte, sondern als der Ausdruck eines
unmittelbar in die Augen fallenden Tatbestandes. Wenn man bloß
auf letzteren angewiesen ist, dann hängt es allerdings nur vom
glücklichen Zufalle ab, ob man gerade solche Exemplare findet, an
denen man die Sache genau sehen kann. Faßt man aber die
Sache in Goethes ideeller Weise, so dienen diese besonderen Exemplare
bloß zur Bestätigung des Gedankens, bloß dazu das, was die
Natur sonst verbirgt, offen zu demonstrieren; es kann aber die
Idee selbst an jedem beliebigen Exemplare verfolgt werden, jedes zeigt
einen besonderen Fall derselben. Ja, wenn man die Idee besitzt, ist
man imstande, durch dieselbe gerade jene Fälle zu finden, in denen sie
sich besonders ausprägt. Ohne dieselbe aber ist man dem Zufalle
anheimgegeben. Man sieht in der Tat, daß, nachdem Goethe durch
seinen großen Gedanken die Anregung gegeben hatte, man durch
Beobachtung zahlreicher Fälle sich von der Wahrheit seiner Entdeckung
allmählich überzeugt hat.
Merck blieb wohl stets schwankend. Am 13. Februar 1785 schickt
ihm Goethe eine gesprengte obere Kinnlade vom Menschen und vom
Trichechus und gibt ihm Anhaltspunkte, die Sache zu verstehen. Aus
Goethes Brief vom 8. April scheint es, daß Merck
einigermaßen gewonnen war. Bald aber änderte er seine Ansicht
wieder, denn am 11. November 1786 schreibt er an
Sömmerring55:
«Wie ich höre, hat Vicq d'Azyr sogar
Goethes sogenannte Entdekkung in sein Werk aufgenommen.»
Sömmerring stand nach und nach von seinem Widerstande ab. In
seinem Werke: «Vom Baue des menschlichen Körpers» sagt er (S. 160):
«Goethes sinnreicher Versuch aus der vergleichenden Knochenlehre,
daß der Zwischenknochen der Oberkinnlade dem Menschen mit den
übrigen Tieren gemein sei, von 1785, mit sehr richtigen Abbildungen,
verdiente öffentlich bekannt zu sein.»
Goethe setzte seine Knochenstudien auch nach Vollendung jener
Abhandlung fort. Die gleichzeitigen Entdeckungen in der Pflanzenkunde
machen sein Interesse an der Natur noch zu einem regeren. Fortwährend
borgt er einschlägige Objekte von seinen Freunden.
Am 7. Dezember 178561
ist Sömmerring sogar schon ärgerlich, «daß ihm
Goethe nicht seine Köpfe wieder schickt». Aus einem Briefe Goethes an
Sömmerring vom 8. Juni 1786 erfahren wir, daß er bis dahin noch
immer Schädel von letzterem hatte.
Auch in Italien begleiteten ihn seine großen Ideen. Während sich
der Gedanke der Urpflanze in seinem Geiste ausgestaltete, kommt er
auch zu Begriffen über die Gestalt des Menschen. Am 20. Januar 1787
schreibt Goethe in Rom: «Auf Anatomie bin ich so ziemlich vorbereitet,
und ich habe mir die Kenntnis des menschlichen Körpers, bis auf einen
gewissen Grad, nicht ohne Mühe erworben. Hier wird man durch die ewige
Betrachtung der Statuen immerfort, aber auf eine höhere Weise,
hingewiesen. Bei unserer medizinischchirurgischen Anatomie kommt es
bloß darauf an, den Teil zu kennen, und hierzu dient auch wohl
ein kümmerlicher Muskel. In Rom aber wollen die Teile nichts
heißen, wenn sie nicht zugleich eine edle schöne Form darbieten.
In dem großen Lazarett San Spirito hat man den Künstlern zulieb
einen sehr schönen Muskelkörper dergestalt bereitet, daß die
Schönheit desselben in Verwunderung setzt. Er könnte wirklich für
einen geschundenen Halbgott, für einen Marsyas gelten.
So pflegt man auch, nach Anleitung der Alten, das Skelett nicht als
eine künstlich zusammengereihte Knochenmasse zu studieren, vielmehr
zugleich mit den Bändern, wodurch es schon
Leben und Bewegung erhält.»62
Es handelte sich bei Goethe hier vor allem darum, die Gesetze
kennenzulernen, nach denen die Natur die organischen und vorzüglich
die menschlichen Gestalten bildet, die Tendenz, welche sie bei
der Formung derselben verfolgt. So wie er in der Reihe der unendlichen
Pflanzengestalten die Urpflanze aufsucht, mit der man noch Pflanzen
ins Unendliche erfinden kann, die konsequent sein müssen, d. h. welche
jener Naturtendenz vollkommen gemäß sind und welche existieren
würden, wenn die geeigneten Bedingungen da wären; ebenso hatte es
Goethe in bezug auf die Tiere und den Menschen darauf angelegt,
«ideale Charaktere zu entdecken», welche den Gesetzen der Natur
vollkommen gemäß sind. Bald nach seiner Rückkehr aus Italien
erfahren wir, daß Goethe «fleißig in anatomicis» ist und
im Jahre 1789 schreibt er an Herder: «Ich habe eine neuentdeckte
Harmoniam naturae vorzutragen.» Was hier neu entdeckt wurde, dürfte
nun ein Teil der Wirbeltheorie des Schädels sein. Die Vollendung
dieser Entdeckung fällt aber in das Jahr 1790. Was er bis dahin
wußte, war, daß alle Knochen, welche das Hinterhaupt
bilden, drei modifizierte Rückenmarkswirbel darstellen. Goethe dachte
sich die Sache folgendermaßen. Das Gehirn stellt nur eine
Rückenmarksmasse zur höchsten Stufe vervollkommnet dar. Während im
Rückenmarke die vorzugsweise den niedrigeren organischen Funktionen
dienenden Nerven enden und von dort ausgehen, enden und beginnen im
Gehirne die den höheren (geistigen) Funktionen dienenden Nerven,
vorzugsweise die Sinnesnerven. Im Gehirne erscheint nur ausgebildet,
was im Rückenmarke der Möglichkeit nach schon angedeutet ist. Das
Gehirn ist ein vollkommen ausgebildetes Mark, das Rückenmark ein noch
nicht zur vollen Entfaltung gekommenes Gehirn. Nun sind den Partien
des Rückenmarkes die Wirbelkörper der Wirbelsäule vollkommen
angebildet, sind deren notwendige Umhüllungsorgane. Es erscheint nun
auf das höchste wahrscheinlich, daß wenn das Gehirn ein
Rückenmark auf höchster Potenz ist, auch die dasselbe umhüllenden
Knochen nur höher ausgebildete Wirbelkörper seien. Das ganze Haupt
erscheint auf diese Weise schon vorgebildet in den niedrigerstehenden
körperlichen Organen. Es sind die auch schon auf untergeordneter Stufe
tätigen Kräfte auch hier wirksam, nur bilden sie sich im Kopfe zu der
höchsten in ihnen liegenden Potenz aus. Wieder handelte es sich für
Goethe nur um den Nachweis, wie sich denn die Sache der sinnenfälligen
Wirklichkeit nach eigentlich gestaltet? Vom Hinterhauptbein, dem
hinteren und vorderen Keilbein, sagt Goethe, erkannte er diese
Verhältnisse sehr bald; daß aber auch das Gaumbein, die obere
Kinnlade und der Zwischenknochen modifizierte Wirbelkörper seien,
erkannte er auf seiner Reise nach Norditalien, als er auf den Dünen
des Lido einen geborstenen Schafschädel fand. Dieser Schädel war so
glücklich auseinandergefallen, daß in den einzelnen Stücken
genau die einzelnen Wirbelkörper zu erkennen waren. Goethe zeigte
diese schöne Entdeckung am 30. April 1790 der Frau von Kalb an mit den
Worten: «Sagen Sie Herdern, daß ich der Tiergestalt und ihren
mancherlei Umbildungen um eine ganze Formel näher gerückt bin und zwar
durch den sonderbarsten Zufall.» [WA 9, 202]
Dies war eine Entdeckung von der weittragendsten Bedeutung. Es war
damit bewiesen, daß alle Glieder eines organischen Ganzen der
Idee nach identisch sind und daß «innerlich ungeformte»
organische Massen sich nach außen in verschiedener Weise
aufschließen, daß es ein und dasselbe ist, was auf
niederer Stufe als Rückenmarksnerv, auf höherer als Sinnesnerv sich zu
dem die Außenwelt aufnehmenden, ergreifenden, erfassenden
Sinnesorgane aufschließt. Jedes Lebendige war damit in seiner
von innen heraus sich formenden, gestaltenbildenden Kraft aufgezeigt;
es war als wahrhaft Lebendiges jetzt erst begriffen. Goethes
Grundideen waren jetzt auch in bezug auf die Tier- bildung zu einem
Abschlusse gekommen. Es war die Zeit zur Ausarbeitung derselben
gekommen, obwohl er den Plan dazu schon früher hatte, wie uns der
Briefwechsel Goethes mit F. H. Jacobi beweist. Als er im Juli 1790 dem
Herzoge in das schlesische Lager folgte, war er dort (in Breslau)
vorzugsweise mit seinen Studien über die Bildung der Tiere
beschäftigt. Er begann dort auch wirklich seine diesbezüglichen
Gedanken aufzuzeichnen. Am 31. August 1790 schreibt er an Friedrich
von Stein: «In allem dem Gewühle hab' ich angefangen, meine Abhandlung
über die Bildung der Tiere zu schreiben.» [WA 9, 223]
In einem umfassenden Sinn enthält die Idee des Tiertypus das Gedicht:
«Die Metamorphose der Tiere», das 1820 im zweiten der «Morphologischen
Hefte»
zuerst erschienen ist.63
In den Jahren 1790-95 nahm
von naturwissenschaftlichen Arbeiten die Farbenlehre Goethe vorzüglich
in Anspruch. Zu Anfang des Jahres 1795 war Goethe in Jena, wo auch die
Gebrüder v. Humboldt, Max Jacobi und Schiller anwesend waren. In
dieser Gesellschaft brachte Goethe seine Ideen über vergleichende
Anatomie vor. Die Freunde fanden seine Darstellungen so bedeutsam,
daß sie ihn aufforderten, seine Gedanken zu Papier zu bringen.
Wie aus einem Schreiben Goethes an Jacobi den Älteren hervorgeht [WA
10, 232], hat Goethe dieser Aufforderung sogleich in Jena Genüge
getan, indem er das im 1. Bande von Goethes Naturwissenschaftlichen
Schriften in Kürschners National-Literatur [S. 241-275] abgedruckte
Schema einer vergleichenden Knochenlehre Max Jacobi diktierte. Die
einleitenden Kapitel wurden 1796 weiter ausgeführt [Ebenda S. 325
ff.]. In diesen Abhandlungen sind Goethes Grundanschauungen über
Tierbildung ebensosehr wie in seiner Schrift: «Versuch, die
Metamorphose der Pflanze zu erklären» jene über Pflanzenbildung
enthalten. Im Verkehre mit Schiller - seit 1794 - trat ein Wendepunkt
seiner Anschauungen ein, indem er sich von nun an seiner eigenen
Verfahrungs- und Forschungsweise gegenüber betrachtend verhielt, wobei
ihm seine Anschauungsweise gegenständlich wurde. Wir wollen
nach diesen historischen Betrachtungen uns nun zum Wesen und der
Bedeutung von Goethes Anschauungen über die Bildung der Organismen
wenden.
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